Die Gartenlaube (1855)/Heft 33
[431]
No. 33. | 1855. |
(Fortsetzung.)
Es war gegen Abend als er die Wohnung Anna Bornstedt’s aufsuchte. Er fand bald das bezeichnete Haus, das einem Positiven angehörte. Parterre befand sich ein Schuhmacherladen, im ersten Stocke wohnte ein Advokat und ein Arzt, im zweiten Stocke wohnte ein Agent und ein Advokat, im dritten Stocke wohnte ein Arzt und eine Leichebitter – beide Schilder prangten neben einander an der Saalthür, – im vierten Stocke wohnte ein Briefträger und Polizeidiener, und im fünften Stocke, wo die Holzgitter anfangen – –
Wir begleiten Philipp. Er öffnete eine aus Latten zusammengenagelte Gitterthür und trat auf einen schmalen, halbdunkeln Gang, der sich unmittelbar unter dem Dache befand. Als man seine ziemlich lauten Schritte nicht hörte, klopfte er an die Thür, die sich ihm zunächst zeigte. „Herein!“ rief eine dünne Stimme. Philipp trat in ein kleines Zimmer mit schräger Decke. An einem Tische der Thür gegenüber saß ein kleines zusammengeschrumpftes Männlein, das die Feder in der Hand hielt und sich neugierig umsah. Sein Gesicht zählte so viel Runzeln, als sein Haupt weiße Haare. Ein kleines mit alten Büchern angefülltes Bret deutete seinen Stand an. Er war ein Magister, der kümmerlich von seiner Feder lebte. Hinter einem Breterverschlage, der mit verschiedenen Stücken alter Tapeten verklebt war, hörte man das Leben und Schreien einer zahlreichen Familie.
Der Magister erhob sich, als er den jungen eleganten Mann erblickte.
„Verzeihung, mein Herr, ich suche Demoiselle Anna Bornstedt!“ sagte Philipp.
„Fräulein von Bornstedt!“ flüsterte freudig überrascht der kleine Magister. „Das junge Mädchen, lieber Herr, ist ein Fräulein.“
„Ganz recht!“ antwortete Philipp mit bewegter Stimme, denn er sah, daß er auf der rechten Spur war. „Wohnt die junge Dame hier?“ fragte er, indem er beschämt durch den traurigen Raum blickte.
„Sie hat mir ein Zimmerchen abgemiethet, lieber Herr! Sie wundern sich, daß ein adeliges Fräulein bei einem armen leipziger Magister wohnt – ach ja, man kann sich wohl darüber wundern, denn der Contrast ist ein schneidender. Die arme Anna steht mit mir auf gleicher Stufe: sie besitzt nichts weiter als ihren Adel, und ich habe nichts als meine Magisterwürde. von beiden kann man nicht leben. Sie wollen das Fräulein sprechen – ich werde sie rufen.“
„Ich bitte, Herr Magister, hören Sie mich einige Augenblicke an. Sind Sie mit den Verhältnissen der jungen Dame bekannt?“
„Wie wohl kein Zweiter in unserer guten Stadt. Ich war einst Hauslehrer bei dem Herrn Amtmann von Bornstedt, und Fräulein Anna ist meine Schülerin. Ach, es war eine schöne Zeit, als ich auf dem reizend gelegenen Rittergute unter den vortrefflichen Menschen lebte! Ach, mein Gott, ich habe vergessen, Ihnen einen Stuhl anzubieten. Nehmen Sie doch gefälligst Platz.“
„Ich will Sie nicht lange in Ihrer Arbeit stören!“ sagte Philipp, sich niederlassend. „Die junge Dame hat in einem gewissen Kreise Interesse erregt, und man ist gesonnen, sich ihr hülfreich zu zeigen.“
„Das lohne Ihnen Gott, lieber Herr!“
„Fräulein von Bornstedt bot eine Arbeit zum Kaufe an.“
„Eine kostbare Stickerei?“
„Ja!“
„So hat sie sich dennoch überwunden!“ flüsterte der Magister schmerzlich vor sich hin. „Anna ist ein herrliches Gemüth, eine seltene Perle! Ach, warum bin ich so arm? Es sollte wahrhaftig nicht so weit kommen, hätte mich der Himmel auch nur mit geringen Glücksgütern gesegnet. Und Ihnen hat sie den Kauf angetragen?“
„Einer Dante, die zu mir in naher Beziehung steht. Es handelt sich weniger darum, in den Besitz des kostbaren Kleides zu kommen, als der armen Stickerin, ohne zu verletzen, wirksame Hülfe zu leiste. Ich ward beauftragt, zu diesem Zwecke Erkundigungen einzuziehen.“
„Dann ist es Pflicht, daß ich rede! Ja, mein Herr, die Noth der armen Menschen ist groß, und um so drückender, als sie unverschuldet in diese traurige Lage gerathen sind. Der alte Herr von Bornstedt war einst ein reicher Rittergutsbesitzer, aber ein schurkischer Freund brachte ihn durch einen Prozeß, dessen Einzelnheiten ich nicht wiederholen kann, um das Seine. Die Bosheit dieses Freundes ging so weit, daß der arme Mann selbst die Revenüen herauszahlen mußte, die er während der Dauer des Prozesses gezogen hatte. So kam es, daß die Familie mit einem Schlage in das tiefste Elend gerieth. Sie wandte sich zunächst nach Breslau, wo Anna und Adolph – dies ist nämlich ihr Bruder – durch Arbeit die Subsistenzmittel für die betagten Aeltern zu erringen hofften; aber sie täuschten sich, und in den zwei Jahren, die sie dort lebten, mußten sie die wenigen Kostbarkeiten nach [432] und nach verkaufen. Da starb die Mutter, und der Schmerz gesellte sich den Nahrungssorgen bei.“
„Hat denn der alte Herr keine Freunde gehabt?“ fragte Philipp, der mit Mühe seine Fassung erhielt.
„O gewiß, lieber Herr; aber was sind die Freunde in der Noth? Sie boten dem Bedrängten ein Almosen, wie man es einem gemeinen Bettler giebt. Herrn von Bornstedt war zu stolz, um es anzunehmen, er darbte lieber, als sich so tief zu demüthigen. Im Drange der höchsten Noth schrieb Anna an mich, ihren alten Lehrer. Sie setzte mich von ihrem Unglücke in Kenntniß und bat um Auskunft darüber, ob sich ihr in Leipzig keine Erwerbsquelle öffne, da sie eine geschickte Stickerin sei; sie habe erfahren, daß die Meßstadt vorzüglich der Ort sei, wo man derartige Produkte vortheilhaft absetze. Ich wußte, daß ein reichlicher Gewinn aus dieser Beschäftigung zu ziehen sei, und deshalb schrieb ich in der Freude meines Herzens, daß Herr von Bornstedt mit seinen Kindern gleich kommen möge. Vater und Tochter betraten Leipzig als blutarme Leute, die Reise hatte die letzten Habseligkeiten verschlungen. Meine Gefühle bei diesem Wiedersehen kann ich Ihnen nicht schildern, lieber Herr; ich sage Ihnen nur, daß ich den niederträchtigen Freund, einen Edelmann, noch im Grabe verwünsche, der ein solches Unglück angerichtet hatte. Mein ehemaliger Brotherr ward nun mein Gast, und ich arbeitete täglich einige Stunden länger, um die vermehrten Ausgaben bestreiten zu können. Leider ist die Feder heutzutage ein schwaches Werkzeug, und ich gerieth trotz meiner Anstrengungen bald in Schulden. Die gute Anna fand Anfangs nicht gleich Arbeit, und als sie endlich nach Wochen Aufträge erhielt, ward ihr nur so wenig Lohn dafür, daß sie kaum davon leben konnte. Ich wollte meine eigene Armuth verbergen; aber da ließ mir eines Tags ein Gläubiger meine Bibliothek abpfänden, und die guten Leute wußten nun Alles. Seit dieser Zeit weigerten sie sich, irgend etwas von mir anzunehmen, Anna arbeitete und darbte, und sorgte heimlich noch für meine Kinder!“
„Sagten Sie nicht, daß Anna noch einen Bruder habe?“ unterbrach Philipp den Erzähler.
„Ganz recht! Der junge Mann hat in Breslau schon die Familie verlassen, um auf seine eigene Faust etwas zu unternehmen. Er will Unterstützung senden, sobald er kann. Wie man vermuthet, ist er nach Berlin gegangen. Es ist ein Jahr verflossen, und noch hat er nichts von sich hören lassen. Doch hören Sie weiter, das Unglück der armen Menschen ist noch nicht zu Ende. Vor vierzehn Tagen mache ich mit dem alten Herrn eine Promenade. Da begegnet uns ein Advokat, er grüßt Herrn von Bornstedt und freut sich unendlich ihn in Leipzig zu sehen. Nach einem kurzen Gespräche entfernt er sich wieder, indem er dem bekümmerten Greise herzlich die Hand drückt. Woher sich diese Bekanntschaft datirt, weiß ich nicht, und ich wollte auch nicht darnach fragen, weil ich bemerkte, daß dieses unverhoffte Begegnen einen peinlichen Eindruck auf meinen alten Freund ausgeübt hatte. Am folgenden Morgen ward der arme Herr von Bornstedt wegen einer alten Wechselschuld von dreihundert Thalern in das Schuldgefängniß gesperrt, wo er sich in diesem Augenblicke noch befindet. Ich lief zu dem Advokaten, schilderte ihm die Verhältnisse des Verhafteten und bat um Freilassung – umsonst, der wackere Mann sagte mir höhnend: dergleichen Geschichten kennen wir, Herr von Bornstedt hat Geld, er will es nur nicht herausgeben. Ich habe den Wechsel an Zahlungsstatt angenommen und werde ihn verwerthen. Mag es kosten, was es wolle, ich drücke die Citrone aus, so lange noch ein Tropfen Saft darin ist! – Die arme Anna erhielt dieselbe Antwort. So stehen die Sachen, und nun können Sie sich erklären, warum das Fräulein so bemüht ist, dreihundert Thaler anzuschaffen.“
„Wer ist der Advokat?“ fragte Philipp hastig.
Der Magister nannte ihn und beschrieb seine Wohnung.
„Jetzt brauche ich Fräulein Anna nicht mehr zu sprechen!“ rief der junge Mann, indem er aufsprang. „Ich danke für ertheilte Auskunft – leben Sie wohl!“
„Darf ich nicht wissen, wer mir die Ehre eines Besuchs gegeben hat?“
Diese Frage des verwunderten Magisters hörte Philipp nicht mehr, er hatte bereits die Dachwohnung verlassen und eilte die Treppe hinab.
„Ein seltsamer Mensch!“ dachte der arme Gelehrte, indem er die Gitterthür schloß. „Ich wette, er hat sich in das reizende Mädchen verliebt, und will sich auf diese Weise ihre Gunst erwerben. Was es auch sein möge, wenn nur der Gefangene seiner Haft entlassen wird, und ich wette, daß er in der Absicht, dies zu bewirken, fortgeeilt ist. Anna soll jetzt noch nichts erfahren, vielleicht steht ihr eine köstliche Ueberraschung bevor. Gott gebe es, Gott gebe es!“
Magister Elias zündete eine Lampe an und ergriff die Feder wieder. Die Arbeit ging indeß schlecht von Statten, der kleine Mann sah oft zu der schwarzen Decke empor und lächelte dabei, als ob ein entzündender Gedanke in ihm aufgestiegen sei. Man muß ein Novellist sein, der für Brot arbeitet, um die Wonne zu begreifen, welche die Auffindung einer glücklichen Idee zu einer Novelle hervorbringt. Der gute Magister, dem es bisher stets an geeigneten Stoffen zu einer selbstständigen Arbeit dieser Art gefehlt hatte, empfand jetzt zum ersten Male diese Wonne.
„Herrlich, herrlich!“ rief er aus, nachdem er wohl zehn Minuten mit verklärten Mienen die Decke angestarrt hatte, ohne den Höllenlärm der Kinder und die von der bedrängten Mutter in dem Nebenzimmer ausgetheilten Prügel gehört zu haben – „das ist eine wundervolle Idee! Ein reizendes Fräulein in Trauerkleidern, ein greiser Vater im Schuldgefängnisse, Noth und Elend, beide unverschuldet, auf der einen, und ein böser Advokat und ein vornehmer junger Mann, der das Fräulein leidenschaftlich liebt, auf der andern Seite – schließlich die Rückkehr des reichgewordenen Bruders, die natürlich an dem Hochzeitstage der Schwester erfolgen muß, in dem Augenblicke, wo der Vater seinen Sohn herbeisehnt, um ganz glücklich zu sein, dann die Entlarvung eines intriguanten Menschen, wozu ich gleich den Advokaten verwenden kann – das giebt eine Novelle, die sich prächtig für die Gartenlaube paßt! Aus dem Leben gegriffen, nur aus dem Leben gegriffen! Wenn aus der Hochzeit etwas wird, so ist Alles wahr, und mein Werk hat einen um so höhern Werth. Der junge Herr wird schon wiederkommen, und bis dahin will ich ihn bei der guten Anna so herausstreichen, daß sie ihn als ihren Wohlthäter lieben muß. Ja, ja, ich will dafür sorgen, daß ich ganz nach dem Leben arbeite, daß der Gang der Handlung sich wirklich so ereignet, wie ich ihn mir gedacht habe. Die Zwischenfälle werden sich schon finden, denn ohne Hindernisse kommt ein liebendes Paar nie zusammen. Das giebt eine Novelle von zwei Bogen, und Ernst Keil, der splendide Verleger der Gartenlaube, zahlt fünfundzwanzig Thaler pro Bogen – also erhalte ich funfzig Thaler Honorar!“
Es litt Elias nicht länger auf seinem Stuhle, er stand auf, und ging in freudiger Bewegung durch das Stübchen. Dann setzte er sich wieder nieder und warf eine flüchtige Skizze auf das Papier. Vielleicht eine Stunde war verflossen, als plötzlich die kleine heisere Schelle an der Thür sich vernehmen ließ. Elias ergriff die Lampe, eilte hinaus, öffnete die Thür, und der alte Herr von Bornstedt schwankte herein – er war der Wechselhaft durch Philipp’s Vermittelung entlassen. Der Magister führte ihn triumphirend in das Stübchen, wo Anna arbeitete. Vater und Tochter sanken sich weinend einander in die Arme. Elias stand unter Thränen lächelnd an der Thür.
