Die Gartenlaube (1855)/Heft 19
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No. 19. | 1855. |
Schlom Weißbart.
Im Jahre 184– traf ich in Litthauen einen Landsmann und Bekannten wieder, der vor länger als zwölf Jahren dahin versetzt war, und von dem ich seit jener Zeit nichts wieder vernommen hatte. Ich war begierig, von ihm über sein Leben in dem fremden Land selbst und dessen Bewohner Auskunft zu erhalten.
Ich werde Dir – sagte er – ein Abenteuer erzählen, das ich nicht lange nach meiner Ankunft in dieser Provinz zu bestehen hatte, und das vielleicht mehr als lange, ausführliche Beschreibungen im Stande sein wird, Dich dessen Menschen und Zustand kennen zu lehren. Er erzählte mir Folgendes:
Ich wurde im Jahre 183– als Kreisjustizrath nach Ragnit versetzt. Ich war damals Assessor bei dem Oberlandesgerichte in A., und bisher blos in meiner Heimath, der Provinz Westphalen, angestellt gewesen.
Als ich mit den Meinigen in Ragnit ankam, fanden wir ein freundliches Städtchen, hübsch gelegen in einer fruchtbaren Gegend, an einem hohen Ufer des schönen, breiten Memelstroms, der nicht weit unterhalb der Stadt eine große Krümmung machte, so daß man seinen Lauf mitten durch üppige Wiesen und Weiden beinahe eine halbe Meile weit deutlich verfolgen konnte, bis nach dem alten, kahlen Rambinus hin, dem alten Berge des Gottes Perkunos, an dessen Fuße er wieder eine andere Richtung nahm, nach der litthauischen Hauptstadt Tilsit zu, anderthalb Meilen von Ragnit gelegen.
In dem freundlichen Städtchen auf dem hohen Memelufer fanden wir allerdings nicht viel mehr als 3000 Einwohner; aber es war ein eben so tüchtiger und prächtiger deutscher Menschenschlag, wie man ihn nur irgend wo am Rhein und in Westphalen antrifft. Barbaren, wie sie mir geschildert waren, schienen mir die Leute nicht, und auch die Wölfe liefen in ihren Straßen nicht mehr herum, als anderswo, nämlich die in Schafspelzen; dies aber brauchten – wenigstens damals noch – eben keine russischen oder preußischen Wölfe zu sein. Dagegen fanden wir in Litthauen und Ragnit Etwas, was wir in unserm vielbewegten Leben später niemals in so hohem Grade wieder gefunden haben, eine offene, biedere, gastfreundliche Zuvorkommenheit. Sie lebt in unserem dankbaren Andenken.
Was eine Kreisjustizcommission sei, erfuhr ich sehr bald in vollem Umfange. Der Kreisjustizrath v. L., den abzulösen ich bestimmt war, hatte dem Gerichtsboten, der ihm zuerst die Nachricht meiner Ankunft und seiner Erlösung überbracht hatte, in der Freude seines Herzens einen harten Thaler geschenkt. Es war ein braver, aber kränklicher Mann, zwar ein tüchtiger Beamter, der aber gerade gegen die Art von Geschäften, wie sie bei der Kreisjustizcommission waren, vielleicht auch in Folge seiner Kränklichkeit, einen unüberwindlichen Widerwillen gefaßt, deshalb kaum einige Monate nach Antretung seines Postens, seine Versetzung nachgesucht und diese in einer untergeordneten Stelle in seiner Heimath angenommen hatte.
Das Institut der Kreisjustizcommission bestand nur in den Provinzen Preußen und Litthauen. Im Jahre 1839 haben sie einer veränderten Gerichtsorganisation Platz machen müssen. Sie waren Deputationen der Oberlandesgerichte zur Führung der schweren Criminaluntersuchungen, zur Führung und Entscheidung der geringeren Civilprozesse gegen die Eximirten (Adel, Geistlichkeit und Beamte) und zur Beaufsichtigung der Untergerichte. Sie bestanden aus einem Kreisjustizrath als Dirigenten, einem Assessor (auch Aktuar genannt) und dem nothwendigen Subalternpersonal an Gerichts- wie Gefängnißbeamten. Die Kreisjustizcommission zu Ragnit war eine solche Deputation oder Commission des Oberlandesgerichts zu Insterburg für die vier Landrathskreise Ragnit, Tilsit, Niederung, Heidekrug. Ihr Geschäftsbezirk berührte auf einer Länge von ungefähr zwölf Meilen die russische Grenze und außerdem noch auf mehreren Meilen die Grenze des unglücklichen Königreichs Polen.
Das gerade war es, was die Stellung bei der Commission für meinen Vorgänger zu einer unerträglichen gemacht hatte, was sie freilich für mich zu einer sehr mühsamen machen sollte. Wo die Regierungen den freien Verkehr sperren und hemmen, da erreichen sie wenigstens Eins sicher, Demoralisation des Volkes. An der preußisch-russischen Grenze wird vielfach gesperrt und gehemmt, diesseits wie jenseits. Nach Rußland darf aus Preußen nichts hineinkommen, was die Leute dort bedürfen und gebrauchen, nicht Fisch noch Fleisch, nicht Seide noch Zeug, nicht Kaffee noch Zucker, nicht Wein noch Schnaps, nicht Thee noch Civilisation. Und aus Rußland nach Preußen darf zweierlei nicht kommen. Eins nicht, das die Leute in Preußen gebrauchen: Salz. Und doch kaufen sie es in Rußland um das Doppelte wohlfeiler als in Preußen selbst, nämlich das Pfund für sechs Pfennige, wenn sie in Preußen dafür einen Silbergroschen bezahlen müssen. Und die Leute behaupten, das sei um so mehr ein unrichtiges Verhältniß, als es eben nur preußisches Salz, das gleiche preußische Salz sei, das sie so wohlfeil in Rußland kaufen können und so theuer in Preußen bezahlen müssen, Salz, das die [242] preußische Regierung an die russische verkaufe und diese wieder an ihre Unterthanen mit Profit ablasse, und das so von den russischen Unterthanen nochmals mit einem Profit, und dennoch doppelt billiger, in das Land, aus dem es ursprünglich gekommen, zurückverkauft werden könne. Ob es wahr ist, müssen die Leute wissen, und die Nationalökonomen und die Regierung. Ein Anderes, das gleichfalls aus Rußland nicht nach Preußen kommen darf, brauchen die Leute hier zwar nicht, aber desto mehr bedarf man seiner in Rußland. Das sind die Russen selbst, die man – durch die Regierung – alljährlich zum Kriegsdienste einfängt und in die Montur steckt.
Wer will es den Unglücklichen verdenken, wenn sie sich zu retten suchen? Die preußische Grenze ist so nahe, der Grenzgraben so schmal, der Grenzwall so niedrig. Der Grenzkosack ist leicht zu täuschen, leichter zu überwältigen, noch leichter zu bestechen. Ein Satz, ein Sprung, und man ist gerettet in dem Lande der – Freiheit und Civilisation! Aber dieses Land der Civilisation hat einen Kartellvertrag mit Rußland geschlossen und garantirt diesem die militärische Sklaverei seiner Unterthanen.
Schmuggel, Grenzexcesse, Kampf und Blutvergießen, das sind die Bestandtheile des Verkehrs an der russisch-preußischen Grenze.
Das einzige Schöne, was ich, nach Hübner’s Zeitungslexikon, in Ragnit hatte finden sollen, fand ich nicht. Das herrliche Comthurschloß der deutschen Herren war nur noch eine Ruine. Am 3. August 1829 schon war es abgebrannt, am Geburtstage des Königs Friedrich Wilhelm III. Es war das auch eine sonderbare Geschichte, die ich ein ander Mal erzählen werde. Und die Ruine des herrlichen Schlosses war nicht einmal schön. Die weiten, hohen und ungeheuer dicken und starken Mauern des äußerlich zerstörten Gebäudes umfaßten ein Zuchthaus und die Gefängnisse der Kreisjustizcommission. Diese Gefängnisse waren überfüllt mit den Verbrechern der Grenze und der Grenzbezirke aus Rußland wie aus Preußen.
Ueber anderthalb Hundert Untersuchungsgefangene saßen allein in den Gefängnissen der Kreisjustizcommission zu Ragnit, als ich mein Amt dort antrat. Alle warteten auf ihr Erkenntniß, das sie der Strafe oder der Freiheit zuführen, dem Zuchthause, Manche dem Henker oder wieder den Ihrigen, der Liebe und der Freude, freilich oft auch dem Jammer zerstörten Familienglückes, oder neuer Verbrechen überliefern sollte. Nicht Wenige warteten schon seit Jahren. In den Gerichtszimmern der Kreisjustizcommission warteten so die zahllosen, voll und dick geschriebenen Untersuchungsakten auf ihre Beendigung, um demnächst an das Oberlandesgericht zu Insterburg zum Spruch versandt zu werden. Wie Vieles aber war noch darin zu thun, bis sie beendigt und zum Spruch eingeschickt werden konnten. Mein Vorgänger hatte vermöge seiner Kränklichkeit mit Energie nicht eingreifen können. Dessen Vorgänger, früher ein Inquirent von der seltensten Befähigung und juristischer wie moralischer Tüchtigkeit, war in seinen alten Tagen völlig jenem Stumpfsinn verfallen, den man bei den ältern Dienern, gerade der preußischen Bureaukratie, so häufig antrifft; dabei aber auch jenem gleichen preußischen Beamteneigensinn, der nicht von seinem Posten weichen will. Die vorgesetzten Behörden hatten ihm junge Leute – Referendarien – zur Aushülfe geben müssen, die vielfach mit dem alten Manne spielten. Dabei war auch das zweite Mitglied der Kreisjustizcommission ein an Geist und Körper schwächlicher, kränklicher Mann. Kein Wunder, daß sich überall Rückstände in den Arbeiten fanden, daß die Akten sich gehäuft und die Gefängnisse sich überfüllt hatten. Indeß die Arbeit mußte bewältigt werden.
Unter den Gefangenen, die mir sogleich beim ersten Besuche der Gefängnisse am Meisten auffielen, war ein Jude, der mir als Schlom Weißbart benannt wurde. Er war in einem der tiefsten Keller des alten deutschen Herrenschlosses eingesperrt, einem Raume mit so dicken und festen Mauern und so schmalen und engen und durch schwere eiserne Stangen vergitterten Fenstern, daß an ein Entweichen aus diesem Gefängnisse gar nicht zu denken war. Er saß dort in Gesellschaft blos der schwersten Verbrecher, nur Räuber und Mörder, die man gerade hier, in der sichersten von allen Gefängnißzellen, zusammengebracht hatte. Er war dort der einzige Jude unter lauter Christen. Er war ein Mann von mittlerem Alter – vielleich nahe an den Vierzigern – und von mittlerer Größe. Sein Gliederbau schien von mehr als gewöhnlicher Kraft zu sein. Seine Bewegungen verriethen es; es zeigte sich noch mehr, wenn der weite Pelz, den er trug, sich zufällig öffnete. Höchst interessant war sein Gesicht. Der Blick blieb unwillkürlich darauf haften; er verweilte mit Neugier darauf, ob auch mit Wohlgefallen oder aber mit innerer Wegwendung, darüber konnte man mit sich selbst nicht einig werden; desto größer war vielleicht gerade deshalb Interesse und Neugier. Der Schnitt des Gesichtes war völlig orientalisch, aber es war nur der feine orientalische Schnitt; die Nase lang und nur wenig gebogen, die Lippen nur wenig aufgeworfen, die Stirn hoch, die Augenbrauen stark und gewölbt, die Augen groß und rabenschwarz. Rabenschwarz und glänzend auch das Haar. Dagegen schneeweiß aber dicht und lang der Bart, der den unteren Theil des Gesichtes bedeckte. Das Gesicht war eingefallen; die Farbe war blaß, aber beides nicht so sehr, um ihm das Aussehen der Kränklichkeit oder Schwäche zu geben.
Auf den ersten Anblick fühlte man den Eindruck eines klaren, ruhigen, etwas melancholischen und beinahe edlen Gesichts. Sah man aber tiefer in das große schwarze Auge, so gewahrte man darin ein scheues, lauerndes Wesen, und man glaubte tief im Hintergrunde Hinterlist und Falschheit, jedenfalls Verschmitztheit zu sehen. Beachtete man den Mann genauer und länger, so sah man die Lippen manchmal plötzlich weiter vorgeworfen, wie unwillkürlich aufgezuckt, und dann heftig, fast gewaltsam zusammengekniffen, und wenn man dann schnell ihm wieder in die Augen blickte und das dunkle Aufblitzen in ihrem tiefsten Grunde mit dem gewaltsam zusammengekniffenen Munde verglich, so konnte man sich kaum des Gedankens erwehren, daß so ein Mensch aussehen müsse, der sich eben die Scene eines Mordes, den er verübt, in das Gedächtniß zurückrufe, oder dem plötzlich Gedanke und Plan eines zu verübenden Mordes ergreife und beschäftige. Das war Blutgier, Mordlust, was hier zuckte und blitzte.
Mein Vorgänger mußte mir die Geschäfte der Kreisjustizcommission übergeben. Dazu gehörte auch die Ueberweisung der Gefängnisse. Wir Beide besuchten gemeinschaftlich jede einzelne Gefängnißzelle, gefolgt von den Gefängnißbeamten und litthauischen und einem polnischen Dolmetscher. Mein Vorgänger bezeichnete mich den Gefangenen als seinen Nachfolger; ich trat darauf an jeden einzelnen Gefangenen heran und fragte ihn, ob er Klage über seine bisherige Behandlung in der Untersuchung und im Gefängnisse habe; er habe sie jetzt anzubringen. Mit den der deutschen Sprache Unkundigen wurde durch die Dolmetscher verhandelt. Nur wenige brachten Klagen wor. Was sie zurückhielt, zeigte der scheue Blick auf die anwesenden Gefängnißbeamten. Ich machte später meine Besuche stets ohne diese.
Zu jenen Wenigen gehörte Schlom Weißbart. Ich hatte ihn, eben weil er mir gleich bei meinem Eintreten aufgefallen war, schon vorher beobachtet, ehe ich in der Reihe des Fragens zu ihm kam. Er hatte vollkommen ruhig dagestanden. In dem Augenblik, als ich mich von seinem Nachbar zu ihm wandte, zuckte es heftig in seinem Gesichte. Sein Auge überflog die Beamten, die hinter mir standen. Die Lippen biß er zusammen. Ich sah zum ersten Male an ihm jenen unheimlichen Ausdruck. Aber kaum eine halbe Sekunde lang. Sein Wesen veränderte sich plötzlich in anderer Weise. Das Auge blieb unruhig, aber es nahm einen freundlichen Ausdruck an. Die Lippen öffneten sich, aber wie zu einer demüthigen Bitte. So beugte er, als ich unterdeß ganz vor ihn getreten war, seinen Körper tief vor mir nieder, mit einer Bewegung seiner Hände, als wenn er den Saum meines Rockes fassen und seinen Mund darauf drücken wolle.
Ich sollte ein solches hündisch-freundlich kriechendes Benehmen von russischen und polnischen Bündeljuden, aber auch Christen, später noch oft kennen lernen in seiner ganzen widerlichen Weise.
Ich trat entrüstet zurück, doppelt entrüstet durch den Kontrast dieses Betragens und jenes Aussehens des Mannes.
In strengem Tone richtete ich meine erste Frage an ihn: „Wie heißt Ihr?“
Er hatte rasch seinen Körper aufgerichtet. Sein Auge stach durchbohrend in das meinige; aber nur während des Aufrichtens. Gleich darauf blickte es mich wieder freundlich bittend an, zwar noch unruhig, aber nicht kriechend.
„Ich heiße Schlom,“ antwortete er bescheiden, in dem tief gurgelnden, schnellen Tone, in welchem die Handelsjuden an jener Grenze das Deutsche sprechen.
„Wie weiter?“
[243] „Schlom. Mein Vater hieß Aaron.“
„Ihr führt nur den Namen Schlom?“
„Nur diesen, Herr.“
Mein Vorgänger erläuterte: „In Rußland, wenigstens hier an der Grenze, führen die Juden selten einen Familiennamen. In den Acten heißt dieser Jude übrigens Schlom Weißbart. So nennen ihn auch seine Genossen nach seinem weißen Barte. Er wird dadurch unterschieden von einem anderen, eben so gefährlichen Verbrecher, der mit ihm aus demselben Orte ist, auch Schlom heißt und mit ihm die größte Aehnlichkeit hat, nur daß er einen schwarzen Bart trägt, und der daher Schlom Schwarzbart genannt wird.“
Ich wandte mich wieder zu dem Juden. Ich begegnete noch dem letzten Verfliegen eines listigen, höhnischen Lächelns in seinem Gesichte. „Woher seid Ihr?“
„Aus Russisch-Neustadt.“
„Welches Verbrechens seid Ihr angeklagt?“
Seine Freundlichkeit und Bescheidenheit gingen plötzlich in Heftigkeit über. „Gar keines, gar keines Verbrechens, Herr Kreisjustizrath. Ich bin unschuldig, völlig unschuldig.“
„Ich frage Euch nicht,“ erwiederte ich ihm, „wessen Verbrechens Ihr schuldig, sondern wessen Ihr angeklagt seid?“
„Gar keines, gar keines, Herr Kreisjustizrath. Man kann mir nichts beweisen, man kann mir nichts vorwerfen, nichts, nichts.“
„Die gewöhnliche Sprache aller Verbrecher,“ nahm mein Amtsvorgänger das Wort. „Jeder will unschuldig sein.“
„Aber, Herr, Herr – “ rief der Jude heftiger, lauter, und in seiner Heftigkeit mehr und mehr in die gewöhnliche jüdische Redensweise fallend. „Den Andern kann man doch werfen etwas vor. Man kann ihnen nennen ein Verbrechen, das sie sollen haben begangen. Nennen Sie mir eins. Habe ich gestohlen, habe ich gemordet, habe ich begangen einen Raub? Nicht Sie haben gekonnt, es mir sagen, nicht die Herren Referendarien, Gott stehe mir bei, diese Herren.“
Die Bemerkung des Juden war wichtig. Keiner von den Gefangenen, die ich bisher gefragt, hatte sich eines Verbrechens schuldig bekannt, aber Alle hatten ein bestimmtes Verbrechen, dessen man sie anklagte, zu benennen gewußt. Eine gewisse Verlegenheit in den Gesichtern der Beamten zeigte mir auch, daß außer der Beantwortung des Juden noch etwas Anderes richtig oder vielmehr nicht richtig sein müsse.
