Die Gartenlaube (1855)/Heft 32
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No. 32. | 1855. |
Der Winter war streng und anhaltend, noch zu Anfang des März kreischte der Schnee unter den Fußtritten und die Lerchen zeigten sich in den Straßen. Leipzig, das einen Theil seines wohlverdienten Rufes diesen armen Thieren verdankt, steht um diese Zeit in voller Blüthe, das heißt in der Blüthe seiner Concerte, Bälle, Soiréen, Vorlesungen, Opern und Recensionen. Wir führen dessen ungeachtet den Leser Morgens um die elfte Stunde in eine große, prachtvolle Privatwohnung, die sich in dem ersten Stocke eines Hauses in dem neu angebaueten Theile der Stadt befindet. Wir öffnen die Thür eines eleganten Boudoirs. Da sitzt auf einem Sopha von rothem Sammet eine junge Dame, von deren Schönheit ein blasser junger Mann bezaubert zu sein scheint, denn er liegt knieend auf derselben Fußbank, welche die Spitzen ihrer kleinen Füße berühren. Die zarte weiße Hand der vielleicht vierundzwanzigjährigen jungen Frau ruht auf dem blonden Haupte ihres Anbeters, der im stummen Entzücken zu ihr emporsieht. Die Schönheit ihres feinen Gesichts wird durch ein anmuthiges Lächeln verklärt, das offenbar der Ausdruck einer innigen Liebe ist; es verräth aber auch das Glück, das sie in dieser Liebe findet.
„Sollte ich mich getäuscht haben, Philipp?“ fragte sie mit einer lieblichen Stimme, die den Worten jenen Zauber verlieh, der sich in ihrem ganzen Wesen aussprach. „Sollte Deine Liebe zu mir nicht stark genug sein, um ohne Zögern einen Wunsch zu erfüllen, der Dir einen kleinen materiellen Verlust zufügt, zugleich aber das uns umschlingende Band noch heiliger und fester macht, als es bisher gewesen ist? Ich bestürme Dich nicht, Philipp, denn mein letzter Brief, den ich Dir nach Berlin sandte, hat Dich darauf vorbereitet.“
Der junge Mann ergriff ihre beiden Hände und bedeckte sie mit Küssen.
„Josephine,“ rief er aus, „hast Du auch reiflich überlegt, hast Du Deine und meine Zukunft in’s Auge gefaßt, als Du Dir den Plan bildetest, den ich nur aus Rücksicht für Dich nicht billige?“
„Ich habe nichts außer Acht gelassen, mein geliebter Freund;“ flüsterte sie. „Selbst den Fall nicht, daß uns die Mittel fehlen können, unser Leben wie bisher fortzusetzen. Doch, ich habe schon zu viel gesagt,“ fügte sie mit ruhigem Ernste hinzu. „Nicht weil ich Dich bitte, sollst Du handeln, sondern aus freiem Antriebe, nachdem Du mit Deinem Gewissen zu Rathe gegangen bist. Die Handlung der Gerechtigkeit, von der wir sprechen, soll kein Opfer sein, das mir Deine Liebe bringt, denn ich bin ja Deine Gattin, und nicht Deine Geliebte; es kann sich nicht darum handeln, daß Du mehr gefällst – nein, Philipp, ich liebe Dich, wie Du eben bist, und deshalb möchte ich, daß du mir die tiefste Achtung auferlegst. Ich mache Dich nicht verantwortlich für die Handlungen Deines Vaters; aber ich glaube fordern zu dürfen, daß Du alles Heilige achtest, das Deine Gattin in Dich legt. Du bist meine Ehre, mein Glück, mein Alles. Und doch hast Du Dich gegen mich vergangen, Philipp!“
Sie drückte einen Kuß auf seine hohe, jugendliche Stirn, und fügte mit einem Lächeln hinzu, das den Ernst, der sich ihrer unwillkürlich bemächtigt hatte, mildern sollte:
„Deine letzte Mittheilung, Philipp, hat mein früheres Glück getrübt. Am Tage nach unserer heimlichen Verbindung erzähltest Du mir die Heldenthat des Advokaten, durch die Dein Vater zum Besitze seines Vermögens gelangt ist. Ich schwieg, mein Geliebter; aber ich fand mich in Dir gedemüthigt, in dem Gatten, den ich für den Reinsten der Menschen hielt. Eine Geschäftsreise hielt Dich vier Wochen fern von mir, und, so schwer mir das Bekenntniß auch wird, ich muß es ablegen – die Sehnsucht nach Dir ward durch den Gedanken geschwächt: der Vater deines Mannes hat das Vermögen entwendet, mit dem du einst vor der Welt glänzen sollst. Philipp, du bist ein Edelmann – hast Du auch darüber nachgedacht, was Vermögen und Redlichkeit ist? Hast Du die Handlung Deines Vaters recht begriffen? Bedenke, daß es eine zu Grunde gerichtete Familie giebt, die unter Thränen ihr kärgliches Brot ißt, die vielleicht dich und mich verwünscht, weil wir Beide von ihrem Vermögen ein bequemes Leben führen.“
„Genug, Josephine!“ rief Philipp bewegt. „Besitze ich nicht in Dir alles Glück der Welt? Wohlan, ich habe den Willen und die Kraft, es mir rein und ungeschmälert zu erhalten. Du sollst mich achten, wie Du mich liebst, und der Segen jener armen Familie soll unserm Glücke die schönste Weihe geben. Zweifle nicht, Geliebte, daß ich über Deinen Brief nachgedacht habe –“
„Philipp!“ rief Josephine, indem sie ihn mit beiden Armen umschlang. „O, ich wußte es wohl, was ich von Dir erwarten durfte! Und was ist das Resultat Deines Nachdenkens?“
„Daß ich das Vermögen meines verblendeten Vaters wieder ausgleichen muß. Er ist nicht so strafbar, als es vielleicht den Anschein haben mag, denn seine Handlung ging aus der Liebe zu mir, seinem einzigen Sohne, hervor. Ich habe Dir noch nicht [416] Alles gesagt, Josephine. Mein Vater hat durch unglückliche Spekulationen sein Vermögen verloren, und wollte er nicht zur völligen Armuth herabsinken, wollte er seinen Sohn nicht hülflos in der Welt zurücklassen, so mußte er sich durch einen Prozeß das Gut aneignen, an das er scheinbar Rechte besaß. Der Ausgang des Verfahrens war zweifelhaft, und um auf den schlimmsten Fall vorbereitet zu sein, bezog ich die Universität, studirte Philosophie und Mathematik, damit ich, wenn es die Noth erforderte, in meinen Kenntnissen die Mittel zu meiner Existenz fand. Als meine Studien beendet waren, war auch der Prozeß entschieden – mein Vater befand sich in dem Besitze des einträglichen Guts. Er starb, und ich müßte ihn nicht genug kennen, wenn ich daran zweifeln wollte, daß seine Vaterliebe die Stimme des Gewissens unterdrückte, die ihm während seines kurzen Krankenlagers Vorwürfe machte. Da lernte ich Dich kennen, Josephine; ein neues, herrliches Leben ging in mir auf, und ich pries die Vorsorge meines Vaters, die mich dem Kreise erhalten hatte, dem Du angehörtest. Jetzt bist Du meine Gattin, und ich habe nichts mehr zu fürchten, als den Verlust Deiner Achtung. Es kann mir nicht schwer fallen, sie mir zu bewahren – heute noch werde ich die Forschungen nach den rechtmäßigen Besitzern meines Vermögens beginnen, zugleich aber auch meine Kenntnisse zu verwerthen suchen.“
Die junge Frau brach in Thränen freudiger Rührung aus.
„Nun bin ich getröstet,“ flüsterte sie, „nun kann ich stolz auf Dich sein!“
Philipp schloß von Neuem das herrliche Weib in seine Arme, und küßte ihr die Thränen von den sanft gerötheten Wangen. Josephine erhob sich und holte einen Brief aus dem Kasten ihres Schreibtisches.
„Vorgestern habe ich ein Schreiben von meinem Korrespondenten aus Moskau erhalten,“ sagte sie. „Damit Du auch siehst, wie meine Angelegenheiten stehen, lies!“
Philipp öffnete den Brief und las folgende Zeilen:
„Madame! Die amtliche Bestätigung des Todes Ihres Gatten, des Kaufmanns Herrn Lindsor, hatte ich bereits vor fünf Monaten die Ehre, Ihnen zu übersenden. Meine Bemühungen, eine Abschrift seines Testamentes zu erlangen, waren bis jetzt leider vergebens, das Dokument liegt noch versiegelt in dem Archive der Gouvernements-Kanzlei, und ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich es dem Einflusse des englischen Consuls hiesigen Orts zuschreibe, daß die Eröffnung desselben so lange hinausgeschoben wird. Trotzdem Herr Lindsor die letzten Jahre in Deutschland gelebt hat, so wird er doch stets noch als englischer Unterthan betrachtet, und steht mithin das Arrangement seiner Nachlaßangelegenheit unter der Leitung des englischen Consuls, der, wie ich vermuthe, nach Erben in England forscht, um das bedeutende Vermögen des Verblichenen seinem Vaterlande zu erhalten. Sie haben mich zu Ihrem Bevollmächtigten ernannt, und als solcher ertheile ich Ihnen wiederholt die Versicherung, daß ich Ihre Interessen scharf überwachen und wahrnehmen werde. Verfügt das Dokument zu Ihren Gunsten, so soll es keiner Anfechtung gelingen, Ihnen das Erbe zu entziehen oder zu schmälern. An eine Fälschung ist, bei der strengen Gerechtigkeit unserer Behörden, nicht zu denken, auch habe ich Vorsorge getroffen, daß das Testament nur in meiner Anwesenheit eröffnet werde. Der letzte Wille des Erblassers wird maßgebend sein, dafür birgt Ihnen mein Diensteifer.Der junge Mann gab schweigend den Brief zurück. Josephine warf das Papier auf den Schreibtisch, hing sich an den Arm ihres Gatten und ging langsam mit ihm im Zimmer auf und ab.
„Nun höre mich noch einen Augenblick an,“ begann sie schmeichelnd, „damit Du meine an Dich gerichtete Mahnung nicht auf Unkosten meiner Liebe deutest. Lindsor, mein erster Mann, war zwar ein guter, aber mit allen Eigenheiten seiner Nation behafteter Mensch. Er bewarb sich in Hamburg um mich, weil er sterblich verliebt war, wie er selbst sich ausdrückte, und ich nahm seine Bewerbung an, weil ich ihm nicht nur zu großer Dankbarkeit verpflichtet war, sondern auch die höchste Achtung vor ihm hegen mußte. Mein Vater, ein kleiner Kaufmann, stand mit ihm in Geschäftsverbindung, und wäre Lindsor nicht ein vortrefflicher Mann gewesen, so hätte meinen armen Aeltern eine traurige Zukunft bevorgestanden. Als ich seine Frau war, erfuhr ich erst, daß Lindsor ein ungeheures Vermögen besaß, und daß er durch die Heirath mit der armen Hamburgerin sich mit seiner stolzen Familie völlig entzweit habe. Dieser Umstand veranlaßte ihn, noch einige Jahre in Deutschland zu bleiben, um die erste Zeit seiner Ehe in Ruhe und Frieden zu verleben. Wir zogen nach Berlin und richteten uns standesgemäß ein. Von dort aus unternahm er eine Geschäftsreise durch Rußland, wohin ein großer Absatz seiner Fabrikate stattfand, und in Moskau starb er an der Cholera. Bin ich nun auch überzeugt, daß Lindsor in seinem Testamente für mich gesorgt hat, so muß ich dennoch befürchten, daß ich mit seinen englischen Verwandten, die höchst erbittert auf mich sind, eine genaue Abrechnung halten muß. Und sage selbst, Philipp, welchen Eindruck muß es bei jenen Leuten hervorbringen, wenn sie erfahren, daß ich kaum zwei Jahre nach dem Tode meines ersten Mannes schon wieder verheirathet bin? Ich habe Lindsor nicht geliebt, wie ich Dich liebe, mein Philipp; aber seine Verwandte sollen nicht daran zweifeln, daß ich ihm in Hochachtung und edler Freundschaft zugethan war, wie es der brave Mann verdiente. Ich bin es meiner Ehre schuldig, daß ich die Veröffentlichung meiner zweiten Ehe so lange unterlasse, bis ich in jeder Rücksicht frei und unabhängig geworden bin, bis ich dem Andenken meines Wohlthäters den vollsten Tribut gezollt habe. Trifft mich ein Vorwurf, so darf es nur der sein, daß ich meiner innigen Liebe zu Dir gefolgt bin, daß ich den Bitten dessen nachgab, an den ich mit der ersten glühenden Neigung des Mädchens hing. Ist es ein Fehltritt, so mag ihn mir Gott verzeihen, der Dich mir in einer Zeit zuführte, wo ich einsam und verlassen mich nach einem theilnehmenden Herzen sehnte. Ich weiß nicht, was Lindsor über mich bestimmt hat, Du kannst eine reiche, aber auch eine blutarme Gattin an mir haben –“
„Und dennoch räthst Du mir, mich meines Vermögens zu entäußern!“ rief Philipp. „Du bist eine edle, eine seltne Frau, Josephine, und ich werde Dir an Großmuth und Redlichkeit nicht nachstehen!“
„Begreifst Du nun den ganzen Umfang meiner Liebe? Philipp, du bleibst mir derselbe, auch wenn Du arm bist!“
„Josephine, wäre es möglich, so würdest Du mir noch mehr sein, wenn Dich Lindsor enterbt hätte, denn ich kann für Dich sorgen und arbeiten!“
„So leben wir von diesem Augenblicke an unserm Prinzipe getreu. Ich betrachte das Vermögen, über das ich bis jetzt noch zu verfügen haben, nur als ein anvertrautes Gut, und deshalb habe ich Berlin verlassen, um mich hier bescheiden einzurichten. Dort hätte man die plötzliche Veränderung meiner äußern Verhältnisse vielfach bekrittelt – hier wird man mich nehmen, wie ich mich gebe.“
„So mag Dich Leipzig als die Wittwe Lindsor, und mich als einen Schöngeist kennen lernen, der in einem Dachstübchen sein Brot verdient. Was Dir das Vermögen Deines Mannes, wird mir die Hinterlassenschaft meines Vaters sein!“
Ein glühender Kuß und eine innige Umarmung besiegelten den Bund, den diese beiden in unserer Zeit so seltenen Herzen geschlossen hatten. Denselben Tag noch bezog Philipp von Nerop eine bescheidene Wohnung, und Madame Lindsor traf ihre Einrichtungen, daß sie zwar ihrem Stande gemäß, aber höchst einfach lebte. Am folgenden Tage stellte sie sich der Familie eines Banquiers vor, mit dem ihr verstorbener Gatte in Geschäftsverbindung gestanden hatte. Diese gesellige Anknüpfung sollte die einzige sein; Josephine hielt sie für hinreichend, um sich der Medisance so wenig als möglich auszusetzen. Philipp erschien täglich in ihrem Hause, aber außer der vertrauten Kammerfrau, die Josephinen von Hamburg aus gefolgt war, ahnte Niemand sein wahres Verhältniß zu der jungen Frau.
Ein Monat war verflossen, und die beiden jungen Gatten hatten in der Heimlichkeit ihrer Ehe einen Reiz gefunden, der ihr Glück zur höchsten Seligkeit erhob. Wie stolz war Philipp, wenn er seine Gattin im Theater oder im großen Concerte bewundert sah, wenn er sich die Leute in Vermuthungen über die junge reizende Frau erschöpfen hörte, die eine Freundin der so hochgeachteten Banquiersfamilie war. Auch nicht die leiseste Eifersucht regte sich in seinem Herzen, das eben so viel Liebe als bewundernde Hochachtung für Josephine empfand; nur von Zeit zu Zeit ward das Bedauern darüber in ihm wach, daß er sich nicht an ihrer Seite zeigen konnte, um sich wegen des Glücks dieses seltnen Besitzes beneiden [417] zu lassen. Ruhig gab er sich seinen literarischen Arbeiten hin, die in den Journalen freudig begrüßt wurden, da sie ein nicht gewöhnliches Talent und einen reinen Geschmack bekundeten.
Um die Zeit trat Philipp eines Morgens in das Zimmer seiner Gattin. Sie empfing ihn mit gewohnter Zärtlichkeit.
„Bist Du glücklich gewesen in Deinen Nachforschungen?“ fragte sie.
„Nein, meine Geliebte! Der letzte Brief aus Breslau meldet mir, daß sich der Amtmann mit seiner Familie aus jener Gegend entfernt haben müsse, denn er sei nicht aufzufinden. Ich habe nun der Polizeibehörde Auftrag gegeben, daß sie Nachforschungen anstelle, und schon in den nächsten Tagen werde ich eine Aufforderung in der Zeitung ergehen lassen.“
„Ich bin in eine unangenehme Nothwendigkeit versetzt,“ sagte Josephine in einem verdrießlichen Tone.
„Was ist geschehen?“
„Die Verhältnisse zwingen mich, eine Abendgesellschaft zu geben, wenn ich nicht als die geizigste Person von der Welt verschrien sein will. Ich habe schon scherzhafte und ernste Anspielungen hören müssen. Was räthst Du mir?“
„So gieb die Gesellschaft, wenn Du nicht umhin kannst.“
„Und unter welchem Titel wirst Du erscheinen?“
„Spiele die Beschützerin der schönen Künste und Wissenschaften, und lade mich als einen armen Novellenschreiber zu Tische.“
„Vortrefflich, Philip, so kannst Du Charakterstudien machen, denn Du wirst interessante Persönlichkeiten vorfinden.“
Beide saßen beim Frühstück, als die Kammerfrau ein junges Mädchen anmeldete, das zugleich beifolgende Karte übergeben habe.
