Die Gartenlaube (1855)/Heft 31

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1855
Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[403]

No. 31. 1855.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle. Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.


Horace Vernet und der Jäger von Vincennes.[1]

Unter der Regierung Louis Philippe’s war einst ein Bataillon Jäger von Vincennes nach Versailles commandirt, um die Wachen dort zu versehen. Unter diesen Jägern befand sich ein junger Elsasser, dessen blaue Augen, blondes Haar und weißer Teint, aber auch sein stilles, sinniges Wesen den ächt germanischen Typus darstellten. Es war ein bildhübscher Bursche, schlank, gewandt und freundlich, obgleich er, wenn er allein war oder zu sein glaubte, in eine wehmüthige Stimmung gerieth, deren schmerzlicher Ausdruck sich dann deutlich auf seinem Gesichte ausprägte.

Der Hauptmann der Compagnie hatte Wohlgefallen an dem sittigen und braven Burschen und wählte ihn deswegen zu seinem Diener. Eines Tages traf ihn der Hauptmann wieder in solchem Sinnen und Wesen, wie er es schon oft an ihm bemerkt.

„Jean,“ sagte er, „warum gehst Du nicht einmal in die Gallerie, um die schönen Bilder zu sehen?“

„Darf ich denn, mein Kapitain?“ fragte Jean verwundert.

„Ob Du darfst, närrischer Kautz? Der König hat ja den Soldaten die besondere Erlaubniß gegeben. Geh, Niemand wird Dir etwas in den Weg legen.“

Jean eilte sogleich in das Schloß. Er hatte so viel von den schönen Schlachtenbildern reden gehört, die der Maler Horace Vernet gemacht habe, daß er längst vor Verlangen brannte, sie zu sehen. Die gegen seinen Hauptmann ausgesprochene Meinung hielt ihn indessen zurück, und sich auf gut Glück zuzudrängen, war er zu bescheiden.

Er trat denn nun mit pochendem Herzen in die Säle und wanderte langsam hindurch. Er wußte nicht, welche die Bilder des berühmten Malers seien, aber sie übten auf den unbefangenen Sohn des Volkes einen solchen Zauber aus, daß er gerade vor ihnen wie festgebannt stehen blieb. Als er gar zu denen der neuern Zeit und des afrikanischen Krieges kam, und da die Köpfe der Generale und Staabsoffiziere augenblicklich wieder erkannte, die er schon gesehen, die er genauer kannte, und von denen die Soldaten manch’ tapfres und braves Stücklein erzählen, da hätte er fast laut aufgeschrieen.

„Das ist ein Maler!“ sagte er endlich zu einem neben ihm stehenden Herrn. „Der versteht’s! Wissen Sie vielleicht den Namens?

„Horace Vernet!“ versetzte der Fremde.

„Ist der jetzt in Paris?“ fragte darauf rasch und erregt der Jäger.

„Ich glaube wohl,“ entgegnete der Fremde. „Vor acht Tagen wenigstens habe ich ihn noch in den Champs Elysées lustwandeln gesehen.“

Jean dankte für die Mittheilung und vollendete seine Bilderschau mit dem festen Entschlusse, jede freie Stunde zum Wiederbetrachten dieser Bilder zu verwenden. Freilich blieb ihm Vieles, Historisches namentlich, dunkel. Als er das seinem freundlichen Kapitain äußerte, gab dieser ihm den „Führer durch die Gallerie,“ ein Büchlein, welches die historische Bedeutung jedes Bildes mittheilt, und von jetzt an sah man den Jäger von Vincennes jeden Tag, mit seinem Büchlein in der Hand, in der Gallerie, so lange das Bataillon in Versailles stand. Endlich zurückgekehrt nach Paris, wurde die Nachricht im Bataillone bekannt, es sei nach Algerien bestimmt, und werde in Oran seine Standquartiere erhalten.

Seit dieser Zeit wurde die Gemüthsstimmung Jean's immer trüber und düsterer; er wurde einsylbiger und besonders noch sparsamer, als er bis jetzt gewesen war, und seine Kameraden Larivière und Stampfler meinten neckend, er werde jetzt die Zehntausend-Francs-Rente vollmachen wollen, ehe er mit den Kabylen vertraute Bekanntschaft mache. Er aber lächelte zu solchen Bemerkungen, und was in ihm vorging, errieth Keiner.

Eines schönen Morgens stand Horace Vernet in seinem Atelier vor der Staffelei und der Pinsel fuhr mit raschem, kräftigem, breitem Striche über die grundirte Leinwand. Einzelformen und Gestalten traten schon hervor und ließen fast ahnen, daß es sich um ein afrikanisches Schlachtenbild handle, welches ihm der König aufgetragen.