Ich unterbrach diesen. „Ruhig, Mann! Beantwortet mir meine weiteren Fragen, aber ohne Heftigkeit.“
Er verbeugte sich tief und demüthig, und stand dann völlig ruhig vor mir. Es war ein wildes Wesen in dem Manne, aber eine eiserne Gewalt, die es zu beherrschen wußte.
„Wie lange seid Ihr hier in dem Gefängnisse?"
„Vor drei Tagen ist es geworden ein Jahr und drei Monate.“
„Habt Ihr Klage über Eure bisherige Behandlung zu führen?“
„Ich bitte, Herr, daß Sie mich bald verhören.“
„Das wird geschehen. Jetzt habt Ihr meine Fragen zu beantworten.“
„0b ich habe eine Klage?“
„Ueber Eure Behandlung hier in der Haft und in der Untersuchung, in Euren Verhören.“
„Verhören?“ platzte es wieder heftig aus ihm heraus. Aber schnell sich fassend, fuhr er fort: „Hier habe ich keine Klagen. Hier nicht. Aber Sie verhören mich bald? Recht bald?“
„Noch in dieser Woche.“
„Gewiß, Herr? Gewiß?“
„Gewiß.“
Er hatte, bevor ich es ihm wehren konnte, den Saum meines Rockes ergriffen und an seine Lippen gedrückt.
Ich setzte den weiteren Umgang in den Gefängnissen fort.
Ueber die vielfachen, mitunter tief erschütternden Eindrücke dieses ersten Besuches jener Gefängnisse hatte ich den Juden Schlom Weißbart nicht vergessen. Ich ließ mir alsbald seine Untersuchungsacten vorlegen. Sie bestanden aus einem einzigen sehr dünnen Heftchen. Aber sie gehörten zu desto zahlreicheren und dickeren Actenbänden. Schlom Weißbart war in eine weitläufige Untersuchung gegen eine große Bande von Dieben verwickelt, die ihre Verbrechen gewerbmäßig zu beiden Seiten der preußisch-russischen Grenze verübt hatte. Die Bande bestand aus einigen zwanzig Köpfen, theils preußischen, theils russischen Unterthanen. Der zur Untersuchung gezogenen Diebstähle waren aber vierzig. Die Diebe hatten ihre Verbrechen mit eben so großer Verwegenheit als List ausgeführt, besonders zahlreiche Pferdediebstähle. Die in Rußland gestohlenen Pferde waren nach Preußen geschafft und hier verkauft; umgekehrt, die in Preußen gestohlenen nach Rußland. Sie hatten so ihr Handwerk lange und um so geschützter vor Verfolgung treiben können, als die Grenzsperre eben nur den ehrlichen Leuten und deren Verkehr die Grenze sperrte. Die Grenzsperre und die Schwierigkeit des Verhandelns mit unwillfährigen, russischen Behörden hatte auch eine unverhältnißmäßige Verzögerung der Untersuchung herbeigeführt. Freilich hatte auch einiges Andere hierzu beigetragen. Die Acten waren sehr voluminös geworden, und die Inquirenten - jene Referendarien - hatten mehrfach gewechselt. Es ist aber keine mühelose Arbeit, vierzig bis fünfzig dicke Bände von Untersuchungsacten durchzufahren, zu prüfen, was Alles noch darin geschehen muß, welche Zeugen noch darin zu vernehmen, welche Confrontationen zu veranstalten, welche Thatbestände sogar noch festzustellen, sodann die articulirten Verhöre abzuhalten und so weiter.
Die Untersuchung hatte schon seit länger als zwei Jahren gedauert. Ich mußte mehrere Tage und Nächte die Acten durchstudiren, um dem Juden mein Versprechen halten zu können, ihn noch in dieser Woche zu verhören. Schlom Weißbart war erst im Laufe der Untersuchung eingeliefert. Sein Name kam jedoch schon im Anfange derselben vor. Er wurde immer als einer der gefährlichen Diebe und zugleich Diebeshehler an der Grenze genannt. Aber er war so benannt nur von den Beamten, den Gensd’armen, den Dorfrichtern, den Polizeischulzen an der Grenze. Von den in der Untersuchung befangenen Verbrechern wollte keiner auch nur seinen Namen wissen. Und auch jene Beamten konnten kein einziges Verbrechen bezeichnen, das er selbst begangen oder zu dem er mitgewirkt haben sollte. Es hieß nur immer, das gefährlichste Mitglied der ganzen Bande sei der Jude Schlom Weißbart aus Russisch-Neustadt. Freilich wohl nicht minder gefährlich sei ein anderes Mitglied der Bande, der Jude Schlom Schwarzbart, dessen man aber bisher nicht habe habhaft werden können. Dabei war die Vermuthung ausgesprochen, Schlom Weißbart und Schlom Schwarzbart müßten Brüder sein, wegen ihrer Aehnlichkeit sowohl im Aeußern als in verbrecherischer Frechheit und Verschmitztheit. Etwas Bestimmtes könne man darüber nicht ermitteln, weil beide Juden nicht ohne Vermögen sein sollten, und daher von den bestechlichen russischen Beamten keine Auskunft über sie zu erhalten sei. Deshalb sei auch an eine Verhaftung des Schlom Schwarzbart oder an eine in Rußland gegen ihn einzuleitende Untersuchung gar nicht zu denken. In der That fand sich in den Acten ein Schreiben der russischen Behörde, wonach ein Schlom Schwarzbart in Neustadt sowohl als Umgegend gar nicht existire. Gegen diesen Schlom Schwarzbart lagen übrigens mehrere bestimmte Zeugenaussagen vor, nach denen er an einer Menge in Preußen verübter Vebrechen unmittelbar Theil genommen und namentlich viele gestohlene Pferde in Rußland verkauft hatte.
Schlom Weißbart war in Preußen arretirt. Zufällig, wie es in den Acten nach einer Anzeige des Dorfgerichtes des Grenzortes Mädischkehmen hieß, hatte man ihn diesseits der Grenze auf einem Pferde reitend, angetroffen, erkannt und sofort verhaftet. Das Pferd war später als ein in Preußen gestohlenes ermittelt worden. Der Diebstahl war schon vor langer Zeit verübt, und gar nichts stand darüber fest, daß Schlom Weißbart daran Theil genommen habe. Und dieser Ritt auf einem gestohlenen Pferde war das einzige Bestimmte, was man dem Juden hatte vorwerfen können. Auch in seiner Haft hatte er sich stets ruhig und ordentlich betragen. War seine Bemerkung oder vielmehr sein Vorwurf im Gefängnisse nicht gewesen?
Gleichwohl wurde von sämmtlichen Beamten der Kreisjustizcommission fortwährend versichert, der Jude Schlom Weißbart sei einer der verwegensten und gefährlichsten Verbrecher, welche auf beiden Seiten der Grenze leben.
Ich ließ ihn zum Verhöre vorführen.
Er erschien ruhig, bescheiden. ohne eine Spur jenes kriechenden Wesens, das ich im Gefängnisse entrüstet zurückgewiesen hatte. Hatte er auch mich studirt?
„Ich habe Euch vorführen lassen, Schlom Weißbart,“ redete ich ihn an, „um das versprochene Verhör mit Euch abzuhalten.“
„Lohne es Ihnen Gott, Herr!“
[244] „Zuvor beantwortet mir jetzt die Frage, ob Ihr eine Klage über Eure Behandlung habt?“
„Eine Klage, Herr Kreisjustizrath? Gott behüte. Nicht eine, aber zehn, zwanzig, hundert.“
Er antwortete nicht aufgeregt, im Gegentheil mit derselben Ruhe, mit der er eingetreten war.
„Und wie lauten diese Klagen?“
„Traurig lauten sie. Sie zerreißen mein Herz, möchten sie doch auch zerreißen das Ihrige.“
„Nun?“
„Herr, ich sitze hier seit fünf Vierteljahren. In dem Keller da unten. In dem dunkelen Loche unter der Erde. Fünf Vierteljahre. Soll ich Ihnen sagen, wie oft ich in dieser Zeit gesehen habe die Sonne und geathmet habe die frische Luft? Ich will es Ihnen sagen. Zwei Mal. Zwei Mal, als ich wurde geführt aus dem Keller zum Verhöre.“
Nur zwei Verhöre waren in der That bisher mit dem Juden abgehalten.
„Aber,“ warf ich ihm ein, „Ihr seid doch regelmäßig täglich eine halbe Stunde an die frische Luft geführt worden.“
„Daß sich Gott erbarm! Es war ja keine Zeit dazu übrig für die Herren Wachtmeister.“
Ich sah fragend den Secretär an, der mir das Protocoll führte. Er bestätigte mit einem Achselzucken.
Die Gefängnisse und das Gefängnißpersonal sind auf funfzig Gefangene berechnet. Einhundert und funfzig sind da. Da bleibt keine Zeit für die allerdings vorgeschriebenen Spaziergänge der Gefangenen.
„Aber das ist ja eine Grausamkeit. Ich habe Gefangene angetroffen, die seit länger als drei Jahren saßen. Auch diese sind nie an die frische Luft gekommen?“
„Zum Verhöre!“ war die entschuldigende Antwort.
„Grausamkeit!“ sagte der Jude. „Was heißt Grausamkeit? Weiß der Herr, daß ich in den fünf Vierteljahren nicht habe sehen dürfen meine Frau und mein Kind, und sie waren hier, fünf Mal, alle Vierteljahre ein Mal.“
Auf meinen fragenden Blick antwortete der Secretär: „Der Jude hätte collidiren können.“
Der Jude fuhr fort: „Grausamkeit? Und weiß der Herr, was man mir hat gegeben zu essen und zu trinken? Brot zu essen, nichts als schwarzes Brot und Wasser zu trinken. Nichts als das, gar nichts.“
„Jude,“ fiel ihm der Secretär ein, „belüge den Herrn Kreisjustizrath nicht.“
„Habe ich bekommen etwas Anderes? Einen Mund voll? Einen halben Mund voll?“
„Du hast freiwillig Brot und Wasser gewählt. Gieb den Grund an, warum.“
„Ich soll Ihnen sagen, warum, Herr Kreisjustizrath. Durfte ich denn essen die Gefangenkost? Sie war nicht kauscher. Das Gesetz verbietet sie.“
Ich musste mit einer Art von Bewunderung den Juden ansehen, der fünf Vierteljahre lang, um einem von Tausenden seiner Glaubensgenossen nur noch verspotteten Gesetze nicht entgegen zu handeln, nichts als Wasser und Brot genossen hatte, und dessen Aussehen doch bezeugte, daß ihm früher der Genuß einer wohlbesetzten Tafel, wie die vermögenden Juden an der russischen Grenze sie bekanntlich lieben und führen, nicht fremd gewesen war.
Er fuhr fort: „Aber das war nicht die Grausamkeit, Herr. Auch nicht einmal einen Hering ließen sie mir zukommen. Ich hatte gebeten darum, nur einmal in der Woche, am Schabbes. Meine Frau sollte ihn bezahlen, doppelt, dreifach. Ich bekam ihn nicht. Die Herren Referendarien lachten mich aus.“
„Warum das?“ fragte ich den Secretär.
„Das Reglement schreibt genau die Gefangenkost vor. Ein Hering wird nicht erwähnt.“
„War das in der That ein Grund?“
Der Secretär zuckte wieder die Achseln: „Die Herren Inquirenten ordneten es so an. Ausnahmen können nur vergünstigungsweise gestattet werden. Der Jude leugnete hartnäckig.“
„Gottes Wunder, ich sollte lügen, ich sollte mich lügen auf das Zuchthaus, an den Galgen, um einen Hering zu verdienen.“
Ich unterbrach ihn. „Legt Ihr Gewicht auf den Hering, Schlom?"
„Gewicht, Herr? Ich lege Gewicht nur auf das Recht, auf meine Freiheit. Lassen Sie mich gehen nach Hause, zu meiner Frau und meinem Kind; ich will keinen Hering.“
„Ihr täuscht Euch über Eure Lage; Ihr seid in eine weitläufige Untersuchung verwickelt, die noch Jahr und Tag dauern kann.“
„Das haben sie mir gesagt alle, alle die Herren Referendarien. Aber Sie sind der Herr Kreisjustizrath, der Herr Rath des Rechtes. Sie werden mich lassen frei. Was geht mich die Untersuchung an? Was habe ich denn verbrochen? Sie haben gelesen die Acten. Sagen Sie es mir.“
„Man hat Euch mit einem gestohlenen Pferde ertappt."
„Ertappt? Wunder Gottes! das steht in den Acten? Die Acten lügen, Herr.“
„Der Dorfrichter von Mädischkehmen hat die amtliche Anzeige gemacht."
„Gott strafe ihn, den Hund! Gott hat ihn schon gestraft.“
Der Jude war plötzlich in große Aufregung gerathen. Sein bleiches Gesicht röthete sich. Sein Blick sprühte Wuth. Doch wußte er sich bald zu mäßigen.
„Verzeihen Sie," fuhr er ruhiger fort. „Aber die Acten lügen, dabei bleibe ich. Das war eine schändliche Geschichte. Ertappt? Ich will Ihnen erzählen, Herr, wie man mich hat ertappt, hier in Preußen. Herüber gelockt hat man mich über die Grenze, hinterlistig herüber gelockt. Was sage ich? Gelockt? Hinterlistig? Gewalt hat man mir angethan!. List und Gewalt! Der Dorfrichter von Mädischkehmen und noch Einer. Einen Brief ließen sie mir schreiben, ich solle kommen an die Grenze, nur bis an den Grenzgraben, nicht herüber nach Preußen. Es würden Preußen da sein, aus Tilsit, die wollten machen ein Geschäft mit mir in Seidenwaaren, ein erlaubtes Geschäft, ein reelles Geschäft. Ich ritt hin, ohne Arg. Des Morgens um vier Uhr war ich da, wie geschrieben stand in dem Briefe. Es war noch dunkel. Die Kosacken an der Grenze schliefen. Zwei Männer waren da, ich kannte sie nicht. Sie sahen aus, wie Herren, wie Herren aus der Stadt. Sie hatten bei sich die Seide. Schöne Seide, preiswürdig. Aber es war alles Betrug. Auf einmal springen vier Kerle heraus aus dem Grenzgraben, fallen über mich her, als ich besehe die Seide, fassen mich, schleppen mich über die Grenze, mit meinem Pferde, nach Preußen. Da steht der Dorfrichter von Mädischkehmen, und wartet schon, und wirft mir um einen Strick um den Hals und die Arme, und bindet mich auf mein Pferd, und führt mich zum Herrn Landrath und sagt, ich sei gekommen über die Grenze, und so habe er mich arretirt. Arretirt? Ertappt? Ich will sterben, wenn mich hat ertappt der Hund."
Es ermittelte sich erst später, nach Jahr und Tag, daß Schlom Weißbart, auf den die Polizei in Preußen fahndete, und der dies wohl wußte und sich daher hütete, die Grenze zu überschreiten, in der That auf solche Weise theils durch List, theils durch Gewalt auf preußisches Gebiet gebracht und hier verhaftet war. Damals ging aus den Acten nichts darüber hervor. Ich bemerkte dies dem Juden. Ich fragte ihn, ob er Beweise habe für seine Behauptung gegen die amtliche Anzeige des Dorfrichters.
„Der Dorfrichter ist todt,“ antwortete er. „Strafe Gottes.“
„Habt Ihr Niemanden von den Leuten gekannt, die Euch überfielen?"
„Niemanden.“
„Auch keinen von denen, die mit Euch handelten?“
„Keinen."
„Ihr werdet einsehen, daß Eure bloßen Behauptungen eine amtliche Anzeige nicht entkräften können.“
„Es ist mein Unglück."
„Zudem kommt am Ende wenig darauf an. Der Euch beschwerende Umstand bleibt: Ihr seid mit einem gestohlenen Pferde ergriffen.“
„Gottes Wunder, ist es ein Verbrechen, zu reiten auf einem gestohlenen Pferde, so muß in’s Zuchthaus halb Litthauen und Szamaiten. Ich habe geritten auf dem Pferde, aber ich habe es nicht gestohlen.“
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Bis zum Hochzeitstag.