Josephine betrachtete das elegante Papier, es enthielt den Namen der Madame F., der Gattin des befreundeten Banquiers. Auf der Rückseite standen die Worte. „Ist Madame Lindsor dringend empfohlen.“ Da ein Abweisen unstatthaft war, gab Josephine Auftrag, die Ueberbringerin der Karte eintreten zu lassen. Eine Minute später öffnete die Zofe die Thür wieder, und ein junges Mädchen erschien schüchtern auf der Schwelle.
„Treten Sie näher, mein Kind!“ sagte freundlich Josephine.
Die Angeredete war ein allerliebstes junges Mädchen von neunzehn Jahren mit blonden Haaren, einem feinen rosigen Teint, großen himmelblauen Augen und von zarter, eleganter Gestalt. Sie mußte trauern, denn sie trug ein schwarzes Kleid von grober Wolle, und einen kleinen Hut ohne allen Schmuck von derselben Farbe. Trotz der noch herrschenden Frühlingsfrische lag nur ein leichtes Tuch auf den schneeweißen Schultern. Ihre von Weinen gerötheten Augen, sowie der schmerzliche Ausdruck ihres lieblichen Gesichts verriethen, daß sie viel gelitten hatte. Die Trauernde stand mit gesenkten Blicken stumm und unbeweglich neben der Thür, unter dem linken Arme trug sie einen Karton von blauer Pappe. Philipp bemerkte mit Erstaunen, welch’ eine züchtige Jungfräulichkeit über der ganzen Erscheinung ausgegossen lag. Er konnte kaum seine Blicke von ihr abwenden. Josephine war gerührt von ihrem Anblicke.
„Ich bitte, mein liebes Kind,“ sagte sie mild, „tragen Sie mir ohne Scheu Ihr Anliegen vor. Die Empfehlung, die Ihnen vorangegangen, sichert Ihnen ein geneigtes Gehör.“
Die bleichen Wangen des jungen Mädchens färbte ein flüchtiges Roth. Dann schlug sie die langen Augenwimpern empor und sagte in einem zitternden Tone, der indeß mehr Schmerz als Furcht verrieth:
„Madame, dieser Karton enthält ein Kleid, das ich bereits den ersten Damen der Stadt zum Kaufe angeboten habe; allein alle weisen es mit dem Bemerken zurück, daß sie die dafür geforderte Summe nicht zahlen könnten.“
„Hat Ihnen auch Madame F., deren Karte Sie mir überreichten, dieselbe Antwort ertheilt?“ fragte Josephine, die eine Anspielung auf ihren Geiz in dem ganzen Handel zu erblicken glaubte.
„Ja, Madame! Sie fügte noch hinzu, daß eine Dame ihres Alters ein so kostbares Kleid nicht tragen dürfe, ohne lächerlich zu erscheinen, auch wenn sie den Kostenpunkt nicht berücksichtigen wolle. Dann gab sie mir die Empfehlungskarte mit dem Bemerken, daß Madame Lindsor keinen Grund haben könne, den Kauf abzulehnen. Sie sei jung, schön und reich!“
Die letzten Worte flüsterte das trauernde Mädchen so leise, daß sie kaum zu verstehen waren. Und zugleich nahm sie den Deckel von dem Karton, trat dem Sopha näher, und präsentirte ihren Verkaufsartikel.
Josephine stieß einen Schrei der Bewunderung und Ueberraschung aus.
„Himmel, welch’ eine köstliche Robe!“ rief sie, indem sie mit der allen Frauen eigenen Neugierde, wenn sie ein pikantes Toilettenstück erblicken, das Kleid auf dem Sopha ausbreitete, um die Feinheit des Mousselins und die bewunderungswürdige Stickerei besser beurtheilen zu können. Und wahrlich, hier zeigte sich ein Meisterstück, wie es wohl selten der neugierige Blick einer Tochter Eva’s gesehen hat. Blumen und Blätter von den geschmackvollsten Farben und Gestalten waren so dicht in einander verschlungen, daß man kaum den weißen Grund des Mousselins gewahren konnte. Das Kleid war von einer Sauberkeit und Eleganz, daß man es lieber für das Wunder einer launenhaften Fee, als für die Arbeit einer weiblichen Hand hätte halten mögen. War Philipp auch kein Kenner von Dingen dieser Art, so mußte er dennoch staunen über dieses Wunder von Geduld und Geschicklichkeit.
Wohl eine Minute verharrte Josephine in stummer Verwunderung vor dem ausgebreiteten Schatze, dann wandte sie sich zu der schüchternen Verkäuferin.
„Wer ist die Stickerin?“
„Sie hat die Ehre vor Ihnen zu stehen, Madame!“ antwortete das junge Mädchen mit einer leichten Verbeugung und indem ihr eine Thräne über die bleiche Wange rann.
„Wieviel Zeit haben Sie darauf verwendet?“
„Zwei Jahre!“ war die seufzend ertheilte Antwort. „Und dabei habe ich Tag und Nacht gearbeitet.“
„O, ich glaube Ihnen, armes Kind! und haben Sie diese mühsame Arbeit unternommen, um sie zu verkaufen?“
„Nein; sie war ursprünglich zu einem andern, für mich schönern Zwecke bestimmt. Aber leider bin ich jetzt gezwungen, sie um einen hohen Preis zu verkaufen, weil ich des Geldes nothwendig bedarf. Gebe der Himmel, daß ich einen Käufer finde!“ fügte sie mit einem Blicke auf Philipp hinzu, als ob sie ihn um seine Fürsprache bäte.
„Welchen Preis fordern Sie?“ fragte der junge Mann.
Die niedliche Verkäuferin schwieg einen Augenblick, als ob sie Furcht hätte, die verhängnißvollen Worte auszusprechen, die schon so oft ihre Hoffnung zertrümmert; dann flüsterte sie ganz leise:
„Dreihundert Thaler!“
„Dreihundert Thaler!“ wiederholte Josephine mit jenem unbeschreiblichen Ausdrucke, den nur schöne Frauen in den Blick und in das Lächeln zu legen wissen. „Das ist viel! Philipp, ein Kleid um einen solchen Preis!“ wandte sie sich zu ihrem Gatten.
Dieser antwortete durch ein bedauerndes Lächeln.
Die Trauernde sah zwar lächelnd Philipp’s Gattin an, aber ein Strom von Thränen entrang sich ihren großen Augen.
„Madame,“ flüsterte sie mit unterdrücktem Schluchzen, „ich weiß, daß ich eine große Summe fordere; aber was ist sie für eine reiche Dame? Sie üben ein Werk der Wohlthätigkeit, wenn Sie mir die mühsame Arbeit abkaufen. Ach, Madame,“ rief sie lauter, indem sie wie eine Betende die flachen Hände zusammenlegte und fast auf die Knie sank „weisen Sie mich nicht ab, ich gehe der Verzweiflung entgegen, wenn ich mit leeren Händen Ihr Haus verlasse. Wäre es möglich, ich würde mich mit der Hälfte, selbst dem dritten Theile begnügen, aber es darf nicht ein Groschen an der geforderten Summe fehlen – ich kann nicht anders!“
Sie zog ein weißes Tuch hervor, um die Thränen zu trocknen.
Die beiden Gatten sahen sich in schmerzlicher Verwunderung einander an.
„Mein Kind,“ begann Josephine nach einer Pause halten Sie mich nicht für geizig oder hartherzig. Könnte ich frei über mein Vermögen schalten, ich würde nicht um eine Minute Ihre Sorge verlängern, auch wenn mich der Besitz dieses prachtvollen Kleides nicht reizte. O, mein Gott, Philipp, was kann ich thun?“ flüsterte sie ihm zu. „Unsere Grundsätze werden auf eine harte Probe gestellt. Die Empfehlung der Madame F. provocirt meine Ehre, und dieses arme Kind meine Wohlthätigkeit.“
Auch Philipp war gerührt.
„Wer sind Sie, mein Kind? fragte er die Weinende. Nennen Sie uns Ihren Namen und Ihre Wohnung.“
„Anna Bornstedt!“ flüsterte sie.
„Wie?“
[418] „Anna Bornstedt – ich bewohne ein Stübchen in Nr. 12 der B.-Gasse.“
„Bornstedt?“ fragte er noch einmal, und sein Gesicht ward noch bleicher als es bisher gewesen war.
Aus Josephine’s Augen blitzte ein Freudenstrahl. Um die Befangenheit ihres Mannes zu enden, der bestürzt an das Fenster getreten war, wandte sie sich zu Anna:
„Ich weise Sie nicht ab, Mademoiselle! Ein solcher Handel erfordert indeß Ueberlegung – besuchen Sie mich morgen um diese Zeit wieder, und ich glaube Ihnen den Dienst leisten zu können, den Sie fordern.“
„Madame! Madame!“ rief außer sich das junge Mädchen. „Und Sie wollen den Preis zahlen?“
„Wenn es mir irgend möglich ist!“
„Lohne Ihnen Gott, daß ich nicht hoffnungslos von Ihnen scheide!“
„Bringen Sie mir Morgen Ihre Arbeit zurück –“
„Nein, behalten Sie das Kleid und prüfen Sie die Stickerei – vielleicht sind Sie geneigter, den Preis zu zahlen.“
Anna küßte hastig die Hand der Madame Lindsor und verließ das Zimmer.
Gleich darauf sah sie Philipp, der immer noch an dem Fenster stand, über die Straße eilen. Wie beflügelte die Hoffnung die Schritte der armen Anna! Ihr leichtes, armseliges Tuch flatterte im Winde, und ihre kleinen Füße schienen kaum den Boden zu berühren. Als der junge Mann sich wandte, stand Josephine ihm zur Seite.
„Du nanntest früher den Namen Bornstedt, wenn ich nicht irre,“ flüsterte sie. „Demnach ist es nicht unwahrscheinlich, daß dieses Mädchen der Familie angehört, der wir ein Vermögen schulden. Ich entließ die Unglückliche, um die Verlegenheit abzukürzen, die ich in Deinen Zügen las. Philipp,“ – sie warf sich an seine Brust – „ich werde ganz glücklich sein, wenn mir auch nichts bleibt als Deine Liebe! Du kommst arm zu mir, aber Du bringst mir dennoch einen Schatz, den ich nicht genug würdigen kann!“
Philipp drückte die reizende Frau fest an sich und bedeckte ihren blühenden Mund mit Küssen. Die beiden Gatten feierten Augenblicke der höchsten Wonne.
„Madame F. wollte eine kleine Bosheit ausüben,“ sagte Josephine, „sie ahnt sicher nicht, daß sie mir einen guten Dienst erwiesen hat.“
„Ist Anna die Tochter des Mannes, den ich suche, so zahle ich ihr einen Preis, der sie für die mühsame Arbeit und für den erlittenen Kummer entschädigt! Du erlaubst mir, daß ich mir sofort Gewißheit verschaffe.“
Philipp entfernte sich. Josephine weidete sich noch einige Zeit an der kostbaren Stickerei, dann legte sie sorgfältig das Kleid zusammen und verschloß es.
„Ich werde doppelt stolz darauf sein,“ dachte sie, „wenn man mich in diesem Schmucke bewundert!“
Madame Lindsor hatte ungeachtet ihres eingezogenen Lehens gewissen Kreisen Stoff zu Vermuthungen und Deutungen mancherlei Art gegeben. Ihre Besuche des Concertes und Theaters waren hinreichend gewesen, um die Damen neidisch und die Männer rebellisch zu machen, eine Erscheinung, die Leipzig mit allen Städten gemein hat. Die Soiréen des Banqiers, von denen Madame Lindsor dreien beigewohnt, hatten alle Varietäten der großen leipziger Familie vereinigt, mithin wurde die fremde Dame je nach der Anschauung dieser Gattungen beurtheilt.
„Wer ist denn eigentlich die Madame Lindsor?“
Diese Frage beantwortete um die Mitte des Monats Mai Jemand, der zum Geschlecht der Positiven gehört, durch folgendes Inventarium:
„Madame Lindsor ist eine erste Etage für sechshundert Thaler Miethzins, der halbjährlich nach Wechselrecht pränumerirt wird; solide Möbel, bürgerliche Küche, zwanzigtausend Thaler Revenüen, die ihr erlaubten, eine Equipage zu halten, wenn sie wollte. Ihr Mann ist ein englischer Kaufmann, der gegenwärtig eine große Reise macht. Solide Leute, gegen die sich nichts einwenden läßt.“
Hat der Positive, ein dicker, runder Mann mit kirschrothen Backen, der in der Regel einige Häuser mit Meßlokalitäten besitzt, diese Interpretation gesprochen, so bedeckt er die Oberlippe mit der Unterlippe, und bewegt das schwerfällige Haupt, als ob er die letzte Phrase dadurch bestärken wollte. Man weiß nun, er hat ein erschöpfendes Urtheil abgegeben.
Wendet man sich an einen fein gekleideten Mann, der schwarze Glacehandschuhe, glänzende Gummigaloschen und einen sorgfältig gepflegten Backenbart trägt, so erhält man die Antwort.
„Madame Lindsor ist noch nicht an unser Klima gewöhnt, sie leidet ein wenig an Tuberkeln; es hat jedoch nichts zu sagen!“
Dieser Mann ist ein Arzt. Nachdem er lächelnd diese Antwort gegeben, eilt er von dannen, und man ist geneigt zu glauben, er behandele die Dame. Bei nächster Gelegenheit läßt er zufällig die Ansicht laut werden: „Sie wird wohl einen Respirator tragen müssen!“
Wenden wir uns an den jungen Mann mit blondem Haare, einer feinen Brille und untadelhafter Toilette. Er sitzt gewöhnlich Nachmittags zwei Uhr im Café français und ißt Kuchen.
„Madame Lindsor, mein Bester? Eine himmlische Frau, ein göttliches Wesen! Sie hat die Dedication meines neuesten literaturhistorischen Romans angenommen, der in splendider Ausstattung bei Brockhaus erscheint. Famos, sage ich Ihnen, neue Typen, Velin! Charaktere, bis jetzt nicht dagewesen! Ich habe ihr neulich den Prolog vorgelesen – sie war entzückt. Ah, eine geistreiche Frau! Schade, daß Madame F. zugegen war.“
Dieser Mensch gehört zum Geschlechte der Schöngeister, einem der verbreitetsten in dem Mittelpunkte des Buchhandels. Sie sind nicht gefährlich, da die Eitelkeit ihre vorherrschende Schwäche ist. Nur die Buchhändler fürchten sie, wenn sie ein Manuscript aus der Tasche ziehen.
„Madame Lindsor!“ ruft ein Anderer, der mit drei bis vier Freunden Mittags durch die Promenaden geht, um die Damen zu mustern. „Ich weiß genau, daß sie schon dreißig Jahre alt ist, verblüht, falsche Zähne, schöne Augen, abgenutzter Sopran, viel Toilette, etwas Schminke und elegante Manieren – ziemlich verblüht, aber immer noch einer kleinen Liebschaft werth!“
Diese Antwort erhält man von einem höchst sauber gekleideten Manne, der zum Geschlechte der Frauenbesieger gehört. Er hat um elf Uhr stark gefrühstückt, und will durch einen Spaziergang die Verdauung befördern. In solchen Augenblicken sind die Frauenbesieger unerbittlich.
„Wer ist diese Madame Lindsor?“ fragt ein junger Kaufmann seine Gattin.
„Ich will nicht, daß Du die Soirée bei Madame F. wieder besuchst!“
Dies ist unstreitig die inhaltreichste Antwort. Sie läßt sich kommentiren: die Frau ist gefährlich, hat Geschmack und versteht sich zu kleiden. Sie flößt den Gattinnen Besorgniß ein.
Dort kommt ein nachlässig gekleideter Mann mit langen Haaren, von bleichem, gelehrtem Aussehen. Fragen wir ihn.
„Madame Lindsor? Mein Bester, wissen Sie denn nicht, daß diese Dame die ehemalige Geliebte des Lord Palmerston ist? Ah, man hat seine Correspondenten in London!“
Dieser Mann ist ein Doctor der Philosophie und gehört zur Classe der Widersprecher. Sie wittern alle Druckfehler in den neu erschienenen Büchern, berichtigen die Facta in allen Memoiren und wetten stets Hundert gegen Eins, daß sie Recht haben. Fast alle Widersprecher kritisiren in gelehrten Zeitschriften, haben eine zurücktretende Stirn und schreiben einen schlechten Styl. In der Politik gehören sie der Partei an, die die wenigsten Anhänger besitzt. Jetzt sind sie Russenfreunde, im Jahre 1849 schwärmten sie für Oesterreich.
Es verbreiteten sich so viel Meinungen über Madame Lindsor, daß wir sie nicht alle anführen können. Wir haben nur beweisen wollen, daß ein Mann, der die junge Dame kennen zu lernen sich bemühte, ohne ihr seinen Besuch zu machen, eben so gut hätte glauben können, sie sei verwittwet oder verheirathet, dumm oder geistreich, gut oder schlecht, reich oder arm, schön oder häßlich – mit einem Worte, es gab so viel Madame Lindsor, als Classen in der Gesellschaft und Sekten in dem Protestantismus. Dem guten Philipp kam Manches davon zu Ohren, aber er lächelte über das sonderbare Leipzig, vorzüglich nachdem man ihm die Geschichte von einem gewissen Makintosh erzählt hatte.
Ein deutsches Dichterbild.
Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts, etwa 1797–1798, sah man vor dem Lyceum in Fulda fast Tag für Tag zu gewisser Stunde einen armen Knaben aus dem Volke stehen, sehnsüchtig nach der Thür schauend, und wenn die Erlösungsstunde für die Studenten geschlagen hatte, Einem derselben, einem großen, schlanken, hübschen Jüngling, rasch entgegengehen, ehrerbietig ihm die schweren Bücher abnehmen und hinter ihm hertraben, unter der Last sich mühend, doch mit glücklichen Blicken, mit freudestrahlendem Gesicht; der Student kümmerte sich um den armen Knaben nicht anders, als daß er ihm an seinem Hause die Bücher stumm abnahm und ihn mit stolzgleichgültigem Blicke entließ; der Jüngling war aber nur stolz auf seine Wissenschaft, denn auch er gehörte mehr dem Volke als der höhern Gesellschaft an; er war der Sohn eines wohlhabenden Bäckers. Dreißig Jahre später: – und dieser Jüngling ist Fürstbischof und der Knabe hat die erste Stufe seines glänzenden Ruhmes als der erste deutsche Romandichter seiner Zeit erstiegen, und jener Fürstbischof schleudert gegen diesen Dichter den Bannstrahl seiner Kirche!