Es war stille im Atelier. Für neugierige Besucher der kunstliebenden Stände war es zu frühe. Das waren und sind des Künstlers schönste Stunden schöpferischer Thätigkeit, und Horace Vernet war so in seinen Gegenstand vertieft, daß er es gar nicht wahrnahm, wie Jemand leise eintrat.

Endlich verrieth ein umsonst zu unterdrücken versuchtes Husten die Anwesenheit eines betrachtenden Fremden.

Horace Vernet wandte sich um - und vor ihm stand leuchtenden Auges ein Jäger von Vincennes.

An solch einen Besucher war der Maler nicht gewöhnt. Er betrachtete den schönen jungen Mann aufmerksam mit seinem scharfen Blicke und der ächt deutsche Charakter fiel ihm in eben dem Maße auf, als er in dieser Persönlichkeit ihm gefiel.

[404] Jean, denn er war's, stand einen Augenblick verlegen da und schlug mit mädchenhaftem Erröthen das Auge nieder, als des Malers ausdrucksvoller Blick auf ihm ruhte. Als aber in dem Blicke gar nichts Unfreundliches zu finden war, ermuthigte er sich, grüßte ehrerbietig und bat um Entschuldigung, daß er so keck gewesen sei, hier einzutreten.

„Ich habe,“ sagte er, beherzter geworden durch des Künstlers Zuvorkommenheit, Ihre köstlichen Bilder in der Gallerie zu Versailles so oft bewundert, daß ich einmal gern sehen wollte, wie Sie sie machen.“

Hatte schon die äußere Erscheinung des schönen Burschen auf den Künstler einen günstigen Eindruck gemacht, so wurde dieser nun durch die naive Art und Weise seines Ausdrucks noch erhöht und Horace Vernet legte Pinsel und Palette weg, um ihm den Caron des Bildes zu zeigen, das er malen wollte.

„Ach!“ rief bewundernd der Jäger, das ist gewiß die Schlacht von Isly?“

Der Künstler blickte den Jäger nicht ohne Erstaunen an. „Warst Du etwa dabei, mein Freund?“ fragte er überrascht. „Doch nein,“ setzte er, sich selbst berichtigend hinzu, „Deine Gesichtsfarbe trägt nicht das Gepräge der Wüste.“

Jean seufzte und bestätigte das, setzte aber hinzu. „er werde wohl in der Zeit eines Monats jenes Gepräge tragen, denn sein Bataillon sei nach Afrika bestimmt.“

„Aber woran erkennst Du denn die Schlacht von Isly?“ fragte der Maler, der gerne den Grund der ausgesprochenen Meinung gewußt hätte.

„Das will ich Ihnen sagen, Herr Vernet,“ sprach darauf zutraulicher werbdend der Elsasser. „Sie haben alle früheren, wichtigen Waffenthaten in Afrika schon gemalt, und da meint’ ich, Sie müßten jetzt an der stehen; aber das ist’s nicht allein. Ich habe in den Invaliden einen Kameraden von den Chasseurs d’Afrique, der ist dabei gewesen und hat mir davon so viel erzählt, daß ich mir so eine Vorstellung davon gemacht, die ich hier fast verwirklicht sehe. Ueberdies kenne ich die Generale und den Herzog, und die leiben und leben ja da auf dem Bilde! Sagen Sie mir doch, wie Sie das so fertig bringen?“

Der Künstler lächelte und meinte: das könne er ihm so eigentlich nicht auseinandersetzen, weil – er’s selber nicht wisse.

Jean sah ihn erstaunt, aber ungläubig an.

„Treffen Sie denn Jeden so?“ fragte er dann etwas ängstlich.

„Ich glaube wohl,“ entgegnete der Künstler, der immer mehr Interesse an der Unterredung und dem Menschen nahm.

„Das hab’ ich mir gleich gedacht,“ fiel Jean rasch ein. „Denn Ihre Bilder leben. Sacre nom de Dieu!“ rief er aus, „selbst die Pferde leben und wie aus den Augen das Feuer sprüht! Herr, es ist eine helle Pracht! Und die Kanonen und das Feuer! Man meint – Paff! jetzt kracht’s und duckt sich ordentlich vor Furcht.“

Vernet lächelte und hörte dem Geplauder des ehrlichen Elsässers mit Vergnügen zu. Es entging ihm indessen nicht, daß er noch etwas Besonderes auf dem Herzen haben müsse, dem er auf die Spur kommen wollte. Jean war indessen im Zuge gemüthlichsten Plauderns.