Trotz einem trüben Novemberabend des Jahres 1787 gingen zwei Damen vor einem reizend gelegenen und noch immer dicht umbuschten Hause zu Rudolstadt spazieren; die Eine mochte 26, die Andere 22 Jahre zählen; jene trug bei aller Jugendlichkeit doch das Gepräge der Frau, und zwar das einer sinnig-ernsten, wenn auch oft ein heller Strahl geistiger Lebhaftigkeit den Ernst durchleuchtete. Die Jüngere erschien durchaus mädchenhaft in der eher kleinen als mittelgroßen, schlanken und feinen Gestalt, in den ziemlich hellblonden, lang nach hinten zurückgeworfenen Haaren und den großen, edel geschnittenen hellblauen Augen; aber die reinen, klaren Züge waren oft wie mit einem Hauche frühreifen Verstandes überschattet. – In wenigen Minuten konnte die eigenthümliche Erscheinung um vieles älter und um vieles jünger aussehen als sie es wirklich war. – Es waren auch wohl ernste, bedeutungsvolle Momente und Empfindungen, die beide Schwestern jetzt durchsprachen und durchdachten; – sie schauten einige Minuten träumerisch hinaus nach den fernen Berggeländen – da erklang es von unten herauf wie Pferdegetrappel, sie blickten auf den Hügel hinunter und zwei Reiter sprengten heran, die Gesichter fast verhüllt in den Kaputzen ihrer langen grauen Mäntel. Sie grüßten die Frauen, die zwar neugierig voran, aber halb verlegen halb verwundert wieder zurücktraten.
„Der Vetter!“ rief die Jüngere.
„Schiller!“ rief gleichzeitig die Aeltere und Beider Gesicht war hoch geröthet.
Die Reiter, die nun abstiegen, wurden später die Männer der beiden Damen, – aber nicht derjenigen, die zuerst sie erkannt hatten: Charlotte von Lengefeld, die jüngere, wurde Schiller’s Frau; Caroline von Beulwitz, die ältere Schwester, wurde die Frau ihres Vetters Wilhelm von Wolzogen, des Jugendfreundes unseres großen Dichters. Die Freunde kamen von Meiningen, wo sie Wolzogen’s Mutter und Schiller’s dort verheirathete Schwester besucht hatten, und wollten in Rudolstadt die Verwandten des Ersteren nur vorübergehend begrüßen, als hier die Würfel ihrer späteren Lebensschicksale geworfen wurden.
Indessen sahen sich die vier edlen Menschen jetzt nicht zum ersten Male. Wolzogen’s und Lengefeld’s waren sich nicht allein befreundet, sondern auch verwandt. Wilhelm hatte schon früher [246] einige Besuche dort gemacht, als er nach beendigten Studien auf der Karlsschule in Stuttgart vom Herzoge von Meiningen im Baufach angestellt wurde. Und schon in Stuttgart selbst war er von den lieben Cousinen und deren Mutter begrüßt worden, als dieselben 1784 aus der Schweiz kommend Wilhelms Mutter besuchten, die sich ihrer Söhne wegen damals in Stuttgart aufhielt. Diese vortreffliche Dame hatte unserem Schiller den ersten Schutz geboten, als derselbe von der Noth und dem Herzog Karl von Würtemberg verfolgt wurde; auf ihrem Gute Bauerbach bei Meiningen lebte der flüchtige Freund ihres Sohnes sicher und sorglos; sie achtete nicht der Nachtheile, die daraus ihrem Sohne selbst in Stuttgart erwachsen konnten.
Wilhelm hatte die Verwandten auch zu Schiller’s Aeltern auf der Solitüde geführt, und es ihnen zur Pflicht gemacht, die hier empfangenen Grüße dem Sohne selbst zu bringen, der in Mannheim schon im ersten Stadium seines Ruhmes stand. Und hier war es denn, wo Schiller zum ersten Male Caroline und Charlotte sah. Dieses Begegnen war indessen flüchtig und fast kalt. – Die Schwestern waren noch ganz erfüllt von ihrem Schweizerleben, hatten eine Art Scheu vor dem Dichter der Räuber; und verwunderten sich deshalb, daß ein so gewaltiges und ungezähmtes Genie ein so sanftes Aeußere haben könne. Bei Schiller war kein Eindruck von diesem Begegnen zurück geblieben; – Caroline hatte schon Tieferes davon getragen, wie sie überhaupt auch schon vorher mehr als Charlotte den großen Genius in dem Dichter der Räuber erkannt hatte. – Auf Charlotte hatte wohl mehr das zwar lebhafte, aber doch milde, mehr genießende und schwärmerisch anerkennende, als selbst producirende und dominirende Wesen des Vetters Wilhelm Eindruck gemacht, während dieser mit hingebender Begeisterung Carolinen angehörte, und dieses Gefühl bis jetzt treu bewahrt und noch eifriger entwickelt hatte, vielleicht ohne es selbst zu wissen, wenigstens ohne es ahnen zu lassen: Caroline war ja schon seit drei Jahren Gattin, – wenn auch keine glückliche. Eine Convenienzheirath hatte sie dem sonst sehr vortrefflichen und edelgesinnten Herrn von Beulwitz ungeliebt vermählt.
So standen denn nun die vier Menschen in eigenthümlicher Stimmung zusammen: Schiller litt noch recht wund an seiner unglücklichen Liebe zu Frau von Kalb; Charlotte hatte kurz vorher einen geliebten Mann nach Amerika wandern sehen, um ein für allemal ein Verhältniß abzubrechen, von dem wir nur wissen, daß es unglücklich war und das jetzt noch Charlotten’s Herz bewegte. In dieser Stimmung war sie vielleicht um so empfänglicher für den erneuten Eindruck, den Wolzogen’s plötzliches Erscheinen auf sie ausübte. – Dieser aber war mehr denn je versunken im Anblick Carolinen’s, und diese staunte begeistert Schiller an, der von Weimar aus damals immer weiteren Ruhm gewonnen, immer helleren Glanz von sich ausgestrahlt hatte und in seinem ganzen Erscheinen auch liebenswürdiger geworden war. Schiller fühlte sich früher schon innig zu ihr hingezogen, doch ohne tiefere Bedeutung; Charlotte machte auch jetzt wenig Eindruck auf ihn. – Das war die eigenthümliche Situation, in welche sich die Vier hier zusammen fanden, und aus der sich später die eigentlich nicht zu erwartende Doppelheirath entwickelte.
Manche Leserin dieser Erzählung wird vielleicht gar nicht recht erbaut sein von diesem Beginn der berühmten „Liebe Schiller’s zu Charlotte;“ noch weniger von unserer Behauptung, daß Schiller’s eigentliche Liebesgluth weit mehr Carolinen als Charlotten angehörte; daß Beide weit mehr durch ruhige Neigung und Freundschaft als durch Leidenschaft an einander gefesselt waren. Die Jugend und Frauenwelt hat sich jene Liebe meist sehr ideal und schwärmerisch gedacht und sich mit schönen Verzückungen in ein Verhältniß zwischen den Liebenden und Gatten hinein phantasirt, das eigentlich nie bestanden hat. – Aus der Erziehung und dem Charakter Charlotten’s, dann aus schlagenden Stellen in Schiller’s, Carolinen’s und Charlottens’s weit verzweigtem Briefwechsel wollen wir unsere Behauptung zu rechtfertigen, dann aber auch darzulegen versuchen: daß gerade dieses Verhältniß das für beide Theile gemäße war und sich zu reiner, schöner Blüthe und Frucht entwickelte, indem es Charlotte immer bedeutender, Schiller immer ruhiger und zufriedener machte; Charlotte war der gute Erdenengel unseres unsterblichen Dichters.
So recht mitten im Herzen des thüringer Wald- und Berglandes geboren und erwachsen, und zwar in einer Gegend, die die lieblich-anmuthigen und wildromantischen Reize dieses herrlichen Landes in sich vereinigt: das allein schon konnte nicht ohne Einfluß auf die Entwickelung so erregbarer und empfänglicher Naturen wie die unserer zwei Schwestern sein. Auch die Aeltern nahmen sich mit so viel Bildung, Geschmack und eifrigem Willen der Entwickelung ihrer Töchter an, daß dies durchaus nachhaltig auf sie wirken mußte. Der Vater, Landoberjägermeister, und als Forstmann von bedeutendem Ruf, wirkte auf die Mädchen als kräftige, durch und durch gesunde und resolute Natur, – die Mutter, eine geborne von Wurmb, als ruhige, gottesfürchtige Frau und als ceremoniöse Oberhofmeisterin; der Erstere aber mehr auf Carolinen, die doch schon im vierzehnten Jahre stand, als der Vater starb, von diesem ganz besonders in Obhut genommen war und zu Pferde, zu Wagen und zu Fuß bei vielen fernen und nahen Waldtouren den gichtigen Vater begleitet und dabei die starke, freie Wald- und Bergluft des Landes eingeathmet, die wilde Romantik desselben kennen gelernt und in diesem frischen Naturverkehr Blick und Sinn sich erweitert und gestärkt hatte.
Charlotte war, währenddem noch Kind, fast nur der Mutter und dem lieblich anmuthigen Naturkreis der nächsten Umgebung überlassen. Dies noch mehr nach dem Tode des Vaters 1779, und zwar immer entschiedener und einseitiger, weil die Mutter sie zur Hofdame heranbilden wollte und das junge Gemüth sehr früh mit all den Kleinlichkeiten, Lächerlichkeiten und abgeschmackten Ceremonien erfüllte, die damals namentlich an den kleinen Höfen und ganz besonders am dortigen Hofe, zu solcher Stelle nöthig waren. Die Vorschriften und täglichen Uebungen für Haltung, Miene, Geberde mußten natürlich auch das innere Wesen berühren, wenigstens es einschüchtern oder einzwängen.
Dazu kam noch, daß Caroline schon mit sechzehn Jahren Braut wurde und damit an sich, in ihrem Hause und in der Gesellschaft eine so frühe und dominirende Selbstständigkeit gewann, daß die, doch nun auch herangewachsene und immermehr zur Jungfrau sich ausbildende Charlotte noch lange Zeit fast unbeachtet blieb, und unerkannt, einsam, in ertödtendem Studium zur Hofdame, ihr junges Leben hinbrachte, ihre reiche, tiefe Gemüthswelt verschließen, in manchem wohl gar versiegen, wenigstens einschlummern lassen mußte.
Um das zur Hofdame nöthige echte Französisch an schöner Quelle zu erlernen, wurde Charlotte nach der französischen Schweiz gebracht; Mutter, Schwester und deren Bräutigam begleiteten sie. Fast ein Jahr brachten sie in Vevey zu; aber während Mutter und Schwester die herrlichsten Gegenden besuchten, und mit Lavater in Verkehr traten, mußte Charlotte bei einem ehemaligen Jesuiten, Fauconnier, viel und streng Französisch treiben und schließlich längere Zeit die Krankenwärterin bei ihrer Schwester sein, die sich bei einem Ausflug in das Gebirge eine gefährliche Nervenkrankheit zugezogen hatte.
Alles dies zusammen mußte wohl, – bei einer schon an sich milden, bescheidenen, verständigen und still beobachtend angelegten Natur, – ein Wesen, einen Charakter bilden: mehr theilnehmend als anregend, mehr dankbar empfangend als leidenschaftlich austauschend, mehr klar, still und sicher in sich selbst beruhend, als mit voller Hingabe einer flammenden Liebe entzückend und berauschend. Ein solcher Charakter konnte Schiller’s Ideal nicht sein; ein solcher Charakter aber mußte dem idealen Schiller so recht zum Halt- und Mittelpunkte seines häuslichen Dichterlebens werden.
Einige Züge aus dem Leben Charlotten’s, zur Zeit, als Schiller in Beziehung zu ihrer Familie und dann näher zu ihr selbst trat, dürften geeignet sein, ihr Wesen in dem Sinne zu beleuchten, wie wir es aufzufassen versuchten. Sie liest z. B. Anton Reisser und empfiehlt es allen Schulmännern; sie liest Trenk und glaubt, es könne vielen jungen Leuten zur Warnung dienen; sie liest Tissot über die Nerven und hat den Wunsch, als Mann Anatomie studiren zu können; sie liest La Roche’s Reise nach London, findet sie meist langweilig und ermüdend, hat aber große Freude an der Schilderung der Nation, weil ihr bei derselben Größe und Wohlthätigkeitssinn harmonisch vereinigt erscheinen. Sie ist fertig im Zeichnen einfacher Landschaften; sie führt dieselben mit Reinheit und Zartheit, aber ohne Kühnheit aus. Sie spricht stets sehr langsam und leise, so daß sich der spätere Hausfreund Göritz noch darüber lustig macht; derselbe will auch ein herbes und vornehmes [247] Wesen gegen ihre Dienstboten bei ihr bemerkt haben. Ihre Schwester Caroline nennt sie „mäßig, aber treu und anhaltend in ihren Neigungen." Als Schiller bei seinem ersten Aufenthalt in Volkstädt den Schwestern die Odyssee vorliest, fühlte Caroline einen neuen Lebensquell durch ihre Seele rieseln, Charlotte aber schläft einige Mal dabei ein, liest indessen ein halbes Jahr später den Aeschylus und Sophokles selbst vor und freut sich innig „über die Wahrheit und Einfachheit“ dieser Dichter. In seinem ersten Liebesbriefe beklagt sich Schiller über Charlotten’s oft „seltsame Kälte“ und „abgemessenes Betragen“, - schreibt Beides aber schon bald ihrer stillen Ruhe der Empfindung zu. So war Schiller’s Braut.
Jene einzige, schöne Zeit der Schiller Goethe-Epoche, die einen weiten Kreis edler, bedeutsamer und großer Männer und Frauen gleichsam zu einer stillen Gemeinde der Geister und Seelen vereinte und wohl als die feinste und edelste Blüthe dieses einen und zwar hauptsächlichsten Theiles deutschen Lebens repräsentirte„ hat uns in ihrer Geistes-, Gefühls- und Schreibseligkeit einen Reichthum von Briefen hinterlassen, deren herausgegebene Sammlungen einen großen Theil der Literatur dieses halben Jahrhunderts ausmachen. Wenn sie auch viel Nichtiges enthalten, bilden sie doch einen außerordentlich wichtigen Beitrag für die Geschichte unserer Literatur und Kultur. Für unsern Zweck hier benutzen wir sie nur zur ferneren Unterstützung der Behauptung, daß Charlotte von Lengefeld nicht die eigentliche Geliebte des Dichters war. - So haben z. B. neuere Sammlungen dargethan, daß früher erschienene Briefe Schiller’s, vermeintlich an Charlotte gerichtet, nicht dieser, sondern Carolinen und oft beiden Schwestern zugleich gelten, und das, was darin der älteren galt, von dieser der jüngeren überwiesen, als dieser angehörig betrachtet, wenigstens bezeichnet wurde; daß Caroline manche direkt an sie gerichtete Briefe, - der Schwester Schiller’s und auch wohl der Welt zu Liebe, - eigenhändig mit der Aufschrift an Charlotte versehen hat. Doch auch außerdem, nur aus dem übrigen Vorhandenen, läßt sich jene Annahme bestätigen und man braucht dazu nicht einmal viel „zwischen den Zeilen zu lesen“; man braucht nur das mannigfach Zerstreute in einigen Zügen zusammenzustellen.