Heinrich König’s historische Romane: „Die hohe Braut,“ – „Die Waldenser“, „William’s (Shakespeare’s) Dichten und Trachten,“ – „Die Clubisten in Mainz,“ und neuester Zeit: „König Jerôme’s Carneval;“ seine größeren Novellen: „Regina,“ – „Veronika,“ – „Spiel und Liebe;“ sein Memoiren-Werk über Georg Forster: „Haus und Welt“ und die Selbstbekenntnisse aus seinem ersten Leben: „Auch eine Jugend“: welcher Gebildete im Vaterlande [420] würde sie nicht kennen, würde sich nicht wenigstens an Einem oder dem Andern derselben erfreut und erweitert, oder doch den Namen ihres Vaters mit Liebe, Achtung, ja Ehrfurcht haben nennen hören? Und wer, der sich um die früheren politischen Entwickelungskämpfe im innern Vaterlande aufmerksam bemüht oder auch nur bekümmert hat, wer von diesen sollte den Namen dieses edlen Dichters nicht auch kennen als den Namen eines tüchtigen Mitkämpfers für freiheitliches Recht auf der Landtagstribüne seines Vaterlandes, für religiöse Freiheit? Und geht Ihr nach Hessen, nach Cassel, nach Fulda, nach Hanau: da wird Euch der Name Heinrich König auch genannt als der Name eines so rechtschaffenen, strengredlichen und bürgerlich soliden Mannes, – eines so braven, treuen Gatten, Vaters und Freundes, – einer so liebevollen, harmlosen, anspruchslosen Natur: daß ihm auch seine eifrigsten Gegner in Politik und Religion ebenso hohe Achtung schenken müssen, als seine Freunde ihm Liebe zollen.
Aber der arme Knabe aus dem Volke hat eine schwere Schule des Lebens durchlaufen und durchleiden müssen, ehe er zur Höhe seines Ruhmes, seiner Stellung gelangte, und gewiß ist es interessant, in rascher gedrängter Uebersicht diesen schweren Weg mit ihm zu verfolgen. Gewiß aber auch ist es ein lichter Trost für den deutschen Patrioten, auch an diesem Beispiel wieder zu erkennen, eines Theils, daß die meisten unserer großen und schönen Geister aus dem Volke hervorgegangen sind, daß also eine Nation, die in ihrem Urkerne fortwährend solche Kraft erzeugt, noch nicht so weit herabgekommen ist als man uns dies von manchen Seiten her glauben machen will; anderntheils, daß selten eine wahrhaft ächte Kraft an sogenannten „äußern Verhältnissen“ zu Grunde geht, wenn sie stets pflichtgetreu ihrer Selbst und ihrer Aufgabe sich bewußt ist.
Heinrich König wurde am 19. März 1790 in Fulda geboren; sein Vater war als Bauernsohn aus dem Dorfe Schwaben in das fürstbischöfliche Militär eingetreten, und starb als Unteroffizier in dem von den Franzosen belagerten Mainz, zwei Jahre nach der Geburt seines Sohnes. Die Mutter war eine tüchtige Schneiderin, namentlich in Mützen und Kappen für die Bäuerinnen, und sie zog nach dem Tode ihres Mannes zu ihrem Bruder Velten, der früher weltlicher dienender Bruder im Kapuzinerkloster gewesen war, dann aber statt der Kutte ein Weib genommen hatte, und nun als Lohnarbeiter, Handlanger und Commissionär mannigfache Dienste für Kloster und Stadt that. Die ganze Familie war fromm, strengrechtschaffen, sparsam, sauber, und dies Alles bis zur peniblesten Gewissenhaftigkeit; diese ersten Eindrücke und Anschauungen haben sich durch das ganze Leben des Dichters hingezogen. Heinrich wuchs in diesem Kreise als fleißiger Schüler der Bürgerschule auf, unendlich zufrieden und still vergnügt; seine Hauptfreude war, dem Studenten die Bücher nachzutragen, und als er einst einen hölzernen Pallasch geschenkt bekam, ruhte er nicht eher, als bis er ihn an einer Mauer zerschlagen hatte, um auf leere Faust wieder vergnügt sein zu können. Daß die Studenten dann und wann in den Weihkessel Tinte gossen, und Manche, die sich daraus mit schwarzen Tuppen besprengt hatten, dies für Wirkung des Teufels hielten, brachte wohl den ersten Conflict in seine fromme Anschauung des kirchlichen Kultus. Aber mit Rührung und Interesse wohnte er den weihnachtlichen Theatervorstellungen der Kapuziner bei, dem „Krippchen,“ letzter Rest der mittelalterlichen Mysterien. In der Schule waren es die altbiblischen Geschichten und die Anfänge der Geschichte seines engeren Vaterlandes, die Geschichte der Heidenbekehrer, die besonders auf ihn wirkten. Seine guten Anlagen bewogen Mutter und Oheim ihm in Gemeinschaft anderer Knaben noch besondern Unterricht ertheilen zu lassen, bei einem „Präceptor,“ das heißt bei einem armen Studenten, der sich dessen für sehr kleine Gaben, worunter auch Victualien, unterzog. In den Freistunden trug er die Arbeiten seiner Mutter herum oder hütete die Ziege; bald aber sollte er – durch Vermittelung seines Oheims – das Leitseil der Ziege mit dem Meßglöcklein im Stifte der englischen Fräulein vertauschen; er wurde ein gar niedlicher, geliebter und Vertrauen erweckender Ministrante. Die lateinischen Worte seines Dienstes als Ministrante hatte er rasch und sicher aufgenommen, und der Oheim verschaffte ihm deshalb von einem Pater Hilarius eine alte, lateinische Grammatik; sie sollte die erste Sprosse zur Leiter höherer Wissenschaft werden. Sicheren Fuß auf dieser Sprosse gefaßt, sprang er dann auch schon bald von der Bürgerschule in das Gymnasium, just zu derselben Zeit, als des Fürstenthums Fulda geistliches Regiment überging an das weltliche Regiment des Prinzen von Oranien.
Der als Erbschaft zurückgelassene lange Mantel eines reichen Gymnasiasten, wurde nun durch Decret des Gymnasialdirectors unserm Heinrich umgeworfen, und er that ihm treffliche Dienste, wenn er mit seinen Mitschülern auf der Straße singen und dann die milden Gaben dafür einsammeln mußte. Bald hatte er den ersten Platz und schon zwei Prämien in seiner neuen Schule gewonnen. In diese Zeit fällt eine seiner nachhaltigsten Erinnerungen: er bekam von den Aeltern eines Mitschülers das erste Billet für das Theater, das unter dem neuen weltlichen Regimente fleißig kultivirt wurde; „die Hussiten vor Naumburg“ machten einen tiefen Eindruck auf ihn, und er fühlte sich selig, als er eines Abends einen der Knaben mitspielen durfte, die zu rufen hatten: „Ich!“ – Er brachte dieses „Ich“ aber so jämmerlich und consternirt heraus, daß er beschämt davon lief. – Ein anderes Davonlaufen hatte ernstere Folgen: einmal in der Woche genoß er mit zwei Mitschülern einen Freitisch im Kloster; da wurde nun eines Tags ein Schweinskopf von unbeschreibbar üblem Geruch vorgesetzt; Heinrich nimmt ein Stückchen Papier, schreibt darauf:
„Die Suppe essen wir; die andern guten Gaben
Hebt uns gefällig auf bis wir den Schnupfen haben,“
steckt das Zettelchen dem Schweinskopf in den Mund und läuft davon. Er verlor damit natürlich seinen Freitisch, hatte auch wohl noch manche Häkeleien auszustehen, und seit der Zeit schon kamen die Klöster bei ihm in einen üblen Geruch; den verlorenen Mittagstisch ersetzte er mit angestrengterem Erwerb durch Privatstunden. – Nun erfolgte die große Schulreform; die langen Mäntel der Schüler fielen ab und damit auch manche Zöpfe, Fesseln für die jungen Geister, die sich nun immer freier bewegen und neue, erweiterte Anschauungen in sich aufnehmen konnten. Dies geschah bei Heinrich immer mehr, als er, mit drei Prämien belohnt, das Gymnasium verlassen und das Lyceum betreten hatte, und zwar zur Zeit, als Fulda durch Mortier für die Franzosen besetzt wurde. Diese neue Richtung seines Denkens und Anschauens bewahrte ihn auch wohl vor der Gefahr, Mönch zu werden, wie Oheim und Mutter ihm das nach Beendigung seiner Gymnasial-Studien vorschlugen und wozu auch einige gescheidte Mönche den talentvollen und vielversprechenden Jüngling bereden wollten; vielleicht mochte auch jener Schweinskopf mit dazu beitragen, denn in demselben Zimmer, wo dieser ihn in die Flucht getrieben, sollte er seine entscheidende Erklärung ablegen; da, – ehe dieser Moment kam, lief er zum zweiten Male davon, und rettete in diesem Augenblick dem deutschen Vaterlande einen seiner edelsten Dichter. – Man trug ihm das aber nicht nach, und Ohm und Mutter gaben sich gern mit seinem höheren Studium auf dem Lyceum zufrieden. Drei Jahre dauerte dasselbe, und jedes dieser Jahre hatte nach drei Richtungen hin einen entschiedenen Einfluß auf die spätere Richtung, auf das ganze Leben des jungen Mannes. Zuerst in kirchlicher Beziehung, in immer größerer Ablenkung vom Dogma auf den Weg eigener Forschung; sodann in schriftstellerischer Beziehung durch Anfertigung einer prosaisch-poetischen Arbeit, der Beschreibung eines Sommerabends in den Gegenden Nizza’s und Turin’s; sie wurde, als die beste Arbeit von Allen, öffentlich vorgelesen, und machte einen so bedeutenden Eindruck, daß Viele an ein Plagiat dachten, wo der Verfasser durchaus Original gegeben hatte. Diese Arbeit war der Keim zu des Verfassers erstem Roman: „Die hohe Braut.“ Das dritte Jahr brachte dem Jüngling seine „erste Liebe,“ deren ernste Folgen ihn schon bald an Gründung eines Ehelebens denken lassen mußten.
Am 9. September 1809 beschloß er seine Lyceums-Studien mit einer lateinischen Rede in so freisinniger Weise, daß sie ihm die Pforten der Theologie, die er anfangs beabsichtigt hatte, verschloß, und er stand nun am ersten großen Scheidewege seines späteren Lebens. Gern hätte er Jura studirt, aber dazu hätte er nach Wetzlar an’s Reichskammergericht gemußt, und dazu war kein Geld vorhanden. Was nun zu thun? Er beschloß endlich, die Vorstudien zur Anatomie bei dem neuerrichteten Krankenhause zu machen und widmete sich derselben auch mit allem Eifer; seine später so fruchtbar gewordenen tiefen Blicke in die Physiologie des Menschen gewannen hier wohl ihre ersten Grundzüge. Als Endresultat dieser Studien schaute aber doch nur ein gewöhnlicher Chirurg hervor, [421] vor, der zugleich Bartscheerer sein mußte, und dieser Gedanke machte namentlich dem Oheim Entsetzen, wenn er ihn mit den reichen Anlagen seines Neffen und den daran geknüpften Hoffnungen verglich. Gleichzeitig mußte aber auch schon für ein sicheres Einkommen gesorgt werden, denn die Folgen jener ersten Liebe machten die Ehe nothwendig. Der junge Mann trat also als Schreiber bei einem Advokaten ein, und wurde, noch nicht einundzwanzig Jahre alt, am 19. Januar 1810, schon Ehemann, und bald darauf auch Vater. Und nun beginnen für den jungen Mann erst die eigentlichen Leidens- und Kampfjahre- die Frau ist körperlich leidend, wird immer leidender, und zwar am Gehirn, so daß auch ihr seelischer Zustand immer trauriger und trauriger wird, beschränkt, reizbar, heftig; - so geht ein volles Viertel-Jahrhundert in tiefstem, innern und äußern Eheleiden hin; das erste Kind stirbt; das zweite, eine lebhafte, begabte Tochter, ist ganz auf den Vater, und dieser vom Krankenbett der Frau nur auf Erwerb angewiesen, unter Duldung und Entbehrung aller Art. Solche Kämpfe konnten nun wohl eher einen Charakter als ein Talent entwickeln; dem Letzteren fehlte es natürlich an Gemüthssammlung, an Innerlichwerden, auch an äußerer Anregung in einer Stadt wie Fulda, während des Krieges; aber unser Dichter ist ein glänzendes Beispiel , wie unendlich viel die Festigung eines tüchtigen Charakters dem Talente vorarbeitet; viele der hohen Vorzüge, die wir später an den Werken König’s noch anzudeuten suchen werden, haben ihren Ursprung in der Charaktergröße und Stärke, die er während dieser Zeit sich gewann. Trieben nun lebhaftes Temperament, heiterer leichter Sinn, Unbefangenheit gegen Welt und Menschen den häuslich Unbefriedigten leichter hinweg und umher, so halfen ihm vor Verirrungen seine frühe Vernünftigkeit, gesellschaftliche Blödigkeit, pecuniäre Anspruchslosigkeit und Enge, ein reizbarer, sittlicher Stolz, immer mehr gefundene Freundschaft und Neigung in gebildeten Kreisen und auch ein religiöser Ernst. Dieser aber immer freier und höher getragen, mehr als innerliche Stimmung, des Kirchlichen müde, dem Dogma abhold, doch auch ohne Zweifel und Polemik, in harmonischer Toleranz. Während dem war unser Dichter vom Hülfsschreiber da und dort, Scribent an der Mairie Frankfurt, unter Regentschaft des Fürsten-Primas, geworden und arbeitete auch dann und wann im Büreau des Finanzministers, Graf Bentzel-Sternau, des bekannten Schriftstellers, wenn derselbe ab und zu nach Fulda kam; die politischen Doctrinen des Staatsdienstes suchte er dabei durch eifriges Selbststudium sich anzueignen. - Daneben aber regten sich auch noch die ersten Anfänge der Schriftstellerei in Gelegenheitsgedichten und Prologen, namentlich für das vom Fürsten-Primas errichtete vortreffliche Liebhabertheater, dem sich der Dichter auch als Schauspieler widmete. Er erregte Aufmerksamkeit, wurde empfohlen und bekam die Stelle eines Controleurambulant bei der neuen Accise. Das war für den Dichter eine widerliche Stelle, aber sie gab sicheres Brot für Weib und Kind. Nach der leipziger Schlacht wurde die betreffende Accise aufgehoben, König behielt aber seinen Gehalt von 240 Gulden fort und wurde ohne sichere Anstellung mit Aufträgen mancherlei Art beschäftigt. Nun trat die Theilung des Fürstenthums ein; Coudray, der bekannte Baurath und Freund Goethe’s, kam nach Weimar und sorgte vorher, daß die bisher von ihm geführte Regie des Theaters an König übertragen wurde. Da fühlte er sich nun so recht in seinem Element, und als Fulda im Jahr 1816 Kurhessisch wurde, ließ er sein Festspiel „Die Erfüllung“ aufführen; der Kurfürst wohnte der Aufführung bei, ignorirte aber den Verfasser; desto eifriger nahm sich dessen der geistvolle Oberkammerrath Fulda an; er setzte seine Anstellung als Secretair im Finanzministerium durch. So, neu gehoben und gekräftigt durch höhern Rang und Gehalt, schrieb unser Dichter sein erstes Trauerspiel „Wyatt“, er bezeichnet es jetzt selbst als „eine kleine Missgeburt;“ im Jahre 1819 nach Hanau versetzt, schrieb er das Drama „Otto’s Brautfahrt“, von Müllner günstig rezensirt, auch in Frankfurt zur Aufführung angenommen, doch durch den Tod des dortigen Direktors Ihle vernachlässigt; dann entstand ein tragischer Torso: „Der Bischof-Ritter“ und dies und jenes Gelegenheitsstückchen für das Wintertheater in Hanau.
Inzwischen hatte das Treiben der Jesuiten und Ultramontanen auch den besseren Theil der katholischen Geistlichkeit des Landes aufgeregt; wie viel mehr erst unsern wackern König. So schrieb er denn in dem vom Pfarrer Friedrich zu Frankfurt gegründeten Journal „der Protestant“ viele gegen jenes Treiben gerichtete Artikel und gab dieselben im Jahre 1829 bei Sauerländer in Frankfurt, unter dem Titel: „Rosenkranz eines Katholiken“ heraus. Das Domkapitel in Fulda verlangte Widerruf, und als Antwort darauf veröffentlichte König das Werk: „Christbaum des Lebens“, worin er die Nothwendigkeit der Reformation darlegte und mit dem Katholicismus brach. Bald darauf, 1830, wurde er excommunicirt; unter dem Schutze seiner Regierung zwar nicht öffentlich von der Kanzel herab, aber doch geheim und durch Decret. König blieb nun ohne Kirche, in religiöser Selbstständigkeit; auch der Uebertritt des früheren Chefs und Freundes, Graf Bentzel-Sternau, zum Protestantismus, konnte ihn nicht zu demselben Act bewegen; er bemühte sich als freier Einzelner, durch sittliche und geistige Reinheit seinen Baustein zum .großen Bau des Christenthums darzubringen.