„Wie haben Sie aber die Generale und Stabsoffiziere getroffen! Man meint, sie wollten Einem gleich Befehle geben! Ja, mit dem Treffen, das ist so eine Sache, die Sie meisterhaft verstehen und daran thut’s Ihnen Keiner gleich. – Meine Kameraden, der Larivière und der Stampfler haben sich, da’s nach Afrika geht, bei dem Petetin in Vincennes auch malen lassen für die Ihrigen daheim, aber, fi donc! das ist pure Schmiererei, und sie stehen da, wie Holzböcke und Schanzkörbe. Nichts gleicht, als die Uniform – die Gesichter wahrlich nicht. Nun, frag’ ich Sie, Herr Vernet, was thun ihre Leute zu Haus damit? Ein Bild, mein’ ich, müsste gleichen, dann ist’s ein Andenken an Den, den vielleicht bald der heiße Sand der Wüste deckt. – Und der Petetin lässt sich schweres Geld dafür bezahlen –“

„Wirklich?“ fragte Vernet.

„Ja, denken Sie nur, einen ganzen Franken!“ rief unmuthig Jean aus.

„Wahrlich, das ist zu viel, wenn das Bild nicht gleicht,“ sagte Vernet. „Das sag’ ich auch,“ fuhr Jean fort, der sich nun, zutraulich gemacht, ganz gehen ließ. „Ein armer Soldat hat doch nicht viel herzugeben. Und Einen so zu schröpfen für ein Bild, das nicht ähnlich ist, pfui!“

„Gewiß!“ sagte Vernet; „aber hast Du denn nicht daran gedacht, Dein Bildniß den Deinigen zu senden?“

„Ich?“ fragte sehr betroffen Jean. – „Ja – ja, ich habe wohl – daran gedacht; – aber –“

„Nun, was hielt Dich zurück?“

„Ich will’s Ihnen ehrlich gestehen,“ fuhr Jean fort und redete mit gedämpfter Stimme, als dürfe das Niemand außer Vernet hören: „von dem Petetin will ich nicht gemalt sein. Was sollte mein armes, liebes Mütterlein daheim dran haben, wenn sie ihren Sohn darin nicht sähe? – Wenn sie ihn nicht erkennte, und ihren Blick mit Liebe darauf heften, mit ihm in Gedanken plaudern könnte. Nein, von dem Petetin wollte ich einmal nicht gemalt sein; aber doch – das leugne ich nicht, lag es mir am Herzen, meiner lieben, guten Mutter mein Bild zu senden, und als ich Ihre Bilder in Versailles gesehen, da sagte ich zu mir: Jean, wenn du dich malen lässest, so muß es der Herr Vernet thun, der trifft doch zum Sprechen! Aber – da fiel mir etwas auf das Herz. Das Geld nämlich, denn ich dachte, bei Ihnen werde so ein Bild ohne Zweifel das Doppelte kosten, wie bei dem Petetin –“

„Und das brachtest Du nicht zusammen?“ fragte lächelnd Vernet.

„Ach,“ sagte Jean, „mein Herr, halten Sie mich nicht für einen Leichtfertigen. Hören Sie erst, wie es um mich steht, dann werden Sie mir glauben, daß ich seit zwei Monaten darauf spare.

„Und das brachtest Du nicht zusammen?“ fragte lächelnd Vernet.

„Ach,“ sagte Jean, „mein Herr, halten Sie mich nicht für einen Leichtfertigen. Hören Sie erst, wie es um mich steht, dann werden Sie mir glauben, daß ich seit zwei Monaten darauf spare.

„Mein Vater war ein Weber in der Nähe von Mühlhausen und er lehrte mich, als ich heranwuchs, dies Geschäft. Herr Köchlin in Mühlhausen gab uns immer Verdienst, daß wir uns ernähren konnten; aber gerade, als meines Vaters Kräfte nachließen, und er meiner erst recht bedurft hätte, wurde ich gezogen und Soldat. Sie können sich’s denken, wie ich mit schwerem Herzen die alten Aeltern verließ! Meinen ganzen Sold schickte ich ihnen regelmäßig und behalf mich kümmerlich. Die Liebe zu den guten Aeltern, Herr Vernet, macht jedes Entsagen leicht.

„So vergingen zwei Jahre, da starb mein Vater und meine arme, alte Mutter war völlig hülflos. Von meinem Solde konnte sie nicht leben. Ich that alle Schritte, um frei zu werden, da das Gesetz den Ernährer einer Wittwe frei giebt; aber es blieb Alles ohne Erfolg. Man beachtete meine Eingabe nicht! Gott weiß, wie es zuging. Andere kamen frei, ich nicht!“

„Das ist ungerecht!“ rief Vernet mit Entrüstung.