Schiller kannte sich in manchen Momenten besser als ihn viele Andere kannten; einige Tage vor seinem ersten Besuche in Rudolstadt schreibt er: „Bei einer ewigen Verbindung, die ich eingehen soll, darf Leidenschaft nicht sein;“ – ein Paar Tage nach jenem Besuche, – den er freundlich aber kurz erwähnt, – meint er: „Eine Frau, die ein vorzügliches Wesen ist, macht mich nicht glücklich, oder ich habe mich nie gekannt.“
Zu Anfang des Jahres 1788, kurz vor seinem längeren Aufenthalt bei Rudolstadt, ging er ganz praktisch-ernstlich mit dem Vorhaben herum, zu heirathen. Er schreibt: „Es bleibt dabei, ich heirathe. Ich sehne mich nach einer bürgerlichen Existenz und das ist das Einzige, was ich noch hoffe. – Eine Frau habe ich noch nicht, aber gebe Gott, daß ich mich nicht ernsthaft verplempere.“ Ende Mai schreibt er von Volkstädt aus recht herzlich über die Familie Lengefeld-Beulwitz, will aber nahe Anhänglichkeit an dieses Haus und eine „ausschließliche an irgend eine einzelne Person aus demselben“ vermeiden. Ende Juli wird ihm die Trennung von diesem Hause um so schwerer, „weil ich durch keine leidenschaftliche Heftigkeit, sondern durch eine ruhige Anhänglichkeit, die sich allmälig gemacht hat, daran gehalten werde.“ Gleichzeitig erscheint ihm Charlotte „nicht ganz frei von einer coquetterie d’esprit“. Mitte November schreibt er: „Mein Herz ist frei. Ich habe es redlich gehalten, was ich mir zum Gesetz gemacht: ich habe meine Empfindung durch 'Theilung' geschwächt und so ist sie als Verhältniß innerhalb der Grenzen einer herzlichen, vernünftigen Freundschaft.“ – Noch im Frühjahr 1789 schreibt er: „Könnte mir Jemand eine Frau mit zwölftausend Thalern verschaffen, mit der ich leben, an sie mich attachiren könnte, so wollte ich in fünf Jahren eine „Fridriciade“, eine klassische Tragödie und ein halbes Dutzend schöne Oden liefern.“
Stellen wir mit diesen Zügen einzelne Stellen aus Briefen an Caroline und Charlotte zusammen; als bedeutungsvolles Motto dazu diene Carolinen’s beziehungsvolles Wort: „Schiller bedurfte immer eines Lebens in Ideen und meine ganze Stimmung begegnet ihm.“ Im Sommer 1788 schrieb ihr Schiller: „Ich möchte soviel sagen und wenn ich von Ihnen gehe, habe ich nichts gesagt. Bin ich bei Ihnen, so fühle ich nur, daß mir wohl ist und ich genieße es mehr still, als daß ich es mittheilen könnte;“ – im Februar 1789 den beiden Schwestern zugleich. „Ich wollte Ihnen bei dieser Gelegenheit einige Geständnisse ablocken, welche Sie aber gar verständlich umgangen sind. Doch hat mich Caroline raisonnabler behandelt als Lottchen. Caroline hat mir doch eine Hinterthür gelassen, und eine freundschaftlichen Vergleich auf’s Tapet gebracht, Lottchen aber fertigte mich trocken und kurz ab," - am 3. August 1789, nachdem er in Lauchstedt Charlotten’s Liebeserklärung fast ausdrücklich erhalten hatte, an Caroline. „Welch schöne himmlische Aussicht liegt vor mir. Welche göttliche Tage werden wir einander schenken! Wie selig wird sich mein Wesen in diesem Cirkel entfalten! Ich habe mich selbst wieder gefunden und lege einen Werth auf mein Wesen, weil ich es Ihnen widmen will. Ja, Ihnen sollen alle meine Empfindungen gehören; alle Kräfte meines Wesens sollen Ihnen blühen! In Ihnen will ich leben und meines Daseins mich erfreuen. Ihre Seele ist mein – und die meinige ist Ihnen;" – drei Wochen später, von Jena aus, an beide Schwestern: „Dein Brief, theuerste, liebste Caroline, hat meine Seele tief ergriffen. – – Vor meiner Seele steht es verklärt und helle, welcher Himmel in der Deinigen mir bereitet liegt. - - Wir haben einander gefunden, wie wir für einander geschaffen gewesen sind. In mir lebt kein Wunsch, den meine Caroline und Lotte nicht unerschöpflich befriedigen können. – Unsere Caroline habe ich blos ahnen können. Ihr Geist überraschte mich, in ihr ist etwas Edles und Feines, das man idealisch nennen möchte, – ihr ganzes Wesen hat einen gewissen Glanz, der mich blendet. Gewiß, sie ist ein ungewöhnliches Geschöpf und wollte der Himmel – es würde wahr und sie wäre unser auf ewig.“ – Noch ein paar Stellen aus einem Briefe an beide Schwestern vom 15. November 1789 mögen diese Citate beschließen: „Du kannst fürchten, liebe Lotte, daß Du mir aufhören kannst zu sein, was Du mir bist. So müßtest Du aufhören, mich zu lieben! Deine Liebe ist Alles, was Du brauchst, und diese will ich Dir leicht machen durch die meinige. Ach, das ist eben das höchste Glück in unserer Verbindung, daß sie auf sich selbst ruhet und in einem einfachen Kreise sich ewig um sich selbst bewegt. – – Caroline ist mir näher im Alter und darum auch gleicher in der Form unserer Gefühle und Gedanken. Sie hat mehr Empfindungen in mir zur Sprache gebracht als Du, meine Lotte, – aber ich wünschte nicht um Alles, daß das anders wäre, daß Du anders wärst als Du bist. – Nur Dein Schicksal, meine Caroline, ist es, was mir Unruhe macht – ich kann dieses trübe Verhältniß noch nicht aufklären, und es wird noch verwirrter, wenn ich an meine Lage denke. Bleibe ich in Jena, so will ich mich gern ein Jahr und etwas darüber mit der Nothwendigkeit aussöhnen, daß Du mit B– (Beulwitz) allein lebst. Von diesem Jahr kannst Du die Hälfte bei uns zubringen und die kleinen Zwischenräume der Trennung machen es erträglicher. – – Wenn sich Dein Verhältniß nun nicht mit gleichem Schritte entwickelt, so kämen wir auf ein ganzes Jahr auseinander. Das darf nicht sein. – – Es war mir doch lieb, zu sehen, daß die chère mère auf die Trennung von B. schon gedacht hat.“
So lebte Schiller in einem eigenthümlichen Doppelleben der Liebe, und es liegt wohl nicht fern, daß er an eine Ehe, wie Graf Gleichen sie führte, wenigstens in seelischer Hinsicht dachte. Auch Charlotte hat daran wohl gedacht, und wenn wir die darauf bezügliche Stelle recht erfaßt haben: mit einer herrlichen Seelenruhe. Am 6. April 1789 schreibt sie an Stein: „Jetzt lese ich Müller’s Schweizer-Geschichten. Es ist mir gar lieb, daß er die Geschichte von Wilhelm Tell nicht widerlegt, wie Andere gethan haben. Es soll gar nichts Artiges auf der Welt mehr vorgehen; ein Pater in Erfurt hat auch die Geschichte vom Grafen von Gleichen widerlegt. Sehen Sie, daß unser Geschlecht recht gut ist, denn wir glauben gern, daß es wahr sein könne, dass ein Mann existirt habe, der zwei Frauen so lieben kann, und der ersten Geliebten doch immer so treu geblieben ist, wie Graf Gleichen.
Durch all dies Gegebene dürfte das Negative in dem Liebesverhältniß Beider fixirt sein. Das Positive darin, das was Beide doch immer eifriger und sehnsuchtsvoller zu einer Vereinigung drängte, sie glücklich und dauernd glücklich machte: war bei Schiller das Bedürfniß zu lieben und geliebt zu sein, wirken zu können und ein Wesen um sich zu haben, das sein Geschöpf werde, das unter den Flügelschlägen seines Genius sich entfalte, ihm sein Inneres Dasein verdanke. Er liebte Charlotte, wie ein edler Gärtner [248] ein von ihm gezogenes kostbares Gewächs, wie ein großer Künstler seine Schöpfung liebt. Bezeichnend dafür ist, was ihr Schiller am 14. Februar 1789 schreibt: „Was Caroline vor Dir voraus hat, mußt Du von mir empfangen; Deine Seele muß sich in meiner Liebe entfalten und mein Geschöpf mußt Du sein, Deine Blüthe muß in den Frühling meiner Liebe fallen. Hätten wir uns später gefunden, so hättest Du mir diese schöne Freude weggenommen, Dich für mich aufblühen zu sehen.“ – Zugleich mußte er ein Wesen um sich haben, das sich liebevoll bescheiden seinen Herbheiten und Sonderbarkeiten fügte.
Er sagte ihr z. B.: „Die schöne Seele der Geliebten will ich auffassen, ihre schönen Empfindungen verstehen und erwiedern, aber ein Mißton in der meinigen darf sie weder befremden noch betrüben. – Bei allen meinen Mängeln wird die Geliebte immer finden, was sie einmal in mir liebte. Meine Liebe wird sie in mir lieben.“
Und wie sehr kam Charlotte diesen tief-inneren Bedürfnissen ihres Freundes entgegen! Wie war ihr ganzes Wesen dazu geschaffen, diese Bedürfnisse erfüllen zu können! Wie war es ihr selbst Bedürfniß, Lebensaufgabe, Ziel – dies zu thun! Wie tief fühlte sie die Bedeutung, die Schiller’s Wesen für ihre Entwickelung und Erhebung habe! Wie verständig und schön erkannte sie auch die Nothwendigkeit, daß dieser reizbare, schwächliche, kränkelnde Mann einer ganz besonderen Pflege und Wartung bedürftig sei! Und wie glücklich fühlt sie sich, daß ihren Händen diese heilige Sorge anvertraut werden sollte! – Gerade das, was ihre Verwandte am Meisten gegen diese Verbindung stimmte: das kränkliche, reizbare Wesen Schiller’s, war es, was sie mit hohem Opfermuthe erfüllte, woran sich ihre Liebe noch erstarkte und erhöhte.
Kehren wir nun wieder zurück, um auch die äußerliche Entwickelung dieses Verhältnisses bis zur kirchlichen Verbindung in kurzen Angaben zu verfolgen. Nach dem ersten kurzen Begegnen in Rudolstadt sahen sich Schiller und Charlotte im Winter von 1787–88 in Weimar wieder. Hierher waren die Schwestern gekommen, um Vorbereitung zur Aufnahme Charlotten’s als Hofdame zu treffen. Der Verkehr gestaltete sich recht freundlich, doch nicht besonders nah. Caroline schreibt aus dieser Zeit: „Schiller hielt sich in der gehörigen Entfernung, wie ihm die Umstände und seine Feinheit lehrten.“ Indessen wurde doch schon von dem Plane gesprochen, daß Schiller den nächsten Sommer bei Rudolstadt wohnen solle. Die Freundinnen bereiteten ihm auch in Volkstädt eine heitere, reizend gelegene Wohnung vor, die er im Mai 1788 bezog.Hier schrieb er seine Geschichte der Niederlande und den Geisterseher, in steter Mittheilung an die Freundinnen. Bei diesen lernte er denn auch Goethe kennen, ebenso Herrn von Gleichen, dessen ältester Sohn später der Gemahl von Schiller’s jüngster Tochter wurde. – Gegen Mitte October zog er nach Rudolstadt selbst; nun wurde der gesellige Verkehr noch enger, und schon sprach man in der Gesellschaft von der bevorstehenden Verheirathung Schiller’s mit Charlotten, noch eher als diese selbst davon gesprochen hatten. Mitte November kehrte Schiller nach Weimar zurück; es entstand ein lebhafter Briefwechsel, doch ohne auch jetzt noch von Verheirathung zu sprechen. Währenddem mußte Charlotte noch alle mögliche Exercitien zum Amt der Hofdame durchmachen. Im Frühjahr 1789 wurde Schiller Professor in Jena, und in dieser Stellung mit Aussicht auf fixen Gehalt trat sein Wunsch der Verheirathung immer lebhafter hervor.
Im Juli reisten die Schwestern über Jena, um ihre Freundin, Caroline von Dachröden, von dem Gute ihres Vaters nach Lauchstedt in’s Bad abzuholen. Im Garten der liebenswürdigen Familie Griesbach, bei der Schiller wohnte, brachten sie mit demselben einen schönen und das Liebesverhältniß zeitigenden Tag zu. Schiller versprach nach Lauchstedt zu kommen, und eine verabredete Zusammenkunft mit Körner sollte dazu scheinbar Veranlassung sein. Ein schöner Brief an Charlotte leitete sein entscheidendes Kommen ein; gleichzeitig hatte dieselbe einen ihr unangenehmen Heirathsantrag bekommen, den die Mutter zu unterstützen schien, – da kam Schiller, Anfang August, in Lauchstedt an, und nun tauschten sie rasch und geheim das Geständniß ihrer Liebe aus. Caroline und die edle Caroline von Dachröden segneten zuerst das glückliche Brautpaar. Aber geheim mußte diese Verlobung noch gehalten werden.
Die Mutter hatte kein Vermögen für die Kinder, aber für Charlotte theils recht aristokratische, theils recht praktische Versorgungspläne. Was konnte Schiller dagegen bieten, so lange er noch keinen fixen oder ausreichenden Gehalt hatte! Dieser also sollte erst abgewartet und dann erst der Mutter Einwilligung erbeten werden. – Die Herbst-Ferien brachte Schiller wieder in Volkstädt zu, noch immer im Geheimniß vor der Mutter, aber von derselben stets inniger geliebt und geachtet. Ende October ging er zurück nach Jena, voll tiefsten Unmuths und dort oft in wahrhaft verzweiflungsvoller Stimmung. Hier zeigte sich nun schon Charlotten’s still waltender Zauber auf ihn; mit inniger Ruhe und Ergebung beschwichtigte sie den geliebten Freund. – Zu Anfang December kamen beide Schwestern nach Weimar; Schiller kam jede Woche einmal dorthin und knüpfte jetzt die herrliche Freundschaft mit Wilhelm von Humboldt, dem Geliebten der Freundin Caroline von Dachröden. – Mitte December erschien die Zusage des Herzogs auf fixe Besoldung; am 18. December bat Schiller Frau von Lengefeld um Charlotten’s Hand, – Frau von Stein vermittelte dabei theilnehmend, der edle Coadjutor von Dalberg machte für später glänzende Versprechungen – und die Mutter stimmte nun liebevoll zu. – Am 20. Februar 1790 wurden Friedrich von Schiller und Charlotte von Lengefeld, in dem Dorfe Wenigenjena bei Jena durch den Pfarrer Schmidt getraut. „Der Kosten wegen,“ – wie Schiller lakonisch-naiv schrieb – „ganz einfach und still.“
Die Mutter war dazu von Rudolstadt herübergekommen und freute sich des Glückes ihrer Kinder. – „Meine Frau hat die vollständige Hauseinrichtung mitgebracht,“ so schließt Schiller die Aufzeichnungen aus seinem hier endenden ersten großen Lebensabschnitt. – Mit diesem Ende sollte aber nun erst das wahre, tiefste Lebens- und Liebesglück der zwei Verbundenen beginnen.
Den hat der Schlag gerührt, pflegt man von Dem zu sagen, der plötzlich und ganz unvermuthet, ohne vorhergegangene Krankheit und Gewaltthätigkeit, entweder sofort vom Tode befallen wird oder doch das Bewußtsein verliert und zugleich mit diesem auch noch die Fähigkeit, die eine Hälfte seines Körpers zu bewegen. Im letztern Falle kann der Kranke aber recht gut wieder zum Bewußtsein und allmälig auch zur Bewegungsfähigkeit, also scheinbar zur vollen Gesundheit gelangen, jedoch stirbt er auch nicht selten im bewußtlosen Zustande nach kürzerer oder längerer Zeit (nach Stunden oder Tagen). Sehr häufig bleibt nach dem Verschwinden der Bewußtlosigkeit die halbseitige Lähmung zeitlebens zurück, bisweilen ganz vollständig und in hohem Grade, manchmal sich mindernd und in niederem Grade. In einzelnen Fällen kehrt mit dem Bewußtsein die Geistesthätigkeit nicht vollständig wieder und dann sind Gedächtnißschwäche, Stumpfsinn, selbst kindischer Gemüthszustand, die bleibenden Folgen des Schlagflusses, der sich übrigens nicht ungern, in kürzerer oder längerer Zeit wiederholt.
Der Schlaganfall (die Apoplexie) tritt entweder blitzschnell ein oder nach vorhergegangenem Schwindel, Dunkelwerden vor den Augen, heftiger Brustbeklemmung und Angstgefühl, lallender Sprache und Sprachlosigkeit. Mit dem Schwinden der Sinne und des Bewußtseins fällt der Kranke plötzlich hin, sein Athem wird mühsam und schnarchend oder röchelnd, das Gesicht gewöhnlich einseitig verzerrt, bisweilen roth oder blauroth gefärbt, die Augen stier und glotzend, die Pupille erweitert, die Augenlider herabgesunken, der von Speichel und Schaum bedeckte Mund mit dem einen Winkel schief nach abwärts gezogen, Arm und Bein der einen Seite schlaff herabhängend. – Von Vorboten, welche mit nur einiger Sicherheit das Herannahen eines Schlaganfalles verkünden könnten, ist keine Rede, noch weniger aber existirt ein besonderer [249] Körperbau (ein sogenannter apoplektischer Habitus: untersetzte Statur, kurzer, dicker Hals, rothes Gesicht), der zum Schlagflusse disponirte. Nur Personen in den höheren Lebensjahren und solche, die schnell fett geworden sind, werden am gewöhnlichsten vom Schlage getroffen.
Wodurch wird nun dieser plötzliche Tod oder diese Bewußtloßigkeit mit halbseitiger Lähmung veranlaßt? In der Regel trägt irgend ein Leiden des Gehirns die Schuld, bei dem Zustande aber, welchen der Arzt Hirnschlagfluß nennt, ist allemal eine Zerreißung von Blutgefäßen im Gehirne, mit Austritt einer größern oder geringern Menge von Blut aus den zerrissenen Gefäßen in die Hirnsubstanz, die Ursache. Daß nun aber öfters Gefäße im Gehirne zerreißen und so das ausgeflossene Blut entweder das ganze Gehirn oder nur die, vom Gehirne zu der einen Hälfte des Körpers tretenden Nerven durch Druck oder Zerquetschung lähmen kann, hat seinen Grund zunächst in einer solchen Entartung der Blutgefäßwände, bei welcher dieselben zerreißlicher werden, so daß jede stärkere Blutanhäufung in den Hirngefäßen auch leicht eine Zerreißung derselben veranlaßt. Diese Entartung ist aber doppelter Art; sie besteht nämlich entweder in einem Starrer-, Härter- und Brüchigwerden der Gefäßwand, wie dies im höhern Lebensalter der Fall ist, oder in einem Fettig-, Weich- und Mürbewerden derselben, wie dies bei Personen vorkommt, die schnell fett wurden (zumal in Folge häufigen Genusses spirituöser Getränke). Die Zerreißung dieser leicht zerreißlichen Blutgefäße kann sodann durch Alles veranlaßt werden, was eine größere Anhäufung von Blut in denselben erzengt, sonach durch Alles veranlaßt werden, was entweder eine größere Menge von Blut zum Gehirne hintreibt Oder dasselbe vom Gehirne nicht gehörig abfließen läßt.