Kaum hatte er ruhig diese kirchlichen Kämpfe abgeschlossen, als ihn das Vertrauen seiner Mitbürger in staatliche Kämpfe warf, indem er als Landtagsdeputirter nach Kassel gesendet wurde. Mit derselben Offenheit und Freisinnigkeit, bei aller Ruhe und Festigkeit, womit er dort gekämpft, kämpfte er nun auch hier, und vergeblich wendete das Ministerium Hassenpflug zweimalige Auflösung des Landtags und Einschüchterungssystem gegen die Beamten an. Es erschien König’s Schrift: „Leibrecht und Verfassungsrecht, oder über die Bürgergarden“ und er resignirte auf Beförderung im Staatsdienst. Niemand aber war, der nicht seinem Charakter und seiner Gesinnung volle Gerechtigkeit widerfahren ließ; Niemand, der ihm Nebenabsichten, Nebeninteressen und Rückhalte vorwerfen konnte und wollte.
Und in Mitten an dieser Kämpfe, schon in die Vierziger eingetreten, sollte seine eigentliche Hauptkraft zum Durchbruch kommen, sollte er seine große Lebens- und Dichter-Aufgabe beginnen: er schrieb seinen ersten Roman. „Die hohe Braut“. Das Buch zündete sofort; Laube, damals Redakteur der „Zeitung für die elegante Welt,“ war der Erste, der es mit Posaunenton der Literatur verkündete; damals fand die Kritik noch Ansehen und Glauben - das Buch wurde als „Ereigniß“ bezeichnet und aufgenommen, und Heinrich König war auf einmal ein berühmter Schriftsteller; Buchhändler, Redakteure, Almanachsherausgeber, junge Dichter und Kritiker drängten sich um ihn. Er aber blieb der ruhige, stille, anspruchslose Mann; immer ernster, immer tiefer, mit immer größerer Pietät seiner hohen Aufgabe nachstrebend, und so denn auch immer bedeutender schaffend, was wir im Eingang dieser Skizze als seine Werke nannten.
Was daran schon gleich zu Anfang überraschte, war die männlich-feste Abgeschlossenheit, die klare, objektive Ruhe, die hohe ethische Würde, wie man das Alles bei einem ersten Werke solcher Art unendlich selten findet; hier nun zeigte sich, was wir oben andeuteten, wie die bedeutsame Charakter-Entwickelung des Mannes dem Dichter glücklich vorgearbeitet, ihm zu seinen Schöpfungen sicheren Grund und Boden vorbereitet hatte. Und jene seltenen Dichtergaben wurden nun stets klarer, freier und schöner, und die Anfangs damit verbunden gewesene Herbheit und Sprödigkeit wurde versöhnende, rein menschliche Harmonie. Darin erinnert König bedeutsam an Zschokke, nur daß König größeren historischen Geist besitzt; in der Liebenswürdigkeit und Einfachheit seines Erzählens steht er Hauff am Nächsten, nur daß er diesen an Tiefe und Gehalt übertrifft; Spindler’s Erfindungskraft, Leidenschaft und frappante Charakteristik erscheint bei König solider und künstlerisch sittlicher, und nur W. Alexis könnte ihn in gesunder, unmittelbarer Naturkraft übertreffen, wenn derselbe nicht nach der andern Seite hin so tief in specifisch altpreußischem Geiste steckte, so herb und spröde geblieben wäre, daß ihm eine, wenn auch immer fast großartige, so doch das reine Kunstwerk störende Einseitigkeit zugesprochen werden muß.
So steht König unter den Romandichtern der durch ihre Hauptrepräsentanten angedeuteten Periode und Richtung als der vortrefflichste da. Die Romandichter der specifisch modernen Gegenwart (auch Immermann noch mit inbegriffen) gehen eben in dieser Richtung zu weit ab von König’s historischem Schaffen, um ihn auch noch mit diesen parallelisiren zu können.
Und eben dieser weite, klar und fest fixirte Hintergrund und Boden des historischen Schaffens bei König ist es, der dasselbe stets so resolut, concis und gesund, und, unbeschadet des absichtslosen Kunstwerks, so fruchtbar, nützlich anwendbar erscheinen lässt; denn König ist nicht nur historischer Romandichter in dem Sinne [422] wie Walter Scott, der mehr Sittengemälde gab, als er zeitbewegende Gegenstände wählte; er faßt Beides zusammen, er wählt seine Stoffe meist aus großen Uebergängen in der Entwicklung eines Landes, eines Volkes, die dann wieder ein helles Schlaglicht auf die eigenen Zeit werfen; dabei malt er mit feinstem Pinsel das ganze Wesen, die tiefste Charakteristik jener Zeit nach und mit dem göttlichen Instinkte der ächt naiven Dichterkraft, weiß er auch überall das Stete im Menschen, das Reinmenschliche, was an keine Zeit gebunden ist, wundersam hervortreten zu lassen. – Am Bedeutendsten treten gerade diese angedeuteten Vorzüge in seinem Roman: „Die Clubisten in Mainz“ hervor, und finden wir sie auch mehr oder weniger wieder in seinem neuesten Roman: „König Jerôme’s Karneval.“
Einer anderen Aufgabe bleibe es überlassen, die Werke König’s einzeln zu besprechen und in all ihren Vorzügen zu verfolgen; uns kann es hier nur um allgemeine Umrisse, um das Totalbild des Dichters zu thun sein. – Schließen wir dasselbe ab, indem wir sein äußeres Leben noch von da an verfolgen, wo wir vorhin es verließen, wo er auf einmal der berühmte Schriftsteller geworden war. In dieses Glück trat auch das Glück, daß die 25jährigen Leiden seiner Frau durch den Tod beendet wurden. Es war zu Anfang 1835, die Unglückliche starb unter erschütternden Umständen, und eine Section erwies Verbildung der inneren Hirnschale, die stets mehr auf das Gehirn gedrückt hatte. Trauernd, doch glücklich, frei von banger Sorge und Qualen, gehoben von Ruhm, ging nun das Schaffen frisch weiter: „Die Waldenser“ und Shakepeare’s „Dichten und Trachten“ wurden vorbereitet, geschrieben, in die Welt gesendet; aber bei den vielen amtlichen Pflichten mit solcher körperlichen Anstrengung, daß der Grund zu späteren ernsten chronischen Leiden gelegt wurde. Sehnsucht nach Liebe, Mittheilung, nach häuslicher Freude und kaum genossenem Eheglück, führten nun den Dichter zum zweiten Male in die Ehe und zwar in eine innig glückliche, wohlthuend ausfüllende und anregsame, mit einer gebildeten Frau aus dem Kreise des höhern Fabrikstandes; bald darauf heirathete auch seine Tochter einen braven, gebildeten Schulmann.
Langdauernde Bekanntschaft mit einem geistvollen Russen gaben Veranlassung zu dem vortrefflichen Werke: „Literarische Bilder aus Rußland.“ Im Jahre 1839 wählte ihn Hanau noch ein Mal zum Landtag. Der Mißliebige wurde dafür 1840 nach Fulda versetzt, als Obergerichts-Secretair; dem Klerus zum Verdruß, den katholischen Bürgern zur Scheu, doch herzlich aufgenommen in einem gebildeten protestantischen Kreise, zu dem Anfangs auch Dingelstedt gehörte. Ein Jahr darauf verloren die Aeltern ihren prächtigen, vierjährigen Knaben. Nun erschienen „Regina“ und „Veronika“; zwei Jahre im Seebad brachten das Buch: „Eine Fahrt nach Ostende.“ Die Jahre 1846 und 1847 schufen „die Clubisten in Mainz.“ Anhaltende Leiden hatten den Allzufleißigen schon auf eigene Kosten einen Mitarbeiter in seinen Amtspflichten anstellen lassen; jetzt, im Sommer 1847, bat er um Entlassung aus dem Staatsdienst; er erhielt sie mit Pension.
Der welthistorische März 1848 zog den Dichter zurück nach Hanau, um im Kreise alter Freunde und theurer Verwandten der Frau, die Entwicklung der Ereignisse zu verleben. Er hinterließ in seiner Vaterstadt die Liebe eines gebildeten Kreises, eine auch den Kircheneifrigen abgenöthigte Achtung, die Zufriedenheit der katholischen Geistlichkeit mit seinem Rückzug und ein kleines Grab mit Immergrün. Der Bauernstand des Kreises Hanau wählte den würdigen Kämpfer früherer Zeit auf’s Neue; er ging im April zu dem vom Märzministerium berufenen Landtag nach Kassel. Kämpfe, Stürme, Arbeit aller Art vollauf! Dabei Unachtsamkeit auf sich selbst – so steigerte sich sein krampfiges Asthma auf’s Höchste, doch hielt er tapfer aus bis zum November, wo er dann bedenklich krank nach Hanau zurückkehrte. Ruhe und Pflege machten ihn aber bald genesen; er besorgte die neue Ausgabe von „Shakespeare“ und „Regina“; er schrieb „Haus und Welt“ und machte Studien und Anhänge zu dem jetzt erschienenen „König Jerôme’s Karneval.“ –
Liebevolle Heiterkeit im Haus, einfacher Verkehr, gemessene Diät, Besuche von Wildbad und Gastein, kleine Ausflüge in schöne Natur, haben des Dichters körperliches Befinden leidlich und beruhigend hergestellt; Muth und Heiterkeit des Geistes beleben und tragen ihn fortwährend, und so dürfen wir denn freudig hoffen, noch anderes Schönes und Bedeutsames von ihm zu empfangen.
Das ist das Leben des armen Knaben aus dem Volke, das Bild eines deutschen Dichters, eines der schönsten und edelsten Geister unserer Nation.
Die Todtenstadt in London.
In einer Stadt, die mehr Einwohner hat als manches deutsche Königreich, wo sich so viele Menschen auf drei geographische Quadratmeilen zusammendrängen, wie sich kaum in drei ganze deutsche Herzogthümer vertheilen, wo Geborenwerden und Sterben zu den blühendsten Gewerben gehört und schon seit zwei Jahrtausenden ununterbrochen Menschen geboren und begraben wurden, erhob sich neuerdings die wichtige Lebensfrage: „Was machen wir mit unsern Todten?“ Ein deutscher Freihändler und Cobdenschützling hier schlug in einem Meeting vor, man solle sie ausbraten und Lichter daraus ziehen, die Reste aber verbrennen, weil sie dadurch am Schnellsten in die elementarischen Stoffe aufgelös’t würden, die in Regen und Luft den Gärten und Feldern sofort zu Gute kämen. Also Düngung der Felder mit unsern dahingeschiedenen Brüdern und Schwestern aus der Luft von Oben. Ungemein freihändlerisch und nationalökonomisch; aber wer bürgt uns auf diesem ökonomischen Wege dafür, daß nicht Cobden und die Freihändler einmal ein Gesetz durch’s Parlament bringen, welches alle Arbeitsunfähigen, Alten und Kranken zum Tode für die Seifensieder verurtheilt, damit sie, die selber nicht mehr mit ihrem Lichte leuchten konnten, mit russischem Talge Concurrenz machen und den Marktpreis der Lichter und Räderschmiere herunter bringen? Zwischen diesem freihändlerischen Vorschlage und dem Lord John Russel’s, man solle die Begräbnißgesetze reformiren, im Uebrigen aber Alles beim Alten lassen, zerbrachen sich Jahre lang die weisesten Staatsmänner die Köpfe an der Lösung dieser Frage, bis es Privatleuten endlich mit schwerer Mühe gelang, Concession für ihre praktische Lösung zu finden.
Der Bischof von London war sehr dagegen, da in dieser Lösung – Begräbniß in einer besondern entlegenen Todtenstadt – eine Verkürzung des Brotes der Geistlichen stecke. Als die Concession dennoch erfolgte, trug er, mit mehr als einer Million Thaler jährlicher Einkünfte, auf eine Besteuerung der Todten zum Besten der Kirche an, ward aber damit abgewiesen, da die englische Hochkirche schon Einkünfte genießt, welche das höchste Militär-Budget, das Preußens, bedeutend übertreffen. Die Privatleute traten also mit ihrer Concession für eine „londoner Nekropolis“ (Todtenstadt) als „National-Mausoleums-Compagnie“ hervor und in’s Leben. Sie kauften 2200 Morgen Landes zur Begründung der neuen Stadt, etwa 20 (englische) Meilen südwestlich von London neben der Südwesteisenbahn bei Woking, eine hügelige, stille, von Industrie und Lebensqual durch Berge geschützte Haide. Ein großer Theil dieser Haide wurde rasch von schönen Eisenzäunen eingegittert, mit Bäumen bepflanzt, mit Wegen durchzogen, eingeweiht und „Nekropolis Londons“ getauft. Auch einige kleine Kirchen und Kapellen mit Glocken erhoben sich rasch, um Todten, die’s bezahlen können, noch eine letzte Lobrede und ein Ehrengeläute zukommen zu lassen.
Die neue Todtenstadt bevölkerte sich Anfangs nur langsam, aber jetzt steigt der tägliche Zuwachs in beinahe geometrischen Proportionen. Jeden Morgen nach 11 Uhr geht ein langer Eisenbahnzug mit Todten und Trauernden nach der neuen, stillen, sonnigen Stadt ab, siedelt dort die neuen Bewohner an oder unter und bringt die Trauernden zurück, von denen dann mit der Zeit immer Einer nach dem Andern seine letzte Eisenbahnfahrt antritt, um sich in der neuen Stadt dauernd einzurichten. So geht also alle Tage ein besonderer Eisenbahnzug mit Todten in die neue [423] Nekropolis ab, so daß die Todten sich rühmen können, wie allerhöchste, lebendige Herrschaften in Extrazügen zu fahren. Wer hätte wohl an diese Verwendung des Dampfes und der Eisenschienen früher gedacht? Und wie prompt und billig ist diese letzte Reise? Man kann sie schon mit allem Zubehör von Trauernden (hin und zurück) und dem neuen Logis für ein Pfund Sterling machen. Um aber dem Range der Todten Rechnung zu tragen, giebt es verschiedene Klassen von Begräbniß und Logis, so daß man bis zu 25 Pfund Sterling gehen kann, wenn der Todte Geld genug zurückließ und man ihn seinem Range gemäß besonders schön in der neuen Todtenstadt einlogiren will. Uebrigens sollen sie unten sich gar nichts draus machen, ob sie für 1 oder 25 Pfund eingemiethet wurden.
Wir machen besonders auf die Wohlfeilheit der sonst überall lästig theuern Unterbringung menschlicher Ueberreste aufmerksam. Für noch nicht sieben Thaler bekommt ein Todter Sarg, freie Fahrt für sich (und Rückfahrt für die Begleitenden) und eine freie Wohnung für die ganze Dauer seiner Verwesung. Von zwanzig Thalern an bekommt er auch noch ein Denkmal dazu.
Dabei hat die Vorstellung für die Hinterbliebenen und die Todten, welche verordnen, daß sie in der Nekropolis den letzten, langen Schlaf thun wollen, während ihrer Lebenszeit noch einen bedeutenden Gemüthswert. Es liegt etwas Tröstliches in der Vorstellung, daß die irdischen Ueberreste eines geliebten Wesens unter einer sonnigen, ruhigen, schönen Gegend „in Frieden schlafen.“ Das konnten sie in London nicht, wo neben den Kirchhöfen unaufhörlich schwere Last- und donnernde Eil- und erschütternde Eisenbahnwagen den Boden bis tief hinunter beunruhigen, so daß man sich die ruhigen, kalten Züge unten fortwährend in zitternder Bewegung denken muß. Außerdem sehen die londoner Kirchhöfe alle sehr geschmacklos öde und eingezwängt und überfüllt aus: arme Leichen zu Sechs bis Zehn in einem einzigen Grabe über einander in sogenannten Nasenquetschern, zwischen denen der Leichnam eben nur den engsten Raum hat; blaumlos und blumenlos und besäet mit grauen, fabrikmäßig über einen Leisten gesägten Denksteinen. In der sonnigen, neuen Todtenstadt kann sich der Trauernde Gemüthstrost, schöne Eindrücke und frische Lebensluft für die ihm zugemessenen Tage holen.
[424]Die Transvaal-Republik im Kafferlande.
„Die große Mutter der Erde mit den kleinen Brüsten,“ war gestorben und höchst dero Sohn, König Shaka,[WS 1] „Beherrscher aller Schwarzen und der Hälfte der Welt,“ im Gegensatze zur Königin von England, welcher er die Weißen und die andere Hälfte der Welt einräumte, befahl eine große allgemeine Landestrauer, die er mit einer großen Trauerfestlichkeit einweihte. Zu dem Feste waren alle Unterthanen, die unterjochten Kaffer- und andere „einverleibten“ Stämme mit Kind und Kegel befohlen. So versammelten sich eines glühenden Morgens Tausende und aber Tausende schwarzer und schwarzbrauner Männer, Weiber und Kinder aus den Bergen und Schluchten der Südostküste Afrika’s nach Port Natal und Cap Sanct Lucia herunter in einer großen, glühenden Ebene, auf der die nackten schwarzen Glieder in allerlei phantastischem, rohem Schmuck weithin glitzerten und glimmerten. Alle die Tausende und aber Tausende weinten oder versuchten wenigstens unter den furchtbarsten Anstrengungen und Grimassen zu weinen, denn eine Allerhöchste Cabinets-Ordre hatte mündlich durch den Mund seiner Soldaten im ganzen Reiche verordnet, daß bei Todesstrafe kein Auge ohne den Schmuck der Thränen zum Feste kommen, aber auch nicht wegbleiben dürfe. König Shaka, ein schwarzes, fettes Ungeheuer, geschmückt mit allerlei Perlen und glänzenden Stückchen Metall, ritt an der Spitze der Auserwählten seines herrschenden Stammes, der Sulu-Kaffern, und seines getreuen, mit Keulen bewaffneten Heeres, durch die Tausende seiner weinend versammelten Unterthanen. Hinter ihm kreischte und heulte es in allen möglichen, schrecklichen Tonarten, hinter ihm spritzte fortwährend Blut und ausgeschlagenes Gehirn. Nachdem er seinen Ritt vollendet, lagen nicht weniger als siebentausend seiner Unterthanen zerschmettert und zerschlagen zwischen dem heulenden Gewimmel der Lebenden auf der heißen, öden Ebene. Der keulenbewaffnete, geschwungene Arm des Kriegsgerichts hatte sie getroffen, weil ihre hochverrätherischen Augen ohne den vorgeschriebenen Schmuck der Thränen ertappt worden waren. Das ist starkes Regiment, strenge Gerechtigkeit, nicht sehr christlich-germanisch; aber Anlagen dazu fanden wir nicht selten auch in christlich-germanischen Ländern in Bezug auf den Schmuck der Kokarden und schwarzen Ränder der Zeitungen als topographischen Trauerflor. Erinnern wir uns doch ein Witzblatt denuncirt gesehen zu haben, weil es nach dem Tode des Königs nicht schwarz gerändert erschienen war. Daß es von keinem Keulenschlage zerschmettert ward, verdankte es der königlichen Regierung, nicht dem taktlosen Unterthanen und Denuncianten.