„Armer Vater!“ schluchzte Anna.
„Ach, es giebt noch gute Menschen in der Welt!“ sagte der alte Herr, indem er die Stirn seines Kindes küßte. „Der Advokat erschien und kündigte mir mit dem Bemerken die Freiheit an, daß ein unbekannter Wohlthäter meine Schuld bezahlt habe. Anna, ich bin hier fremd, Niemand kümmert sich um mich – Du hast ohne Zweifel Schritte gethan – –“
„Ich bin erstaunt, lieber Vater, denn vielleicht morgen erst wäre es mir möglich gewesen, Ihnen zu nützen, Wenn der Herr Magister uns keine Auskunft geben kann –“
„Ich weiß nichts!“ rief Elias. „Seit acht Tagen habe ich meine Arbeitsstube nicht verlasse. Aber beruhigen Sie sich nur, wir werden wohl noch erfahren, an wen Sie eine Dankadresse zu richten haben.“
Anna dachte an Madame Lindsor. Wie aber konnte sie wissen, zu welchem Zwecke sie das Kleid feilgeboten hatte? Der Kauf sollte ja erst morgen Mittag abgeschlossen werden.
„Wenn sie es nicht wäre,“ dachte freudig bewegt das arme Kind, „wenn sich eine andere Person unserer angenommen hätte, so möchte ich wünschen, daß sie mir das Kleid zurückschickt.“
Die Glocke draußen ließ sich von Neuem hören. Elias kam gleich [433] darauf mit einer schon bejahrten Frau zurück, in der Anna die Kammerfrau der Madame Lindsor erkannte.
„Meine Herrin,“ sagte sie, „sendet mich, und Sie errathen wohl, in welcher Angelegenheit.“
„Richten Sie Ihren Auftrag aus, gute Frau,“ sagte Herr von Bornstedt, der sich auf Anna’s Arbeitsstuhle niedergelassen hatte. „Wir haben keine Geheimnisse vor einander. Wer sendet Sie?“
„Madame Lindsor.“
„Es ist die Dame, lieber Vater, der ich eine Stickerei angeboten habe,“ ergänzte die verwirrte Anna. „Und was läßt sie mir sagen?“ wandte sie sich an die Kammerfrau.
„Madame hat Ihre Arbeit geprüft und ein besonderes Wohlgefallen daran gefunden. Sie sendet den geforderten Preis von dreihundert Thalern.“
Die Kammerfrau legte ein Packet Banknoten auf den Tisch, dann grüßte sie und verließ das Zimmer. Elias folgte mit seiner Lampe. Der Anblick des Geldes hatte den armen Schriftsteller in eine fieberhafte Bewegung versetzt, daß er kaum das Schloß an der Ausgangsthür öffnen konnte, und dabei plagte ihn eine unbesiegbare Neugierde.
„Liebe Frau,“ flüsterte er, „sendet die Dame wirklich nur den hohen Preis, weil sie die Arbeit desselben werth erachtet, oder hat sie noch andere Gründe?“
„Ich bedauere, daß ich Ihnen keine Auskunft geben kann!“ antwortete lächelnd die Kammerfrau.
„Ist Ihre Herrin jung und schön?“ fragte Elias weiter, der nach neuem Stoffe für seine Novelle forschte.
Die Frau sah verwundert den kleinen zitternden Mann an.
„Sie ist jung und schön.“
„So! das ist mir lieb,“ flüsterte Elias wie zerstreut. „Daß sie einen großen Reichthum besitzt, läßt sich denken. Aber nun muß ich noch Eins wissen, liebe Frau.“
„Was?“
„Ist die schöne und reiche Dame schon verheirathet?“ fragte mit einem so gutmüthigen Lächeln der arme Schriftsteller, daß man hätte glauben mögen, er wolle ihr einen vortrefflichen Mann besorgen, wenn sie noch frei sei.
Die Kammerfrau war die einzige Mitwisserin des Geheimnisses Josephinen’s, eines Geheimnisses, dessen Wichtigkeit sie kannte. Diese Frage mußte natürlich ihren Argwohn erregen, da sie die poetische Absicht des Magisters nicht ahnte.
„Haben Sie ein Interesse dabei, lieber Herr?“
„Ei, das will ich meinen, ich würde mir sonst diese Frage nicht erlaubt haben!“
„Madame Lindsor –“
„Ah, sie ist eine Madame!“ flüsterte Elias gedehnt, „Das paßt mir allerdings nicht,“ fügte er nachdenkend hinzu, indem er die Hand an sein kleines Kinn legte. „Da muß ich meinen Plan ändern. Jung, reich und schön, das wäre mir gerade recht gewesen. Hm, hm, was fange ich denn da an?“
Die Zofe konnte kaum ein Lachen unterdrücken, als sie das betrübte Gesicht des Magisters mit den weißen Haaren sah.
„Mit dem ist es nicht richtig,“ dachte sie. „Nun, lieber Herr, beruhigen Sie sich nur,“ sagte sie laut. „Madame Lindsor ist eine Wittwe, sie war nur zwei Jahre verheiratet. Jetzt ist sie wieder zu haben.“
„Wahrhaftig?“ fuhr Elias auf.
„Gewiß.“
„Das ist himmlisch! Da wäre ich in aus meiner ganzen Verlegenheit! Danke, liebe Frau für gütig ertheilte Auskunft!“ rief er der Davoneilenden nach. „Nehmen Sie sich nur in Acht, daß Sie nicht fallen, es sind fünf Treppen, und jede Treppe hat siebzehn Stufen. Zählen Sie nur, dann können Sie nicht fehlen!“
Seelenvergnügt kehrte Elias zu seinen Miethsbewohnern zurück. Er wollte die beiden glücklichen Menschen beobachten, um treu nach der Natur zu zeichnen, was er bei einer Novelle für unerläßlich hielt. Zu seiner Verwunderung richtete weder der Vater noch die Tochter eine Frage an ihn, es schien, als ob sie wüßten, wer der großmüthige Wohlthäter sei.
„Ich täusche mich nicht,“ dachte der gute Magister, „hier ist bereits eine Liebschaft angeknüpft. Beobachten wir!“
Am Tage, der der beabsichtigten Soirée voranging, kam Philipp von seiner Gattin. Der Aufenthalt in Leipzig hatte nicht nur seine Liebe, sondern auch seine Achtung und sein Vertrauen erhöht, Josephine war für ihn das Ideal einer Frau, und hätte man die fabelhaftesten Gerüchte von ihr verbreitet, er würde ihnen eben so wenig Glauben geschenkt haben, als sich die Eifersucht in ihm regte. Ein Charakter wie Josephine, war keiner Unredlichkeit fähig. Philipp hatte also seine Gattin verlassen, um sie in den Vorbereitungen zu dem Feste nicht zu stören. Als er die Thür des Gitters schloß, das das Haus umgab, trat ihm ein Mann entgegen, dessen ganze Aufmerksamkeit nach den Fenstern Josephine’s gerichtet war. Er trug höchst elegante Kleider, war von schöner, hochgewachsener Gestalt und hatte ein fein gebildetes Gesicht mit einem kleinen blonden Barte. Die beiden Männer begegneten sich.
„Verzeihung, mein Herr,“ redete ihn der Fremde höflich an, indem er seinen Hut zog, „sind Sie in dem Hause bekannt, das Sie so eben verlassen haben?“
„Ich glaube, ja!“ antwortete Philipp.
„Man sagte mir, daß eine Madame Lindsor hier wohnen müsse.“
„Ganz recht, sie bewohnt den ersten Stock dieses Hauses.“
Der Fremde dankte, öffnete das Gitter und verschwand. Ein unbestimmtes Gefühl, das sich indeß mehr der Neugierde als der Eifersucht zuneigte, hemmte Philipp’s[WS 1] Schritte. Wenn man die heimliche Ehe, die Schönheit Josephinen’s[WS 2] und die verschiedenen Gerüchte über ihre Person und ihr[WS 3] Vermögen bedenkt, so kann man sich nicht darüber wundern, daß Philipp, trotz seines Vertrauens, einen Spaziergang vor dem Hause unternahm, um die Rückkehr des fremden jungen Mannes zu erwarten. Er hielt es selbst als Gatte für seine Pflicht, da es nicht unmöglich war, daß die reiche, allein stehende Wittwe – für die sie gehalten ward – mit ungebührlichen Anträgen bestürmt würde.
In Josephinen’s Zimmer zeigte sich Licht, und die Vorhänge wurden herabgelassen. Philipp ging eine Viertelstunde auf und ab, ohne die Thür außer Acht zu lassen. Das war eine Zeit, um mehr als einen Auftrag auszurichten. Wie gern hätte er das Haus betreten, und er sann auch schon auf einen schicklichen Vorwand dazu; aber was sollte Josephine von seiner Rückkehr denken, da er ihr gesagt, daß er erst am folgenden Morgen wiederkommen würde? Noch war er zu stolz, um Eifersucht zu zeigen, und Josephine stand ihm zu hoch, zu heilig, um sie durch Verdacht zu kränken.
„Was sie wohl gethan haben würde,“ fragte er sich, „wenn der Fremde während meiner Anwesenheit gekommen wäre? Ob sie mir morgen den Besuch mittheilt? O gewiß, sie hat keine Geheimnisse vor mir! Fast schäme ich mich, daß ich für Josephinen so entehrende Schlüsse ziehe. Sie hat mich aus reiner, uneigennütziger Liebe geheirathet, der klarste Beweis davon ist die Wiedererstattung des Vermögens, die sie so dringend betreibt.“
Das Geräusch der Thür ließ sich vernehmen und der junge Mann kam eilig heraus. Philipp trat hinter einen Baum, um sich seinem Anblicke zu entziehen, Dann folgte er ihm in kurzer Entfernung. Der Fremde hielt einen vorüberfahrenden Fiaker an, stieg ein, und verschwand. Philipp lächelte über seine Schwachheit und ging ruhig nach Hause.
Am nächsten Morgen verließ er schon früh seine Wohnung. Es schlug zehn Uhr als er die Treppe zu der Dachwohnung des Magisters hinaufstieg. Der Besuch, den er dem alten Herrn von Bornstedt abstatten wollte, war das Resultat seiner gestern mit Josephinen gepflogenen Unterredung; er sollte dazu dienen, die ersten direkten Einleitungen zu treffen. Aus dem kleinen Vorsaale trat ihm derselbe junge Mann entgegen, dem er Abends zuvor die Wohnung Josephinen’s bezeichnet hatte, Das blühende Gesicht mit dem blonden Barte erkannte er auf den ersten Blick wieder. Ohne zu grüßen, eilte er hastig die Stufen hinab.
„Gut,“ dachte Philipp, „vielleicht kann ich hier etwas von ihm erfahren.“
Elias, der den letzten Besuch entlassen hatte, stand des zweiten harrend an der schmutzigen Gitterthür.
„Zu wem wollen Sie?“ fragte des kleinen Mannes dünne Stimme durch die Stäbe.
„Finde ich den Herrn von Bornstedt zu Hause?“
[434] „Thut mir leid, mein Herr, er ist mit seiner Tochter ausgegangen. Der junge Mann, der Ihnen auf der Treppe begegnete, fragte ebenfalls nach ihm, Ich vermuthe, der Gesuchte wird bald heimkehren – wenn Sie ein wenig warten wollen –“
Diese Aufforderung kam Philipp gelegen, er folgte dem Magister in das Stübchen. Kaum traf das helle Licht die Gestalt des Besuchers, als Elias freudig überrascht ausrief:
„Ah, mein Herr, Sie sind es! Nicht wahr, ich hatte schon einmal die Ehre, Sie bei mir zu sehen? Ihr Besuch hatte die wohlthätige Folge für meinen Miethsmann – und ich konnte ihm so wenig Auskunft geben – ach, wie lieb ist es mir, daß ich Sie wiedersehe! Hätte ich Ihre Adresse gewußt, ich würde Sie aufgesucht haben.“
„Sie sind Magister?“
„Magister, Novellist und Correktor einiger unserer weitverbreitetsten Blätter.“
„So habe ich es mit dem gebildeten Manne zu thun, der meine Schritte nicht mißdeuten und die nöthige Discretion beobachten wird.“
Elias wickelte sich fester in seinen alten Schlafrock und verneigte sich.
„Die Familie Bornstedt ist Ihnen befreundet?“ fuhr Philipp fort.