Die Erscheinungen und Folgen der Hirnblutung richten sich nach der Quantität des ausgegossenen Blutes, nach der Beschaffenheit und dem Verhalten der Hirnsubstanz, in welcher die Blutung geschah, und nach den Umwandlungen, welche das ausgelaufene Blut erleidet. – Zerreißen nur wenige kleine Gefäßchen und tritt eine geringe Menge Blutes aus denselben hervor, so daß dann die Fasern und Zellen der Hirnsubstanz einen nur geringen Druck durch dasselbe erleiden, so ist die Bewußtlosigkeit und Lähmung auch nur gering und, da das Blut wieder aufgesogen wird, bald vorübergehend. In solchen Fällen stellt die Natur (niemals der Arzt) den Kranken vollständig wieder her; nur läßt sich hierbei der Zeitpunkt nicht angeben, bis zu welchem die Lähmung ganz verschwunden sein wird, da dies von dem schnellen oder langsamern Wegschaffen des Blutes und seiner Ueberbleibsel abhängt (gerade so, wie manche Brauschen zeitig, andere spät vergehen). – Ergießt sich eine größere Menge Blutes aus den zerrissenen Gefäßen, dann wird dieses selten wieder aus der Gehirnsubstanz ganz weggeschafft, sondern theilweise in eine härtliche Masse verwandelt, welche die Hirnsubstanz fortwährend zusammen drückt und deshalb die halbseitige Lähmung niemals, trotz aller Arzneimittel, Bäder und magnetisch-elektrischer Kuren, vollständig vergehen läßt. Auch kann sich hier einige Zeit nach dem Schlaganfalle rings um das ausgeflossene Blut in der Hirnsubstanz eine Entzündung bilden, welche den Tod herbeiführt. – Bei starkem Blutergusse wird die Hirnsubstanz zerquetscht und zerrissen, und deshalb tritt hier plötzlicher Tod ein oder es bleibt doch die Lähmung für immer in gleich hohem Grade zurück. – Man sieht hieraus, daß sich die Folgen eines Schlaganfalles nicht genau bestimmen lassen; denn es kann ebenso zur vollständigen Heilung kommen, wie auch die halbseitigen Lähmungen in geringem oder in hohem Grade zurückbleiben, der Tod früher oder später eintreten kann. – Daß der Arzt durch Medicamente heilsamen Einfluß auf den Schlagfluß und seine Folgezustände ausüben könne, ist purer Aberglaube. Zur Mode ist es unter den Aerzten geworden, dem vom Schlage Gerührten tüchtig zur Ader zu lassen, Blutegel an den Kopf zu setzen und kalte (Eis-)Ueberschläge auf den Kopf zu machen. Verf. hat noch niemals sehen können, daß dadurch das Gehirn blutarmer geworden wäre; ja nicht einmal bei solchen Personen, die an Verblutung gestorben waren, fand er zu wenig Blut in den Organen der Schädelhöhle.
So wenig nun der Arzt bei und nach einem Schlaganfalle helfen kann, denn er muß nach Einrichtung eines vernünftigen diätetischen Verhaltens des Kranken im Allgemeinen ja doch Alles der Natur überlassen, so viel vermag er, und auch der Laie, zur Verhütung des Schlagflusses beizutragen. Wir wissen, daß ältere Personen mit starren Blutgefäßen, sowie solche, die schnell fett wurden, am häufigsten vom Schlage gerührt werden und zwar in der Regel dann, wenn sich bei ihnen eine größere Mange von Blut im Gehirne anhäufte. Man suche deshalb eine solche Anhäufung bei derartigen Personen so viel als nur möglich zu verhüten. Daß Jemand widernatürlich starre und brüchige Blutgefäße hat, läßt sich am besten an der Schläfenpulsader erkennen, welche vor dem Ohre an der Seite des Schädels in die Höhe läuft und, wenn sie starrer ist, sich sehr geschlängelt sehen und härtlich fühlen läßt. In diesem Falle also und bei Fettleibigen werde zuvörderst Alles vermieden, was dem Abflusse des Blutes vom Gehirne zum Halse und zur Brust herab hinderlich ist, wie: enge Hals- und Brustbekleidung, Hüften anstrengendes und länger dauerndes Singen, Schreien und Instrumente blasen, längeres Bücken und Heben schwerer Gegenstände, Pressen bei hartem Stuhlgange und beim Erbrechen, starke Blähungen, bedeutendere Körperanstrengungen (Laufen, Tanzen, Schwimmen), Schlafen mit tiefliegendem Kopfe, Einwirkung größerer Kälte und veränderten Luftdruckes (z. B. auf hohen Bergen und vielleicht zu mancher Jahreszeit). Sodann vermeide man Alles, was den Blutandrang (Zufluß von Blut) zum Kopfe steigert und auf das Gehirn stark erregend einwirkt, sonach vorzugsweise das, was Herzklopfen erregt, zu reichlicher Genuß spirituöser Getränke (Berauschung) und starken Kaffees oder Thees, Ueberladungen des Magens, heftige Gemütsbewegungen, anstrengende körperliche und geistige Arbeiten (besonders des Nachts), heftig wirkende Sinneseindrücke, allzu große oder zu plötzliche Wärme und Kälte, überhaupt Erkältungen (besonders der Füße) u. s. w. – Von selbst versteht es sich wohl, daß äußere Verletzungen des Kopfes, Stöße, Schläge, Fallen auf denselben, als veranlassende Ursachen zur Zerreißung von Hirnadern ebenfalls ängstlich vermieden werden müssen.
Die Behandlung eines soeben vom Schlage Gerührten bestehe von Seite des Laien darin, daß man denselben nach möglichst schneller Lösung aller einigermaßen fest anliegenden Kleidungsstücke in eine gemächliche, mehr sitzende als liegende Stellung mit erhöhtem, unbedecktem Kopfe und herabhängenden Füßen bringt, die Luft des Zimmers rein und kühl erhält, die Füße erwärmt und Alles abhält, was Blutandrang nach dem Kopfe und Hirnerregung veranlaßt. Bei der gehörigen Ruhe des Kranken wird sodann die Natur den vorhandenen Umständen gemäß, auch ohne Beistand des Arztes und nicht selten trotz dessen störenden Eingreifens, so walten, wie es den im menschlichen Körper herrschenden Gesetzen nach nicht anders sein kann.
Pfingsten naht, Pfingsten lockt uns wieder hinaus in die Feiertagswelt der grünen Natur, hinaus zu dem ewigen Jubel des hellsten Sängerchors, des gottgesegneten, fröhlichsten Völkleins der Wälder, und dem Menschen, der Monden lang in dumpfen Mauern eingeschlossen war und im Drange der Geschäfte „Saatengrün und Lerchenwirbel, Amselschlag, Sonnenregen und linde Luft“ vergaß, dem Menschen sind ein paar Tage geschenkt, wo er einmal wieder ganz Mensch sein darf, ein paar Tage, wo er seine Werkeltagssorgen hinter sich wirft. „Gesegnet, noch im Grabe gesegnet – sagte einmal Jean Paul – sei der Mann, der die Ferien erfand und könnte ich, noch wollte ich seinen weißgebleichten Schädel streichen.“
Auch mich führte jüngst meine Reiselust mit einigen Freunden auf das herrliche, anmuthige Thüringerwaldgebirge. Noch seh ich die schattigen Buchenhallen; noch seh’ ich die gesunden, blühend schönen Gebirgsleute, noch die grünen ober blauen Blousen, den runden, schwarzen Filz der Männer, noch den weiten, kattunenen Frauenmantel, das keck flatternde, auf der Seite geknüpfte, seidene Tuch der Mädchen; noch klingt das harmonisch gestimmte, oft nach [250] verschiedenen Gemeinden in besonderen Accorden eingekaufte Schellengeläute von den Waldwiesen der Tanzbuche und des Inselsbergs herüber. Was ist’s, was zumeist dem thüringer Waldgebirge den specifischen Reiz verleiht und ihm einen ganz besonderen Character giebt? – Nicht die Großartigkeit des Riesengebirges oder gar der deutschen Alpen, nicht die Rauhheit und Abgeschroffenheit der Röhn und des Spessart, nicht die rasche, mannigfaltige Abwechselung des Harzes, auch nicht eine besondere naturhistorische, etwa geologische Eigenthümlichkeit, wie beim Fichtelgebirge vorzugsweise, nein, der eigenthümliche Reiz liegt in der Anmuth der Natur, in der eigenthümlichen Industrie seiner Bewohner und in der Geschichte dieses Bodens. Die Anmuth ist anderwärts auch zu finden, aber nicht so allgemein; das Erzgebirge hat auch geologische und geognostische Eigenthümlichkeiten, aber auch andere Industriezweige und sein – leider – charakterisirendes Elend. Und die Geschichte? Die Geschichte des deutschen Volkes rankt sich um kein Stück, um kein Gebirge des vaterländischen Bodens wohl mehr, als um diese Colonnade des himmlischen Architekten.
Auf Anrathen zweier lieber Begleiter gaben wir für heute unsern Plan, das „weißenburger Häuschen“ und den „Bürschenweg“ erreichen zu wollen, auf, verließen, den uralten, wahrscheinlich von Karl dem Großen schon angelegten „Rennstieg“ und bogen vom Ungeheuergrunde hinter Reinhardsbrunnen nach Tabarz ein. Tabarz und Cabarz sind zwei saubere Dörfer mitten im Waldgebirge, in engen Gebirgsecken gelegen; sie sind Beide, still der Natur am Herzen liegend, mit Waldduft, Waldkräutern und Waldgesang zusammengewachsen, ein paar rechte Plätzlein für Romantik. Die Bewohner sind ein eigenthümlicher Menschenschlag, durch Mundart und Kleidung von den Nachbarn verschieden, jedenfalls wendischer Abkunft. Sie erinnern auch in vieler Beziehung an den altenburger Bauer, und die Namen ihrer Ortschaften nehmen sich höchst seltsam aus mitten unter ächtdeutschen Ortsnamen.
Hier war’s, wo wir ziemlich ermüdet unsere Reisetaschen abwarfen und zuerst in dieser Gegend so recht auffällig auf einen neuen Charakterzug der thüringer Waldbewohner hingewiesen wurden. Eine ihrer liebsten Beschäftigungen, eine allgemeine Volksliebhaberei ist der Vogelfang und was damit zusammenhängt: Vogelzüchterei und Abrichten dieser Vögel. Diese Beschäftigung ist ein Stück thüringer Volksindustrie.
Vom Harze herüber klingt zwar auch aus alter Zeit die Sage von fleißigem Vogelfange; Heinrich der Vogler wurde ja dort vom Finkenfange hinweg zum großen Fange geholt. Auch sonst allerwärts giebt’s Vogelsteller und Vogelherde; aber nie so gründlich gebildete und wachsame und stolze Vogelsteller als hier. Auch mag kein Gebirge so leicht eine so bedeutende Anzahl derselben aufstellen können, als der thüringer Wald. Von Jugend auf sitzen hier die Knaben um den alten Vogelsteller her, lernen frühe schon Sprenkel stellen, Ruthen streichen, dann die Gebauer schnitzen, Pappe ausschneiden, Draht und Weidenruthen flechten; dann geht’s mit in den Wald. Da wird nun gelugt, „ausgeschaut, wo der Krinitz, der Weinzapfer, der Schniel“ etc. sein Nest baut; da lernt der Junge klettern; der Vogelflug, der Nestbau, der Lockton des Vogels ist ihm, oft schon hinreichend, den Vogel, den er vor sich hat, zu bestimmen; Wissenschaften, die nur er, der Sohn des Waldes, kennen mag und die uns meist ganz abgehen. Ja, der ächte Vogelsteller weiß an der Beschafffenheit, an der Mischung des Waldes, an der Oertlichkeit überhaupt, welche Vögel in der Nähe nisten müssen.
Dann muß man die Pflege der Vögel erlernen, ihr Futter und ihre Lebensweise wissen und das kostet Jahre; und soll’s noch Etwas mehr einbringen, als gewöhnlich, nun so muß der Vogelsteller auch etwas Markt verstehen und den Handel einleiten oder selbst auf Märkte ziehen.
In unserem Hause wohnte solch ein alter, ergrauter Waldbruder, der mich, als ich ihn unter seinen menschlichen und thierischen Schülern sah, unwillkürlich an Kind’s Gedicht: „Der Stieglitz“ erinnerte. Er saß vor einem alten, buchenem Tische und schabte Möhren; daneben stand ein ziemlich großer, hölzerner Futterkasten mit mancherlei Futtersorten in kleinen Kästen; auf dem Tische saß ein kirrer Gimpel und hülfte Sommerrosenkörner mit ebenso großem Appetite aus, wie ein rothbäckiger Junge neben ihm sich wacker in seine Butterschnitte vertiefte. Ein älterer schnitzte Holzstäbchen aus fichtenen Aestchen. Die Seite der Stube war über und über mit Vogelbauern tapezirt: groß und klein stand und hingen sie da. Die untersten waren „Brutkäfige“ und deshalb groß; oft waren sie aus Weidenruthen geflochten; darüber standen Gebauer aus Holzstäbchen, Eisendraht und durchbrochener Pappe gefertigt. Nicht immer bleibt die Form und der Stoff der Gebauer dem Zufalle überlassen; Vögel, die gern laufen, anlaufen und dann aufstoßen, bekommen lange, schmälere und mit Wachsleinwand weich gedeckte Käfige. Vögel, die gern „knappern“ (an einer Sache herumhacken) bekommen selten Gebauer von Eisendraht, weil sie den Rost „abputzen“ und sich den eigenen Schnabel oft zu Schanden machen. Noch weniger – meinte unser alter Kenner – würde er den Vögeln einen Bauer von Kupferdraht, wie sie jetzt häufig sind, geben; Holz sei rathsam und solle das nicht sein, so gebe man den dünn geschnäbelten Insektenfressern, den Grasmücken, Fitis und ähnlichen, Pappwände in die Gebauer. Einen „Bollenpick“ (so heißt der Kernbeißer dort) freilich dürfte man nicht Pappe geben.
„Wohin geht denn Euer Handel, liebe Leute, vorzüglich?“ fragen wir.
„Viel wird nach Preußen geschafft; wieder Viel geht aber nach dem Süden über Bamberg und mit den Saamenhändlern von da weiter. Wir ziehen aber auch auf die Märkte und Messen und in Fröttstädt und Waltershausen werden große Bestellungen gemacht.“ –
„Seid Ihr denn Viele im Ortem die sich damit nähren?“ –
„Herr, hier treibt man allerweil den Vogelfang, wenn man Muse hat und ich bin doch nicht der erste Vogelfänger im Orte.“
„So! Wer ist denn der erste Vogelfänger?“
„Das ist der Finkenmärten am obern Steg. Der zieht Sommer und Winter und ist blos Vogelsteller; der kann Euch mehr sage, wenn’s nur höre wollt!“ –
Wir gingen zum obern Steg hinauf. Der Finkenmärten war daheim. Wir traten in die Hausflur, wo Netze, Ruthen, Pferdehaare und Tirasse lagen. Der alte Züchter war ein freundlicher, gesprächiger Mann, wie es schien, erfreut über den Besuch. Er stand auf und kam uns freundlich entgegen; auf unsre Bitte aber, sich doch ja nicht stören zu lassen, setzte er sich wieder und begann auf der Serinette, jener kleinen Drehorgel, zu spielen. Es war gerade in seiner Hauptarbeit, als Professor artis musicae seinen kleinen gefiederten Musensöhnen Melodien einzulernen. Man benutzt außer dem Vorpfeifen und Vorsingen gar häufig noch die Serinette; vorzüglich geschieht dies bei er Gimpelzucht, wozu man oft eine kleinere Art mit bloßer oder wenigstens stark vortönender Melodie angewendet. Jetzt sahen wir auch die Wirkung auf die kleinen Sänger. Sie wohnten in ähnlichen Zellen, wie wir sie vorher gesehen hatten; nur schien hier Alles mehr auf Abrichtung und Zucht berechnet zu sein und ihr Musaget, ihr grauhaariger Musenführer, war in dieser Beziehung ein höchst interessanter Patron.
Nicht alle Conservatoristen nehmen diesselbe Notiz von der ihnen vorgepfiffenen Melodie; am Meisten und zunächst gilt dies von den Gimpeln, Sperlingen, Ammern und Staaren. Aber selbst Canarienvögel, Zeisige und Stieglitze nehmen Neues an, wenn es auch wenig ist.
„Sehen Sie“ – meinte der Alte – „dieser Canariensänger hat lange neben diesen Schniel (Gimpel) gehangen, um ihm als Cantor zu dienen. Aber zuletzt hat mir der Gelbe noch vom Schniele angenommen. Hören Sie’s?“ – Und eben ließ der Canarienvogel seinen vom Gimpel entlehnten Lockruf: „Diu, diu! Poipoipoipoipoi“ ertönen. Und um einem Gimpel drei Melodien beizubringen, kostet es oft Dreivierteiljahre, ja auch ganze Jahre; aber wenn der Gimpel ausstudirt hat, so ist auch diesem herzensguten, zutraulichen Vögelein kaum einer der häufigeren Sänger an Eleganz der Töne gleichzustellen.Allerdings ist es ein Eingriff in die Natur, was seine einfach-schöne Waldweise abtrillerte, etwa den dessauer Marsch oder ein: Wohlauf noch getrunken – einzuüben. Theilweise macht auch die Natur ihr Recht wieder geltend; denn schließt er eine Strophe ab oder kommt er zu seinem eigenen Colloraturen, seinen schnellen, tirilirenden Figuren, seinen Passagen, Läufern , Triller und Tremulanten, so erlaubt er sich immer ein Zwischenspiel, eine neue, pikante Wendung, die mehr [251] oder minder an seinen alten Waldsang mahnt, wo ihm kein Drehorgler oder Pfeifer Lehrmeister sein konnte.