„Das ist es gewiß,“ sagte Jean, „allein ich bin arm, ohne Fürsprecher, ohne einflußreiche Freunde. – Nun, Sie wissen, wie es eben in der Welt geht; ich mußte Soldat bleiben und meine theure Mutter darbte. Da fügte es Gott, daß ich meines Hauptmanns Diener wurde, wofür ich monatlich fünf Francs beziehe. Damit konnte ich mein liebes Mütterlein wirksamer unterstützen, und hab’ es ihr mit meinem ganzen Solde monatlich geschickt. Ach, mein Herr, was war mir das ein süßer Lohn und wie glücklich war ich, daß ich es konnte! Wär’ ich freilich zu Hause, dann könnte ich weben, und es geht mir von der Hand – aber leider muß ich nun nach Afrika und – mir ahnet’s – daß ich dort mein Grab finden werde. Da dacht’ ich meiner theuern Mutter wenigstens mein Bild zu hinterlassen und habe seit zwei Monaten jeden Centime gespart, aber, ich habe nur Einen Francs und fünfundsiebenzig Centimes zusammengebracht und der Zeitpunkt der Einschiffung rückt näher und näher heran. So wollt’ ich Sie denn fragen, ob Sie für dies Geld, mein Alles, mich malen wollten? – Ach, wenn Sie’s könnten, wie würde mein Mütterlein glücklich dadurch!“

Vernet war tief ergriffen von dem einfach schlichten Worte, von der innigen treuen Kindesliebe und von der gutmüthigen Offenheit des jungen Menschen. Es wurde ihm weich um das Herz und sein Auge wurde feucht.

Er schwieg eine Weile und Jean betrachtete ihn mit Spannung, schwebend zwischen Furcht und Hoffnung.

Endlich sagte Vernet: „Wohlan, mein Freund, ich will Dir das Bild malen und ich denke, es soll besser werden, als das Petetin’s, den ich übrigens nicht kenne. – „Ich glaub's wohl,“ fiel ihm Jean in die Rede, „er ist Tüncher seines Handwerks und malt nebenbei Soldaten, die die Esel für Portraits nehmen.“

„So?“ sagte Vernet, sich ernst haltend. „Ich weiß indessen nicht,“ fuhr er fort, „ob ich vor nächstem Sonntag daran komme. [405] Weißt Du was, komm’ nächsten Sonntag, um neun Uhr Morgens. Kannst Dir ja Urlaub geben lassen! Aber, höre, ich bin kein Maler, wie Petetin, was Du ja auch selber sagtest. Ich muß, wenn ich ein Portrait male, allerhand von dem wissen, den ich male. So sag' mir Deinen Namen.“

„Jean Dümmler!“

„Dein Alter?“

„Sechs und zwanzig Jahre!“

So fragte er ihn nach den Namen seiner Aeltern, seinem Wohnorte und Arrondissement, wie lange er Soldat sei, wenn sein Vater gestorben sei und wie alt seine Mutter.

Jean gab die genaueste Auskunft, konnte aber doch gar nicht begreifen, was das Alles mit seinem Portrait zu thun habe.

Er äußerte das.

„Ja, siehst Du,“ sagte Vernet, „das muß ich Alles wissen, sonst wird Dein Bild nicht ähnlich. Ich würde es Dir wohl auseinandersetzen, aber sieh’, Du würdest es am Ende doch nicht verstehen.“

Jean wiegte nachdenkend seinen Kopf in bejahender Weise und sagte dann: „Nun begreif’ ich, warum in den Bildern des Petetin auch nicht die entfernteste Aehnlichkeit liegt; der fragt nach dem Allen nicht!“

Darauf reichte er dem Künstler traulich die Hand und ging.

„Ein köstlicher Junge!“ rief Horace[WS 1] Vernet aus, „und ein ächtes, treues, deutsches Gemüth! Du sollst nicht vergessen werden, guter Junge!“

Er nahm eine auf einen kleinen Rahmen gespannte, grundirte Leinwand, stellte sie auf eine Staffelei und begann sogleich das Portrait Jean’s zu entwerfen. Er hatte sich ihn so scharf angesehen, daß es keines Sitzens bedurfte. Er arbeitete rasch daran fort, so weit es thunlich war; dann kleidete er sich an, nahm die Notizen über Jean’s Familienverhältnisse zu sich und fuhr bei dem Kriegsministerio vor, in dessen Thüre er verschwand.

Der Wagen hielt mehrere Stunden, bis Vernet zurückkam, begleitet von einem hohen Beamten des Ministerium bis zum Thore. Noch einmal sprachen beide angelegentlich, dann stieg Vernet in seinen Wagen und rief dem Kutscher zu: „Nach den Tuilerien!“

Dort angekommen, ließ er um eine Audienz bei Louis Philippe in dringender Angelegenheit bitten.

Der König gewährte sie dem hochgeehrten Künstler und Horace Vernet trat in das Kabinet ein.

Hier erzählte er dem Könige fast wörtlich die Unterredung mit Jean. Der König, den dies ungemein amüsirte, wurde indeß sehr ernst, als Vernet den Punkt berührte, daß der arme Junge nicht habe zu seinem Abschied gelangen können, ob er gleich die einzige Stütze seiner armen, hochbetagten Mutter sei, die seit Jahren Wittwe.