„Ich theile Freud’ und Leid mit ihr. Alles, was sie betrifft, ist für nach von großem Interesse. Ich umspinne sie gewissermaßen mit den geheimen Fäden meiner Freundschaft, und wirke im Stillen so viel ich kann, um die Dankbarkeit der armen guten Menschen nicht zu provociren. So suche ich mich denn mit denen zu verbinden, die einen gleichen Zweck verfolgen, hinwieder aber auch die fern zu halten, die sich in feindlicher Absicht nahen. Ich habe einen köstlichen Schatz zu bewachen. Glauben Sie mir, ich bin Kenner – Anna ist eine seltene Perle. Sie vereinigt Jugend, Schönheit, Herzensgüte und Tugend in hohem Grade. Ich habe in dem Kinde schon einen vortrefflichen Grund gelegt. Freilich ist Anna nicht reich, sie besitzt nur ein Vermögen von dreihundert Thalern; aber sie bringt ihrem künftigen Gatten andere, größere Schätze – haben Sie die junge Dame schon gesehen?“
„Nein!“ antwortete Philipp, der seine Beziehung zu Josephine, wo er Anna gesehen hatte, nicht verrathen wollte.
„Doch, Verzeihung, lieber Herr,“ flüsterte der Magister mit einem Lächeln der Verlegenheit, „ich preise Ihnen da ein junges Mädchen an, und weiß nicht einmal, ob Uhr Herz noch frei ist. Sie sind wohl noch nicht verheirathet?“
Philipp mußte eine zweite Nothlüge aussprechen. „Ich bin unverheiratet!“ antwortete er lächelnd.
„Vortrefflich! Vortrefflich!“ rief Elias, der sich wieder in den Stoff zu seiner Novelle versenkte. „Sie haben dem Vater die Freiheit wiedergegeben, und Anna entbrennt in Dankbarkeit zu dem großmüthigen Retter. Sie dürfen sich dem Danke des guten Kindes nicht entziehen. Aber fürchten Sie nichts, ich bin discret, vor der Katastrophe, welche die handelnden Personen selbst herbeiführen müssen, kommt kein Wort über meine Lippen.“
„Wer war der junge Mann, der mir in der Thür begegnete?“
„Ja, lieber Herr, bestimmte Auskunft kann ich Ihnen nicht geben; aber ich habe so meine Vermuthungen. Er sagte mir, er käme von Madame Lindsor. Diese Dame ist nämlich eine reiche Engländerin, eine junge Wittwe. Wie mir scheint, ist jener schöne Mann ihr heimlicher Liebhaber. Ich müßte wenig Scharfsinn besitzen, wenn ich mich täuschen sollte.“
Dem armen Philipp rieselte es heiß und kalt über die Haut. Schon die Vermuthung des Magisters, dessen eigenthümliche Combinationen er mit seiner Gutmüthigkeit rechtfertigte, weckte das peinliche Gefühl der Eifersucht wieder, das er gestern Abend so großmüthig niedergekämpft hatte.
„Woraus schließen Sie das?“ fragte er, gewaltsam seine Verwirrung verbergend.
„Wie ich Ihnen schon gesagt, so liegt mir daran, die Personen kennen zu lernen, die nach der Familie Bornstedt fragen. Ich suchte ihn auszuforschen. Da drückte er mir freudig bewegt die Hand und sagte: „„Ihre Befürchtungen sind unnütz, Madame Lindsor ist eine so liebenswürdige Dame, daß sich jeder glücklich preisen kann, für den sie sich interessirt!““ – Mein Gott, gab ich zur Antwort, ich will die Dame nicht kränken. – „„Dann würden Sie in mir einen Gegner finden, der Sie vernichtet!““ rief der junge Mann, grüßte und ging. Sind Sie nicht meiner Ansicht, daß nur ein Liebhaber solches Feuer haben kann?“
„Er wollte also die Familie Bornstedt besuchen?“
„In einer dringenden Angelegenheit, wie er mir sagte. Weiter konnte ich nichts erfahren, denn er lief wie ein Besessener davon. Aber was ist Ihnen, lieber Herr? Sie zittern ja und sind bleich, als ob sie plötzlich krank geworden wären.“
„Herr Magister,“ sagte Philip ernst, „Sie müssen mir versprechen, meine Besuche gegen Jedermann zu verschweigen. Plaudern Sie, so kann Ihrer liebenswürdigen Schülerin ein Glück entgehen, das ihr jetzt so nahe bevorsteht.“
„Ich verbürge mein Ehrenwort! Uebrigens fürchten Sie den blonden Menschen nicht, Anna steht unter meiner speciellen Aufsicht, und meiner Einwirkung wird es möglich sein –“
„Auf Wiedersehen, Herr Magister!“
Philipp drückte dem kleinen Manne die Hand, und verließ hastig die Wohnung.
„Ich müßte ein schlechter Menschenkenner sein, wenn ich noch zweifeln wollte, daß der gute junge Mann eine zärtliche Neigung für Anna hegt!“ flüsterte Elias vor sich hin, als er wieder in seinem Stübchen war. „Was sage ich, eine zärtliche Neigung? Er ist schon Feuer und Flamme! O Himmel, nun habe ich wieder einmal vergessen, ihn um seinen Stand und Namen zu befragen! Das ist sehr unangenehm; aber es thut nichts, ein Novellist muß sich immer zu helfen wissen. Anna’s Liebhaber bleibt vorläufig ein Unbekannter, das reizt die Neugierde des Lesers, erhält die Spannung und giebt meinem Werke etwas Geheimnißvolles, wie man es jetzt liebt. Die Entwickelung ergiebt sich von selbst, ich brauche nichts zu erfinden. Nun will ich die zweite Scene ausarbeiten, ehe ich zu der dritten übergehe, werde ich wohl schon so viel von Madame Lindsor erfahren haben, daß ich sie dem Leser naturgetreu vorführen kann. Also zur Arbeit!“
Elias ergriff die Feder, sann einige Augenblicke nach, und begann emsig zu schreiben.
Philipp befand sich auf dem Wege zu seiner Gattin. Es war die gewöhnliche Stunde, um die er ihr seinen Besuch abzustatten pflegte. Er ging langsam, um wenigstens so viel äußere Ruhe zu gewinnen, daß er der vielleicht unschuldigen Josephine seinen Seelenzustand verbergen konnte. Der junge Mann liebte zu leidenschaftlich, und die ersten Monate seiner Ehe waren unter so eigenthümlichen Verhältnissen dahingeschwunden, daß seine Eifersucht wohl wach werden konnte. In der festen Hoffnung, daß sie ihm den empfangenen Besuch unaufgefordert mittheilen würde, zog er die Glocke auf dem Vorsaale. Meta, die schon bejahrte Kammerfrau, öffnete die Thür. Eine Minute später ward er mit derselben Offenheit und Zärtlichkeit empfangen, die ihm Josephine stets bewiesen hatte. Sie befand sich noch im Negligée, da sie erst zu der Abendgesellschaft große Toilette machen wollte. Man unterhielt sich von der Soirée, und Josephine legte ihrem Gatten die Liste der Eingeladenen vor. Sie bestand aus vierzehn Personen, deren Bekanntschaft Josephine in den Abendgesellschaften des Banquiers gemacht hatte. Meta lud zum Frühstück ein, und man setzte sich zu Tische. Josephine sprach lebhaft von den getroffenen Einrichtungen, von der Sorge, deren sie sich durch die Soirée entledigte, und von dem neuen kostbaren Kleide, das sie heute zum ersten Male tragen würde. Der arme Philipp saß wie auf Nadeln, des verhängnißvollen Besuchs geschah mit keiner Sylbe Erwähnung. Da trat Meta ein. Sie brachte einen Brief von Madame F. Josephine öffnete und las. Ihre Züge verrieten eine unangenehme Ueberraschung.
„Madame F. wird diesen Abend nicht kommen!“ sagte sie gleichgültig, indem sie ihrem Gatten das Papier gab.
Philipp las die Zeilen, durch die der Banquier kurz und bündig ankündigte, daß ein Unwohlsein seine Gattin an das Zimmer fessele, und daß sowohl er als sie das Versprechen, diesen Abend zu erscheinen, zurücknehmen müßten. In der Abfassung lag eine Kälte, die nach Philipp’s Ansicht beleidigen sollte. Es waren nicht einmal die gewöhnlichen Höflichkeitsformen beobachtet.
Land und Leute.
Wie man einen Menschen mehr als einmal sehen muß, um ihn zu kennen, wie man ihn in Freud’ und Leid, im Werkeltags- und im Sonntagskleide beobachten sollte, so eine Gegend, ein Land, einen Volksstamm. Man muß sie im Regen und bei Sonnenschein gesehen haben. Was ein scharfes Auge geliefert, ein prüfender philosophischer Geist gesichtet, mag dann einigermaßen der Wahrheit und Natur nahekommen. Bloße Reiselust reicht nicht aus; Reisen ohne zu untersuchen, ist noch weniger als nichts; und man könnte Dutzende jener blos oben abgeschöpften Werke, in denen das hundertmal Wiederholte allenfalls mit den Notizen unwissender Führer oder gleichgültiger Kellner verbrämt ist, in ein einziges extrahiren, ohne damit seinem Zwecke viel näher zu kommen. –
Zürich ist die Vorrede zu einem wundervollen Buche, die Vorhalle zu einem Tempel voll geheimnißvoller, erhabener Schönheiten. Man soll Vorreden nie ungelesen lassen; oft wiegen sie das Buch selbst auf. Dies ist zwar hier nicht der Fall; aber gereut hat es wohl noch Niemanden, der aufmerksamen Auges die reizend geschriebenen Blätter durchgegangen, welche eine freigebige Natur in ihrer besten Laune dem verständigen Freunde entgegenreicht. Man muß, ein Glückskind des Wetters, an einem schönen Morgen oder bei dem Abendglanze eines heitern Tages von dem freundlich zwischen grünen Forsten und Weinbergen gelegenen Winterthur her den letzten Hügel vor Zürich überwunden haben, um nun vor dem entzückten Blicke ein Gemälde entfaltet zu sehen, wie kaum der Weitestgewanderte ein zweites in gleicher Schönheit aus dem Schachte seiner reichen Erinnerung vergleichend hervorholen dürfte. Da hat uns die Stadt schon ihre neue lichtere Seite entgegengeschickt in den stattlichen Gebäuden des Cantonsspitals und der Cantonsschule und manch’ anderm geschmackvollen Hause in anmuthiger Umgebung; aber kaum reizt uns das Nächste, selbst nicht drunten im Thale ihr alter gedrängterer Kern mit den hohen und spitzen Thürmen; denn das Auge schweift vor Allem suchend nach dem schönen See, der durch die grüne Herrlichkeit üppiger Baumgruppen und Weinberge, zwischen den hellen Häuserstreifen blauend heraufschimmert und uns sofort mit dem ganzen magischen Zauber anzieht, den die spiegelnde Seele einer Landschaft, Fluß oder See, auf uns zu üben pflegt. Und welcher See! welch’ immer wechselnder Reiz auf diesen klaren, grünen Wogen, die uns in Zweifel lassen, ob sie sich sehnsüchtig zu den Stätten der Menschen gedrängt, oder ob diese nicht nahe und enge genug die Arme um das weiche flüssige Element haben schlingen können.
Die Hauptstadt des kultivirtesten und bevölkertsten Cantons der Eidgenossenschaft ist längst über ihre alten Mauern und Bollwerke hinausgewachsen, in deren engen Kreis sie einst ein Knäuel schmaler, dumpfer Gassen mit alten finstern Häusern eingezwängt hatte. Sie hat auch jene selbst entfernt, oder, wo dies nicht geschehen, sind sie zum grünen Grunde für geschmackvolle weitsichtige Gebäude geworden. Mit dem Zutritte von Luft und Licht gewinnt aber die innere alte Stadt selbst täglich; und wie der junge Aufwuchs draußen längs der blühenden Seeufer sich mehr und mehr [436] erweitert und weiter greift, so zwingt er wieder die an der alten Stätte Gebliebenen, die Contraste nicht zu grell werden zu lassen und dem rüstig Aufstrebenden möglichst nachzukommen. Bei diesem Wettstreite des alten und jungen Zürich haben Geschmack und Schönheit nur gewonnen; und man wird kaum in der Annahme irren, daß mit ihm auch der letzte Rest jenes Spießbürgerthums allmälig verschwinden dürfte, das seinen nicht immer gefälligen Anstrich in einer Zeit erhielt, wo die grauen stolzen Mauern zugleich das Symbol der Herrschaft und des Vorrechts über die Landschaft bildeten. Nirgends vielleicht auch ist der Geist der neuen Zeit so entschieden und doch so gemäßigt eingezogen als in Zürich; es hat sich schneller in ein gemeinsames Volksleben gefunden und rascher den Zopf unnatürlicher Absonderung mit kühner Hand abgeschnitten. Freilich ist dies nicht überall völlig gelungen und schaut er noch da und dort heraus; gestehen muß man aber doch, daß ein tüchtiger Schritt aus dem zweideutigen Mittelalter und aus vielfach kleinlicher Enge heraus gethan ist einer Entwickelung entgegen, in der wir monarchischen Deutschen mit unserer universellen Bildung längst schon stehen, ohne daß Viele es wissen oder anerkennen wollen. Niemand versteht es besser, sich selbst für recht gründlich schlecht zu halten als der Deutsche!