Was die Finken anbetrifft, so gilt von ihnen allen, ganz vorzüglich aber vom Buchfinken oder Edelfinken, daß sie, so gut wie die Handwerksburschen, die Studenten, die Mädchen und anderes frohes, sanglustiges Volk ihre Melodien haben. Heute singen die Finken eines und desselben Holzes noch ihr altes, eingeübtes Lied. Es ist der Gruß einer Verbindung, das Kennzeichen der Landsmannschaft, die Parole. Siehe da! Ein Sturm, ein Spatzenschießen oder sonst ein Ungefähr, vielleicht selbst ein schüchternes Finkenjüngferchen, hat auf ein Mal einen Fremdling gebracht; es ist ein stolzgebrüstetes, frisches Männchen. Das bringt eine andere Weise mit, Alles lauscht und prüft rings in den schweigenden Zweigen. Und hat er gefallen, der neue Sänger, bei seiner ersten Gastrolle, so singt jeder Finke in der Nachbarschaft nach wenigen Tagen eben so. Es ist bekannt, und jeder thüringer Bube weiß es, daß, so gut wie die Himmelslerche (unsere gemeine Leerche, A. arvensis) nur ihr erstes Morgen- und letztes Abendlied an der Erde oder im niedrigsten Strauche sitzend, singt, oder, so gut wie die große Schnarr- und die Ziemerdrossel (T. viscivorus und pilaris) hoch droben vom Wipfel herabjubelt, ebenso gut sich der Fink zu seinem klaren, bestimmten, kurzen und zuweilen schmetternden Liedchen am liebsten überhängende Aeste wählt. Frei will er singen, vom Blatte zwar, wie alle übrigen, aber auch in freister Stellung. Sie können mir’s glauben – fügte der Alte hinzu – der Fink ist der resoluteste, klügste Vogel; er hat seine Moden, seine Leidenschaften, seine Launen, seine Studirzeit und seine Sprache.
„Es ist wohl Euer Hauptvogel und Euer Liebling?“
„Warum nicht, Herr? O, es giebt auch gar Vieles dabei zu sinne, wenn’s ma sieht, auch’s Thierl hat sein G’satz und Rechte.“
„Ihr sagtet, Leidenschaften und Launen hätten Euere Finken?“
„Ja, und nicht blos meine, sonbern alle ringsum! Verstehends, der Fink ist gesellig, aber dennoch futterneidisch; er thut gar ehrbar schwätze und ist doch eifersüchtig auf die Andern. Sind g’rad wie die Stutzer, woll’n gefallen und rauf’n sich um’s Madel, wie die Bursche im Dorfe. Da binden wir einem Männel die Flügelspitzen aneinand’, stecken d’rüber, über dem Rücken, eine Leimruthe auf und lassen’s nun los, wo sich ein ander Männel singend aufschwingt. So wie’s das gewahr wird, stößt’s auf den Gefangenen herab und verklebt sich’s ganze Gefieber. Das ist’s Finkenstechen bei uns, und ein Lerchenstechen giebt’s außerdem noch, und d’rum haben Finken und Lerchen Leidenschaften. Und Launen hat der Fink auch, denn ein Mal liebt er mehr Nadel-, ein Mal mehr gemischtes Holz; einmal baut er mit Moos, Wurzeln, Halmen und Pferdehaaren und behangt sein Alles mit Baumranke (Flechten), daß dem Spitzbube Niemand sein Nestl auslugt und dann läßt er’s Gerank wieder weg, wo er’s g’rad recht haben könnte. Draußen thut er wie Zuckerplätzle gegen den Gatten und die Jungen und drinnen im Weidrich, mit den Jungen zugleich eingesperrt, will er Nichts von ihnen wisse, und aus Erbarmen muß man’s junge Geziefer allein aufziehe. Sieht das nicht aus wie Laune?“
„Und wissen’s denn, wenn Lern- und Studirzeit ist? Wenn’s arr err arr losgeht, im Frühjahr, im März, nach der Ankunft. Do sieht man’s doch, daß man frühe lerne muß, soll’s was werde. Und jed’s Frühjahr wird auf’s Neun einstudirt, so daß ich manchmal g’docht hab’, mag wohl ein ew’ges Lernen bebeuten solle; die Junge fange manchmal schon im Herbste noch zu stimme und zu dichte (das erste Singen) an; freilich thut’s sich noch nit kläre. Wenn’s dann no wird, klingt’s aber pink, pink, trink, trink ringshin; andere sagen fink oder jäck jäck und jüpp jüpp. Sprechens doch die Leut’ im deutschen Reich auch nit all’ Eins. A Voater redt anders mit seinen Kindern; der Fink a schnärrt und lespert zu seine Kleine „„rrüip,““ zum Weibel „„zir zirr.““ kommt’s ihn ängstlich an, ruft er laut „„rrüip pink pink““ und wenn’s regnen wird, sagt er’s a.“
„Sagen’s Euch denn nicht die Spechte und Wendehälse lauter?“
„0 ja! Aber ’n Fink sieht und hört man allweil und ’s schwüle Wetter schreit er an: „„Trifh, jrerrk, jeck,““ ’s kommt bald Dreck.“
„Wie viel Finken habt Ihr denn in Eurem Gewahrsam?“
„35 Stück Finken, aber 70 Vögel in Allem, Mancher gilt ’n Dreier, manchen möcht’ ich nit um Gold verfeilschen.“
Wir waren völlig befriedigt. Die Vogelhäuser mit ihrem munteren Leben, der gemüthlich plaudernde Alte mit seiner ächt thüringischen Mundart dazu. Alles hatte uns einen bleibenden Eindruck von einer thüringer Sängerakademie hinterlassen. – Ein abgerichteter Staar rief uns mit superklugem Schnabel noch ein Lebewohl nach.
Noch lange konnten wir nicht des Gezwitschers, der schreienden Serinette, der eigentümlichen, derben Sprache des Vogelstellers vergessen.
In keinem Lande der Welt lassen sich vielleicht Beobachtungen über die Singvögel leichter anstellen als hier, wo diese so gern zu Hause sind. Drum haben wir auch tüchtige Werke der Art, diesem Boden entsprossen. Drum hat auch die klassische Literatur der Deutschen dem thüringer Vogelsange ihre Verehrung gezollt, und Ernst Wagner in seinen Briefen aus Liebenstein gar die Finkenschläge in vier Kategorien gebracht, unter denen die Finken mit den Schlußformeln Paraduppia Gabir und dann Jajaja Sparbarapierpet und die mit dem Kunsttriller Rrrrrr Jiiiiiii Zeeeeer, die besten sein sollen.
In ganz Thüringen hat man vorzüglich drei Ortschaften als Hauptstapelplätze der Vogelzucht und des Vogelhandels anzusehen; nämlich Breitenbach im südlicheren Gebirgstheile, Tabarz, in der Mitte am Inselsberge und Waltershausen, jetzt der Wohnort des bekannten Dichters Ludwig Storch, welches so reizend an der Berglehne liegt und in dessen Nähe das berühmte Schnepfenthal aufblühte. Diese Ortschaften sind unsere rechten Sängerakademien; denn nicht nur in Dörfern, selbst in größeren Städten finden wir diese Vogelliebhaberei leidenschaftlich betrieben. Waltershausen und Breitenbach vertreten zugleich als äußerste Pole des Geschmacks zwei Lieblingsvögel aller Welt. Indeß nämlich in Breitenbach die berühmtesten Finkenzüchter von der Welt wohnen und man im ganzen Orte oft über 4200 Finken zieht, so hat Waltershausen einen bedeutenden Ruf, nicht blos durch seine guten Würste, sondern auch durch seine hochstudirten, froh und schwermüthig singenden Gimpel, so daß dort eigentlich der Gimpel kein „Gimpel“ mehr ist. Mancher einzelne Vogelzüchter hält über hundert Vögel. Dann ziehen die Breitenbacher fort vom Heimathshause, wie alle Gebirgsbewohner, die ihre Waaren hinab in’ s Thal tragen. Und so gut wie der Westerwälder seine Thonwaaren, der Schwarzwälder seine Uhren, der Erzgebirger seine Blechlöffel und Posamente feilbietet, so hockt Bruder Breitenbacher seine Vogelwelt in vielen kleinen Gebauern auf und zieht, ein Seitenstück zu dem Tyroler aus dem Imster-Thale, der mit den Canarienvögeln feilscht, weit fort auf die Märkte. Zieht er doch nicht allein; denn aus dem nachbarlichen Masserbach kommen die Hefenhändler und aus dem nahen Königsee die Salben-, Pommaden- und Fleckseifenhändler, diese lauten Straßencantoren auf unseren Märkte und Messen.
Man glaube aber nicht, die Vogelstellerei werde ausschließlich nur um der kleinen Sänger wegen betrieben. O nein! Man hegt und pflegt in Allem über achtzig Arten von Vögeln als Stubenvögel, welche zum Theil wegen ihrer Schönheit oder wegen des Gesanges ober aus beiden Gründen oder endlich auch wegen ihrer drolligen Geschicklichkeit und Geselligkeit gehalten werden. Zur ersteren Classe, zu denen, die mit schönem Gefieder den angenehmen Gesang vereinigen, gehört der Pirol, der gemischte Vorhölzer liebt, sein Nest so äußerst kunstvoll baut und es geschickt und fest mit Bast, Halmen und Merg an niedrige Zweige bindet. Er heißt Bülow wegen seines ähnlichen, heerlich flötenden Rufes zur Paarungszeit. Häufig und beliebt ist auch der Schniel oder Lohfink (Laubfink, Gimpel), den man in Geseltschaft seines seltneren Verwandten des „Girlitz“ (Karmingimpel, F. Erythrina) zuweilen vor den Fenstern hangen sieht. Ebenso wird der obengenannten Vorzüge halber der Bollenpäk oder Kernbeißer (F. coccothraustes) mit Schlingen, Netzfallen und Dohnen gefangen. Die Krinitze und Talbite (Kreuzschnäbel) sind ebenfalls durch Farben, feinen Gesang, aber auch durch drolliges, Papageien-ähnliches Gebahren zu Lieblingen geworben. Roth- und Blaukehlchen folgen; selbst Sperlinge (vorzüglich Feldsperlinge, F. campestr.) zieht man, und der wüste, nur wenig Liebliches sagennde „Rohrsperling“ nimmt dennoch Politur an, welcher Erfolg mir zuweilen als ein Meisterstück der Züchter zu gelten scheint. Zwuntsche oder Grünlinge (Fr. chloris), Bluth- und [252] Karminhänflinge, Zeisige, ebenso zärtlich als gelehrig, denn sie werden häufig zum Wachestehen, Wasserziehen etc. abgerichtet, die immer rührigen Sanguiniker, die Stieglitze, Stein-, Zaun- und Rohrammern, Gilbersche (Goldammern), seltner Ortolane und Lerchen werden überlistet und verkauft. Unter den Lerchen ist an den Abhängen zuweilen auch die Baum- oder Haidelerche, welche ihres fleißigen Singens wegen sprüchwörtlich geworden ist, aber schwer fortgebracht wird. Man fängt die Lerchen mit dem gewöhnliche Lerchennetze, durch den sogenannten „Lerchenspiegel,“ einem sich quirlförmig drehenden Holze, welches mit Spiegelstückchen belegt ist und wornach die Lerchen stechen, indeß das Netz zuklappt; oder – freilich selten – durch’s Tirassen, wobei man ein Stangennetz über die sich furchtsam duckenden Lerchen deckt, indeß man einen Merlin auf der Hand flattern ließ.
Der Geschicklichkeit und Geselligkeit wegen hält man aber auch Staare, Turteltauben, Dohlen und Meisen. Drosseln aber und Seidenschwänze, Fliegenschnäpper, auch die im Allgemeinen seltneren Weidenmückchen und Wisperlen (S. abietina und trochilus), Zaunkönige, Goldhähnchen, Grasmücken, Wachteln, selbst Rebhühner sieht man häufiger in den Hütten oder vor den Fenstern der freundlichen, aber derben Waldbewohner. Sind doch selbst mehrere Falken und Eulen, Drosseln und Enten Thüringen so recht eigen. Die Königin, die Primadonna des leichten, befiederten Geschlechts aber, die Nachtigall, will auch nicht fern sein von ihrem reichen Hofstaate. Sie hat ihre Wohnung in den nordwestlichen Vorthälern des Gebirgs, welche sich nach der reichen, thüringischen Ebene hin öffnen, aufgeschlagen und läßt dort, oft beschützt durch Landesgesetze, ihren Schlag rein und schwungvoll ertönen, so daß sie den gefeierten wörlitzer Schwestern wenig oder nicht nachstehen wird. Dort hörte auch Schreiber dieses den erhebensten Nachtigallenschlag, dessen er sich entsinnen kann. Der kleine, würdevolle Graurock saß drüben auf einem Baume; ich lag hüben auf dem breiten Aste einer dickbemoosten Buche, der Freund im Grase unter mir. Wir schlürften Göttergenuß. Und der Vogel saß auf einer Birke und sang seinem Vater ein Lob und uns frohen Wanderern einen Reisemuth zu, daß es nur so aus der tief ergreifenden, seelenvollen Melodie und dem raschen, wechselvollen Vortrage hervorquoll.
Ich habe Genua, die „Königin der Paläste“, in dem großen mittelländischen Meerbusen, in drei ganz verschiedenen Kostümen und Rollen gesehen, zuerst in seiner alltäglichen Pracht und Herrlichkeit, als ich im Juli vorigen Jahres mit der Eisenbahn von Turin eingelaufen war. Diese Eisenbahn ist einer der größten Triumphe seiner Art. Durch unübersteigliche Hindernisse, durch Ketten himmelhoher Gebirge, Felsen durchbohrend, Abgründe überspringend, tiefe Thäler ebnend, labyrinthische Windungen gerade streckend, verbindet sie jetzt spielend die schönsten Theile des herrlichen Piemont, die früher sich ferner lagen, als London und New-York. Sie ist das beste Monument des eisernen Regierungswillens, der ziemlich einsam gegen viele, scheinbar unbesiegbare Feinde zu kämpfen und sich zu bewähren verstand.
Anfangs fliegt der dampfbeschwingte Zug über üppiges Wald-, Wiesen- und Weideland an Heerden und malerischen Hütten und Dörfern vorbei. Aber bald zeigt sich das Land in seinem wahren Charakter: Berge, Gebirge, dunkele Wald- und Felsenschluchten steigen auf. Die Lokomotive donnert hinein und der Widerhall ihres fieberischen Athems kracht wie prasselndes Kanonenfeuer. Plötzlich wird es ägyptische Finsterniß, durch welche Lokomotive und Waggons blindlings hinstürzen, ohne sich zu fürchten. Manchmal blitzt ein grelles Licht vom Himmel in die Tiefe, verschwindet aber sofort wieder, bis die betäubenden Donner und die lichtlose Nacht in den Appenninnen plötzlich verschwinden und der Zug in ein Licht und ein Panorama herausschießt, das betäubt und trunken macht, ehe man es ordentlich sehen kann.
Der italienische Himmel blühte in seinem höchsten, reinsten Lichte. Es war um drei Uhr Nachmittags, als wir aus dem Gebirge herausdonnerten und den Palast-Halbmond Genua’s zwischen dem blendenden Meere und den ungeheuern Gebirgslagern im Rücken schimmern und sich strecken sahen. Prächtige Villa’s, hängende Gärten, Terrassen voller Statuen, dunkellaubiger Citronen, Weingärten und Springbrunnen klettern an den finstern Gebirgswellen hinauf bis zu den stacheligen Forts und Festungen, die mit unzähligen schwarzen Augen herausfordernd umherblicken, als wollten sie sagen: daß es Niemand wagt, meine Palast- und alte Handelskönigin hier unten anzutasten! – Sie beherrscht zwar nicht mehr die Oceane, aber noch tragen ihre Wogen eine respektable Flotte von Kauffahrteischiffen aller Zonen und Nationen aus und ein. Der unaussprechlich heitere, wolkenlose Himmel Italiens lacht darüber hin und spiegelt sich in tiefen, azurnen Tinten auf dem strahlenden Meere, das vor Freude zittert unter seinem unaussprechlichen, blauäugigen Lächeln.
Ueber eine deutsche Meile weit kam uns die grandiose Architektur Genua’s entgegen. Wir durchflogen eine lange Vorstadt von stattlichen Palästen, die von Gärten und Grotten, von Statuen, zwischen Orangen und Myrrthen umgeben, den wohlthuendsten Eindruck von Reichthum und Geschmack, von Bildung und Schönheit ausstrahlen. Nachdem wir so eine Weile durch Licht und Schönheit, Größe und Neuheit hindurchgeflogen waren, fing die Lokomotive an, langsamer zu athmen. Alles rückt und regt sich in den Waggons, ein schrillender Pfiff, ein Stoß und der Zug steht und öffnet seine Thore.
Unter einem Wirrwar zudringlicher Cicerone’s wähle ich mir den ältesten und würdigsten aus und lasse mich geduldig führen, aber nicht eher, bis ich „Genua im Kleinen“, den „Auszug Genua’s“, den „Palazzo del Principe“, gerade dem Eisenbahnhofe gegenüber, mit vollen Zügen bewundert habe. Ueber diesen feenhaften Colonnaden, auf diesen Terrassen, die über das Meer hinausragen, zwischen den Meisterwerken Pierino del Vaga’s wandelte und waltete vor drei Jahrhunderten Andrea Doria, der gewaltige Doge, welcher selbst Rom erstürmte, und stürzte die Verschwörung des Fiesko in’s Meer. – Dann geht es über eine Piazza, wo das Meer schöner noch, als vorher, herauflächelt, Straßen hinab zwischen Marmorpalästen hindurch an ungeheueren Kirchen vorbei, durch deren offene Thüren Wachskerzengeruch dringt und deren Licht die erhabenen Schiffe und goldenen Decken schwach und phantastisch erleuchtet, in eine hohe, lange, enge, dunkele Straße hinein, die kaum zwei Menschen an einander vorbei läßt und doch von Menschen und Eseln, von feilen Blumen und Früchten, Juwelierläden, Conditoreien, Priestern und Soldaten, von graziösen, weißschleierigen Damen und malerisch angeputzten Bauermädchen wimmelt, durch noch engere Windungen hindurch in einen großen Hof mit Arcaden und schwarzen und weißen Marmortreppen, hinauf in eine freskogemalte Halle, von der ein Kellner mich in ein Zimmer führt. Ich war im Gasthofe, wo es sehr lebendig und lustig, recht gesprächig und anständig zuging.