„Lassen Sie mir Ihre Notizen hier,“ sagte der König, „ich werde die Sache untersuchen lassen und sogleich auf das Kriegsministerium senden.“

„Ich bin bereits dort gewesen, Sire,“ sagte Vernet und legte dem Könige einige Schriftstücke vor.

Der König las sie durch, setzte sich sodann, nahm eine Feder und schrieb einige Worte darunter; ließ alsdann einen der Ordonnanzoffiziere eintreten und sandte die Papiere dem Minister.

Zu Vernet gewendet, sagte er lächelnd: „Wenn Sie Ihr Portrait für zwei Franks so gut vollenden, wie ich die andere Sache, so denke ich, soll Jean Dümmler mit uns Beiden zufrieden sein!“

Ein höchst freundliches Neigen des Kopfes entließ den Maler, der seelenvergnügt nach den Champs Elysées fuhr, um sich im Freien zu ergehen. Niemals erinnerten sich seine Freunde, ihn heiterer, ja fröhlicher gesehen zu haben, als an diesem Abende. Sie ahneten nicht, daß dies der Segen einer guten That war, der nie ausbleibt und den Widerschein himmlischer Freude und Friedens in das Herz wirft. Horace Vernet kam spät in den Kreis der Seinen zurück, auch hier so heiter und glücklich erscheinend, wie selten; aber er sagte nichts über den Grund dieser heitern Seelenstimmung, weil er erst dann es ihnen erzählen wollte, wenn es eine vollendete Thatsache würde geworden sein.

Schon am andern Morgen, in der Frühe, stand Vernet vor seiner Staffelei und malte an dem Bildchen, darinnen er Jean portraitiren wollte. Er stellte ihn dar, wie er unter einem jener prächtigen Bäume auf einer Bank saß, die den Park von Versailles schmücken. Auf seinem Knie lag ein Brief, den seine Linke hielt, die Rechte ruhte auf dem Tschako, der neben im stand. In der Ferne sah man einen Theil des Schlosses, worin die historische Gallerie sich befindet. Das Gesicht war dem Beschauer zugewendet und der Blick des blauen Auges sah träumerisch in die Weite. Die Aehnlichkeit war vollkommen gelungen, als er am Abend mit selbst zufriedenem Lächeln den Pinsel weglegte.

Jean hätte den Künstler gern angeredet, als er seinen Kapitain besuchte, den er wohl kennen mußte, obgleich dieser nie dessen erwähnte – aber die Hochachtung hielt ihn zurück. Nur einen Gruß konnte er sich nicht versagen, der ebenso viel Liebe als Hochachtung ausdrückte, und den Vernet mit einem so freundlichen Gesichte erwiederte, daß es dem ehrlichen Elsasser im Grunde der Seele wohlthat und er Betrachtungen über den Unterschied zwischen diesem berühmten Maler des Königs und dem Tüncher Petetin anstellte, der unendlich hochmüthig war, während Vernet ebenso herablassend, als freundlich gegen ihn sich erwiesen hatte.

Jean konnte die Stunde kaum erwarten, in der er sich zu Vernet begeben sollte. Die Traurigkeit über seine Versetzung in den mörderischen Kampf zu den Kabylen machte ihm stillen Kummer, denn der Gedanke hatte sich bei ihm festgesetzt, daß, wenn er lebend aus dem Kampfe hervorgehen sollte, er dem wachsenden, heißen Klima erliegen würde, weil schon die Sommerhitze in Frankreich jedesmal seine Gesundheit bedeutend untergrub. Gedachte er dann der völlig trostlosen Lage seiner lieben, hochbetagten Mutter, so bangte es ihm gewaltig. Neue Schritte, seinen Abschied zu erhalten, mochte er jetzt nicht unternehmen, weil eines Theils sein Ehrgefühl dies nicht erlaubte, andern Theils er aber auch von der Erfolglosigkeit derselben völlig überzeugt war. Seine Stimmung war daher eine gedrückte, und nur der Gedanke, seiner Mutter ein ähnliches Bild von ihm senden zu können, brachte ihm einige erheiternde Augenblicke. Hätter er sie nur noch einmal wiedersehen können, ehe ihn der Ocean von ihr trennte – vielleicht ein Grab im Sande der Wüste! Sollte er diesen Wunsch seinem guten Kapitain äußern? – er ging lange mit sich zu Rathe. Endlich meinte er: es könne ihm ja doch nicht im Mindesten schaden, und so wagte er es, einst seinem Kapitain nach der Zeit der Einschiffung zu fragen.

„Sie stehe noch nicht nahe bevor,“ sagte der Kapitain.