Was aus dem „Beherrscher der halben Welt“ seitdem eigentlich geworden – die große Trauerfestlichkeit fiel in das Jahr 1824 – weiß bis jetzt wohl Niemand, gewiß aber ist, daß die einzelnen Kafferstämme sich wieder befreiten und zum Theil unter den alten holländischen Colonisten des Caplandes Zuflucht vor dem Scheusal Shaka suchten und fanden. Die Kaffern sind sehr verschiedener Gattung, selbst Race. Die Sulu’s, von denen lange Zeit Exemplare in London und Berlin zu sehen waren, scheinen Negerrace zu sein, während die meisten andern, schwarzbraunen Stämme mit ziemlich markirten, scharfen Gesichtszügen und langem Kopfe, aber mit vortretender Stirn mit den Berbern von Nord- und Mittelafrika verwandt zu sein scheinen, vor denen sie nach Süden flohen (im siebenten, achten und neunten Jahrhundert), um ihre Unabhängigkeit und Ungläubigkeit gegen den mit dem Schwerte gepredigten Glauben Muhamed’s zu bewahren.
Das geht uns hier weiter nichts an, sondern soll blos als Vordergrund und Erklärung der neuen holländischen oder Transvaal-Republik dienen, welche sich während der letzten zehn Jahre mitten zwischen feindlichen Kaffern und revolutionär gegen die englische Cap-Regierung gebildet hat, und neuerdings eine furchtbare That des Patriotismus und der Rache gegen einen ganzen Kafferstamm ausführte. Die holländischen Colonisten – boers genannt, d. h. Bauern, Ackerbautreibende im Gegensatz zu den Engländern – gewannen durch die Flüchtlinge aus dem Reiche des Shaka bedeutende Arbeitskräfte, und wurden so bald reich an Feldern und Ernten und Vieh und kräftig und trotzig gegen die pedantische und anmaßende, Steuern nehmende und trotz aller „Kaffernkriege“ keinen Schutz gewährende englische Colonialregierung. Sie zogen sich deshalb weiter nach dem Innern zurück in herrliche fruchtbare Terrassen, die mit Flüssen nach dem Meere herabsteigen und drei ganz verschiedene Klimate mit deren Produktion bilden, eine Wald- und Wiesenregion unten, ein höheres Tafelland für tropische Früchte und Produkte und eine sich in Berge verlierende Getreidegegend, so daß man, wie in verschiedenen Stockwerken Naturschätze aller Art von der Natur anhäufen lassen kann. Dies ist ein günstiger Boden für menschliche Thätigkeit und Kultur, der noch eine Zukunft haben mag, zumal da ziemlich viel Flüsse aus dem Lande in den Ocean hinabführen und sich auf diese Weise wohlfeile Umsatz- und Verkehrswege leicht schaffen lassen.
Bis jetzt ist freilich die Transvaal-Republik noch ein ziemlich beschränkter, unentwickelter Embryo, eine zerstreute Masse von etwa 150 Farms oder Ackerwirthschaften, die allerdings meist sehr groß und umfangreich sein sollen, und künftig vielleicht die große, grundbesitzende Aristokratie, in der sich leicht ein König entwickelt, bilden mögen. Jedes „Gut“ umfaßt mehrere Gebäude mit 30 bis 50 und sogar bis 200 Personen Gesinde und Tausenden von Schafen, Rindvieh und Pferden. Das Gesinde besteht größtentheils aus geflüchteten Kaffern und Hottentotten, die zum theil selbst Grundbesitz und ganz hübsche Häuser und Wirthschaften haben, so daß auch in dieser Beziehung sich Anknüpfungspunkte an unsere alte politische und sociale Entwickelung finden: Große Grundbesitzer als Herren, Arbeitgeber, Beschützer in Rechtsstreitigkeiten u. s. w., dafür eine Art Steuer, feudalistischer Besitzverhältnisse, Vasallen-Treue, Lehnspflicht, Schutzrecht u. s. w.
Unter einfachen, Ackerbau treibenden Verhältnissen, doppelt von gemeinsamen Feinden umgeben und daher zu Einheit, Brüderlichkeit und Freundschaft, Jeder in seinem eigenen Interesse, angewiesen, läßt sich eine eben so patriarchalische als freie Verfassung der Gesellschaft sehr gut bilden, entwickeln und halten. Leider scheint es Natur- und Menschengesetz zu sein, daß auf ausgedehnten Ländergebieten, mit kultivirten, industriellen, Handels-, Klassen- und Standesinteressen, in Luxus und mannigfachen Ansprüchen an das Leben, kurz in sogenannten großen, gebildeten Staatsverhältnissen die sogenannte Freiheit nur als Privatdelicatesse der Einzelnen sich halten lasse. Um große Volksmassen mit viel Stand und Stufe, mit complicirten, raffinirten Interessen des Gewinns und Vortheils gegen einander im Zaume zu halten, wird die Freiheit als politisches, als Gemeingut unmöglich, so daß der einzelne, freie und noble Mensch sich unter starke Regierungsmaßregeln, unter Polizei und Gewalt fügen muß, obgleich diese Institute für ihn lästig und überflüssig, und nur wegen der großen Masse gebildeten und ungebildeten Pöbels nothwendig sind.
Freiheit, wie sie in republikanischen Katechismen und revolutionären Placaten auftritt, hat sich bis jetzt noch nie praktisch bewährt und gefallen. Sie wäre blos möglich in einer ziemlich gleichmäßig gebildeten, gleichmäßig tugendhaften Gesellschaft mit gleichen Interessen. Wo trafen diese Bedingungen je zusammen?
Ein seltenes Zusammentreffen, daß dies gerade in der Transvaal-Republik der Fall ist. Die Einheit und Kraftentwickelung der großen Grundbesitzer bedarf keiner Erklärung. Es gilt im vollen Ernste ihr Leben und Eigenthum, dann auch ihre Ehre, ihren Trotz zu zeigen, daß sie des englischen Schutzes nicht bedürfen und sich selbst schützen können. Das Gesinde, bestehend aus geflüchteten Kaffern und friedlichen, civilisirten, arbeitsamen Hottentotten, hat dieselbe Stärke, dasselbe Pathos des Interesses an der Erhaltung des kleinen Freistaates und großen Dorfes. So fließt Alles in eine Kraft, ein Interesse, einen Patriotismus zusammen. Und nur so läßt sich die große, barbarische That, die uns neulich gemeldet ward, erklären.
Die angrenzenden Gebiete der Kaffern, die sich diebisch und räuberisch an den englischen und holländischen Kulturgrenzen herumtreiben, so daß die Cap-Colonie jetzt wieder einen Kaffernkrieg von dem versebastopolten Mutterlande verlangte, hatten im vorigen [425] Herbste einige Frauen und Kinder aus der Transvaal-Republik geraubt, sie zu Tode gemartert, gekocht und aufgefressen. Die zur Rettung Nacheilenden fanden noch Bruchstücke von den geraubten Frauen und Kindern in den Kochtöpfen der Kaffern, welche sich weiterer Verfolgung durch Flucht entzogen.
Die Scheußlichkeit dieses Verbrechens griff tief und gewaltig in das Herz der ganzen transvaalischen Gemeinde ein. Man beschloß, den ganzen Stamm dieser Kaffern zu vertilgen. General und, wie es scheint, Präsident Prätorius und der Commandant Potgieter organisirten in wenig Tagen die Expedition, an der alle Männer von 20 bis 50 Jahren freiwilligen Antheil nahmen, und nicht weniger als 116 große Lastwagen mit Proviant und Munition beluden. Das eigentliche Militär bestand aus 500 Freiwilligen außer denen, welche für Wagen und Ochsen zu sorgen hatten. Auch die Bewaffnung war freiwillig, und deshalb sehr individuell und malerisch schöner als die glänzendste Garde-Parade. Die ganze Artillerie bestand aus zwei Bürgerschützenkanonen. So zogen sie aus, um den ganzen schuldigen Kaffernstamm, der sich unter seinem Häuptling Makapan rühmte, ein ganzes Königreich zu sein, zu vertilgen. Das ganze Königreich hatte sich in eine von allen Seiten abgeschlossene schwarze Felsenhöhle von 2000 Fuß Länge und 300 bis 500 Breite zurückgezogen.
Diese Festung war uneinnehmbar. Man beschloß deshalb, alle Bewohner desselben verhungern zu lassen, und belagerte den einzigen Zugang zu der Höhle zu diesen Zwecke sechs Wochen lang. Während der Zeit schoß man jede Figur, die sich am Ausgange zeigte, ohne Weiteres nieder, im Ganzen 900 Personen, nur einmal ein paar Kinder mit ihrer Mutter nicht, die herausschwankten und sich an einer Quelle niederstürzten, um zu trinken. Nachdem sie getrunken, erhoben sie sich, fielen aber alle drei hintereinander todt nieder. Während der ganzen sechsten Woche war es stiller und stiller geworden in der entsetzlichen Höhle. Kein Schuß, kein Laut drang mehr hervor. So beschloß man am 17. November einzudringen, um das Werk gründlich zu vollenden. Aber sie wurden von einer Macht zurückgeschlagen, gegen welche jeder Grad von Tapferkeit zu Schanden ward, dem Geruche von mehr als 2000 Leichen. Die größere Hälfte des Stammes war vor Hunger und Durst und von dem Geruche der zuerst Verschmachteten umgekommen. Nachdem man sich überzeugt, daß keine einzige Seele des makapan’schen Stammes mehr leben könne, zogen die Helden wieder in ihre republikanische Heimath.
Die englische Times, welche besonders gegen das Verlangen eines neuen Kaffernkrieges eiferte, empfahl den englischen Colonisten dasselbe gründliche Verfahren. Die Kaffern müßten aus demselben Grunde ausgerottet werden, aus welchem man Heuschrecken, Wanzen, Flöhe und Wölfe im Interesse der allgemeinen Wohlfahrt vertilge.
Die Times in das allmächtige Organ des christlich-gebildeten Englands, das seine Missionäre auch unter die Kaffern gesandt hat, unter denen sie durch Familienbildung (die Missionäre selbst sind verheirathet und geben das Beispiel einer gebildeten Häuslichkeit und Wirthschaft) schon eine unzählige Reihe von niedlichen Dörfern und Häusern, vor welchen die braunen Frauen und Töchter der Kaffern nähen, stricken, waschen und sich nach Sonnenuntergang auf das Herrlichste amüsiren, aufgebaut und zu Stammkulturstätten erhoben haben. Die meisten Kaffernstämme sind von Natur sehr bildungsfähig, scharfsinnig, wißbegierig, geneigt zu den schönsten Tugenden der Großmuth, Gastfreundschaft, Versprechenstreue und Arbeitsamkeit. Hätten englische und holländische Politik von jeher auf diese Weise englische Missionsfamilien erobert, gäbe es keinen Feind der Kultur mehr unter den Kaffern. Die Meisten Eroberungen machten die Frauen der Missionäre, nicht diese selbst mit ihren Bibelsprüchen. Die Frauen zeigten den Frauen und Töchtern der Kaffern, wie man nähen, stricken, waschen, sich schöne Kleider machen, unter Dach und Fach Wirthschaft und Ordnung halten müsse, unterrichteten die Kinder in der Schule durch das Beispiel einer sanften Weiblichkeit, und sahen sich so bald von einer Kultur umgeben, die sie selbst in Erstaunen setzte, da sich später von selbst immer mehr Wilde herandrängten und sich anbauten und anfingen, als Menschen zu leben, von einer Kultur, welche den frühern blos mit Dogmatik und ohne Frauen belehrenden Missionären immer wieder unter den Händen verschwunden war. Hatten die Engländer nur immer ehrlich gegen die Kaffern gehandelt, ihre eigene Verträge gehalten und sich als anständige Menschen benommen, wäre die Eroberung des Kaffernlandes für die Kultur wohl schon vollendet. Aber sie haben diese Wilden verwildert, die Barbaren zu Raubthieren gemacht und die Milch ihrer einfachen Denkweise in gährend Drachengift verwandelt. Aus Rohmaterial läßt sich etwas machen, aus verdorbenem nicht.
So wird das Recept der Transvaal-Republik, von der Times allerchristlichst empfohlen, wohl weiter in Anwendung kommen. Die holländischen Republikaner hatten wenigstens ein unbezähmbar empörendes, Mark und Bein erschütterndes Verbrechen zu rächen, wodurch das Entsetzliche ihrer That etwas vom tragischen Charakter annimmt, aber die Engländer tödten und morden wesentlich für Schafzucht, Baumwolle und Schiffsladungen. Der Spruch über die Kaffern und Hottentotten ist längst gesprochen und dessen Exekution dringt unaufhaltsam vom Kap der guten Hoffnung weiter ins Land hinein. Die holländische Republik spielt darin eine zunehmend bedeutende Rolle, während eine andere afrikanische Republik, die schwarze Liberia, von der Westküste Freiheit und Humanität mit schwarzem Gesichte zu Ehren bringt, zu um so größerer Ehre, als die weißen Amerikaner in ihrem „hochgebildeten“ Negermißbrauch nach Verhunzung aller republikanische Tugend auch ihre republikanischen Institutionen mit jedem Tage mehr zum Falle bringen.
Treue Liebe.[1]
Das ist der Liebe schönstes Recht,
Daß sie verzeihet und vergißt;
Der liebt nicht treu, der liebt nicht echt,
Der diese Tiefe nicht ermißt.
Die der Geliebten Hand Dir schlug!
Von der Geliebten kommt sie her,
Das sei des Trostes Dir genug.
Und wenn sie gar nicht heilen will,
Daß nie ein Mensch errathen kann,
Selbst die Geliebte nicht, woran.
[426]
Die Homöopathie,
Die Homöopathie, von Samuel Hahnemann im Jahre 1790 entdeckt, ist eine angeblich nur auf Erfahrungen und Experimente gegründete, in Wirklichkeit aber durchaus unwissenschaftliche, daher auch vom Laien leicht zu erlernende Heilmethode, welche auf folgenden drei Sätzen fußt. 1) das Wesen der Krankheiten beruht in ihrer äußern Erscheinung (in ihren Symptomen); die Ursache dieser Symptome ist auf keine Weise erkennbar und man braucht sie zu ihrer Heilung auch gar nicht zu kennen. 2) jeder Krankheitsfall wird am schnellsten und sichersten durch dasjenige Arzneimittel geheilt, welches im gesunden Körper möglichst ähnliche Erscheinungen hervorbringt (d. i. das Aehnlichkeitsgesetz, similia similibus); 3) von den homöopathischen Heilmitteln ist immer nur ein einziges auf einmal und in sehr kleiner Gabe zu reichen. Eine Hauptregel dabei ist die, daß man dieses Mittel gehörig auswirken lassen muß, ehe eine zweite Gabe desselben Mittels oder ein anderes gegeben wird. – Diese Grundsätze sind nun alle drei grundfalsch und es ist deshalb die Homöopathie nichts als ein Gewebe von Unwahrheit, Täuschung und Unwissenheit.
Ehe wir die Grundsätze der homöopathischen Heilmethode, sowie ihren Gründer und ihre Anhänger beleuchten, möge allen Denen, welche bei dieser Heilmethode Krankheitserscheinungen bei Menschen oder Thieren verschwinden sahen, hiermit gesagt sein, daß der menschliche wie thierische Organismus von Natur so eingerichtet ist, daß Veränderungen in der Ernährung und Beschaffenheit der festen oder flüssigen Körperbestandtheile (d. s. die Krankheiten) solche Processe nach sich ziehen, durch welche jene Veränderungen entweder vollkommen, bald schneller bald langsamer gehoben werden (d. s. die Naturheilungsprocesse) oder welche wohl auch bleibende, mehr oder weniger beschwerliche Entartungen, ja selbst Absterben des erkrankten Theiles und des ganzen Körpers veranlassen. Stets sind es die Naturheilungsprocesse, welche die Heilung bei homöopathisch Behandelten bewirkten, niemals die homöopathischen Heilmittel, die gleich Nichts sind. Daß Schmerzen sehr oft plötzlich und ohne alle Hülfsmittel verschwinden, ist eine allbekannte Tatsache und beruht ebenfalls auf ganz natürlichen Gründen.