Eine oberflächliche Beobachtung redet sich gar leicht ein, der Züricher lasse die wesentlichsten Züge des specifischen Schweizerthums großentheils vermissen. Dies ist ein Irrthum, den ein etwas längerer Aufenthalt bald zerstört. Ein ungemein gesteigerter persönlicher Verkehr mit Fremden läßt ihn sein charakteristisches Gepräge gewissermaßen mehr nur verhüllen, als daß es verwischt wäre. Er theilt mit allen seinen Stammgenossen die nüchterne Verständigkeit, den praktischen arbeitsamen Sinn, die verschlossene mißtrauische Abneigung gegen Fremdes, das geringe Verständniß der ideellen Seiten des Lebens; anderntheils aber entdeckt man doch wieder unter den verschiedenen Farbentönen, welche die moralische Physiognomie der Bewohner der einzelnen Schweizercantone, so sehr diese im Grunde den Nationalcharakter zeigen, unterscheiden, den Züricher überall leicht. Mehr als irgendwo hat sich bei ihm von je ein entschiedener Geschmack für die Wissenschaften, wenn auch vorzugsweise nur für die realistischen, entwickelt; – er darf ohne Ueberhebung an eine lange Reihe trefflicher Namen erinnern, die ein verdienter Ruf in den Jahrbüchern des kleinen Staates ausgezeichnet hat, und noch heute ist es Zürich, dessen wissenschaftliches Streben, dessen Schulwesen, dessen Bildungstrieb unbedingt die erste Stelle einnimmt. Für die besondere Liebe zur Arbeit spricht der Fleiß, der einem nicht gerade überall fruchtbaren Boden die möglichsten Früchte abringt, und eine blühende Industrie; für die kluge Benutzung aller Vortheile ein bedeutender solider Handel. Man rühmt ferner dem Züricher eine große Schnelligkeit in den Entwürfen, verbunden mit der zähesten Ausdauer in der Ausführung nach, und sprüchwörtlich ist seine „Weisheit.“ Bedeutende Männer im Rathe und zur That haben ihm nie gefehlt. Dies sind gar achtbare Dinge, worüber man wohl auch vergessen kann, daß der allgemeine Nationalzug einer bedächtigen Sparsamkeit zuweilen ein wenig liebenswürdiges Gepräge zeigt und uns gemüthlicheren Deutschen die Traulichkeit vor der schweizerischen Ausschließlichkeit und Abgeschlossenheit fast verloren geht.
Eines nur haben wir Zürich und Allen, die über dasselbe schreiben (es sagt es Einer dem Andern nach), nie recht verzeihen können: die Koketterie mit der Bezeichnung als „schweizerisches Athen.“ Wozu sich mit fremden Federn schmücken wollen, wenn man eigene glänzende genug hat? Und fremde Federn sind wahrlich dieses „Athenenthum!“ Verstände man darunter noch einen gewissen republikanischen Geist, der sich auf verschiedenen Gebieten auch in kleinem Raume vielseitig und rühmlich entwickelt hat, und mit den Ueberlieferungen einer reichen, tüchtigen Vergangenheit einer nicht minder wackern Zukunft entgegenstrebt, so würden wir uns noch mit jenem vielmißbrauchten Beiworte versöhnen mögen; aber in dieser Bedeutung faßt man es ja nicht, und in der gewöhnlichen und am Ende allein gerechtfertigten paßt es nicht. Es fehlt der Vergleichspunkt. Jene duftiger Blüthe griechischen Geistes, griechischer Kunst und Poesie, wie sie vor Allem in Athen sich entfaltet, erlaubt uns nicht, hier ihr Spiegelbild zu erblicken; Kunst und Poesie haben (mit geringen Ausnahmen) in der Schweiz überhaupt nie einen rechten Boden gefunden, die Philosophie keine besondere Pflege; und die attische Urbanität, die Aesthetik des griechischen Lebensgenusses, von einem heitern wolkenlosen Himmel begünstigt, ist kein Charakterzug des Zürichers. Dies soll und kann kein Vorwurf sein; nicht Alle können und sind Alles; aber es soll einen Irrthum zerstören und eine immer wieder nachgeplauderte Phrase, in der wir nicht einmal eine Schmeichelei erblicken können, auf ihren rechten Werth zurückführen. Zürich hat des eigenen Ruhmes genug, und wäre es auch nur der Eine (wie er es doch nicht ist), die Wiege einer Reformation gewesen zu sein, die in Zwingli ein so ernstes, hochsinniges, praktisches, Staat und Kirche gleich umfassendes, und doch so ächt und mildchristliches Haupt gefunden, einen Mann, zu dessen ganzem Bilde in der gährenden Zeit der Wiedergeburt auch sein heldenmütiges Ende an dem Unglückstage von Cappel gehört.
Die Umgebung Zürichs trägt zwei große Gräber: das eine ein einfacher Stein an jener Stätte, wo Zwingli gefallen, das andere versunken, verschwunden, nicht mehr gekannt. Beide gehören mächtigen Zeugen des freien lebendigen Menschengeistes an, die im Leben, wenn auch auf verschiedener Bahn, gleichem Ziele nachgerungen, und die das Schicksal in räumlich geringer Entfernung in dieselbe freie Erde betten sollte. Auch darin möchten wir eine Aehnlichkeit finden, daß von dem irdischen Theile des großen Reformators gerade nur noch die Stelle seines Todes redet – die Leiche verbrannte die thörichte Rache der Feinde, die Asche ist in die Winde zerstreut – ein fruchtbarer Same! – von dem zweiten Ritter des gewaltigen Geisteskampfes kennt man selbst die Stätte der Asche nicht mehr. In friedlich anmuthiger, fruchtbarer Gegend, auf die des Rigi schöne Pyramide herüberschaut, in der Nähe von Cappel trägt zu Zwingli’s Gedächtniß ein rohgelassener Findlingsblock auf eiserner Tafel folgende Inschrift: „Den Leib können sie tödten, nicht aber die Seele. So sprach an dieser Stätte Ulrich Zwingli, für Wahrheit und der christlichen Kirche Freiheit den Heldentod sterbend, den 11. October 1531.“
Auf den klaren Wogen des Zürichsees, schon auf schwyzer Gebiet, im Angesicht der glarner und appenzeller Alpen, schwimmt ein kleines üppig grünendes Eiland, die Ufnau. Hier fand Hutten die letzte Ruhe. Vom Sturm des Lebens und der Leidenschaft, der edelsten für stolze volle Menschenfreiheit, matt gehetzt, müde der Welt und ihrer Dornen, hatte der merkwürdige Mann, der Ritter des Liedes und Schwertes, von dem ein lateinisches Pamphlet einen Fürsten von Land und Leuten getrieben; der rüstigste Waffenträger Luther’s und doch eigenen selbstständigsten Geistes voll, dessen: „Ich hab’s gewagt!“ der die Banden einer barbarischen Finsterniß sprengende Ruf nach der Morgenröthe eines helleren Tages gewesen – den irrenden Fuß auf die Insel gesetzt. Erasmus in Basel hatte nicht gewagt, den Verfolgten und Verbannten aufzunehmen. Zwingli schickte den zum Tode Erkrankten in die treue Pflege seines Freundes, des Pfarrers der Ufnau und Conventualen des Klosters Einsiedeln. Hier endete Hutten, wenigstens in den letzten Tagen in ungestörter Einsamkeit, sein unruhiges Leben. Ob der kleine jetzt verödete Friedhof oder eine nun verfallene Kapelle sein Grab enthalten? fast Jeder erzählt es anders. Der Grabstein, den Freunde ihm mit der Aufschrift: „Hic eques auratus jacet, oratorque disertus, Huttenus vates, carmine et ense potens,“ einst gesetzt, ist längst verschwunden – der fromme Eifer der Mönche von Einsiedeln mag die Spur von dem Denkmal eines Ketzers auf ihrem Grund und Boden nicht gewollt haben. Heute ist die ganze Insel mit ihren zerfallenden Menschenwerken, aber im immer wiederkehrenden Schmucke der Natur das Grab eines der größten und edelsten Geister.
Der Canton Zürich, in geistiger und ökonomischer Beziehung unbestritten die erste Stelle in der Eidgenossenschaft behauptend, gehört zur sogenannten ebenen Schweiz. Man hat dabei den mächtigeren Gegensatz der Alpenregion im Sinne, und nennt so seine immerhin stattlichen Höhen, die an einigen Punkten unsern Brocken überragen, nur Hügel. Entbehrt er der großartigen und romantischen Schönheiten des höheren Gebirges, so würde man doch irren, wollte man ihm einen ungemein reichen Wechsel landschaftlicher Reize absprechen. Nur ist ihr Charakter mehr die bescheidene Anmuth als die überwältigende Größe. Aber man versuche es nur: man verlasse die gerade Linie der Heerstraße, den plattgetretenen Weg der Touristik, dringe in so manches nebenliegende Thal – und das Auge wird sich an der bunten Fülle einer reizenden Natur und den überallhin dringenden Spuren emsiger Menschenhand erfreuen: Und dann – wo Ihr einen erhabenern Standpunkt ersteigt, als Hintergrund eines blühenden wohlbebauten Gartens, [437] welche Aussicht auf die herüberwinkende Welt des Hochgebirgs, auf seine beschneiten Riesenhäupter, die stolzen Wächter eines gegenwärtigen Genusses und einer geahnten, geheimnißvollen Herrlichkeit! Gerade dieses verleiht Zürich einen so eigenthümlichen Reiz; wir bewegen uns mitten in einer gefälligen Natur, in dem regsten Verkehre einer thätigen, dichtgedrängten Bevölkerung; wir erfreuen uns der zahlreichen freundlichen Ortschaften, die uns von den Ufern des Sees, von einem grünen Hügel, aus der Blätterpracht fruchtbarer Bäume entgegenschimmern; und wir wissen dabei doch immer, daß nur wenige Stunden hinreichen, die ganze Scenerie zu verändern und uns aus dem anmuthigen Hügellande in die wilde und erhabene Majestät himmelanstrebender gewaltiger Massen, an den Fuß mächtiger Gletscher oder vor das Rauschen schäumender Wasserfälle zu versetzen. Und doch sollte man es bei einiger Muße nie versäumen, auch bei der bescheideneren Schönheit dieser Gegenden zu verweilen. Auf diesem Boden begegnet uns manche Erinnerung, mancher historische Keim, den wir weit von da sich mächtig haben entfalten sehen. Kein geringes Stück deutscher Geschichte ward hier in scheinbar enger Schule eingeleitet.
Wandert hinaus, wo nicht weit von dem wohlgebauten, industriereichen Winterthur die wilde Töß rauschend im engen Thale hinbraust: aus dem Wälderdunkel auf steilem Felsen erhebt sich die Veste Kyburg, das älteste Grafenschloß Helvetiens. Vom Urahn der Welfen leitete sich sein Herrengeschlecht ab, und des letzten Kyburgers Erbe ging in eine kräftige Hand über, die sich einst das heillos zerrüttete kaiserlose Deutschland holte, um wieder Friede und Ordnung in’s Reich zu bringen. Was dieser Rudolph von Habsburg, als er zum Reiche gelangt, vom mächtigsten Throne der Welt aus geübt, hat er als Stadthauptmann der Zürcher im engen Kreise gleichsam vorbereitet. Wir treffen hier überall auf seine Spuren, wie er der aufstrebenden, wohlhabenden Handelsstadt mit starkem Arme ebenso wie mit nie verlegener Schlauheit die raub- und habsüchtigen Nachbarn vom Leibe zu halten wußte. Er demüthigte den stolzen Freiherrn von Regensberg und zerstörte dessen Schlösser, die wie Blutigel der Stadt im Nacken saßen zu immerwährendem Hohne und Schaden; und so gründlich war die Arbeit, daß von den meisten dieser Burgen kaum mehr ein spärlicher Mauerrest übrig geblieben ist. Die alten Chroniken wissen eben so viel von Rudolph’s Muth, wie von seiner Gewandtheit in Kriegslisten zu erzählen. So brach er des Regensberger’s Burg auf dem Uetli, wo heute ein im schweizerischen Holzstyl erbautes artiges Berghaus die Freunde einer entzückenden Aussicht in seine gastlichen Räume sammelt, daß er mit zwölf weißen Pferden, wie sie gleiche in der Veste hatten, den nichts ahnenden Thorwart täuschte und auf diese Weise in die Burg gelangte. Seltsam genug wiederholt sich die ähnliche List noch mehrmals in dem Kriegsleben des Grafen von Habsburg.
Ein dunkleres Blatt in der Geschichte ruft unweit von Kyburg Töß mit seinen bald verschwundenen Klosterresten in’s Gedächtnis. Hier weilte abwechselnd mit Königsfelden jene Agnes von Ungarn, die ihrem ermordeten Vater, Albert von Oesterreich, ein so furchtbar entsetzliches Grabmonument errichtet hat. Von der engen Klosterzelle in Töß aus setzte der rachgierige Schmerz zweier Fürstinnen, der Wittwe und der Tochter, ein Strafgericht in’s Werk, das in grausamer Verfolgung Unschuldige mit Strafbaren vermischte, ja sogar die wirklich Schuldigen persönlich gar nicht erreichte; hier starb auch Agnesens Stieftochter, Elisabeth von Ungarn, im Geruche der Heiligkeit.
Einer andern Heiligen in Liebe und Treue möge als mildernder Gegensatz bei diesem blutigen Blatte gedacht werden. Der Freiherr von Wart war ruhiger Zuschauer bei dem Morde des Kaisers gewesen. Von seinem Vetter Thibald, Grafen von Blamont, um Geld an seine Verfolger ausgeliefert, ward er verurtheilt, auf dem Rade zu sterben. Umsonst bittet seine junge Gemahlin, aus dem Hause Balm (alles Namen, die heute noch in der Gegend erhalten sind) um Gnade für ihn; Schönheit und Thränen rührten die Richter nicht. Auf das Rad geflochten, giebt er erst nach drei Tagen den Geist auf. Wenn die Nacht herabgesunken, kommt seine Gemahlin, steht ihm bei, betet mit ihm über der ungeheuren Marter. Des Gatten Beschwörungen können sie nicht entfernen, nur der Tod, zu dem sie ihm nach so langer schrecklicher Pein endlich die Augen schließen kann. Vom Fuß des Schaffots begiebt sie sich nach Basel, wo sie, „geliebt und bewundert von aller Ehrbarkeit,“ wie die alte Chronik Albert’s von Straßburg sagt, noch einige Jahre lebte und dann, von Gram und schrecklicher Erinnerung aufgezehrt, dahinstarb. Damals sanken Hunderte der helvetischen Geschlechter vor einer kaum zu sättigenden Rache. Ihre Güter gewährten zum Theil die Dotation des zur Sühne und Buße gestifteten Königsfelden und vermehrten die Klosterschätze in Töß. Man darf aber wohl behaupten, daß mit dieser Vernichtung des helvetischen Adels sich das Haus Oesterreich in der Schweiz einen mächtigern Schlag versetzt habe, als Morgarten und Sempach getan.