Da wagte er einen Schritt weiter, und bat um zwölf Tage Urlaub, seine geliebte Mutter noch einmal sehen zu können.

Ganz unerwartet erwiederte freundlich der Kapitain, er werde ihm gerne diesen Urlaub gewähren; wenn er ihn anzutreten wünsche?

„Nächste Woche,“ war Jean’s Antwort.

„Warum denn nicht gleich?“ fragte der Kapitain.

„Weil – weil – “ stotterte Jean, „Herr Horace Vernet ihn malen würde.“

„Was?“ rief der Kapitain in erkünsteltem Erstaunen, „Du willst Dich von dem berühmten Maler des Königs malen lassen, Jean, was fällt Dir ein? Der malt unter tausend Franken kein Bildniß. Wo sollst Du das Geld dazu hernehmen?“

Jean fiel schier in Ohnmacht. Tausend Franken. Das Wort erstarrte auf seiner Lippe.

„Ach,“ sagte er, „mein Kapitain, Sie scherzen grausam! Einen Franken und fünfundsiebzig Centimes habe ich mir erspart, das, habe ich ihm gesagt, sei meine ganze Baarschaft und Habe, und er sagte mir zu, mich dafür zu malen.“

„Das muß ich sagen!“ rief der Kapitain aus. „Glaubst Du denn das? Laß mal sehen, wenn Du erst gemalt bist, wird er Dir eine Zeche an’s Bein hängen. Jean, das war ein dummer Streich! Mit den großen Künstlern ist nicht zu spaßen!“

Jean versicherte wiederholt, Vernet habe es ihm zugesagt, ihn für dies Geld zu malen, und er sei ein gar guter, freundlicher Mann.

Der Kapitain lachte ihn aus und blieb bei seiner Meinung, und Jean war in einer der quälendsten Lagen seines Lebens. Zum Glück war es am Samstag, als ihm sein Kapitain das sagte. So nahm er sich denn vor, das Bild Morgen gleich abzubestellen, „da ja Vernet noch nicht begonnen habe,“ dachte er, „lasse sich das auch ohne alle Schwierigkeit abthun, wenn ihn Herr Vernet, wie sein Kapitain glaubte, nicht sollte verstanden haben.“

Der quälende Gedanke ließ ihn übrigens kaum schlafen, und seine Seele war ungemein betrübt, daß nun seine liebe Mutter kein ähnliches Bild von ihm haben sollte.

[406] Lange vor der bestimmten Stunde ging er unruhig vor dem Hause Horace Vernet’s auf und nieder.

Endlich schlug die Stunde auf dem Thurm von Notre-Dame und Jean trat pochenden Herzens in das Haus, und auf Vernet’s Ruf in das Atelier.

Der Künstler saß in einem Hausrocke da und erwartete ihn. Auf einer Staffelei stand ein mit einem Tuche verdecktes Bild.

„Du bist glücklich, mein Freund,“ rief ihm Vernet entgegen und reichte ihm die Hand.

„Mein Gott, aber,“ rief er plötzlich aus, „Du bist ja so bleich, siehst so verstört aus. Was ist Dir denn, mein Freund?“

Jean zitterte wie Espenlaub im Winde.

„Ach, Herr Vernet,“ sagte er wehmüthig, und eine Thräne feuchtete seine Augenwinkel, „aus dem Malen des Bildes kann nichts werden – “

Vernet sah ihn erstaunt an. „Wie?“ rief er aus, „hast Du Deine Meinung geändert und willst Deiner lieben Mutter Dein Bild nicht senden oder trauest Du mir nicht zu, daß ich es ähnlich malen könnte und – hast Petetin Dich zugewendet?“

„Ach, keins von den Dreien, die Sie da genannt haben, trifft zu. Wie gerne würde ich meiner geliebten Mutter diese Freude machen, wenn – ich könnte. Und wem könnte ich mehr zutrauen als Ihnen, dessen Werke ich bewundere und mit mir alle Welt? Am Wenigsten aber könnte es mir einfallen, bei gesundem Verstande dem Tüncher Petetin den Vorzug vor Ihnen zu geben. Aber – “

„Nun, was ist denn dazwischen gefahren? Sie mal her, Jean; es ist ja schon zu spät, daß Du reuig wirst!“

Er nahm das Tuch von dem Bilde, das fast vollendet war. Die Gestalt Jean’s war fix und fertig, nur die Nebenwerke waren noch auszuführen.

Jean starrte einen Augenblick das Bild an, dann stieß er einen Schrei der Freude aus und reif: „Ach, mein Gott, das bin ich ja mit Leib und Seele!“ Diese Freude wandelte sich aber augenblicklich in Schrecken.