Den folgenden Tag kam mir die „Stadt der Paläste“ noch imposanter und schöner vor. Sie trug eine so alte, stattliche und doch so modern lebendige Physiognomie. Die Größe und der Glanz der Vergangenheit ist noch nicht verwittert, die Marmor-Architekturen glänzen noch, die Statuen schimmern noch weiß aus dem quelligen, saftigen Grün, und zugleich zeigt sich das gegenwärtige Geschlecht äußerst rührig und thätig, um an allen Arbeiten, Produkten und Genüssen der jetzigen Kultur Theil zu nehmen. Keine Ruinen, kein Verfall. Noch geht es hoch und glänzend her hinter den Marmorwänden in freskogemalten Hallen; auf den Straßen wimmelt es von dichter Bevölkerung und blendend schönen Damen, die wegen ihres geschmackvollen Putzes, ihrer vornehmen Blässe und ihres graziösen Ganges in wallenden Kleidern mit dem langen, transparenten „pezzoto“ weit und breit berühmt sind, obgleich sie in Gesichtsbilung den feingemeißelten Toskanerinnen und runden, blitzäugigen Schönen Roms nachstehen sollen. Ich zog vor, den Abend im Freien zu genießen und bereuete es nicht. Auf die vereinsamte Aquasola stieg der Mond im hellsten Glanze hernieder und gab den prächtigen, architektonischen Formen, Bäumen und Statuen umher neue Reize. Aus dem Hintergrunde sahen die Gebirge mit riesigen, geisterhaften Gesichtern herab. Umherwandelnd [253] zwischen den klaren, mondscheinversilberten Umrissen dieser Schönheit kam ich gegen Mitternacht in einen erleuchteten Concert-Garten, die Concordia, wo die vornehmen Damen nach der Oper unter Bäumen kühle Nacht und warme Liebe genießen, scherzen und lachen, als gäbe es kein Leid und keinen Haß in der Welt. Und wie zauberisch duften die blühenden Orangen dazwischen und wie verführerisch lächeln die gewissenlosen, nackten Statuen heidnische Lebenslust! Das ist Italien, Italien in seiner Schönheit und Poesie. Das häßliche, das historisch verdammte Italien mit seinen ausgebrannten Kratern der Geschichte werden wir leider auch kennen lernen.
Als solches sollte ich Italien in Genua’s zweiter Rolle während meiner Anwesenheit sehen. Am 22. Juli Morgens lief eine erbleichendes Flüstern durch die Stadt. „Die Cholera, die Cholera! Sie ist hier!“ Unter den Galeerensklaven des Arsenals waren einige Fälle vorgekommen, aber sorgfältig verschwiegen worden. Sie griff jedoch mit stärkerer Wuth das dort stationirte Militär an, und verbreitete von da aus über Palast und Bettelstab, Hütte und Herrlichkeit einen panischen Schrecken, von dessen Wirkungen man sich in dem moralisch kräftigeren, reinlicheren Norden schwerlich eine Vorstellung machen kann. Der Mond schien Abends auf leere Straßen und bleiche, fliehende Gestalten. Die prächtige, lebenslustige Stadt sah wie ein zum Tode verurtheilter Verbrecher aus. Die Behörden fingen am folgenden Morgen mit Riesenkraft an, das Ungeheuer zu entwaffnen. Sie eröffneten Hospitäler, trieben Nonnen aus ihren Klöstern, um Krankenanstalten daraus zu machen, bildeten medicinische Commissionen, Apotheken zu unentgeltlicher Vertheilung von Medicin, Suppen-, Speise- und Kleiderschenkungsanstalten und Reinigungs-Compagnien, Alles zu spät. Die Schmutzhaufen und stagnirenden Mistpfützen in den engen hohen Straßen, die Verwahrlosung der Menge unter einer bildungsfeindlichen Hierarchie und conservativem Adel trieb jetzt unerbittlich seine Consequenzen. Von 120,000 Einwohnern waren in vierundzwanzig Stunden über 40,000 geflohen, zunächst alle Reicheren, deren Paläste, Geschäfte und Läden geschlossen waren, so daß für die Zurückgebliebenen aller Verkehr, aller Erwerb abgeschnitten blieb. Auf „Berge des Erbarmens“ („Monte di Pieta“, wie das Regierungsleihhaus genannt wird) wurden in den nächsten acht Tagen für [254] mehr als 300,000 Thaler Sachen versetzt, um den Aermeren Mittel zur Flucht zu verschaffen. Von nun an sah man die Straßen und Wege alle Tage mit Karavanen von Familien besäet, die mit Bündeln und Kindern auf dem Rücken, in benachbarten Dörfern dem Tode zu entgehen suchten, obgleich die Seuche dort oft noch gräßlicher wüthete.
Die Straßen, die Gärten, die Vergnügungsplätze, vor wenigen Tagen noch voll von Glanz und Freude und silbernem Gelächter, lagen jetzt erstarrt, ein Tummelplatz des Pöbels und der Unzufriedenen, welche aus ihren Verstecken und Höhlen hervor kamen, um sich in aller Bestialität zu offenbaren. Die Regierung sah sich sogar genöthigt, die Ruh- und Rücksichtslosesten für schweres Geld zu beschäftigen und sie in Todtengräberbanden, „Becchini“ zu organisiren. Noch heute schauert der Genueser zusammen, wenn er nur das Wort hört. Die Becchini heulten und tranken und herrschten mit ihren rumpelnden Todtenkarren allein durch die schweigende Stadt. Des Nachts sangen, tranken und rauchten sie und donnerten betrunken an jede Thür mit Gebrüll: „Todte ’raus! Todte ’raus!“ Wo noch kein Todter war, legte sich nun Einer nach dem Andern vor Schreck hin, um stumpf und hartnäckig gegen gebotene Hülfe an der Seuche zu sterben. Die Becchini zogen dem Todtenkarren voraus, damit dieser nicht aufgehalten werde. So warteten sie, trinkend und heulend, nicht selten auf dem Haufen der sarglosen, gesammelten Todten sitzend, auf deren Verladung und Ausfuhr. Die Leichen wurden nicht selten auf das Steinpflaster hingeschleudert, daß Knochen zerbrachen. Und wie sahen sie aus, diese Becchini! Entstellte, halb nackte Ausgeburten der Unterwelt mit fliegendem, wirrem Haar, großen, schmutzigen Bärten, braun und gelb im Gesicht, nie gesehen vorher und nur wie auf Geheiß der Seuche aus der Erde gewachsen, in der That das erwachte, Fleisch und Bein gewordene böse Gewissen großer Städte und schlechter Regierung. Letztere hat sich zwar gerade in Sardinien allein durch treues und tapferes Festhalten an freiern Institutionen, wie sie das Jahr 1848 gebar, vor allen italienischen Regierungen ausgezeichnet, aber sie konnte dadurch die Produkte langer Vernachlässigung und Kulturunterdrückung, die feindliche Priesterschaft und die Reaktion der politisch und social Bevorzugten nicht plötzlich beseitigen, so daß sie ein nicht selten in der Geschichte vorkommendes Beispiel von Freiheit und Emancipation des Volkes gegen den Willen des Volkes geben mußte und zum Theil noch muß. Gerade während der Cholera mußte sie die besten, energischsten Institutionen zum Wohle des Volkes erzwingen und vertheidigen und konnte doch Viele nicht dahin bringen, davon Gebrauch zu machen. Sie vertheilte täglich außer Medicin, Eis u. s. w. für 500 Thaler schönes, weißes Brot, sie ließ alle Kleider und Betten der Verstorbenen räuchern und säubern und gab inzwischen neue dafür; sie bot den Aermsten in den schmutzigsten Höhlen bessere Wohnungen, sie ließ Straßen, Höfe, Häuser, Stuben, Treppen fegen, anstreichen, scheuern, kurz sie that Alles, um die Massen materiell und moralisch gegen die furchtbare Seuche zu rüsten; aber man weigerte sich, die alten Schmutzhöhlen zu verlassen, man goß die gebotene Medicin den Aerzten in’s Gesicht und schlug dieselben nicht selten halb todt, weil sie meinten, die Regierung bediene sich der Cholera, der Medicin u. s. w. nur, um das Volk zu vergiften und so zu schwächen, daß es nicht wieder Revolution machen könne. –
Vom Anfange bis zum Ende schrie der Pöbel, daß die Cholera ein Machwerk der piemontesischen Partei sei. Sie lasse des Nachts vergiftete Raketen steigen, welche dann auf die Stadt herabfielen. (Solche Raketen hatte man allerdings nicht selten gesehen, man sagt auf Veranlassung der genuesischen Reaktionäre gegen die Regierung, um dann das Gerücht auszusprengen.) Andere Reaktionäre nährten den Volksglauben, daß die Cholera eine Strafe des Himmels für die freie Verfassung, für das „Festhalten an der Revolution“, für Preßfreiheit und religiöse Toleranz sei. Wieder Andere behaupteten, sie sei eine besondere Strafe für die Waldenser-Ketzerei, eine protestantische Partei, die man dulde, und hatten schon ein förmliches Blutbad gegen dieselbe in Bereitschaft, welches nur durch energische Maßregeln der Polizei- und Militärbehörden verhindert ward. Das Beste thaten die Waldenser selbst durch Gründung von Hospitälern für Unglückliche jedes Glaubens und durch heroisches und edeles Benehmen überhaupt während der ganzen Schreckenszeit, besonders ihres Pastors, eines Flüchtlings von Neapel.
Am Schlimmsten hatten’s die Aerzte. Sie wurden öfter öffentlich auf der Straße als „Vergifter“ überfallen und gemißhandelt, besonders wenn sie Medicin umsonst boten. Nicht selten wurden sie an den Betten von Sterbenden gezwungen, die Medicin, die möglicher Weise den Tod besiegen konnte, selbst zu trinken. In einem Landdistrikte hatte der Syndicus, der etwa mit einem deutschen Landrath zu vergleichen ist, die Lehre verbreitet, daß die Regierung sich der Eisenbahn von Turin und Genua bediene, um Schlangen und Kröten in letztere Stadt zu schaffen, sie dort von Aerzten in Raketen verwandeln und des Nachts steigen zu lassen, um so das Choleragift herab zu senden und zu verbreiten.
Ein englischer Maler, der einige Meilen von Genua von Bauern skizzirend und mit einer Flasche Cognac angetroffen ward, galt sofort als Vergifter, und konnte sich vor der Wuth des gesammelten Volks blos durch Flucht in ein Haus retten, wo er sich vertheidigte, bis Polizei ankam. Hunderte und aber Hunderte, die auf Stroh in öden Höhlen starben, weigerten sich hartnäckig, sich in Hospitäler bringen zu lassen, wenn nicht sie selbst, so doch ihre Angehörigen. Von der Straße in Hospitäler Transportirte bissen noch in den letzten blauen Zügen des Sterbens Zähne und Lippen zusammen, wenn der Medicinlöffel über ihnen schwebte. Selbst das sanfte, ermahnende Wort der „barmherzigen Schwestern“, von deren Heldenthum und Aufopferung man Wunderdinge erzählt, war nicht immer im Stande, den schmutzigen Panzer des Aberglaubens und der scheußlichen geistigen Verwahrlosung zu durchbrechen oder zu öffnen. Außerdem verdarb die Geistlichkeit viel mit ihrem „olio santo“, dem heiligen Oele oder der letzten Oelung, welche mit jedem eingebrachten Kranken immer zuerst vorgenommen ward, ehe die Aerzte herankamen, damit er nicht ohne Sacrament sterbe. Nach der Oelung gaben aber die Meisten sofort alle Lebenshoffnung auf, so daß mit der innern Naturspannung auch die in jedem Menschen thätige Recreationskraft zusammen fiel, und sie starben, weil die belebende Hoffnung, der Wille erstorben war.
So starben bis zum 14. September von dem zurückgebliebenen Drittel der Bevölkerung, etwa 80,000, nicht weniger als 3600. Die Sterblichkeit, in London in demselben Grade angenommen, würde etwa 90,000 Opfer der Cholera gefordert haben. Reinlichkeit, Bildung und Freiheit ließen aber 85,000 davon am Leben und führte die Macht der Seuche auf 5000 zurück. Unter ähnlich gebildeten Massenverhältnissen würde Genua nicht so viel Hunderte verloren haben, als Tausende fielen.
Insofern kann die Cholera überall als ein Barometer der Kultur verschiedener Völker und Städte gelten. Es ist eine tausendfach erwiesene Wahrheit: „Je mehr Kultur, je mehr Wohlstand, Reinlichkeit, Einsicht, Verstandes- und Willenskraft, je mehr materielle und moralische Ventilation und Bewegung im Volke, desto mehr Lebenskraft, desto mehr Berechtigung zu dem Ausrufe: Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg! – Und umgekehrt. Stagnation, Verbot, Hemmung der materiellen und gedanklichen Circulation ist Mord, ist Tod, ist künstliche Veruntreuung des allgemeinen Lebenscapitals und der Freuden und Genüsse dieser Erde.
Im September und October fingen Vertrauen, Hoffnung und Personen an zurückzukehren, aber die Stadt trug noch lange ihren Trauerflor. Tausende waren dahin gerafft worden und die Ueberlebenden bewiesen in ihrem schleppenden Gange, ihren abgehärmten, gelben Gesichtern, was sie gelitten. Erst mit dem neuen Jahre erholte man sich, und als die Regierung mit England und Frankreich ein Bündniß geschlossen und sich verpflichtet hatte, 20,000 Mann für die Krim beizutragen, zog Genua als Hauptversammlungsort und Hafen für die Expedirung der Truppen einen neuen Adam an. Und so sah ich es in seiner dritten Rolle, als Dritten im Bunde der westlichen Civilisation gegen den Osten, einem Bündnisse, das wider Wissen und Willen doch noch am Ende von der Macht der Consequenz getrieben wird, sich wirklich an die Kultur des Westens und deren Interessen zu wenden, wenn sie nicht mit Schande und Ruin dieser Kultur aus dem verlotterten Kampfe zurückkehren will.
Während des März schon fingen die Truppen an, sich in Genua zu sammeln, kräftige, stämmige Söhne der Gebirge von Savoyen, bäuerische Kinder der fruchtbaren Thäler von den achtzehn Betten des Po und seiner Nebenflüsse, lebhafte kleine Kerle von der französischen Grenze mit einem seltsamen Mischdialect von Italienisch und Französisch, womit sie bei ihren Liebeserklärungen, die sie überall ohne Complimente anzubringen suchten, unauslöschliches [255] Gekicher und Gelächter erregten, gelbe, graue und blaue Truppen mit ungemein viel theatralisch geputzten Offizieren. Die Einzüge, die Einquartierungen, die Exercitien, die Manoeuvres und Paraden, die schmetternde Regimentsmusik, das Wirbeln der Trommeln, das schwere Gepolter der Kanonen zwischen den Marmorpalästen, das Liefern, Kaufen, Verladen und Packen auf den Schiffen, die Ankunft der englischen, kolossalen Kriegsdampfer, welche die 17,500 Mann Soldaten, 1000 Offiziere, 3000 Pferde und 146 Wagen und Kutschen mit entsprechenden Vorräthen von Munition und Lebensmitteln aufnehmen sollten, die Wallfahrten nach diesen Dampfern, das lustige Umherklettern von Damen und Herren, Kindern und Greisen in diesen labyrinthischen Wasserpalästen, das Wimmeln von Booten, Gondeln und Kähnen zwischen diesem Wirrwar und diesen schwimmenden Giganten mit wehenden Schleiern, flatternden Federbüschen, blitzenden Epaulettes und Waffen – das gab eine buntscheckige Fülle von Scenen, Freuden und Aufregungen, von Lust- und Trauerspiel, das sich bis Ende April fortwährend steigerte und beim successiven Absegeln der 25 englischen Dampfer und mehrerer kleiner Segelschiffe einen Grad von Ausdehnung und Reichthum erreichte, wofür ein breiter Pinsel mit mehr Raum und Talent gehört, als uns zugemessen sein mag.
Der Wein und der Kuchen, der in den glänzenden Salons der englischen Kriegsschiffe von blassen, schönen Damen verzehrt, das Italienisch und das Englisch, das dabei von beiden Seiten in höchster Galanterie geradebrecht ward, die erotische Gracie und Lebhaftigkeit der Genueserinnen und der Elite von Turin, Alba, Cherasko, Alessandria, Dego, Voltri, Rocco und anderer ferner und benachbarter Städte, gegenüber der steifen Unbeholfenheit der enchantirten englischen Marineoffiziere – gäbe in einer guten Auswahl vortreffliche Genrebilder. Für den tragischen Theil würden die leidenschaftlichen, herzzerreißenden Abschiede der Mütter, Frauen, Bräute und Geliebten von ihren Söhnen, Gatten und Auserkornen sorgen. Ich habe Scenen gesehen, die unwillkürlich zum herzlichsten Mitweinen führten, herrliche, blühende, göttliche Gestalten, die dem abgestoßenen Boote mit zarter Hand lächelnd noch einige Male nachwinkten und dann ohnmächtig oder convulsivisch zusammen sanken oder in herzzerreißendes Jammergeschrei ausbrachen, zuweilen, ohne daß sich eine mitleidige Seele in dem Gedränge um sie bekümmerte, so daß man unwillkürlich schließen mußte: Du bleibst allein zurück mit deinem unsäglichen Schmerz und wirst dich abgrämen und einst die Todtenlisten studiren, bis der Name deines geliebten Sohnes oder Auserkornen dir in die Augen und wie ein Dolch in’s Herz fährt. Ach, wie viele Tausende solcher Dochstöße hat der Krieg schon in England, Frankreich, Rußland, der Türkei, Kleinasien und Aegypten, auf den schönsten Theilen der Erde in schuldlose Herzen geschleudert. Alles um die „vier Punkte?“
Die Sardinier, die Genueser schienen im Allgemeinen nichts von den vier Punkten zu wissen, wenigstens nichts zu halten. Die Theilnahme an dem Kriege war nur in sofern populär, als man hoffte, es müßte dabei etwas herauskommen, neues Leben, neuer Glanz auf dem Meere für den alten Ruhm der Republik Genua. Die Genueser betrachten sich immer noch gern als etwas Apartes für sich, als „gewesene“ meerbeherrschende Republikaner, doch ist der König und seine Regierung durch sein energisches, consequentes Benehmen, durch die einsame, aber furchtlose Vertheidigung der neuen Institutionen seines herrlichen Landes, das an Größe Preußen nichts nachgiebt, jetzt beliebter geworden. Und General Alphonso della Marmora, der Chef der ganzen Hülfs-Armee, hat das seltene Glück, als rechte Hand des Königs und als Freund des Volks zugleich in allgemeiner hoher Achtung zu stehen.