Doch zurück in die heitere Gegenwart!
Wer aus dem Aargau in den Kanton Zürich tritt, findet bald einen auffallenden Unterschied. Der Menschenschlag scheint ein ganz anderer zu sein. Dort begegnete uns wohl ein frohes Lied, ein lächelndes Gesicht der im Felde Arbeitenden; hier geschieht Alles stiller, in sich gekehrter; auch die dunkle Tracht der Bauernweiber und Mädchen macht einen fast traurigen Eindruck. Der Schlag ist nicht schön, nicht lebhaft, aber im Allgemeinen doch kräftig, gelenk, zähe, wo nicht der Einfluß des Fabriklebens, freilich hier unter verhältnißmäßig günstigeren Bedingungen, uns auch eine schlaffere, schmächtigere, kränkelndere Generation erblicken läßt. Was den schweizerischen Fabrikarbeiter überhaupt von dem Fabrikarbeiter anderer Länder wesentlich unterscheidet, ist die Erleichterung häuslicher Einrichtungen, ein mehr fester und bleibender Wohnsitz, was ein wanderndes Proletariat ausschließt. In der Regel sucht er sich die Anschaffung der nothwendigsten Lebensbedürfnisse noch durch eigenen Anbau zu erleichtern, indem er sich bemüht, ein kleineres oder größeres Stück Land entweder als Eigenthum zu erwerben oder als Lehen in Pacht zu nehmen. Anderntheils aber überliefert der Umstand größerer Seßhaftigkeit den armen mittellosen Arbeiter auch mehr der Willkür seines Arbeitsherrn; und hiergegen schützt das Gefühl bürgerlicher Gleichheit allerdings nur höchst selten. Der Eigennutz hat überall dieselben Symptome.
Wenden wir uns wieder zur ländlichen Hauptbevölkerung des Cantons, so finden wir, daß eine durchgehende Nationaltracht, namentlich bei den Männern, immer mehr verschwindet. Sie scheint schon früher in den verschiedenen Gegenden vielfach abweichend gewesen zu sein. Der Zwillichrock, bis an die Knie zugeknöpft, das scharlachne Bruststück mit langen Taschen, die weiten schlotterigen Beinkleider haben meist schon jener halben Annäherung an eine mehr städtische Tracht Platz gemacht, die unbeschreibbar ist. Nur bei älteren Männern sieht man zuweilen noch ein und das andere jener Stücke. Steter hat sich die weibliche Tracht erhalten, wenigstens in den untern Gegenden und im Bezirke Regensberg. Hier ist sie günstiger für das schöne Geschlecht, das uns sonst freilich selten den frischen Reiz der berner, freiburger und solothurner Bäuerinnen erkennen läßt. Die Tracht besteht in einem rothen, wollenen Leib- oder Unterrock, einem schwarzen Rocke (Jüppe), ohne Aermel, der untere Theil enge gefaltet, etwas kürzer als der Leibrock, von Wolle oder Zwillich; einem roth scharlachnen Mieder (Brustlatz), über das der obere Theil der Jüppe mit Bändern befestigt ist; einem Halskragen (Göller), weiß oder gefärbt, und blauen oder schwarzen Schürzen. Als Kopfbedeckung tragen die Weiber Hauben von halb- oder ganzseidenem brochirten Zeuge, mit breiten schwarzen Spitzen eingefaßt (Hütli). Die Mädchen tragen die Haare in zwei herabhängenden, geflochtenen Zöpfen, die Weiber wickeln die Zöpfe unter die Haube; doch winden auch die „Maitli“ sie häufig um den Kopf. Im alten Amte Knonau pflegten die jungen Mädchen sonst in die langen Haarzöpfe rothwollene Schnüre einzuflechten, was freundlich stehen mußte. Sie tragen daselbst ein ziemlich breites Sammetband mit Spitzen, eine kurze, dunkelblaue Jüppe mit engen Falten und einem hellblauen, seidenen Bande besetzt; ein die Gestalt ziemlich gut bezeichnendes Leibchen, worauf eine von farbigen Sammetbändern gebildete Fünf (V) sich befindet, ein rothes Brusttuch, ein hellfarbiges Göller, einen sammetenen Gürtel mit silberner Schnalle, gestreifte Schürze, eine Jacke von schwarzem Wollenzeuge, welche die V nicht ganz deckt, weiße baumwollene, früher rothwollene Strümpfe. Die Weiber tragen überdies eine leinene weiße Haube, die enge anschließt, auf beiden Seiten Glasperlen und glatte, knapp anliegende Spitzen hat.
Unsere Illustration giebt den Lesern einen ländlichen Hochzeitszug aus dem regensberger Bezirk: im Hintergrunde ist Regensberg selbst zu erblicken, das reizend auf einem Vorhügel des Jurazweigs der Lägern liegt. In den meisten übrigen Gegenden nähert sich der Schnitt der Kleidung wie bei den Männern der städtischen mehr oder weniger. Zürich hat manche seiner alten Gewohnheiten [438] und Gebräuche treuer beibehalten, als die Landschaft ihre nationale Tracht. Einer der freundlichsten Gebräuche ist ohne Zweifel der folgende: Wird ein Kind geboren, so geht eine der Mägde des Hauses im Sonntagsstaate mit einem mächtigen Blumenstrauße oder Kranze (sonst auch einen an die eigene Brust geheftet) zu den Verwandten der Familie, den jungen Ankömmling zu verkünden; Festschmuck und Blumen scheinen sagen zu sollen: „Eine neue Blüthe ist auf Eurem Stammbaum aufgesprossen; bittet Gott, daß sie zur guten Frucht werde!“
Auch der Brauch der Hochzeitsreisen scheint seit Langem in Zürich zu Hause zu sein. Statt die jungen Eheleute jene ersten Tage, die der Liebe so theuer sind und die in jene unrecht genug bei uns „Flitterwochen“ genannte Zeit fallen, bei geräuschvollen Mahlzeiten, langweiligen Besuchen, oder in Gesellschaft, während sie lieber allein wären, verlieren zu machen, läßt man sie eine mehrtägige Reise machen, und giebt ihnen so den ersten Beweis von Liebe und Achtung, daß man sie allein und sich selbst überläßt.
Eine sehr alte Sitte ist auch die Feier des Frühlingseintritts, bekannter als „Sechseläuten.“ Um die Zeit des Frühlingsäquinoctiums werden auf allen Zünften, die indeß jetzt ihre frühere politische Geltung verloren haben, Mahlzeiten gehalten. Sonst richtete man es wohl ein, daß man sich noch versammelt fand, wenn die Abendglocke das Ende des letzten Wintertages ankündigte; dann erhoben sich das Haupt der Zunft und alle Gäste von ihren Sitzen, und Jener hielt eine den Umständen angemessene Rede, eine Einladung an die Mitgesellschafter, die Rückkehr der schönen Jahreszeit zum Nutzen und Vergnügen wohl anzuwenden. Den Vormittag benutzen die Kinder zu allerlei Verkleidungen: es ist ein Kinderfasching; bei einbrechendem Abend aber zünden die Knaben in und vor der Stadt an unschädlichen Orten große Reiserbündel oder kleine Holzstöße an, und springen um diese Feuer her; so feiern auch sie ihrerseits unter freudigem Jubel die Ankunft des Frühlings. Am Auffahrtstage führt ein seit undenklichen Zeiten üblicher Gebrauch Knaben und Mädchen auf den Gipfel des Uetliberges, um sich da auf einem der schönsten Punkte in frohen Liedern einer unschuldigen und lebhaften Freude zu überlassen. Klopstock gedenkt in seiner Ode an den Zürchersee des Uetli, auf dem er im Kreise seiner Freunde einige heitere Stunden zugebracht hatte. – Doch nur einzelne flüchtige Züge aus einem reichen Gemälde können wir geben, ein paar Striche zu einem Bilde, das mit der gewissenhaften Sorgfalt des Künstlers auszuführen, uns weit über die Gränze unserer Absicht führen würde.
Aus dem Privatleben eines ostindischen Königs.
Außer den Schneidergesellen spielen die Barbiere besonders eine wichtige Rolle in der Weltgeschichte. Ohne Rasirmesser giebt’s bekanntlich gar keine Kultur mehr und ohne Kultur keine Geschichte. Und wer heut zu Tage Geschichte macht, geht nie unrasirt aus, weil er stets mit einem guten Beispiele vorangeht, damit Andere sich desto geduldiger von ihm barbieren lassen. Jeder große Mann auf den Höhen der Menschheit ist ein Barbier, der andern Leuten die Haare von den Backen oder wohl gar von den Zähnen schneidet; und dann nicht selten das Fell über die Ohren zieht. Die englischen Barbiere scheeren bekanntlich seit Jahrhunderten die ganze Welt und wurden neuerdings so verwegen, nicht nur den ehrwürdigen Nationalbart Rußlands, sondern auch Sebastopol und Kronstadt rasiren zu wollen. Es gehört nicht hierher, nachzuweisen, wie sich das Messer bei dieser Gelegenheit wendete, so daß sie von den Barbieren des Continents geschooren und über’s Ohr gehauen werden. Auch sprechen wir nicht von den Barbieren der Literatur und Kunst, dem „Dorfbarbier“, dem „Barbier von Sevilla“, sondern blos von einem neuentdeckten Haarkünstler, der Premierminister und Diktator eines Königs ward, und jetzt wieder als Omnibus-Condukteur Londons[1] hinten auf dem Brette steht, um seine Herrschergelüste, die er so lange mit Erfolg gegen einen Staatsmann ausübte, an den Passagieren seines Omnibus zu befriedigen.
Wir meinen den englischen Barbier, der in dem „Privatleben eines östlichen Königs“, über welchen jetzt in England das amüsanteste und interessanteste Buch („The Private Life on an Eastern King“) erschienen ist, die effektvollste, romantische Hauptrolle spielt. Der östliche König ist der neuerdings verstorbene Beherrscher von Oude, eines sich jetzt vollständiger englisirenden Theils von Ostindien an beiden Ufern des Ganges, südlich von dem gebirgigen, noch zwischen Thibet, dem Himalaya und dem englischen Ostindien sich unabhängig haltenden Nepaul. Das Buch macht in England ungemein viel Glück. Die Zeitungen und Journale haben es bereits doppelt und dreifach in Auszügen nachgedruckt, und Jeder liest es, Jeder freut sich darüber, weil die Engländer, denen vor Sebastopol und Kronstadt alle Rasirmesser stumpf geworden (weil die Aberdeen’s und Palmerston’s blos weiche, schlechte Messer führen und die Granitfelsen Rußlands gar hart sind), hier das heiterste Ideal, die komischste, glücklichste Personification ihres Weltbarbierungstalents anschauen. Lassen wir uns zunächst unbemerkt von einem Engländer mit zum Könige einführen.
Niemand darf einem östlichen Könige mit leeren Händen nahen. Ein „Nuzza“ oder Geschenk muß allemal geboten werden, so oft man sich ihm naht. Das ist durchaus Etikette, die übrigens nicht lästig ist, da der Monarch[WS 4] hinterher allemal ein werthvolleres Gegengeschenk macht. Ich stand vor seinem Palaste in der Hauptstadt Lucknow, fünf goldene Mohurs (ziemlich 60 Thaler) in der offenen Hand, und wartete unter einer Sonnenhitze, die stark genug schien, eine Hammelkeule an ihr zu braten. Endlich kam er, ganz wie ein englischer Gentleman gekleidet, schwarzer Leibrock, pariser Hut, Binde und Vatermörder. Er sah übrigens recht angenehm aus, und die indische Nationalhautfarbe war zu einer ganz leichten Sepia-Tinte zurecht und abgebleicht worden. Das schwarze Haar, Schnurr- und Backenbart contrastirten lebhaft zur Haut und zu den kleinen, scharfen, blitzenden, schwarzen Augen. Er war dünn und mittelgroß. Er sprach mit seiner Umgebung englisch, als er mir nahte, mich anlächelte und das Gold in meiner Hand berührte, ohne es zu nehmen.
„Also Sie haben sich entschlossen, in meine Dienste zu treten?“ fragte er mich.
„Ja, Majestät!“
„Wir werden gute Freunde sein. Ich liebe die Engländer.“ Er ging weiter und ich schloß mich seinem Gefolge an.
„Stecken Sie Ihre goldenen Mohurs geschwind ein,“ rief mir ein englischer Diener des Königs zu, „sonst nimmt sie Ihnen ein Eingeborner ab, da der König sie als Geschenk anerkannt hat, ohne sie zu nehmen, so daß sie nach der Logik der Leute hier Ihnen nicht mehr gehören.“
Dies that ich, denn das Gold war mir näher als andern Leuten. Meine erste Bekanntschaft im Dienste des Königs machte ich mit dessen englischem Lehrer. Der König wollte durchaus flüssig Englisch sprechen lernen, da er gar zu oft in Verlegenheit kam, in seiner englischen Unterhaltung zu dem ihm angebornen Indisch Zuflucht zu nehmen. Er hatte befohlen, daß ihm täglich eine Stunde gegeben werde, die aber selten länger dauerte als zehn Minute.