„Ach, Gott,“ rief er aus, „ich wollte es abbestellen, weil ich glaubte, es würde heute erst angefangen, und nun ist es schon fertig und so überaus schön und sprechend ähnlich!“

„Was fällt Dir denn aber ein?“ fragte Vernet, der aus dem Allem sich nicht herausfinden konnte.

Jean mußte jetzt sich aussprechen. Er erzählte Vernet die Unterredung mit seinem Herrn Kapitain; wie der von tausend Franken geredet und er schier ohnmächtig geworden sei. Er habe zwar dem Kapitain gesagt, daß er dem gütigen Herrn Vernet gesagt habe, seine ganze Baarschaft, sein ganzes Vermögen, bestehe in einem Frank und fünfundsiebzig Centimes; mehr habe er sich nicht ersparen können, weil er Alles, was er bei dem Kapitain verdiene und an Sold erhalten, der alten, darbenden Mutter sende; aber der habe ihn gründlich ausgelacht und gesagt, das sei Larifari, denn Herr Vernet male kein Bildniß unter tausend Franks, und Herr Vernet habe das gewiß nicht verstanden.

„Im Grunde,“ sprach, nachdem er gemüthlich lachend zugehört, Vernet zu Jean, „im Grunde hat Dein Kapitain Recht, und ich dachte, der Frank und die fünfundsiebzig Centimes seien auch nur eine Abschlagszahlung; aber ich wollte folgenden Accord mit Dir machen: die übrigen 998 Franks 25 Centimes blieben als unverzinsliche Schuld stehen, bis Du General geworden bist; dann wollte ich sie von Dir einfordern.“

Jean sah den Maler etwa so an, als komme ihm der Gedanke, es sei unter dem rothen Sammetbarette, welches er trug, nicht ganz sicher und geheuer – und schwieg bedenklich.

„Ist der Accord nicht Recht?“ fragte Vernet.

„Ach, Herr Vernet,“ rief Jean aus – „ich weiß wahrhaftig nicht, wie ich mit Ihnen daran bin!“

Vernet lachte laut auf. „Nun höre, gefällt Dir das Bild?“

„Ach, wie können Sie fragen? Ich bin entzückt davon!“

„So? – Nun, dann ist es Dein, und es bleibt bei dem Accorde. Da Du aber auf Urlaub geht und Dein Geld brauchst, so will ich jetzt auch die Abschlagszahlung nicht, und die ganze Summe von tausend Franks mag denn stehen bleiben, bis Du General bist.“

„Ach, Herr Vernet –“

„Es bleibt dabei, mein Freund,“ schloß Vernet. „Mach’ mir jetzt keine Einwände mehr. Bist Du einmal General, so sind Dir tausend Franks so viel, wie jetzt ein Centime oder wie eine taube Nuß; dann bin ich alt, kann nichts mehr verdienen, und die tausend Franks kommen mir dann recht zu Gute. Das Bild ist also Dein; aber, siehst Du, es ist noch nicht fertig, weil ich es in Oel gemalt habe, und nicht, wie Petetin die Seinigen in Wasserfarben. Das trocknet langsam und will überhaupt Zeit haben. Ich schicke Dir Das Bild in acht Tagen an Herrn Köchlin in Mühlhausen; da holst Du es ab und überraschest Deine liebe Mutter damit. Grüße sie herzlich von mir!“

Jean stand wie eine Bildsäule da. Alles kam ihm wie ein toller Spaß vor, den man mit ihm treibe; aber Vernet sah ihn so freundlich an: der Mann sah gar nicht aus wie ein Windbeutel – kurz, es waren Räthsel, die er nicht lösen konnte.

Vernet mochte seine Gedanken ahnen.

„Glaubst Du mir nicht?“ fragte er. „Ich gebe Dir mein Ehrenwort, daß das Alles wahr ist und kein Spaß, den ich etwa mit Dir treibe. Das ist meine Art nicht. Geh’ in Gottes Namen, grüße mir Deine Mutter. Das Bild aber holst Du in acht Tagen bei Herrn Köchlin in Mühlhausen ab.“

Jetzt traten Thränen in des ehrlichen Elsassers Augen und seine Lippe zitterte von innerer Bewegung.

„Herr Vernet,“ rief er aus, „wie soll ich Ihnen danken?“

„Sei immer ein guter Sohn, wie Du es bis jetzt warst, und dieser Dank soll mir der liebste sein; kommst Du aber einmal nach Paris, Du magst dann Chasseur oder General oder Weber sein, so vergiß nicht, daß Horace Vernet zu Deinen Freunden gehört.“

Jean küßte mit tiefem Gefühle die dargebotene Hand, und gelobte, das treu zu halten.

Wie er nach der Wohnung seines Kapitains kam, das wußte er selber nicht. Der Kapitain war ausgegangen. Jean packte sein Bündelein und wartete die Rückkehr des Kapitains ab, um sofort seine Reise anzutreten.