Man beobachte einmal, was ein eingestochener Splitter für Erscheinungen hervorruft. Zuvörderst bildet sich in seinem Umkreise eine Anhäufung von Bluth in den feinsten Aederchen (Entzündung mit Röthe, Hitze, Geschwulst und Schmerz) und sehr bald tritt aus diesem Blute eine Feuchtigkeit (Ausschwitzung, Exsudat) heraus, welche entweder durch Gerinnung fest wird oder sich zu Eiter umbildet. Der letztere kann dann durch Vereiterung der umliegenden Festtheile die Entfernung des Splitters veranlassen, während die Umwandlung des geronnenen Ausgeschwitzten zu narbig-fasrigem Gewebe die Einschließung (Isolirung, Abkapselung) und somit ein Unschädlichmachen des Splitters nach sich zieht. Wer diesen regelmäßig erfolgenden Proceß der innern homöopathischen Anwendung der Arnica zuschreiben wollte, müsste in das Irrenhaus gebracht werden. Ebenso kommen aber auch bei innern Krankheiten Naturheilungsprocesse zu Stande. – Würden die Anhänger der Homöopathie einige Male in Fällen, wo sie sonst homöopathische Mittel (bei Menschen und Thieren) einnehmen oder eingeben, dies nicht thun und nun auf den Effekt des Naturheilungsprocesses warten, sie würden sicherlich bald die Wahrheit der obigen Behauptung erkennen. Aber freilich die enthusiastischen Anhänger der Homöopathie wollen nicht hören, nicht sehen und durchaus nicht durch Versuche aufgeklärt werden.
Die neuere oder physiologische Medicin ist mit Hülfe der pathologischen Anatomie und physikalischen Diagnostik dahin gelangt, die Ursache der meisten Krankheitserscheinungen in bestimmten materiellen Veränderungen zu finden, und gleichzeitig auch zu wissen, daß sehr oft dieselben in regelwidrigen Empfindungen und in Funktionstörungen bestehenden Krankheitserscheinungen, wie sie den Homöopathen bekannt sind, den verschiedenartigsten Krankheiten zukommen. Deshalb glauben aber auch nur noch die Stockhomöopathen, welchen die Fortschritte der Wissenschaft unbekannt geblieben sind, an den von Hahnemann aufgestellten und als Grundlage für das Aehnlichkeitsgesetz dienenden Satz: „daß man als Arzt von der Krankheit nur die äußeren Erscheinungen, nicht aber die innere Ursache zu wissen brauche und wissen könne.“ Neuere, von der jetzigen Medizin oberflächlich beleckte Homöopathen, welche sogar die Kenntniß des gesunden und kranken menschlichen Körpers zum Heilen desselben nicht ganz verachten, ignoriren diesen Satz ganz oder sagen: Hahnemann habe zu seiner Zeit mit Aufstellung dieses Fundamentalsatzes ganz recht gehabt, allein für die Jetztzeit, wo die Wissenschaft doch bei vielen Krankheitserscheinungen die materielle Ursache ergründet habe, passe er nicht mehr. Damit haben diese Herren nun aber der Homöopathie den Kopf abgeschnitten und es läuft von dieser Unglücklichen nur noch der Rumpf (das Aehnlichkeitsgesetz) mit dem Schwanze (den homöopathischen Gaben der Arzneimittel), der aber auch schon tüchtig verschnitten ist, in der Welt umher. Diese abtrünnigen Junghahnemannianer (welche nicht selten auch gleichzeitig, nach Hahnemann, Bastard-Homöopathen sind, d. s. Streukügelchen-Allopathen, welche da wo die Natur allein wirken kann anstatt Mandelmilch ihre Streukügelchen geben, wo aber eine ärztliche Wirkung nöthig ist, allopathische Mittel in großer Gabe verordnen) gehen manchmal auf das Wesen der Krankheit (die materielle Veränderung) ein, oft auch wieder nicht und haben so einen Mischmasch von homöopatisch-allopathischer Pathologie (z. B. Cl. Müller’s Familienarzt) gegründet. Sie wollen den Kranken sogar physikalisch (durch Besehen, Befühlen, Beklopfen und Behorchen) untersucht wissen. Nun wäre dies zwar recht schön, aber es passen dazu ihre üblichen, auf das Aehnlichkeitsgesetz basirten Heilmittel nicht mehr und von solchen Mitteln, welche die den Krankheitserscheinungen zu Grunde liegenden materiellen Veränderungen hervorbrächten, wagen die Junghahnemannianer doch nicht als von ihnen erprobten zu schreiben. Es sollte den Herren aber auch schwer fallen, Jemandem weißzumachen, daß sie eine Lungenverdichtung oder Erweiterung, Anhäufungen von Flüssigkeiten im Herzbeutel, in der Brust- oder Bauchhöhle, Tuberkelknötchen u. s. f. bei einem Gesunden künstlich darzustellen vermögten. Da sie dies nun nicht können, so machen sie sich allopathische Krankengeschichten und Arzneistoffe homöopathisch zurecht und versuchen dies für einen wissenschaftlichen Fortschritt der Homöopathie zu erklären. Wer aber denken kann, muß einsehen, daß mit dem Wegfall des ersten homöopathischen Fundamentalsatzes die ganze Homöopathie fällt.
Aehnliches heilt Aehnliches ist der Grundsatz, welchem die Homöopathie ihren Namen verdankt (vom griechischen Worte homoios, ähnlich) und welche Hahnemann bei Prüfung der Chinarinde gefunden haben will. Diese Rinde soll nämlich eben so sicher, wie sie Wechselfieber heilt, auch bei Gesunden einen dem Wechselfieberanfalle ähnlichen Zustand erzeugen können. Ebenso sollen auch viele andere Arzneistoffe, selbst solche, welche von der Chemie als völlig indifferente, im menschliche Körper unlösliche und unwirksame erklärt werden, von Gesunden in größern Gaben genommen, einen Complex von Erscheinungen veranlassen können, welche bestimmten Krankheiten zukommen. – Dieses Aehnlichkeitsgesetz beruht nun aber ganz und gar auf Täuschung und Unwahrheit. Denn die fiebervertreibende Chinarinde erzeugt, wie viele Versuche dargethan haben, niemals den einem Wechselfieberanfall ähnlichen Zustand, ebensowenig wie die folgenden Mittel denen ähnliche Zustände erzeugen, wo sie empfohlen werden, wie Jod bei Kropf, Borax bei Schwämmchen, Chamille bei Mandelbräune, Spongia bei Croup, Belladonna bei Keuchhusten, Aconit bei Lungen- oder Herzentzündung, Eisen bei Bleichsucht, Bryonia bei Gelbsucht, Schwefel bei Hypochondrie und Hysterie, Lycopodium bei eiterigem Urin, Gold bei Hodengeschwulst, Graphit bei Wasserbruch u. s. w. Von der Unwahrheit dieses Gesetzes kann man sich sehr leicht durch Prüfungen der indifferenten, also ganz unschädlichen Mittel (wie Kohle, Graphit, Blattgold und Silber, Bärlapp, Silicea etc.) an Menschen, sowie bei Thieren überzeugen. Man fabricire doch einmal einem Pferde folgende krankheitsähnliche Zustände, wie durch Schwefel die Pörzelseuche oder Piephacke, durch Lycopodium die Brustwassersucht und Gallen, durch Sepia den Samenkoller oder eine Hufspalte u. s. f. – Eben weil das Aehnlichkeitsgesetz ganz und gar auf Unwahrheit beruht, sind die Homöopathen auch nicht [427] im Stande bestimmte, vorausbestellte, gewissen Krankheit ähnliche Zustände (wie z. B. Wechselfieber, Bleichsucht, Krätze u. s. w.) im gesunden menschlichen und thierischen Körper zu erzeugen, was doch allein nur eine positive Bestätigung des homöopathischen Aehnlichkeitsgesetzes wäre. Ihre ganze Kunst besteht nur darin, durch wirksame oder giftige Arzneistoffe vereinzelte, lange vor Hahnemann bekannte Erscheinungen und Vergiftungssymptome hervorzurufen, welche allerdings dieser oder jener Krankheit, oft aber auch mehreren verschiedenen Leiden zukommen. Dies wollten denn auch die drei leipziger Bastard-Homöopathen DD. Cl. Müller, Meyer und Haubold mit dem Verf. in wochenlanger strenger Clausur und ins Blaue hinein (zuvörderst mit Belladonna, Veratrum album, Cantharis, Glonoin, Mercur. solub.) vornehmen und zwar ohne irgend welche genauere Bestimmung. Sie standen aber davon ab und wollten mit dem Verf. nichts mehr zu thun haben, als dieser auf Niedersetzung einer unparteiischen Commission und einer wissenschaftlicheren Versuchsmethode drang.
Die höchst unwissenschaftlichen Prüfungen der Arzneistoffe von Seiten der Homöopathen an Gesunden von der verschiedensten geistigen, gemüthlichen, körperlichen und geschlechtlichen Constitution haben die homöopathische Arzneimittellehre zu einem Convolut der lächerlichsten, sich gegenseitig widersprechenden Behauptungen und des dem gesunden Menschenverstande geradezu Hohn sprechenden Unsinns gemacht. Denn welcher nur einigermaßen verständige Mensch wird z. B. glauben, daß es Arzneimittel gibt, welche vorzugsweise auf die rechte und andere, welche auf die linke Körperhälfte wirken; daß für jeden einzelnen Zahn und jeden besondern Schmerz in demselben bestimmte Heilmittel existiren; daß gegen jede besondere irrige Vorstellung, gegen jeden absonderlichen Appetit nach gewissen Stoffen, gegen die verschiedenen Träume, gegen jeden verschieden gefärbten Zungenbeleg und Urin andere Mittel vorhanden sind; daß beim Ausfallen der Haare nach den verschiedenen Körperstellen (ob am Scheitel-, Vorder- oder Hinterhaupte, an den Schläfen, im Schnauz- oder Backenbarte) verschiedene Heilmittel zu wählen sind; daß Schweiße nach ihrem verschiedenen Geruche und verschiedenen Sitze verschieden zu behandeln sind; daß Selbstmordsucht anders kurirt werden muß, wenn sich Einer erschießen, erhängen oder ersäufen will; daß Gemüthsbewegungen verschiedene Mittel verlangen, je nachdem sie aus Angst, Schreck, Furcht, Eifersucht, Liebe u. s. f. hervorgehen; daß bei Heilung der Furcht danach verschieden zu verfahren ist, ob sie vor Ansteckung, Aufgefressenwerden, Cholera, Gespenstern, Hunden, Dieben, Dunkelheit u. s. w. stattfindet; daß man unglückliche Liebe, Heimweh, Muttermäler, Sommersprossen und Warzen, Läusesucht und Gebärmuttervorfälle, Fluchen und Schimpfen, Gedächtnißschwäche und Ungeschicklichkeit, Arbeitsscheu und Feigheit u. s. w. durch innere Arzneimittel heben kann. – Welcher denkende Mensch wird nicht Argwohn gegen eine Heilmethode fassen müssen, welche im Besitze von Mitteln zu sein wähnt, von denen die meisten gegen hundert, viele aber mehrere Hunderte und einige sogar bis tausend Erscheinungen zu erzeugen und zu heben im Stande sind; von denen viele gerade die entgegengesetztesten Zustände hervorzurufen vermögen (z. B. Graphit langwierige Hartleibigkeit und stete Weichleibigkeit; Silber Widerwillen gegen alle Speisen und starken Appetit selbst bei vollem Magen, Chamille Widerwillen gegen und heftigen Appetit nach Kaffee); deren Wirkungen auf Menschen und die verschiedenen Haussäugethiere so verschieden und eigenthümlich sind, daß man unwillkürlich darüber lachen muß (s. unten die Wirkung des Schwefels); von denen sehr viele in den größten Gaben von der Chemie als ganz indifferent für unsern Körper nachgewiesen werden (wie Kohle, Graphit, Gold, Silber, Bärlapp, Kiesel- und Alaunerde, Spongia und Sepia u. s. f.) und welche in homöopathischer Verdünnung doch große Dinge thun sollen. – Wem sollten die Augen über die Homöopathie nicht aufgehen, wenn er hört, daß gegen jedes Leiden, selbst gegen die unheilbarsten und sogar gegen chirurgische Uebel eine Menge von erprobten Heilmitteln empfohlen werden. So sollen (nach Jahr) bei Abortus 28, bei Krampfadern 23, bei Finnenausschlag 31, bei Aneurysmen 17, bei Balggeschwüren 8, bei Bleichsucht 32, bei eingeklemmten Brüchen 8, bei Brustwassersucht 18, bei Geistes- und Gedächtnißschwäche 16, bei Geistesverwirrung 42, bei schiefem Halse 7, bei Krebs 22, bei unglücklicher Liebe 8, bei Muttermälern 23 Mittel Heilung bewirken u. s. f. – Wer ist wohl so leichtgläubig, um die Prüfungen mit Mitteln, welche von den Homöopathen gegen die lebensgefährlichsten Zustände, wie Schlagfluß, Herzentzündung, Croup, Scheintod und Starrkrampf der Neugebornen, Kindbettfieber und Convulsionen der Wöchnerinnen, halbseitige Lähmungen u. s. f., empfohlen werden, für wahr zu halten. Versucher der Art müßten ja als Mörder dem Criminalgerichte anheimfallen. Doch hat man noch niemals sich aufopfernde Homöopathen infolge ihrer Arzneimittelprüfungen hinsiechen sehen, auch Hahnemann selbst war stets gesund und erreichte ein sehr hohes Alter. – Zur Bestätigung des Gesagten mögen noch folgende, der reinen Arzneimittellehre und den neuesten homöopathischen Werken entnommenen Thatsachen dienen:
Die Chamille, welche nach Hahnemann 448 Symptome hervorruft, erzeugt in großer Gabe und hebt in decillionfacher Verdünnung: freudenlose Stumpfsinnigkeit mit Schläfrigkeit; heftigen Appetit auf rohes Sauerkraut; zänkisch-ärgerliche Träume; Knacken und Knarren in der linken Hirnhälfte; Nichtaufhören, über alte ärgerliche Sachen zu reden; unerträgliches Bauchweh früh bei Sonnenaufgang; öfteres Versprechen; Gewissensscrupel über Alles; Bewegungen zu blinden Hämorrhoiden[WS 2]. – Helleborus hilft, wenn sich Einer unschicklich kleidet, wehmüthig beim Anblicke eines Unglücklichen wird, Heimweh und Verzweiflung am Leben hat. – Ipecacuanha erregt und heilt: mürrisches Wesen, was Alles verachtet und will, daß auch Andere nichts achten und schätzen sollen; Aufgelegtsein zum Bösewerden; Unbehülflichkeit und Ungeschicklichkeit, wenn man an Alles stößt. – Stechapfel (mit 463 Symptomen) ist empfohlen: wenn Einer zu sterben und den Abend nicht zu erleben glaubt, sich freut zu sterben und Anordnungen zu seinem Begräbniß macht; bei Dummlichkeit im Kopfe und Unzüchtigkeit.
Die Homöopathie besitzt innere Mittel gegen Scheintod, aber verschiedene Mittel bei Erfrorenen, Erhängten, Erstickten, Erschlagenen und Ertrunkenen; – gegen starke Appetite, aber verschieden nach dem Gelüste, wie nach Bier, Branntwein, Austern, Gurken, Sauerkraut, Heringen, Kaffee[WS 3], Obst, Kalk, Kreide, Erde u. s. f.; – gegen die verschiedenartigsten Träume (angenehme, ängstliche, ärgerliche, ekelhafte, lebhafte, kopfanstrengende, von Tagesbegebenheiten, Dieben, Räubern, Gespenstern, Teufeln, Leichen, Begräbniß, Unglück, Krankheiten, Schlägerei, Mord, Schlangen, Ratten, Ungeziefer, Wasser, Feuer, mit Aechzen, Aufschrecken, Schreien, Sprechen, Schnarchen, Weinen, Kauen, Gesichtsverzerrungen, mit angezogenen, ausgestreckten oder gespreizten Beinen, über den Kopf geschlagenen Armen, auf der rechten oder linken Seite liegend u. s. f.); – gegen irrige Vorstellungen, und zwar gegen jede besondere ein anderes Mittel, z. B.: als sollte Einer gebraten werden, als sei er braungefleckt, als sei die Nase durchsichtig, als sei der Geist vom Körper los, als sei man ein Harlekin, auf einer Hochzeit, als sei das Scrotum geschwollen, als wären die Menschen Schweine, als müsse man nackt gehen, Andere bei der Nase fassen, auf einem Ochsen reiten u. s. f.
Ganz erstaunenswerth sind nun aber die verschiedenen Wirkungen eines und desselben Arzneimittels bei dem Menschen und bei den Thieren. So erzeugt und heilt z. B. der Schwefel beim Menschen: Scheu vor dem Waschen, Melancholie mit Zweifel am Seelenheile, große Neigung zu philosophischer und religiöser Schwärmerei, Würmerbeseigen, nächtliches Bettpissen und viel Neidnägel; beim Pferde den Dummkoller, Rattenschwanz, die Pörzelseuche und Piephacke, die Läusesucht und Hufspalte; beim Rinde: die Dreh- und Egelkrankheit, die Klauenspaltentzündung, die Absonderung von zäher, bitterer, dünner und wässeriger Milch, den Durchfall der Saugkälber und Sterzwurm; beim Schafe: Gesichtsgrind, Lungenwürmerseuche und Maulschwämmchen der Lämmer; beim Schweine: die Räude, den Ferkelausschlag und die Borstenfäule.
Aurum, Gold, erzeugt und heil nach Jahr: Zerschlagenheitsschmerzen (besonders in den Gliedern und früh im Bette); lähmige Schmerzen und lähmiges Reißen; Ameisenlaufen hier und da; unruhigen Schlaf mit ängstlichen Träumen; weinerliche, religiöse Melancholie; Sehnsucht nach dem Tode und Selbstmordsucht; Zanksucht, Groll und jähzorniges Auffahren beim geringsten Widerspruche; dunkle, braunrothe Flecke auf der Nase und geschwürige, rissige, schorfige Löcher mit Geschwulst der Nase; Neigung vorhandener Brüche zum Austreten; Schüttern des Herzens, als wäre es los. – Nach Hahnemann erzeugt und hebt das Gold: geschärftes Denkvermögen, treues Gedächtniß, Jucken zwischen Daumen und Zeigefinger, Wohlbehagen und Lustigkeit, den Glauben der Liebe Anderer verlustig zu sein und dies kränkt bis zu Thränen.