„Boppery bopp,“ rief er nach diesen zehn Minuten, „das ist zu trocken. Komm, Master, trinken wir ’n Glas Wein mit ’nauder!“ Und so wurden allemal mindestens vierzig von den sechzig Minuten der Stunde vertrunken. Der englische Lehrer bekam dafür 1500 Pfund Sterling oder 10,000 Thaler.
Später erhoben sich die Bekanntschaften des Verfassers bis zu dem obenerwähnten Barbier und Premierminister hinauf. Dieser war von England als Cajütenjunge nach Calcutta gekommen, nachdem er in London aus einem Barbier- und Haarschneide-Cabinet entlaufen war. In Calcutta fing er wieder an zu barbieren, zu schneiden und zu kräuseln. [439] Mit dem gewonnenen Gelde fing er einen Handel den Ganges hinauf an, und kam endlich auf diesem Wege bis Lucknow. Dort gab es einen General-Gouverneur, der durch seine schönen Haarlocken berühmt war. Der General-Gouverneur diente als Mode-Journal, als Tonangeber der Civilisation, die im Lande Oude grimmig umher leckte. Hier wurde der Ganges-Händler mit einem Hofbedienten bekannt, der von Sehnsucht nach gebrannten Locken, in der Form der general-gouverneur’schen brannte. „Da ist Geld zu verdienen,“ dachte der davongelaufene englische Barbierlehrjunge, und schuf Wunderwerke auf dem Haupte des Hofbedienten, Locken, die wie polirte Operngucker um das einst glatt gekämmte Haar hingen. Der Hofbediente, jetzt Parlamentsmitglied in London, erschien, durch diese Operngucker angesehen, wie ein neuer Adam, wie ein Wunder von Civilisation, besonders dem Könige, auf dessen Haupte sich nie die unschuldigste Andeutung zu einem gekrümmten Haare hatte zeigen wollen, wahrscheinlich zur Strafe für den dort landesüblichen Despotismus, der absolut Niemandem erlaubt, dem Monarchen nur ein Haar zu krümmen und sei es auf die constitutionellste Weise. Der König fragt und forscht, der Hofbediente führt den Zauberer beim Könige ein, und dieser drechselt aus dessen Haar ebenfalls eine dichte Sammlung glänzender lackirter Operngucker. Der König freut sich wie ein junges Mädchen über ihr Brautkleid. Seine Dankbarkeit kennt keine Grenzen. Gelder und Ehren regnen auf den glücklichen Coiffeur herab. Er wird geadelt und muß sich „Sofrus Khan“ (berühmter Heerführer) schreiben. Bald ist er der Erste unter den fünf Ministern des Königs, sein Factotum, sein Alles in Allem. Nussir (des Königs Name) macht ihn zum Oberminister und Oberkellner. Aller Wein, der an seiner Tafel getrunken wird, muß durch dessen Hände gehen, und von ihm zuerst gekostet werden (der König lebte in beständiger Furcht, daß ihn seine Verwandten vergiften würden). Er sitzt neben dem Könige bei Tische. Durch seine Hände gehen alle Lieferungen für den Hof, durch seine Hände das Geld dafür. Er reicht monatlich Rechnungen ein, die ein ganzes deutsches Jahres-Staatsbudget übertreffen. Man warnt den König, der Betrug sei zu arg, „schadet nichts,“ antwortete er, „ich will nun einmal den Sofrus Khan reich machen.“ Ostindische Zeitungen, besonders der „Agra uybar“, (aus welchem mehrere vortreffliche Satyren übersetzt sind) verfolgen den Haarkräusler und Premierstaatsbarbier mit Spott und Schande; er lacht darüber und denkt: hab’ ich doch das Geld und die Macht (aus ganz demselben Grunde bekümmern sich die englischen Minister auch durchaus nicht um die englische Preßfreiheit, und Palmerston blieb Premierminister, obgleich ihn eine Zeitung in aller Form und Klarheit zehnfachen Hochverrats anklagte). Und als es dem Premierbarbier doch zu arg ward, kaufte er sich einen Mann für 70 Thaler monatlich, der auf Verläumdungen und mißliebige Darstellungen in Calcutta-Zeitungen antworten mußte. Was er sich nicht selbst berechnete als Provision, strömte ihm als Bestechung und Geschenk von allen Seiten unter ihm stehender Beamten zu. Jeder suchte sich das Glück zu verschaffen, den Mann zu spicken und zu schmieren, den der König zu ehren geruhte. Das ist ja auch anderswo die Politik aller kriechenden Insekten in unfreien Staatsgesellschaften, daß sie Dem den Seifennapf halten und den Streichriemen, der am Mächtigsten und Einflußreichsten Könige zu barbieren und Haare und Menschen zu brennen und zu krümmen versteht.
Der Oude-Premierbarbier fuhr fort, bis zum Tode des Königs Locken und andere überflüssige Dinge zu liefern und mit künstlerisch geführtem, stets gut gestrichenem Barbiermesser der englischen Civilisation einen Weg durch das Land Oude zu bahnen. Nussir war verhaßt beim Volke, wie jeder Despot, aber die Engländer machten ihn jedenfalls noch verhaßter und sich beliebt, so daß ihnen am Ende auch hier, wie in allen andern Theilen Ostindiens nichts übrig blieb, als die Anarchie und Civilisation, die sie importirt, selbst weiter zu regieren, um so mehr, als die Leute in Lucknow und andern Orten Oude’s sich fast täglich schlugen und zwar nicht selten todt. So trugen denn die Engländer die Civilisation, die vor Jahrtausenden aus Ostindien nach dem Westen wanderte, in Westen- und andern Baumwollenzeug nach dem Osten zurück, wie Viscount Canning, der neue General-Gouverneur des englischen Ostindiens, bei seinem Abschiedsfestessen in London sagte.
Wie civilisirt der Hof Nussir’s schon war, sehen wir aus einem Diner, das so geschildert wird: der Wein, der mit den Siegeln des Barbiers versehen, bei Tische erschien, bestand aus den besten Sorten Madeira, Claret, Sherry und Champagner. Der König, obgleich Muselmann, beschränkte sich ebenso wenig im Genusse des Weins als der übrige Hof. Er versicherte wiederholt, daß der Koran den Genuß des Weins nicht verbiete. Als geeis’ter Champagner ihn redselig gemacht, lobte er alle Europäer und riß seine Unterthanen herunter, obgleich die weiblichen, die ihm stets mit großen Federfächern Luft zuwehten, uns sehr untadelhaft erschienen. So wie sich der König gesetzt hatte, schwebte ein halbes Dutzend wahrhafter Feen hinter einem Gaze-Vorhang hervor, wundervoll leicht und durchsichtig prächtig gekleidet, bräunlich-brünett, wie etwa eine schöne Andalusierin, nicht dunkler, mit reichem, tiefschwarzem Haar, das mit Perlen und Silbernadeln besternt, in langen Flechten vom Hinterkopfe herunterhing. Ihre zarten, herrlichen Formen schimmerten deutlich durch die reichbeperlte Gaze hindurch. Den unteren Theil des Körpers umwallten weite, rothseidene, goldbesetzte Pygamas (türkische Beinkleider). Alle waren von zartester Regelmäßigkeit in der Körperform. Arme, Hände und Füße findet man an keiner Venus-Statue delicater. Und dazu das graziöse Leben in ihnen, die leichte Röthe auf den Wangen, das Heben des zarten Busens, wie sie ihre Federfächer leise und regelmäßig hinter dem Könige schwangen! Da wurde denn die Etikette, welche gebot, daß man gar nicht thun solle, als wären weibliche Wesen zugegen, oft genug übertreten, noch mehr als nach Tische die „Nautch“-Mädchen, die tanzenden Bajaderen, ihre graziösen Künste entfalteten.
Nach Tische war’s überhaupt wie auf einem Jahrmarkte. Possenreißer aller Art, improvisirende Dichter[2], Jongleurs, Harlekins, Taschenspieler, Schlangenzauberer, Sänger, Spieler, Marionettentheater machten nach einander ihre Aufwartung. Die „Nautchs“ sind jedenfalls das Charakteristischeste und Schönste, was man in Indien Eigenes sehen kann. Die Gestalten, die bei Hofe erschienen, waren wieder so fein, so ätherisch und elastisch, ihre Attituden im wollüstigen Nahen und neckischen Entfernen mit dem graziösen Spiele ihrer Hände auf und ab, in rundlichen, reizenden Schwingungen über den Köpfen, die Wendungen und Beugungen ihrer Körper – Alles ist reiche Musik der weiblichen Schönheit, gehoben und getragen durch das Spiel einer Laute hinter ihnen. Mich und die andern Europäer zogen diese musikalischen Gliederreize ungemein an, aber der König war ganz Auge und Ohr für das Puppenspiel, dessen hölzerne, tragische Figuren desto mehr Gelächter erregten, je schmerzvoller und leidenschaftlicher sie sich an ihren Stricken geberdeten. Das Puppenspiel war ihm etwas Neues, und um zu zeigen, wie pfiffig er sei, gab er während eines solchen Puppenspiels dem neben ihm sitzenden Barbier plötzlich einen geheimnißvollen Wink, worauf Letzterer sofort geheimnißvoll verschwand, geheimnißvoll wiederkehrte und ihm, dem Könige, geheimnißvoll etwas in die Hand drückte. Jetzt erhoben sich Se. Majestät, näherten sich dem Theater, gingen pfiffig drum herum, blieben wieder davor stehen, fuhren rasch mit der Hand über einem spielenden Helden hin und zogen die Hand plötzlich zurück, während der unschuldige, hölzerne Mime leblos vom Theater herunterpurzelte und in der seltsamsten Verrenkung unten liegen blieb. Jetzt drehte sich der König zu uns herum, über und über triumphirendes Lächeln, und nickte uns weisheitsvoll zu, als wollte er sagen: „Hatt’ ich nicht Recht, wenn ich behauptete, diese Figuren würden an Fäden gezogen? Hab’ ich sie nicht geschickt durchgeschnitten? Bin ich nicht ein ganz verteufelt aufgeklärter und pfiffiger Kerl?“ Der Barbier brüllte Beifall und lachte am Unbändigsten. Dies gefiel dem Könige so, daß er seinen Witz so oft wiederholte, als Figuren auf dem Theater erschienen, da jeder neue gelungene Schnitt mit großem Gelächter und Beifall belohnt ward, selbst durch süßes, weibliches Kichern hinter einem Gaze-Vorhand hervor, hinter welchem die Schönheiten des Harems zusahen.
Der Puppenspieler ward für seine gemordete Maschinerie, wie immer, reichlich beschenkt, Wein und Gesang circulirten reichlicher und wilder. Alle plauderten und jubelten durch einander, der König [440] phantasirte und schwankte, wie ein gewöhnlicher Sterblicher, der zu viel gekümmelt hat, und fiel endlich ganz ab und zusammen. Es war erstaunlich, wie ähnlich die Majestät einem ganz gemeinen Betrunkenen aussah. Weibliche Dienerinnen und zwei starke Eunuchen kamen hinter Vorhängen hervor, als wären sie für solche „Fälle“ ein für allemal angestellt, und trugen die bewußtlose Majestät in den Harem.
Nach dieser Einsicht in das innere einer ostindischen, angestammten Regierungsweisheit können wir nicht mehr so sehr auf die Engländer zürnen, wenn sie einen Nabob Indiens nach dem andern mediatisiren und selbst regieren.
Unter den Lieblingsvergnügungen des Königs Nussir gehörten Hahnengefechte und Zweikämpfe zwischen wilden Thieren. Und hier finden wir eine der furchtbarsten Merkwürdigkeiten: „Admiikanawallah,“ d.h. das Menschen fressende Pferd, und dessen Kampf mit einem Tiger.
Ich fuhr eines Tages durch die Straßen von Lucknow (erzählt der Verfasser), die ich überall von einem Ende bis zum andern leer fand. Hier und da eilte Jemand im größten Schrecken davon. Ich wunderte mich aber durchaus nicht in dem Grade, als man vielleicht vermuthet. In einer den unbeschränktesten Launen eines Tyrannen ausgesetzten Stadt passiren gar manche Dinge, die uns seltsam erscheinen. Eine Execution, ein Beispiel der absoluten Macht Nussir’s, dachte ich, und nichts weiter. Endlich sah ich mitten in der Straße eine zerquetschte, umhergetretene blutige Masse, die sich bei näherer Untersuchung als der entstellte Leichnam eines Mädchens ergab, zerrissen, zerstampft und mit blutig klebenden Kleiderfetzen, mit noch einigen Spuren von Schönheit. Sie war natürlich ganz todt, doch ich gestehe, hätte ich auch noch Leben darin entdeckt, ich wäre nicht abgestiegen, da es sofort lebensgefährlich ist, sich in die Launen eines Herrschers, wie Nussir, zu mischen, denn daß das schreckliche Schauspiel ein ausgeführter Befehl von ihm war, hielt ich für eine ausgemachte Sache. Ich fuhr weiter durch leere Straßen zwischen verschlossenen Häusern. Nicht lange, und ich stieß uns einen ähnlich verstümmelten Leichnam. Unwillkürlich schauderte ich und sah mich um. Vom Dache eines Hauses rief mir endlich ein Soldat zu:
„Rette Dich, Saheb, Admiikanawallah ist wieder los und wüthender als je!“
Ich hatte öfter von dem Menschen fressenden Pferde gehört, das einem Soldaten gehörte und in der Regel ein gutes Militärpferd sein sollte, aber zuweilen Wuthanfälle bekäme, dann alle Banden zerreiße und alles Lebendige, dessen es habhaft werden könne, zerreiße und zerstampfe.