Ich wollte noch eine Schilderung meines Ausflugs nach Nizza, in die kosmopolitische Lebensverlängerungsanstalt der Lungenkranken gehen, unterlasse es aber aus Fülle von Weg. Ja, der Weg am Meere hin von Genua ist allein ein Heldengedicht der Natur. Haben Sie schon von der cornischen Straße zwischen Genua und Nizza gehört? Ich schicke Ihnen ein Stück davon mit, wie ich es in einem genuesischen Journale fand, das die Gelegenheit der Truppenmärsche wahrnahm, um eine der trotzigsten Parthien dieser Felsenstraße dicht am Meere in dieser Bekleidung zu vergegenwärtigen. Oft führt ein schmaler Weg in die Felsen gehauen 6 bis 800 Fuß in gerader, steiler Höhe am unbegrenzten Meere hin, das unten donnert und weit in die Höhe schäumt, ohne daß sich diese starren Massen rühren. Zuweilen führt sie gerade ziemlich steil bergauf, zuweilen in Windungen, zuweilen durch Thore, die durch Felsen gehauen wurden. Man muß diese Meeres- und Felsen-Poesie sehen, um sie nur zu glauben. Deshalb überlasse ich sie ihrer eigenen Größe, um noch ein Wort von dem lebendigen Felsen zu sagen, der die sardinischen Hülfstruppen commandiren wird.
Alphonso della Marmora ist der militärische Fels für die bis dahin einsame und angefeindete liberale Verfassung Sardiniens und jedenfalls der populärste Mann in der Armee. Er sieht wie ein hoher Dreißiger aus, schlank und gedrungen zugleich, kalt und fest in seinem länglichen, scharf profilten Gesichte. Er nahm energischen Antheil an den Unabhängigkeitskämpfen von 1848 und 49. Als Artillerie-Major zeichnete er sich besonders bei der Belagerung von Pesch aus. Zum Lieutenant-General ernannt, commandirte er die Armee an den Grenzen von Toskana, welche die Oesterreicher bei Plaisance im Schach halten mußte. Später rettete er Genua gegen einen Angriff der Insurgenten (nach der Niederlage bei Novare, worüber man in einer Geschichte der neuen italienischen Revolutionskriege nachschlagen kann). Er nahm am 10. April 1849 Genua. Im Jahre 1852 wurde er ein Hauptmitglied des Ministeriums. Als Minister gewann er durch strenge Festhaltung an gegebenen Versprechungen und durch fortgesetzte Einfachheit, Strenge und Nüchternheit seiner Lebensweise die Massen auch in Genua für den König und seine Politik.
Jetzt ist ihm die wichtigste Mission seines Lebens geworden. Kenner seines Charakters und seiner strategischen Talente behaupten, er übertreffe alle bisherige commandirende Krim-Herrlichkeit bei Weitem, so daß er, wenn’s nicht zu spät, eine große Leere im Lager der Alliirten ausfüllen wird.
Die sardinischen Hülfstruppen unter Marmora sind in drei Divisionen getheilt, die eine commandirt von Alexander della Marmora (berühmt durch die von ihm organisirten „Bersagliers“, die an die französischen Chasseurs von Vincennes erinnern), die andere von Durando, die dritte von Trotti. Die beiden letzten Generäle sind rühmlich bekannt aus dem letzten Kriege gegen Oesterreich.
Die sardinischen Hülfstruppen sind tüchtig und geübt, und ihre Führer bewährte Feldherren in der Blüthe ihrer Jahre, die nicht, wie die englischen, an Alter, Geburt, Gicht und „Routine“ leiden, so daß man annehmen darf, die Hülfstruppen könnten zur Hauptarmee der „westlichen Civilisation“ werden, um so eher, als sie „Köpfe“ mitbringen, abgesehen vom Kaiser Napoleon, der bald nach ihnen auf dem Kriegsschauplatze eintreffen soll, nur daß er noch keine großen Erfahrungen aus offenen Schlachten mitbringt, da die Siege in den Straßen von Paris nicht in das Gebiet der eigentlichen Kriegswissenschaft gehören.
Ein alter griechischer Naturweiser wünschte sich nur in gehöriger Entfernung von der Erde einen Punkt, wo er einen Hebel anbringen könnte, um die Erde aus ihrer Bahn zu schleudern. Die moderne Wissenschaft war genügsamer und wünschte die Erde blos zu wiegen. Wie schwer ist diese niedliche Billardkugel des Weltgebäudes, dieses Staubfleckchen am Mantel der Gottheit? Wiegen? Wo eine Waage hernehmen und dieselbe anbringen, um auf die eine Schale sie selbst und auf die andere eine hübsche Portion Centnergewichte zu legen, bis die Zunge oben nicht nur das europäische, sondern auch das ganze Erdengleichgewicht anzeigt? Kann man sie überhaupt wiegen, wie ein Pfund Zucker? Zwar nicht so, aber doch wiegen. Sie ist schon mehrmals gewogen worden, von dem Engländer Cavendish im vorigen Jahrhundert, von Dr. Maskelyne, von Bietsch in München u. s w., aber bisher immer noch nicht wissenschaftlich genau. Erst dem Präsidenten der astronomischen Gesellschaft in London, Mr. Bailly, ist das ungeheuere Experiment durch jahrelang täglich fortgesetzte Arbeit gelungen. Die wissenschaftlichen Operationen, welche die gemeine Waage wissenschaftlich durch arithmetische, mathematische und physikalische Berechnungen, Schlüsse und Experimente ersetzen, lassen sich ohne höhere, genaue
[256] naturwissenschaftliche Kenntnisse, Zeichnungen und Formeln nicht erklären. Begnügen wir uns hier mit einer Vorstellung.
Außer der gemeinen Waage, die Jeder kennt, giebt es noch ein anderes Mittel, die Schwere eines Körpers zu finden, die comparative Schwere, d. h. das Verhältniß eines Körpergewichts zu einem andern. Man nimmt z. B. ein Pfundgewicht und hängt es an einen elastischen Faden, merkt sich den Grad der dadurch hervorgebrachten Ausdehnung und hängt dann einen andern Körper daran, dessen verhältnißmäßige Schwere zu dem Pfunde man kennen lernen will.
Die Waage nun, womit die Erde gewogen ward, war eine comparative, nur unendlich zusammengesetzte und mit tausend Rück-, Vor- und Nebensichten umgebene.
Schwere ist, wie wir seit Newton Alle annehmen, nichts als Anziehungskraft eines Körpers gegen den andern. Diese Zugkraft wird desto größer, je näher die Körper an einander kommen. Leim und Kleister und Kitt sind nichts Anderes als genaue Ausfüllung der Entfernungen einzelner Körpertheile, so daß sie dann wie ein einziger fest zusammenhalten. Je mehr Theile in einem Körper zusammen gedrängt sind, je dichter er ist, desto größer seine Anziehungskraft, seine Schwere. Eine Kanonenkugel ist schwer, weil in ihr viele Theile oder Atome zusammen gedrängt sind und in der Erde ebenfalls, so daß sie sich gegenseitig stark anziehen. Hängt man die Kanonenkugel in der Luft auf und einen andern Körper zwischen sie und die Erde, so wird dieser Körper doppelt angezogen, nieder von der Erde, auf von der Kanonenkugel. Natürlich zieht die Erde wegen ihrer Theile, die sich in ihr vereinigen, mit viel tausendbillionenhaft größerer Schwerkraft als die Kanonenkugel. Sobald man aber Mittel findet, fein genug, die verhältnißmäßig unendlich kleine Attractionskraft der Kanonenkugel zu entdecken, ist auch die Waage für die Erde da.
Freilich haben wir damit noch nicht die leiseste Vorstellung von dem geheimnißvollen Hause des Tavistock-Platzes in London, in welchem Mr. Bailly Jahre lang Tag für Tag saß und durch Vergrößerungsgläser in luftdicht verschlossene Glasbehälter mit feinen, unsichtbaren Fädchen und Kügelchen, Thermometern, Barometern, Hygrometern unsichtbare Zeichen und Wunder las und Tag für Tag aufschrieb, berechnete, Abzüge und Zuthaten aus tausenderlei Einflüssen mit auf die Rechnung brachte, um endlich nach Jahren aus vielen dicken Büchern voller Zahlen und geheimnißvoller Formeln eine ungeheuere, der kühnsten Phantasie, dem riesigsten, mathematischen Scharfsinne nicht zugängliche Zahl als Facit zu ziehen und zu sagen: So schwer ist die Erde. Und bei den Experimenten, welche diese Zahl endlich gebaren, kam es auf einen Hauch, einen Lichtstrahl, auf ein Partikelchen Wärme, das von der Hand des Beobachters ausstrahlen konnte, an, so daß mit der größten Sorgfalt und Delicatesse Alles fern gehalten oder in genaue Berechnung gebracht werden mußte, was wir bei der sorgfältigsten Wägung von Tausendtheilchen eines Grans nicht beachten. Und doch sah das Hauptinstrument der Erdwiegung wie eine Kinderei aus: eine lange, dünne, hölzerne Ruthe, in der Mitte an einem Coconseidenfädchen aufgehangen, an beiden Enden mit leichten Kugeln versehen, so daß sie, wenn alle Störung fern gehalten wird, in genau waagerechter Stellung zur Ruhe kommt. Zu diesem Zweck hing die Ruthe in einem luftdicht verschlossenen Glaskasten, doch so, daß große massive, mathematisch genau runde Kugeln in die Nähe der beiden Endpunkte der Ruthe gebracht werden konnten. Die Kugeln übten dann in Verhältnissen, die mathematisch genau bekannt sind, Attraction aus und zogen die Ruthe an, so daß sie zu zittern anfing. Dieses Zittern ist ebenfalls blos die Thätigkeit eines mathematischen Gesetzes, das sich bis auf ein gespaltenes Seidenhaar berechnen läßt. Die Zeit, welche diese Vibrationen brauchen, wurde die eigentliche Meßelle der Erd-Attraction im Vergleich zu der Anziehungskraft der Kugeln, wie Professor Airey in der tiefsten, 1260 Fuß tiefen Kellergrube Englands durch Vergleich von Pendelschwingungen oben und unten die Dichtigkeit der Erde zu messen anfing.
Wir bemerken hier nur noch, daß Bailly mit Anwendung aller wissenschaftlichen Mittel, die irgend möglich waren, alle Störungen, die auf diese Experimente einwirken konnten, entweder fern halten oder genau berechnen und so in Rechnung setzen konnte, so daß er das Gewicht der Erde ganz sicher, bis auf einen ganz unbedeutenden Bruchtheil aus der größten Tiefe und Feinheit der Wissenschaft herauf beschwor und zugleich vermied, was die dramatischeren Experimente, welche vor einigen Jahren im Pantheon zu Paris mit einem ungeheuern Pendel zu gleichem Zweck vorgenommen wurden, am Ende nutzlos erscheinen ließ. Das Volk strömte damals aus und ein, als wenn wilde Thiere zu sehen wären, Mr. Bailly arbeitete Jahre lang allein und ließ nur selten wissenschaftliche Freunde, auf den Zehen leise trippelnd, zu, nicht einmal das Sonnenlicht, so daß er im Dunkeln wie ein Geist mit Geistern durch Gläser und Teleskope sprach. „Wenn er sich der Erdwaage selbst näherte, schlich er langsam und leise wie ein Gespenst auf den lautlosen Teppichen. Sein Schritt, sein Athem, sein Pulsschlag, seine Lebenswärme ließ er zurück, um nicht zu stören. Auch näherte er sich nie ohne einen Ausdruck von Furcht und Ehrfurcht.“ So arbeitete er achtzehn Monate lang Tag für Tag und machte 1300 Experimente, ehe die eigentlichen Wieg-Experimente selbst begannen. Dann wog er vier Jahre lang alle Tage in seinem lichtlosen Laboratorium und rechnete endlich aus seinen Balance-Büchern das Gewicht der Erde heraus. Und wie schwer ist sie nun? In seinem großen Buche steht als Resultat einer der heroischsten Arbeiten der Wissenschaft, nichts als:
- „D=5.6747 mit einem Fehler, nicht über .0038.“
Uebersetzt heißt dies etwa: D. (Dichtigkeit) gleich 5.6747. Dies heißt wieder, daß die Erde etwa 5½ mal schwerer ist, als sie sein würde, wenn sie blos aus Wasser bestände, doppelt schwerer, als der härteste Fels auf der Oberfläche, halb so schwer als Blei und doppelt so schwer, als etwa Zinn oder Zink, Summa Summarum in Tonnengewicht (die Tonne = 20 Centnern) ausgedrückt:
- 1,256,195,670,000,000,000,000,000, d. h.:
Eine Quadrillion, zweihundert und sechs und fünfzig Tausend einhundert und fünf und neunzig Trillionen, sechshundert und siebenzig tausend Billionen Tonnen. Der Fehler im Betrage von 385 Billionen Tonnen schwindet dieser Masse gegenüber zu einem Hundertstel Gran in einem Kubikfuß Wasser, welches 62½ Pfund wiegt, zusammen, zu einem kleinen Theile des Stiels an einem großen Apfel. Das ist eine Zahl, welche kein Verstand fassen kann. Schon bei der Billion bleibt er still stehen. Wenn Jemand hundert Jahre vor Christi Geburt angefangen hätte, zu zählen, immerfort zählend, ohne zu essen und zu schlafen, ohne jemals aufzuhören und nur Athem zu schöpfen, immerfort durch alle Tage, Monate, Jahre und Jahrhunderte, so wäre er heute noch nicht bis zur Billion gekommen. Und was ist nun eine Trillion? Was sind 256,195,670 Trillionen? Noch lange keine Quadrillion. Und was ist diese? Und nun Tonnen? Was sind diese in Centnern? In Pfunden, in Lothen, in Grans, in Atomen, aus denen die Erde bestehen soll, von denen vielleicht eine Billion auf ein Sandkorn gehen, wie bei uns 12 auf’s Dutzend? Und doch ist nun wieder der ganze Ball, den wir Erde nennen, nichts als ein unsichtbares Stäubchen am Leibrocke des allumfassenden Allerhalters!
Blätter und Blüthen.
Die Mormonen. Ueber diese seltsame religiöse Secte – die wunderbarste Erscheinung vielleicht im Leben der Vereinigten Staaten – ist so eben bei C. B. Lorck eine kleine Schrift erschienen, welche das vollständigste, alle bisherigen Nachrichten von den „Heiligen des jüngsten Tages“ an Reichhaltigkeit der Mittheilungen übertreffende Bild des Gegenstandes giebt. Dieselbe führt den Titel: „Die Mormonen, ihr Prophet, ihr Staat und ihr Glaube,“ und ihr Verfasser ist Moritz Busch, der sich durch seine im vorigen Jahre bei Cotta erschienenen „Wanderungen zwischen Hudson und Mississippi“ einen guten Namen in der Reihe der Berichterstatter über Amerika und die Amerikaner erwarb und selbst mehrfach mit Mormonen in Verbindung stand. Wenn schon das politische Leben in Amerika für den Uneingeweihten schwer verständlich ist, so noch mehr das kirchliche. Hier mischt sich das stupideste Festhalten am Buchstaben der Schrift mit den wahnwitzigsten Ausschweifungen einer ungezügelten Phantasie. Das Mormonenthum ist die sonderbarste Ausgeburt der neuen Zeit. Es ist mit seiner Vielweiberei, mit seiner Vielgötterei, mit seinem Staatswesen, welches ein Gemisch aus Demokratie und Theokratie ist, die wunderlichste der hundert und aber hundert Secten Amerika’s. Durch die Schnelligkeit aber, womit seine Apostel diese Tollheiten verbreiteten und womit die Secte binnen zwanzig Jahren von zehn Gläubigen auf zweimalhunderttausend anwuchs, ist sie zugleich die interessanteste Erscheinung des jetzigen amerikanischen Lebens. Aus diesem Grunde glauben wir unsern Lesern einen Dienst zu erweisen, wenn wir sie auf das erwähnte kleine Buch aufmerksam machen, welches sich durch hübsche Ausstattung und billigen Preis (10 Ngr.), durch Zuverlässigkeit der Angaben, durch allgemein-faßliche, oft sogar unterhaltende Darstellung und durch reichliche Citate aus den mormonischen Schriftstellern selbst empfiehlt.