Holzkohle (welche nach genauen Untersuchungen selbst in sehr großer Quantität keine andere Wirkung auf den Körper hat, als daß sie den Stuhl schwarz färbt), soll (nach Jahr) erzeugen und heilen: Schmerzen mit Angst und verzweifelter Hoffnungslosigkeit; Kopfschmerz und Katzenjammer nach Schwelgerei; rheumatisches Ziehen und Reißen mit Blähungsbeschwerden und Athemversetzen; brennende Schmerzen (besonders in den Gliedern und Knochen); Anfälle jählinger Schwäche bis zur Ohnmacht und Lähmung; zittrige Angegriffenheit und Erschöpfung; große Tagesschläfrigkeit; feinkörnige, frieselartige Ausschläge; viel Frostigkeit und Kälte; große Neigung zum Schweiß; weinerliche Verzweiflung, bis zum Erschießen; Furcht vor Gespenstern; rothe grindige Nase; finnige Blüthen im Gesichte; große Qual von Blähungen; viel Schleimabgang aus dem Mastdarm, bei und außer dem Stuhle; viel geile Gedanken; öftere Heiserkeit, besonders früh und Abends; Husten von der geringsten Erkältung; viel Schleimauswurf durch Husten. – Nach Cl. Müller hilft sie in der dritten Verreibung: bei Kopfschmerzen und Katzenjammer nach Schwelgereien, bei Flimmern vor den Augen, bei Trockenheit des Gehörganges oder völligem Mangel an Ohrenschmalz, bei Grindern an der Nasenspitze, bei rother Nase, bei Nasenbluten, Mundfäule, salzigem Geschmacke, braunem Zungenbelege, unbiegsamer harter Zunge, bei schmerzhaftem geschwollenen Zahnfleische in Folge von Sauen an den Zähnen, bei Zahnweh zur Zeit der Regel, bei hartnäckiger Heiserkeit und Rauheit der Stimme, besonders früh und Abends, bei Krampfhusten, der durch Sprechen und schlechte Witterung schlimmer [428] wird, oder auch bei Husten mit grünlichem, übelriechendem, garstigem Auswurf und Kitzeln und Brennen im Kehlkopf, bei Kolik nach Magenverderbniß, faulig riechendem Stuhle, bei versetzten und sehr stinkenden Blähungen, bei Schleimabgang aus dem After, bei unwillkürlichem Harnabgang des Nachts im Schlafe (Bettpissen), bei Blutharnen, bei chronischen Hautkrankheiten (Flechten), bei Jucken an den Geschlechtstheilen, bei heftig brennenden und brandigen Geschwüren, die leicht bluten und sehr übel riechen, bei Drüsenverhärtung in der Leistengegend etc. –
Graphit (welcher in großer Menge ganz unverändert wieder fortgeht) soll nach Jahr erzeugen und heilen: Klammschmerzen mit röthlicher Geschwulst, Härt und Empfindlichkeit der Theile; Strammen wie von Muskelverkürzung und Krummziehen einzelner Glieder; leich Einschlafen der Glieder; sehr leichte Verkältlichkeit; Blutwallungen; allgemeine Angegriffenheit mit Stöhnen oder zittrigem Wesen; Balggeschwülste; Gichtknoten; Frostblasen und viele andere Hautbeschwerden; schwärmerischen, unerquicklichen Nachtschlaf mit Schlaflosigkeit wegen Zudranges vieler sorgenvoller Gedanken; verkrüppelte Nägel; große Neigung zum Gram bis zur Verzweiflung; Grauwerden der Haare; Ausschlag hinter den Ohren; halbseitige Lähmung und Verzerrung der Gesichtsmuskeln; geschwürige Ausschläge um Mund und Kinn; fauler urinartiger Mundgeruch; viel Qual von Blähungen; übermäßiger Abgang stinkender Winde; langwierige Hartleibigkeit oder stete Weichleibigkeit; unreine Gesangstimme; starker stinkender Fußschweiß. – Cl. Müller empfiehlt den Graphit in der dritten Verreibung: bei verhärteten Gerstenkörnern, übermäßigem Thränen der Augen, bei Augenschwäche, wo die Buchstaben zusammenfließen, bei Klopfen, Klingen, Brausen, Rollen, Knacken, Knallen, Fappen oder Platzen im Ohr und hinter demselben, bei Schwerhörigkeit, die im Fahren besser wird, bei leicht abgehenden Blähungen, bei röthlichem Bodensatz im Urin, bei Wasserbruch, bei der Rose, bei krustigem, fressendem Ausschlage mit feuchtenden, wunden Hautstellen, bei Flechten etc.
Hahnemann behauptete, daß eine Arzneigabe kaum je so klein sein könne, daß sie nicht die ihr homöopathisch entsprechende Krankheit bessern und heilen könne. Er verdünnte deshalb die Mittel sogar decillion- und vigintillionmal. Von den jetzigen Homöopathen sagen Einige, daß eine solche allzuweit getriebene Kleinheit der Dosen homöopathischer Heilmittel mit dem Wesen der Homöopathie selbst nicht zu schaffen habe, sondern nur Sache der Vorliebe, der individuellen Anschauungsweise oder auch der Erfahrung einzelner Homöopathen sei. Andere halten dagegen noch fest an den Hahnemann’schen Gaben (an der dreißigsten Verdünnung), ja manche wollen die Verdünnung bis zum 1500- und 1600fachen gebracht wissen (die Anhänger der Hochpotenzen). Auf diese Meinungsverschiedenheit unter den Homöopathen über die Arzneigabe kommt übrigens gar nichts an, da die 3te Verdünnung gerade wie die 30ste wirkt, d. h. wie Nichts. Wenn man Wirkungen nach dem Einnehmen homöopathischer Arzneigaben bemerkt, rühren dieselben, wie oben gesagt wurde, allemal nur von natürlichen, im Körper gesetzlich wirkenden Processen her, auch wenn dies die fanatisirten blinden Anhänger der Homöopathie nicht glauben wollen. – Der Curiosität wegen ist dann noch zu erwähnen, daß Hr. Dr. Lutze in Cöthen (welcher zum Wohle der Menschheit für 21/2 Thlr. homöopathische Hausapotheken verkauft, die bei ziemlich häufigem Gebrauche doch recht gut zehn Jahre ausreichen), seine decillionfach verdünnten Arzneistoffe mit nur ihm eigenthümlichem, besonders kräftigen Lebens-Magnetismus versetzt, während Dr. Hering in Philadelphia in den Hochpotenzen eine neue Kraft, die er Hahnemannismus taufte, versteckt glaubt. Die von Lutze magnetisirten Arzneistoffe heilen jede Krankheit, und wird ein Patient dadurch wirklich nicht gesund, dann ist Dr. Lutze, wie er selbst sagt, entweder schwach an Glauben und Willen gewesen oder er hat empfunden, daß er in diesem Falle nicht helfen durfte (es ist ihm dabei, als würde ihm dies auf unsichtbarem Wege zugeflüstert). Doch kann die Schuld auch am Patienten liegen, und dieser hatte entweder dem Arzte nicht Alles gesagt, was an seinem Körper unregelmäßig ist, oder er hatte die vorgeschriebene Diät nicht streng gehalten, oder er hatte nicht Geduld, die Kur völlig auszubrauchen (denn Hochpotenzen wirken Jahre lang). – Was die Wiederholung der Gabe desselben oder eines andern homöopathischen Mittels betrifft, so sind die Ansichten hierüber unter den Homöopathen so getheilt, daß nicht nur Differenzen von Stunden und Tagen, sondern sogar von Monaten bestehen. Es kommt übrigens darauf, ob ein homöopathisches Mittel alle Stunden oder alle Jahre gereicht wird, ebensowenig wie auf die 3te oder 300ste Potenz dieses Mittels etwas an; es ist ja doch gleich Nichts.
Von den homöopathischen Verdünnungen macht sich der Laie gewöhnlich gar keine Vorstellung, er hat fast nie überdacht und noch weniger berechnet, was eigentlich Quintilliontel oder Decilliontel sind. Man beachte deshalb Folgendes: Hahnemann machte 30 Abstufungen der Verdünnung seiner homöopathischen Mittel, indem er 30 Fläschchen jedes mit 100 Tropfen (etwa ein Quentchen) Wasser (oder Spiritus) füllte, sodann in das erste Fläschchen einen Tropfen eines Arzneistoffes (Urtinktur) fallen ließ und durch Schütteln sorgfältig vermischte. Hiervon setzte er dann einen Tropfen dem Wasser im zweiten Fläschchen zu und mischte ihn wohl damit; hierauf nahm er wieder von dieser Mischung einen Tropfen und brachte ihn in das dritte Fläschchen, aus diesem einen in das vierte u. s. f. bis zum 30sten. So entstehen 30 Verdünnungen, welche alle zusammen nur einen einzigen, sehr ungleich vertheilten Trophen Medicin enthalten, wovon im ersten Fläschchen jeder Tropfen der Mischung 1/100, im 30sten ein Decilliontel enthält. Um sich nun von der Größe dieser Verdünnungen einen deutlichen Begriff machen zu können, muß man sich die Quantität des Wassers und die Größe des Wasserbehälters denken, der den einen Tropfen Medicin aufnehmen muß, welcher bis zum Decillionfachen verdünnt werden soll. Genaue mathematische Berechnungen haben ergeben: die erste oder 100fache Verdünnung besteht aus 50 Gran Wasser; – die 2te oder 10,000fache aus 101/2 Unzen; die 3te oder millionfache (I.) aus 651/2 Pfund; die 4te oder 100millionenfache aus 651/2 Centnern; – die 5te oder 10,000millionenfache aus 6550 Centnern (55 kubischen Klaftern); – die 6te oder billionfache (II.) aus 655,000 Centnern (5500 kub. Klaftern); – die 7te oder 100billionfache aus 6,550,000 Centnern (550,000 kub. Klaftern); – die 8te oder 10,000billionfache aus 55 Million Kub.-Klaftern (ein See von einer Quadratmeile und 31/2 Klafter tief); – die 9te oder trillionfache (III.) aus 1/12 einer Kubikmeile (ein See von 16 Quadratmeilen und 20 Klafter Tiefe); – die 12te oder quadrillionfache (IV.) aus 83,300 Kubikmeilen (die Gewasser des atlantischen Meeres bis zum Aequator); – die 15te oder quintillionfache aus 83,300 Millionen Kubikmeilen (so viel Flüssigkeit als 33 Erdbälle fassen können); – die 18te oder sextillionfache aus 24 Sonnen voll Wasser; – die 21ste oder sextillionfache aus 24 Millionen Sonnen voll (die Hälfte der Milchstraße); – die 24ste oder octillionfache aus 100 Mal soviel Wasser, als die gesammte körperliche Schöpfung Raum einnimmt; – die 27ste oder nonillionfache aus 100millionmal mehr Wasser, als die Weltkörper der gesammten Schöpfung fassen würden; – die 30ste oder decillionfache aus so viel Flüssigkeit, als 24 Quadrillionen Sonnen oder 33 Quintillionen Erdkugeln Raum einnehmen müßten und durch welche Wasserkugel ein Lichtstrahl (welcher doch in einer Secunde 41,000 Meilen zurücklegt und von der Sonne zu uns in 8 Minuten 7 Secunden gelangt) 28 Jahre brauchen würde, ums sie zu durchdringen.
Einige Junghahnemannianer weichen von der Hahnemann’schen Verdünnungsmethode insofern ab, als sie nicht 1 Tropfen mit 100 Tropfen Wasser oder Spiritus mischen, sondern 10 Tropfen mit 90 Tropfen der Verdünnungsflüssigkeit, dann aus dieser ersten Verdünnung, um die zweite zu bilden, 10 Tropfen zu 90 Tropfen Flüssigkeit setzen u. s. f. Hier entspricht die 1ste Hahnemann’sche Verdünnung der 2ten Decimalpotenz, die 2te Hahnem. der 4ten Dec.-Pot., die 3te Hahnem. der 6then Dec.-Pot. u. s. f. Um die Menge des Arzneistoffes zu wissen, braucht man hier nur die der Potenzzahl gleichkommende Anzahl Nullen dieser anzuhängen, z. B. 1 Pot. = 1/10, 2. Pot. = 1/100, 3. Pot. = 1/3000, 6. Pot. = 1/6000000 u. s. f.
Daß bei der homöopathischen Heilmethode sowie bei jeder andern Heilkünstelei Kranke gesund werden, ist früher schon erklärt worden, und ganz natürlich, da dies den meisten Krankheiten infolge der Einrichtung unsers Körpers ganz von selbst geschieht, ja sogar nicht selten trotz unzweckmäßiger Diät und Behandlung. Wo man also der Natur die Heilung einer Krankheit allein überlassen kann, da wird eine homöopathische Behandlung sicherlich nichts schaden, denn ihre Streukügelchen aus Milchzucker und Tropfenverdünnungen sind gerade so viel werth wie die Mandelmilch, Gummimixtur etc. des Allopathen, d. h. sie sind gleich nichts. – Ganz anders verhält sich aber die Sache bei Krankheitsfällen, wo der Arzt wirksam einzugreifen gezwungen ist. In solchen Fällen, und deren giebt es genug, steht der Homöopath mit seinem Nichts hülflos da (wenn er nämlich ein ächter und nicht ein Bastard-Homöopath ist) und kann durch Unterlassung sehr viel schaden, ja sogar tödten. Möchten sich deshalb die Leser durch einige Fälle überzeugen lassen.
a) In Krankheitsfällen, wo sich flüssige oder gerinnende Ausscheidungen aus dem Blute in den Luftwegen anhäufen (wie bei Croup, Lungenentzündungen, Lungenödem[WS 4]), kann sehr oft nur durch Brechen der Erstickungstod verhindert werden. Das Brechen ist nun aber sehr oft blos durch Brechmittel zu erzeugen, und solche besitzt der Homöopath nicht, weshalb derselbe in allen den genannten Fällen, besonders bei Kinderkrankheiten, ein sehr gefährlicher Nicht-Arzt ist.
b) Sehr hochgesteigerte Herzthätigkeit, zumal bei organischen Herzleiden, kann lebensgefährliche Zustände herbeiführen, und deshalb ist eine Minderung dieser Thätigkeit öfters ganz unentbehrlich. Der Homöopath ist nicht im Stande, durch seine Nichtse eine solche zu bewirken.
c) Wechselfieberanfälle, wenn sie nicht sobald als möglich unterdrückt werden, ziehen hartnäckige und oft bleibende Vergrößerung [429] der Milz, nicht selten auch der Leber nach sich, und bedingen dadurch Blutverderbniß und Wassersucht. Daß die Homöopathie diese Anfälle mit ihren homöopathischen Gaben Chinins nicht zu unterdrücken vermag, lehrt die Thatsache, daß die Homöopathen (trotz Arseniks, Ipecacuanha, Pulsatilla, Veratrum, Ignatia, Eisen, China, Kochsalz, Capsicum neben der China) gewöhnlich ebenfalls noch zu großen Chiningaben greifen müssen, oder daß so sehr oft wassersüchtige Wechselfieberkranke mit geschwollenen Beinen aus den Händen homöopathischer Aerzte in die allopathischer übergehen. – Solchen Kranken würde ich den Rath geben, Schädenansprüche an ihren homöopathischen Arzt zu machen, denn er hat sie ohne Noth auf längere Zeit arbeitsunfähig gemacht.
d) Bei Syphilis und derartigen Uebeln kann der Homöopath durch sein Nichtsthun das ganze spätere Leben des Kranken zur Höllenqual machen und großes Familienunglück anrichten.
e) Der Homöopath schadet der Gesundheit in allen den Fällen, wo er bei Krankheitszuständen statt äußerer und chirurgischer Hülfe seine Mittel zum innern Gebrauche verordnet, wie: bei gewissen Hautkrankheiten, Augenleiden, Ohrübeln, Kehlkopfsaffectionen, Brustdrüsenkrankheiten, Brüchen, Harnbeschwerden, Genitalienleiden etc.
f) Der Homöopath erschwert vielen Patienten ganz unnützerweise ihr Kranksein dadurch, daß er sehr beschwerliche Symptome (z. B. Schmerzen, Schlaflosigkeit) durch seine Mittel auf einige Zeit weder zu lindern noch zu heben vermag, wie der Allopath es thut. Denn daß bisweilen Kopf- und Zahnschmerzen bei nervösen, hysterischen Personen nach homöopathischen Mitteln weichen, gleicht dem Aufhören der Zahnschmerzen schon auf der Treppe des Zahnarztes; auch schweigen nicht selten die heftigsten Schmerzen aus natürlichen Gründen endlich ganz von selbst. – Es ist oft sehr traurig, ansehen zu müssen, wie sich Kranke mit schmerzhaften Leiden in homöopathischer Behandlung fast zu Tode quälen. Deshalb springen in der Regel aber auch die fanatischsten Anhänger der Homöopathie von dieser ab, sobald sie von chronischen schmerzhaften Uebeln heimgesucht werden, und das ist es, was die Todtenliste der Homöopathen kleiner macht.
Hiernach wäre ein homöopathischer Arzt, weil[WS 5] er der Natur im kranken Körper freien Lauf läßt – denn seine[WS 6] Arzneien sind ja gleich nichts – einem alten mittelsüchtigen Allopathen allerdings vorzuziehen, niemals aber einem Jünger der physiologischen Medicin, welcher durch passende Diät (von welcher die Homöopathen ihren Speisezetteln nach noch sehr kindische Ansichten haben) und durch die am richtigen Zeitpunkte richtig gewählte Arzneistoffe die Naturheilungsprocesse unterstützt. – Wem seine Gesundheit und sein Leben lieb ist, der hüte sich deshalb vor der Homöopathie.