„Er kommt, er kommt, Saheb,“ schrie der Soldat vom Dache, „rette Dich!“
Ich sah mich um, und da kam es angedonnert mit seinen eisernen Hufen, ein blutiges Kind wüthend im Maule schüttelnd. Mein Pferd zitterte an allen Gliedern. Ich riß es herum und jagte mit aller Kraft davon nach einem offenen Thore, dessen ich mich erinnerte, immer näher verfolgt von dem furchtbaren Geknatter der Hufe unseres wüthenden Verfolgers. Ich hatte Geistesgegenwart und Geschick genug, mitten im wütendsten Fahren zum Thore hinein, herabspringen und das Thor mit einem Stoße zuzuschlagen. Das wüthende Thier prallte noch in derselben Secunde dagegen und glotzte mit furchtbar großen, ringsum weißen Augen durch das Gitter. Mähne und Maul trieften von Blut. Es war der entsetzlichste Anblick, den ich je gehabt mitten unter den wilden Bestien Indiens. Es glotzte, es schnaubte mit weiten offenen Nüstern, es schüttelte Blut um sich, es stampfte gegen die Eisenstäbe. Mein Pferd zitterte durch und durch, auch als die furchtbare Bestie mit knatternden Hufschlägen davon gelaufen. Soldaten fingen es nicht weit davon von einem Thorbogen herab mit einer Schlinge, in der es sich so lange bäumte und würgte, bis es, mit Schaum und Blut bedeckt, zusammensank. Ich erzählte mein Erlebniß dem Könige, der ganz entzückt war von den Schlächtereien, die das furchtbare Thier verrichtet.
„Wir wollen den Admiikanawallah noch wilder machen,“ sagte er, „er soll mit meinem besten und stärksten Tiger Burrhea kämpfen. Der wird’s ihm geben. Mein Liebling soll ihm eine Lection geben. Das wird ein Hauptspaß.“
Am folgenden Tage schon wurden Burrhea und Admiikanawallah in der königlichen Hetzbahn einander gegenüber gebracht. Burrhea hatte während der letzten vierundzwanzig Stunden keine Nahrung bekommen, um seine Blutgier aufzustacheln. Admiikanawallah ward mit einem andern Pferde hineingetrieben. Letzteres stand still und zitternd und erwartete ohne Gegenwehr den Sprung des leise und kriechend hereintretenden Tigers. Mit einem Sprunge desselben und einem Schlage lag das Pferd am Boden und zappelte, bis er es ausgesogen, der dabei den „Menschenfresser“ mit keinem Auge verließ, wie auch letzterer mit gesenktem Kopfe, starrenden Ohren und Mähnen, den einen Fuß etwas vorgestreckt, fortwährend fest auf den Tiger glotzte. Der König rieb sich vergnügt die Hände und sagte: „Diese Vorkost wird meinen Burrhea nur um so wüthender machen.“ Auch die Damen schienen ganz entzückt zu sein. Als der Tiger sich satt getrunken, verließ er das todte Pferd und kroch leise, einen Fuß verstohlen vor den andern setzend und den bluttriefenden Rachen leckend, am Rande der Hetzbahn, um den „Menschenfresser“ herum, der sich eben so regelmäßig und langsam drehte, ohne jemals seine Körperhaltung zu ändern oder den starren, festen Blick nur einen Augenblick von den glühenden Augen des Tigers zu lenken. Es war eine Scene, die nie vergessen werden kann. Alles still und athemlos. Als bildeten beide Feinde den Zeiger einer Uhr, drehten sie sich gleichmäßig im Kreise, der Tiger so leise, so kriechend, so sanft, daß keine seiner Bewegungen hörbar ward. Dabei spielte sein prächtiges gestreiftes Fell auf dem elastischen Körper, als gehöre es gar nicht dazu. Beide Feinde waren offenbar sehr kluge, berechnende Mächte. Burrhea’s Plan war es, den Menschenfresser an Kopf und Brust zu fassen, eine Absicht, die der Menschenfresser deutlich durchschaute und zu verhüten suchte. Endlich schoß der Tiger aus seiner katzenartigen Lage wie ein Blitz empor und in das Fleisch seines Feindes, aber auf dem Rücken hinten. Mit der schärfsten Berechnung und der studirtesten Kunst hatte sich das Pferd im Augenblicke des Sprunges gesenkt und vorgeschoben, so daß der Tiger von seinem Rücken aufgefangen ward, von welchem er mit einem furchtbaren Schusse mit den Hinterfüßen herabgeschleudert ward. Burrhea krachte gegen die Bambuswand und fiel auf den Rücken, so daß nichts fehlte, um in ihm den Besiegten zu erkennen, obgleich das Pferd aus breitgerissenen Wunden blutete und der Tiger unbeschädigt aufsprang.
Der furchthare, stille Kreislauf begann auf’s Neue unter athemloser Stille, die der König nur einmal unterbrach: „Burrhea wird ihn noch tödten.“ Sonst kein Ton, kein Laut. Nur zuweilen ein schnarchendes Schnauben aus den weit aufstarrenden Nüstern Admiikanawallahs, während er den unhörbar katzenleise kriechenden und kreisenden Tiger eben so mit fixem Starren, gesträubten Mähnen und Ohren, mit eben so nach unten vorgestrecktem Kopfe und dem eben so vorgestreckten Fuße in jedem Atome von Bewegung und Absicht unverwandt verfolgte. Dies dauerte volle zehn Minuten, d. h. in unserer Situation eine bis zur größten Pein der Spannung getriebene Ewigkeit. Nur einmal ward der Tiger unschlüssig und leckte das todte Pferd, aber auch nur einmal. Das leise Kriechen ward wieder fortgesetzt, bis er wie von einer unterirdischen Macht plötzlich gegen den Feind geschleudert ward; diesem war seine Finte jetzt noch besser gelungen. Der furchtbare, runde Kopf des Tigers ragte diesmal über den Rücken des Pferdes hinaus, während er sich mit den Hinterklauen und dem Bauche wie eine Schlange andrängte, um sich Haltung zu verschaffen. Der Menschenfresser peitschte mit seinen eisernen Hinterfüßen hoch in die Luft, als wollt’ er sich kopfüber stürzen, während der Kopf des Tigers nach hinten ausrutschte und von einem Hufe des Menschenfressers so getroffen ward, daß ihm, wie sich später ergab, eine Kinnlade zerbrach. Er wälzte sich furchtbar heulend und kroch, den Schwanz zwischen den Beinen, wie ein gepeitschter Hund davon und drückte sich, herausgelassen, in den äußersten Winkel zusammen.
[441]Drei Stunden in der deutschen Fremdenlegion.
Auch bei der Königin-Deutsche-Fremdenlegion-Parade gewesen gestern, wirklich und persönlich, und zwar expreß der Gartenlaube wegen. Was sagen Sie dazu? Es war zu verführerisch, unsern d. h. Deutschlands Triumph in England mit anzusehen und sich gleichsam in Civil blos des Vaterlandes wegen auch etwas Schmeichelei mit weg zu stibizen, wie der Sperling, wenn die Hühner gefüttert werden. Sie wissen doch noch, wie vor Kurzem die Deutschen im englischen Parlamente als wahres Lumpenpack zur Sprache kamen, denen man durchaus keinen Antheil an der Vertheidigung englischer Ehre und Civilisation einräumen dürfe. Und nun fuhr die wirkliche Königin Englands mit dem wirklichen Prinz Albert und wirklichen Ministern in expressen Eisenbahnzügen und expreß geheizten Dampfschiffen hinunter nach Folkestone, und mit der expreß vorausgeschickten Equipage hinein in’s Lager der deutschen Fremdenlegion, ließ sie Revue passiren und sich die Offiziere (an der Spitze Baron Stutterheim und Oberst Wolridge) vorstellen und ein Frühstück („luncheon,“ zweites Frühstück) in einer deutschen Lagerhütte ganz vortrefflich schmecken. Und Königin und Minister und das Volk und die Presse heute bewunderten sie und machten den „männlichen, starken, tüchtigen, militärisch und persönlich ausgezeichneten Heldenblüthen,“ geschmuggelt und heimlich zusammengeschachert von deutscher Muttererde, die fettesten Elogen. Man wurde ordentlich versucht, seinen Hemdenkragen weiter aus der Halsbinde heraus zu zupfen, die linke Hand an’s Vorhemdchen zu legen, die Brust aufzupusten und mit stolzem Blick rings herum auszurufen: „Engländer, überseht mich nicht! Ich bin auch ein Sohn Teuts, bin ein Deutscher, kennt ihr meine Farben? Ich bin gleichsam Fremdenlegion in Civil.“
Und dann muß ich Ihnen sagen: ’s war überhaupt etwas Merkwürdiges, die kleine, nette Frau, die Königin (neben dem beinahe noch einmal so großen, schönen Prinzen Albert) eine deutsche Parade abnehmen zu sehen. Und die Soldaten sagten’s mir hernach selbst, es sei ein ganz merkwürdiges Gefühl, ein ganz angenehmer Stolz gewesen, vor der kleinen Repräsentantin der englischen Nation so straff und stolz in englischer Uniform, in englischem Solde vorbei zu marschiren. Sie waren fast alle Soldaten in Deutschland gewesen und waren von dorther nur an strenge, schnurrbärtige[WS 5], nach Fehlern luchsende Generale und dergl. gewöhnt. Und dann das Gefühl des neuen „Vaterlandes“ mit einer so kleinen, hübschen Frau an der Spitze, welche gar nicht schnurrbärtig finster blicken konnte, und im Gegentheil von unsern scharfen Blicken, die wir im Vorbeimarschiren fest auf sie hefteten, in ganz entschiedene Verlegenheit gebracht ward! Das war ihr noch nie vorgekommen, da die englischen Soldaten bei Paraden immer gerade aus sehen müssen. So fielen diese regelmäßigen Seitenblicke auch dem Volke auf, und über den exacten Schritt mit heruntergebogener Fußspitze konnten sie sich gar nicht genug wundern. Die englischen Soldaten richten ihre Fußspitzen nach der Nase und stulpsen mit der Hacke zuerst auf, dann in einem Platsch mit der Sohle hinterher. Na kurz, ich sage Ihnen, was wir Deutsche gestern mit unsern zusammengestoppelten verlornen Söhnen hier für Ehre eingelegt haben, ’s ist grausam. Man kriegte ordentlich Patriotismus in die Waden und ging unwillkürlich stramm. Und hatten unsere Brüder nicht 1100 republikanische Schweizer neben sich, diese uneigennützigen Helden, die dem König von Neapel mit derselben Hingebung dienen, wie dem Kaiser Napoleon und der constitutionellen Königin? Und sind die besten russischen Generale und Offiziere nicht auch fast durchweg Deutsche? Deutschland, was bist du Weltgeschichte? Was bist Du für’n Genie! Mit der socialen Republik im Herzen schießt ihr euch aus russischen und englischen Schlachtlinien und Schanzen gegenseitig todt und zankt euch wohl noch, wenn ihr neben einander auf dem Schlachtfelde als gefallene Russen und Engländer verblutet, über die Art, wie Deutschland später „einig und frei“ gemacht werden müsse. Mir fällt dies nicht etwa zufällig ein, sondern weil ich hernach mit einem Herrn v. B. Kaffee trank und rauchte, den ich in Berlin als „Brandrathen“ gekannt und der mir einen Brief von seinem Cousin aus Sebastopol zeigte. Er war der wahre Typus der Blasirten und Verzweifelten, die ich in großer Menge fand, von Offizieren, die da dichten und auch wirklich singen:
„Ich hab’ meine Sach’ auf Nichts gestellt,
Drum ist so wohl mir in der Welt,
Juchhe!“
Ich habe noch nie etwas so Dämonisches, Höllenbreughliches gehört, als dieses „Juchhe!“ Es durchbohrte mir das Herz. Doch ich will nicht sentimental werden und mich an die heitere Oberfläche halten. Diese war wirklich sehr heiter. Die Sonne schien immerwährend auf die Eisenbahn, die uns rasch nach Folkestone, an den England und Frankreich alliirenden, schiffwimpelnden Kanal hinunter brachte. Hernach wanderten wir zu Fuße, von Oben und vom Lande her gebraten, während zuweilen angenehme See-Brisen uns kühlend übergossen. Der Weg an der Meeresküste entlang, etwa Calais und Boulogne gegenüber, war mir neu, doch will ich mich nicht dabei aufhalten, wie das Meer hereinglänzte, plätscherte und plauderte und die Schiffe und Dampfer in verschiedenen Entfernungen heiter hin- und wiederflogen. Das Lager hat eine wunderschöne Position auf einer Anhöhe, von der aus man das geschäftige Meer weit in’s Unbegrenzte überschaut, mit einem hübschen, reinlichen Städtchen, Sandgate, unten. Die Anhöhe selbst, eine Klippe, heißt Shorncliffe. Es trägt die merkwürdige neue deutsche Lagerstadt mit viel Anstand. Eine Stadt ist’s wirklich. Die Wohnungen der Soldaten, jede für vierundzwanzig Mann eingerichtet, bilden Häuserreihen, die stattlicher aussehen als manche deutsche Provinzialstadt. Auch wohnen, essen, trinken und schlafen sie besser als mancher deutsche Bürger und Meister. Jeder hat seine eiserne Bettstelle mit Matratze, Kopfkissen und weicher, wollener Decke; früh, wenn er aufsteht, seinen Kaffee, seine Milch, seinen Zucker und sein Weißbrot dazu, Mittags 3/4 Pfund frisches Fleisch und Gemüse, und zwar so viel, daß es beim Herrn Calculator im Mutterlande für die ganze Familie ausreichen müßte, Abends seinen starken Thee (schwachen kennt der Engländer gar nicht) mit Zucker, Milch und Weißbrot. Dafür werden ihm von seinem täglichen Solde (nach unserm Gelde 101/2 Sgr.) täglich 61/2 Sgr. berechnet, so daß ihm täglich noch über 4 Sgr. für Cigarren und sonstige patriotische Lebensmittel übrig bleiben. Sobald sie für den Krieg eingeschifft sind, erhält Jeder 1 Schiliing = 10 Sgr. mehr, aber nicht baar, sondern blos in Rechnung. So viel Tage er im Kriege gewesen, so viel mal 10 Sgr. erhält er beim Friedensschlusse. Erlebt er den Frieden nicht – allerdings keine Unmöglichkeit – bekommen seine Erben den Schatz, für welche er also gleichsam eine Lebensversicherungsanstalt bildet.
Die Solde der Offiziere steigen vom Unteroffizier mit 24 Thaler, zu dem des Feldwebels (35) und dann im Lieutenant gleich bis 85 und im Kapitain zu 175 Thaler monatlich. Höhere und fettere Stellen werden mit Lordssöhnen, die nichts Besseres gelernt haben, aber Deutsch verstehen und sprechen müssen, besetzt, eine Demüthigung für die Legionen, auf die sie trotz ihrer verzweifelten Heiterkeit sehr schlecht zu sprechen sind, so daß möglicher Weise unangenehme Auftritte daraus hervorgehen können.
Das Lager, ein langes Viereck, mit einem großen Exercierplatze in der Mitte, ist für 5000 Mann gebaut. Bis gestern wohnten etwa 2500 Mann darin, doch kommen im Durchschnitt täglich 60 bis 70 Mann frische Waare von Helgoland an. Die Schweizer, welche zur Parade mit erschienen, etwa 1100 Mann, campiren näher bei Dower.
Von der Parade selbst brauche ich wohl nichts zu sagen. Sie marschirten gut, man erkannte in Schritt, Haltung und Linie deutlich die preußische Schule, die auch in den Offizieren durchaus vorherrscht. So viel ich bei einer dreistündigen Unterhaltung erfahren konnte, waren die meisten Lieutenants und Kapitains ehemalige preußische Soldaten, schleswig-holstein’sche Offiziere, darunter mehrere Söhne heruntergekommenen Adels. Die Gemeinen sprachen alle möglichen Dialekte Deutschlands, einige freilich gar keinen, da sie Dänen, Polen, Franzosen, Ungarn und Italiener waren. Die Zahl dieser Fremden in der deutschen Fremdenlegion ward [442] auf 75 angegeben. Nach den eigentlichen Parademärschen ging die Königin mit dem Prinzessen Albert, dem Kriegsminister Panmure, mehreren andern Ministern und Offizieren zu Fuße über den Platz an den aufgestellten Linien hin, und nachdem sie in einer Offizierfeldwohnung gefrühstückt, fuhr sie unter jubelnden Hurrahs wieder ab, wie sie gekommen war. Die Zahl der neugierigen Volksmassen schien nicht sehr groß. Die nächste Nachbarschaft ist dünn bevölkert und von London aus war’s etwas zu weit und kostspielig für den großen Haufen. Um 21/2 Uhr war Alles vorbei. Bei meinem alten berliner Bekannten lernte ich jetzt das Innere der Offizierswohnungen kennen. Jeder Lieutenant hat sein hübsches Zimmer für sich, nach Oben hin hat Jeder zwei bis drei Zimmer. Außerdem giebt es Familienfeldwohnungen für verheirathete Offiziere und sogar verheirathete gemeine Soldaten. Bis jetzt hatten sich aber nur zwei Offiziere und sieben Gemeine mit Frauen und Kindern eingefunden. Wir saßen an einem hübschen Tische mit eisernem Gestelle auf Klappstühlen oder der eisernen Bettstelle, Einer sogar auf dem Ofen und sprachen Deutschlands und Englands Vergangenheit und Zukunft ziemlich solide durch. Einer der Offiziere bewies sogar mit viel Scharfsinn und Wärme, daß England aus seiner Heuchelei und Koketterie von der Consequenz des ausgebrochenen Kampfes unerbittlich und unaufhaltsam getrieben werde, für die Freiheit Europa’s, die es von jeher grundsätzlich verrathen und verkauft habe, zu kämpfen und daß er deshalb hierher gekommen sei und er und seine Collegen diese Ueberzeugung unter den Gemeinen zu befestigen wüßten. „Die Botschaft hört’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube“. – Genug davon. –
Hernach zeigte man mir die wunderschönen, praktischen eisernen Kochhäuser, worin vom Hause selbst an bis zum kleinsten Geräthe Alles von Eisen gegossen ist, eben solche Waschhäuser, Retiraden von demselben Metall und endlich die neue Kirche, deren Kanzel, Altar, Stühle, Chöre, Abtheilungen ebenfalls größtentheils aus dem Hochofen gelaufen waren.
Die deutsche Legion auf Shorncliffe besteht bis jetzt aus einem Jäger-Regimente von etwa 1100 Mann mit dunkelgrünen Uniformen, schwarz polirten Helmen, schwarzen Beinkleidern und Minié’s mit Bayonnetten, dem ersten leichten Infanterie-Regiment von etwa 800 Mann mit rothen Waffenröcken, die bei den Offizieren mit geschmackloser Goldstickerei, Streifen, Schnüren und „Raupen“ überladen sind, einer Heerde noch nicht eingereihter Rekruten, und zwei Regimentern Cavallerie von 150 Mann zu Fuße. Pferde und die übrigen Reiter gedenkt man erst mit Geschicklichkeit und List zusammen zu schmuggeln, obgleich alle neutralen Staaten (Amerika am Grimmigsten) aufpassen wie die Hechelmacher, daß die Schmuggler ihnen ihre Unterthanen nicht à 5 Pfund per Stück wegkaufen. Außerdem giebt’s auch hier schon russische Agenten, welche die braven Bauerburschen, bankerotten Gesellen und Lehrjungen zum Desertiren verlocken, wie ja schon ein solcher Fall vor ein Gericht in London kam. Ein zweites Regiment leichter Infanterie wird auf Helgoland organisirt. Es besteht jetzt aus etwa 700 Mann. Wenn in jedem das Tausend voll ist, sollen sie in Southampton für die Krim eingeschifft werden.
Aus der Fremdenlegionskirche zurückgekehrt, lagerten wir uns im Schatten einer Barake und fingen an, deutsche Lieder zu singen. Deutsche Lieder ertönend aus rothen Jacken, blauen Waffenröcken, grünen Uniformen, scharlachrothen, goldblitzenden, stockenglischem Tuch – das war wieder herzerschütternd. Lauter junges, ursprünglich hoffnungsvolles, jetzt erbittertes, von Noth, von Ehrgeiz, von Tücke, von Rache, von Verzweiflung, von neuen Idealen getriebenes deutsches Blut zusammengestohlen, zusammengewürfelt, jetzt zu einem neuen, fremden Organismus einexercirt und harmonisch zusammenschmelzend in den „drei Reitern, die zum Thore hinausritten,“ in Lützow’s „wilde verwegene Jagd,“ in „Morgenroth, Morgenroth, leuchtest mir zum frühen Tod“ und endlich in „Vater, ich rufe dich!“
Die Feierlichkeit dieser Melodie ergriff offenbar die Herzen Aller, die sich zahlreich zu uns gesellt. Es war, als horchten die Schiffe draußen auf dem Meere mit gespannten Segeln. Einige Gemeine standen mit dummen Gesichtern horchend, aber unwillkürlich die Hände faltend. Und ich rief: „O, Theodor Körner, Sänger und Opfer eines deutschen Befreiungskrieges für die Throne und die Regenten Deutschlands, daß hier das ferne Meer, daß hier die Deutschen als Fremde, als Miethlinge Deine Lieder brauchen, mißbrauchen! Warum lebtest Du nicht, dem deutschen Volke ein Lied der Freude und der Freiheit zu singen? – Warum – ja warum? Was hilft das Fragen?“ „Was ist des Deutschen Vaterland?“ „Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben?“ Mitten in den Klängen des „Vater, ich rufe dich“ nickte ich meinen Bekannten zu und ging fort nach Folkestone. Ich konnte es nicht mehr aushalten. Diese Entfremdung und Entweihung Deutschlands war mir zu feierlich.
Blätter und Blüthen.
Französischer Witz. Der große Diplomatenmeister Talleyrand hatte einen der amüsantesten Salons in Paris, in welchem sich die größten Staatskunst-Genies und ersten Lichter des Witzes zu treffen pflegten. Die Diplomatie war damals noch nicht so nüchtern und mysteriös nichtssagend und nichtskönnend, wie heut zu Tage. Damals hatte sie wirklich viel zu thun und bedurfte keiner leeren Wichtigthuerei und Geheimnißkrämerei, wie jetzt. Seit Erfindung der Eisenbahnen und Telegraphen giebt es kaum noch etwas Wichtiges, was sich Diplomaten durch diese beschwingten Boten zuflüstern könnten, hauptsächlich deshalb, weil sie nichts Wichtiges finden und leisten können. Der Salon Talleyrand’s enthielt in seinen spätern Jahren allen Geist und Witz, den Paris auftreiben konnte, gleichviel, ob die Inhaber des Witzes sonst Freunde oder Feinde waren. Seiner geistreichen Nichte, der Herzogin von Dino, die andern Gäste überlassend, zog er sich gern mit Collegen, fremden Gesandten und Staatskünstlern in ein besonderes Zimmer zurück, wo sie mit Witzen und Karten spielten, und in Karten ihr Intriguentalent übten, womit sie später auf dem Congresse zu Wien eine neue Landkarte Europa’s und die Gesetze des „ewigen Friedens“ und europäischen Gleichgewichts machten. Ihre kleinste Münze beim Spiel waren Napoleonsd’ors, so viel wie unsere Friedrichsd’ors und Louisd’ors unter Brüdern werth. Nach Beendigung eines solchen Spiels kroch eines Tages der englische Gesandte unterm Tisch und tappte auf der Decke im Dunkeln umher.
„Was suchen Ew. Excellenz?“ fragt Tayllerand.
„Einen Napoleon, der heruntergefallen,“ antwortete Se. Excellenz dumpf unterm Tische hervor.
„O, erlauben Sie,“ sagte Talleyrand mit einem sarkastischen Zwickern seiner grauen Augen, „Excellenz können ja nicht sehen.“ Und so zieht er recht augenfällig eine Tausendfranknote hervor, brennt sie an und leuchtet damit dem englischen Gesandten unter die Nase.
„Excellenz, Excellenz,“ schreit der Engländer erstaunt über diese Verwüstung und dieses Epigramm, „was machen Sie?“
„Ich leuchte Ihnen zu Ihren Forschungen.“
Jetzt geht dem Engländer ein Licht auf, er versteht und erhebt sich. Nächsten Morgen schickt ihm Talleyrand einen Hausknecht, der das Geldstück beim Auskehren gefunden, mit einem Complimente, daß sich Se. Excellenz sehr freuten, ihm seinen Verlust wieder gut machen zu können. Das verlorene Schaf habe sich gefunden. Der englische Gesandte war ob dieses Epigramms lange Zeit der Gegenstand des Gelächters.
Austrommeln in China. In vielen Orten China’s herrscht die Sitte, daß jeder junge Mann, der an seinem 21sten Geburtstage nicht verheirathet ist, unter allgemeinem Jubel und Hohn aus der Stadt hinausgetrommelt wird. Dieses Fest wird an jedem Geburtstage, der ihn als Junggesellen begrüßt, wiederholt. Unlängst heirathete Einer, vor dessen Thür sich eben die Trommler mit großen Menschenmassen versammelt hatten, um ihn zur Stadt hinauszutrommeln, ein Mädchen rasch aus der Masse heraus (indem er sie vom Vater kaufte, wie dies in China so Mode ist), um dem ihm zugedachten Charivari zu entgehen.
Literatur. Von Lud. Storch’s Schriften ist vor Kurzem der zweite Band erschienen. Er enthält die beliebte und vielgelesene Erzählung: Der Glockengießer, die bekanntlich in der ersten Nummer des Herloßsohn’schen Kometen begann und damals hauptsächlich zu dem schnellen Erfolg dieser Zeitschrift beitrug. Der dritte Band des Werks erscheint binnen acht Tagen. – Auch auf ein anderes Unternehmen machen wir unsere Leser aufmerksam. Die Kaulbach’schen Bilder zu Goethe’s Reinecke Fuchs, in der bisherigen theueren Stahlstich-Ausgabe nur den Bemittelten zugänglich, werden jetzt in einer Holzschnitt-Ausgabe erscheinen, die unter der Leitung des großen Meisters übertragen und ausgeführt und complet zwischen zwei bis drei Thaler kosten wird.
- ↑ Er kam nach dem Tode des Königs nach England zurück, verspielte hier sein ungeheueres Vermögen durch Eisenbahn-Speculation und ist jetzt Omnibus-Conducteur.
- ↑ Unter ihnen spielte besonders Einer mit Namen Peerun eine fast eben so glänzende Rolle als der Barbier. Er war einmal schmutzig als Bettler und Waldmensch plötzlich vor den König getreten und hatte ihn angedichtet. Dies gefiel ihm so, daß er ihn sofort zu sich bestellte, ihn adelte und unter die höchsten Personen des Hofes aufnahm. Hier ward er, wie der Barbier, mit Ehren und Geschenken überhäuft, so daß der einst halbnackte, halbverhungerte Naturdichter wie ein Gott dastand. Bei uns findet die natürliche Poesie nicht so schnelle Anerkennung.