Hahnemann – welcher, wie die Homöopathen schreiben: „getrost an die Seite anderer großer Reformatoren zu stellen ist, denn seine Liebe zur Menschheit reiht ihn zu Lessing, seine Verstandesschärfe stellt ihn zu Kant, sein Thatensinn zu Baco von Verulam, und der Eifer und die Kraft, mit der er die Satzungen einer medicinischen Hierarchie stürzte, zu Luther“; – er bekam nach der Erzählung seiner Anhänger, nachdem er mehrere Jahre prakticirt hatte, Ekel an der praktischen Medicin, deren Ausübung bei ihrem damaligen Zustande ihm sein Gewissen verbot, und widmete sich so lange unter Noth und Mühsal der Pharmacie und Chemie, bis er bei Prüfung der Chinarinde sein geniales Heilprincip entdeckte, welches er selbst als auf die unumstößlichste Wahrheit gegründet bezeichnet.
Ganz anders klingt die nach unleugbaren Thatsachen von seinen Zeitgenossen erzählte Lebensgeschichte Hahnemann’s. Nach diesen mußte sich H. aus Mangel an Patienten von der praktischen Medicin zum Uebersetzen medicinischer Werke zurück- und in den verschiedensten Flecken und Städten herumziehen; seine chemische Thätigkeit benutzte er aber hauptsächlich zum Geldmachen. So verkaufte er z. B. ein angeblich von ihm entdecktes neues Laugensalz unter dem Namen Alkali Pneum, die Unze für einen Friedrichsd’or (bei Hilscher in Leipzig), welches sich aber durch Hermbstädt’s, Klaproth’s und Karsten’s Untersuchung (der H. auch niemals widersprach) als gemeiner Borax herausstellte, von dem die Unze ein paar Groschen kostet. – Trotz der Aufdeckung dieses Schwindels ließ sich H. doch sehr bald einen zweiten, ähnlichen zu schulden kommen, indem er ein untrügliches Vorbauungsmittel gegen Scharlach, ebenfalls für einen Friedrichsd’or, verkaufte, welches nichts Anderes als ein ganz werth- und wirkungsloses Belladonnapülverchen war. – Ebenso zeigte H. auch durch sein Gebahren im ärztlichen Leben, daß es bei ihm hauptsächlich auf Geldmacherei abgesehen war. Denn nicht nur, daß er sich stets das Honorar für Behandlung von Krankheiten vorausbedungen hat, er ließ sich dasselbe auch, wenigstens zur Hälfte, vorausbezahlen. Er ließ sich ferner bei äußern Krankheiten, welche, wie ihm recht wohlbekannt war, nur durch chirurgische Hülfe gehoben oder erleichtert werden konnten (z. B. Bruchschäden durch Bruchbänder), fortwährend seine Pülverchen für schweres Geld, selbst von armen Leute, abkaufen. – Auch H.’s eigene Worte werfen das gehörige Licht auf seinen geldgierigen Charakter; denn er schreibt in der Bevorwortung zu seinen chronischen Krankheiten: „Wüßte ich nicht, zu welcher Absicht ich hier auf Erden war, – selbst möglichst gut zu werden und umher besser zu machen, was nur in meinen Kräften stand, – ich müßte mich für sehr weltunklug halten, eine Kunst vor meinem Tode zum gemeinen Besten hinzugeben, in deren Besitz ich allein war, und welche daher bei ihrer Verheimlichung mir fort und fort möglichst einträglich zu machen bei mir stand.“ Blickt durch diese Worte mit christlich-frommer Heuchelei nicht der Charlatan hindurch, der mit Arcanen zu wuchern gewohnt ist? Welcher edle Mensch und Arzt denkt wohl an Verheimlichung einer heilsamen Curmethode um des Erwerbs willen?
Wie in Geldangelegenheiten, so ließ sich H. auch in wissenschaftlicher Hinsicht eine Menge offenbarer Schwindeleien zu schulden kommen. So ersann und verunstaltete derselbe absichtlich Citate, wie nachgewiesen ist, als er nach Beweisstellen in alten medicinischen Schriftstellern (Hippokrates, Boerhave, Sydenham, de Haen etc.) herumsuchte, die für die ewige Wahrheit des homöopathischen Princips zeugen sollten. – Er erdichtete ferner die Wirkung der Chinarinde, auf deren fiebermachende Kraft sich doch die ganze Homöopathie gründet. Denn niemals sind bisjetzt bei öfters wiederholten (früher auch unter der Aufsicht des Hrn. Hofrath Jörg angestellten) Versuchen mit der China die von H. angegebenen, einem Wechselfieberanfalle ähnlichen Erscheinungen eingetreten, und auch die jetzigen Homöopathen sind nicht im Stande, dieselben zu erzeugen. Dasselbe ist der Fall mit den meisten übrigen, von H. angeblich geprüften Arzneistoffen. Ueberhaupt ist die ganze Arzneimittellehre H.’s ein Mischmasch von Erdichtungen und Widersprüchen, in welchem, wahrscheinlich mit Fleiß, um die Controle zu erschweren, alle nähern Bestimmungen fehlen. Man erfährt z. B. nicht, von welchem Alter und welcher Körperbeschaffenheit Derjenige war, welcher das Mittel einnahm, in welcher Gabe und Form dasselbe gegeben wurde, wie oft und in welchen Intervallen es wiederholt wurde. Man erfährt daher auch nichts von der Entwickelung, Dauer, dem Verlaufe und Ausgange der ganzen Arzneikrankheit. Man traut seinen Sinnen nicht, wenn man liest, welche Wirkungen jedes, auch das indifferenteste Mittel in allen Organen des Körpers, vom Scheitel bis zur Zehe, hervorbringt, wie z. B. das ganz wirkungslose Blattgold den Menschen mit sich selbst uneinig und muthlos, jähzornig und widerwärtig macht u. s. f. – Auch fällt die grobe Inconsequenz auf, mit welcher H. seine Mittel an Gesunden probirte; denn während er früher mit homöopathische Gaben (z. B. mit der decillionfachen Verdünnung der Holzkohle) operirte, will er später nur große Dosen angewendet wissen. – Die Krone als wissenschaftlicher Charlatan setzte sich H. nun selbst dadurch auf, daß er, im gröbsten Widerspruche gegen seinen Ur- und Hauptgrundsatz und zum Schrecken seiner, viele Jahre schon der Wahrhaftigkeit ihres Meisters und seiner Heilmethode blindlings vertrauenden Jünger (die deshalb auch überall von dieser Geschichte schweigen), plötzlich in einem vierbändigen Werke nachzuweisen suchte, daß bis dahin die homöopathische Behandlung von sieben Achteln der chronischen Krankheiten eine ganz nutzlose gewesen sei. Er selbst schreibt (im Jahre 1828) Folgendes: „Den Grund aufzufinden, warum alle die von der Homöopathie gekannten Arzneien keine wahre Heilung in chronischen Krankheiten bringen und eine, womöglich richtigere Einsicht in die wahre Beschaffenheit jener Tausende von ungeheilt bleibenden – bei der unumstößlichen Wahrheit des homöopathischen Heilgesetzes dennoch ungeheilt bleiben – chronischen [430] Krankheiten zu gewinnen, diese höchst ernst Aufgabe beschäftigte mich seit den Jahren 1816, 1817 bei Tag und Nacht, und siehe! der Geber alles guten ließ mich allmälig in diesem Zeitraume durch unablässiges Nachdenken, unermüdete Forschungen, treue Beobachtungen und die genauesten Versuche das erhabene Räthsel zum Wohle der Menschen lösen.“ Was ist nun die Auflösung dieses erhabenen Räthsels? Sie ist: sieben Achtel der chronischen Kranken leiden an verborgener Krätze, ein Sechzehntel an verborgener Syphilis und das letzte Sechzehntel an Feigwarzensiechthum, und dagegen muß curirt werden. Was soll man nun von einem Manne sagen, der 12 Jahre lang, obschon er genau wußte, daß seine Heilmethode gegen die meisten Krankheiten nichts taugte, dennoch fortwährend für die unumstößliche Wahrhaftigkeit derselben einstand und diese dann plötzlich wieder über den Haufen stieß?
Das ist nun der Mann, welcher Luthern an die Seite zu setzen ist und dem man in der intelligenten Weltstadt Leipzig ein Denkmal zu setzen gestattete!!! Die folgenden Thatsachen werden das Gesagte bestätigen helfen.
Das Original des nachstehend abgedruckten Briefes befindet sich in der Autographensammlung eines hochgestellten Mannes zu Dresden. Der Patient, an welchen der Brief gerichtet ist, ging trotz der „mit viel Aufwand an Mühe und Kosten“ (NB. durch Schütteln und Verdünnen) von Hahnemann bereiteten Arzneien zu Grunde. Seine zwei Schwäger aber leben noch und gehören einer nahmhaften Familie Leipzigs an.
Ich schicke ihnen hier die Ihnen dienliche Arznei, die ich auf bewußte Weise fort zu brauchen bitte. Es wird noch ferner besser werden. – Sie wollten mir 10 Thlr. gleich nach den Feiertagen zustellen. Ich muß Sie aber bitten, mir zwanzig Thaler morgen oder übermorgen zu übermachen. Sie können nicht glauben, wie viel Aufwand an Mühe und Kosten mir die Zubereitung meiner Arzneien verursacht, um das damit ausrichten zu können, was ich wirklich damit ausrichte und Niemand mir nachthut.
Zwei achtbare Bürger Leipzigs (deren Namen durch den Verf. zu erfahren sind) gestatteten mir Folgendes zu veröffentlichen: 1) die Tochter Hahnemann’s, welche ihrem Vater in Paris bei seiner großen Hauspraxis Beistand leistete, versicherte Herrn N., daß alle Patienten Streukügelchen blos aus Milchzucker erhalten hätten. – 2) Als Herr N. von einer Tochter Hahnemann’s, die seine Hausgenossin war, ein homöopathisches Mittel gegen sein Unwohlsein wünschte, rieth ihm dieselbe, Thee zu trinken, da die homöopathischen Mittel doch nur „Dreck“ wären.
Betrachten wir die homöopathischen Heilkünstler inner- und außerhalb Europa’s, so wird man finden, daß sich auch nicht ein einziger, in den Naturwissenschaften oder in der neuern Medicin bekannter oder erfahrener Mann darunter befindet. Dagegen trifft man auf eine Menge Heilkünstler mosaischen Glaubens, auf Söhne homöopathischer Aerzte, auf verdorbene Apotheker, Mediciner und Chirurgen, auf Laien (Stallmeister, Postsecretaire, Amtmänner, Oeconomen und Andere, denen es schmeichelt, ihre eigenen Viehdoctors zu sein), sowie auch auf Weiber (Frauen, Wittwen, Töchter und Schwestern von Homöopathen). Einige dieser Laien sind sogar vom homöopathischen Aberglauben so inspirirt worden, daß sie die Homöopathie auf eine noch weit übernatürlichere Höhe gebracht haben, als dies alle homöopathischen Heilkünstler mit dem Doctorhute zusammen gekonnt hätten. Wir erinnern an den Hrn. Stallmeister Jenichen mit seinen Hochpotenzen, der bis zur 1600fachen Verdünnung der Arzneimittel stieg, sein Verfahren aber beim Verdünnen (was, wenn es nach Hahnemann’s Vorschrift vorgenommen wird, über ein Menschenalter dauerte) in einen Schleier hüllte, der noch nicht gelüftet ist. Wir erinnern ferner an Hrn. Postsecretär Dr. Lutze in Cöthen, der durch seinen Lebens-Magnetismus die Wirksamkeit der decillionfachen Verdünnungen so steigern zu können behauptet, daß sie sogar mehr als die Hochpotenzen Jenichen’s leisten; der sogar im Stande ist, seinen Lebensmagnetismus auf reines Wasser zu übertragen und damit die auffallendsten Wirkungen hervorzurufen. Ueber diese Wirkungen mag man aber Hrn. Dr. Lutze’s Werke selbst nachlesen. – Erwähnenswert sind ferner noch die von Hahnemann Bastard-Homöopathen getauften Heilkünstler, welche im Bewußtsein der Schwäche ihrer homöopathischen Arzneiverdünnungen in Krankheitsfällen, wo es gilt, wirklich Wirkungen zu erzielen, zu allopathischen Mitteln in großen Gaben (wie zu Jod, Chinin, Quecksilber, Morphium) greifen. Solcher Bastard-Homöopathen giebt es sehr viele.
* NB. Das Verdünnen bewirkte ein leipziger Homöopath durch Anbinden der Fläschchen an die Säge einer Dampfmühle; Mure durch eine Schüttelmaschine. Lutze’scher Lebens-Magnetismus ist da freilich nicht hineingekommen.
Obschon in der früheren Zeit sehr viel gegen die homöopatische Heilmethode geschrieben worden ist (von Heinroth, Kramer, Baltz, Sachs, Simon u. A.), so wollen wir doch nur die auf gründlichere Erforschung der Homöopathie gestützten Ansichten zweier Autoren anführen. Ein Arzt ist von uns zuvörderst deshalb zu erwähnen, weil dieser die Blößen der Homöopathie und Homöopathen auf eine etwas absonderliche Weise kennen zu lernen suchte und dann als Resultat seiner Erfahrungen eine Schrift verfaßte unter dem Titel: Directer Beweis von der Nichtigkeit der Homöopathie als Heilsystem. Für Aerzte und Nichtärzte, von Dr. R. W. Fickel, ehedem dirigendem Oberarzte an der homöopathischen Heilanstalt zu Leipzig. 1840. – Dieser Arzt erwarb sich nämlich zuvörderst unter dem Namen Ludwig Heyne als homöopathischer Schriftsteller und Arzneimittelprüfer einen bedeutenden Ruf und von Seiten seiner homöopathischen Collegen die übertriebensten Lobpreisungen (s. Archiv der homöopath. Heilkunst. XIV. 2.), so daß er sogar von den Koryphäen in der Homöopathie den Namen eines Hohenpriesters erhielt und, als sein wahrer Name bekannt geworden war, die Stelle als Oberarzt in der leipziger homöopathischen Klinik angetragen bekam. Trotzdem daß nun Hr. Dr. Fickel, wie er selbst erzählt, die Wirkungen der angeblich von ihm probirten Arzneimittel (Aconit., sem. nigellae, actaea spicata, aqui leja, rad. caincae, solan. vesicatorium, vulvaria, kreosotum), ebenso wie die dazu gehörigen Krankengeschichten vollständig erdichtet hatte, wollten die homöopathischen Aerzte diese Mittel doch in denselben Krankheitsfällen mit dem glücklichsten Erfolge gebraucht und die angegebenen (ersonnen) Symptome buchstäblich wahrgenommen haben. In der oben genannten Schrift Fickel’s wird ferner noch der Nimbus von so mancher glücklichen Heilung genommen, manche Täuschung aufgedeckt und bewiesen, daß die für Homöopathen unheilbaren Krankheiten in aller Stille mit allopathischen Mitteln in großer Gabe geheilt wurden. Fickel’s Ausspruch ist: „Als Heilsystem ist die Homöopathie eine Irrlehre, in praktischer Anwendung ein Unding.“
Was die Resultate der öffentlichen homöopathischen Heilanstalten und insbesondere die der Heilanstalt in der Leopoldstadt zu Wien, der Vorsteher Dr. Wurmb ist, betrifft, so erhält man die beste Aufklärung hierüber und überhaupt darüber, ob die homöopathische Heilmethode bessere Erfolge habe als jede andere, in einer lesenswerthen Schrift des Dr. Eigenbrodt (vom Jahre 1854) über die wiener homöopathische Heilanstalt. Die Ergebnisse der Beobachtungen dieses genauen und nüchternen Beobachters, welcher in der physiologischen Medicin gehörig unterrichtet ist und ohne vorgefaßte Meinung beobachtete, sind die folgenden:
1) Nach der genauen Beobachtung einer größeren Reihe von verschiedenartigen mit homöopathischen Arzneiverdünnungen behandelten Krankheitsfällen konnte, bei vorurtheilsfreier Berücksichtigung des natürlichen Krankheitsverlaufes, den angewandten Mittel in keinem Falle nur die geringste Wirkung mit einiger Wahrscheinlichkeit zugeschrieben werden. – 2) Bei einer genauen Vergleichung des natürlichen Verlaufs der verschiedenartigsten Krankheitsformen bei rein diätetischer Behandlung mit ihrem Verlaufe im homöopathischen Hospitale läßt sich durchaus kein wesentlicher Unterschied entdecken. – 3) Plötzlich eintretende, das Leben bedrohende Krankheitserscheinungen können niemals bei rein homöopathischer Behandlung so, wie durch eine zweckmäßige, nach den Grundsätzen der neueren Medicin geleiteten Therapie beseitigt werden. – 4) Alle die Kranken belästigenden Symptome können durch die Wirkung homöopathischer Arzneiverdünnungen nicht entfernt oder gemildert werden, während die Beseitigung solcher Symptome, in vielen Fällen, und Erleichterung durch schmerzstillende und lindernde, nicht homöopathische Mittel fast immer möglich ist.
Zum Schlusse dieses Aufsatzes lege ich hiermit noch die Erklärung ab, daß ich diese Beleuchtung der Homöopathie nicht etwa im Interesse der Wissenschaft veröffentliche, denn die will von der unwissenschaftlichen Homöopathie nichts wissen, sondern nur im Interesse der Volksaufklärung und des Volkswohles. Ich fühlte mich hierzu deshalb verpflichtet, weil ich schon seit längerer Zeit bemüht bin, vernünftigere Ansichten über die Behandlung des gesunden und kranken menschlichen Körpers unter das Volk zu bringen. Ich glaube aber auch Recht zu thun, da selbst das Ministerium der Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten zu Berlin dem Dr. Schimko (welcher die Unnatürlichkeit der homöopathischen Heilmethode auf mathematischem und chemisch-geologischem Wege nachwies) seine Zufriedenheit über den guten Zweck zu erkennen gegeben hat, das Publikum über die Homöopathie aufzuklären.
- ↑ Von Rob. Prutz, der das eben so einfache wie schöne Gedicht in der letzten Nummer seines „Museums“ veröffentlichte.
Die Redakt.