Endlich, nach langem, ungeduldigem Harren, kam er.

„Wie ist’s bei Vernet gegangen?“ fragte er lachend.

Da floß das Herz des guten Jungen vom Preise des Malers über. Er erzählte alles.

„Du kannst von Glück sagen!“ rief der Kapitain. „So etwas wäre hundert Andern sicherlich nicht passirt; denn das ist ja so gut, wie geschenkt, da, wie ich glaube, Du nicht auf Avancement erpicht bist, sondern auf Deinen Abschied, wo es dann mit dem Generalwerden sein Ende haben wird.“

„Da haben Sie Recht, mein theurer Kapitain,“ sagte Jean, und so etwas lag auch in den Worten und Mienen des trefflichen Mannes.

„Du wirst also, wie ich merke, Deine Urlaubsreise heute noch antreten wollen? Kann mir’s denken! Nun dann, glückliche Reise, mein braver, treuer Jean; leb’ wohl, und vergiß Deinen Kapitain nicht! Da,“ sagte er, „nimm das Deiner guten Mutter mit und pflege sie treu bis an’s Grab.“

Er drückte ihm zwei Fünffranks-Stücke in die Hand, und unter heißem Danke schied Jean von seinem guten Kapitain.

Erst vor der Barrière von Paris blieb er einmal stehen und dachte den Worten seines Kapitains nach, die fast so in seinem Ohre geklungen hatten, als nähme der auf immer Abschied von ihm, und als habe er den Abschied vom Militär in der Tasche und kehr zur Heimath zurück für immer. Jean schüttelte den Kopf: „Da komme der Kuckuck heraus!“ rief er im Selbstgespräche aus, denn in des Malers Worten lag auch so etwas Aehnliches. Er zog rasch den Urlaubspaß heraus, den ihm der Kapitain gegeben, und las ihn; aber der lautete einfach auf zwölf Tage Urlaub, und nichts weiter.

Die Hoffnung, die auf einen Augenblick ihre Fittige gehoben hatte, senkte sie wieder schnell und mit einem Seufzer, wie er so mancher Täuschung des Herzens folgt, sagte er zu sich: „Es ist doch wahr, daß man fast überall das heraus hört und sieht, was man im Herzen warm hegt! Beide Herren haben gewiß Das, was ich heraus hörte, in ihre Worte nicht legen wollen. Wer mich täuschte, das bin ich selber gewesen, wie so oft schon in meinem Leben. Vielleicht täusche ich mich auch mit Algerien? Nun, wie du willst, Herr, und nicht, wie ich will,“ sagte er betend und gen Himmel blickend. „Nur um das Eine flehe ich, laß mich mein Mütterlein gesund wiederfinden!“

In diesem Augenblicke trat die Sonne mit vollem Glanze hinter den Wolken hervor, und das schien dem frommen Gemüthe

[407]

Position der Alliirten vor dem Malakoff-Thurm und dem Redan.

1. Runder oder Malakoff-Thurm.
2. Mamelon.
3. Redan.
4. Brustwehr-Batterie.
5. Thurm-Fort.

6. Spanische Reiter.
7. Zwei Kanonen-Batterie.
8. Dorf außerhalb der Stadt.
9. Befestigungen desselben.
10. Flotte.

11. Linker Laufgraben.
12. Linker Vorgraben.
13. Central-Laufgraben.
14. Central-Vorgraben.
15. Rechter Laufgraben.

16. Rechter Vorgraben.
17. Zeughaus.
18. Hafen.
E. Englische Linien.
F. Französische Linien.


Jean’s eine Antwort des Herrn zu sein, die seine Seele mit frohen Hoffnungen erfüllte. Bei der Kürze seines Urlaubs machte er die größten Tagereisen, die ihm möglich waren, und erreichte endlich, müde bis zum Sterben, das älterliche Häuschen. Er fand seine theure Mutter gesund. Durch seine Unterstützungen und die treuer Nachbarn und Freunde war es ihr möglich, zu bestehen, ohne zu darben; nichts aber kann den Grad der Freude und des Glückes beschreiben, die bei dem unverhofften Wiedersehen nach so langer Zeit die Herzen der Mutter und des Sohnes erfüllten. Daß er nach Afrika müsse, verschwieg er der guten Mutter, um ihrem Herzen nicht die Freude des Wiedersehens zu verbittern.

Nach acht Tagen ging er zu Herrn Köchlin nach Mühlhausen.

„Aha,“ sagte der Fabrikherr, „Du willst den Kasten holen, der an Dich von Herrn Vernet geschickt worden ist? Wahrscheinlich [408] ist es ein Bild. Willst Du es nicht verkaufen? Ich würde Dir, ohne es gesehen zu haben, 500 Franks dafür bieten, wenn es von Horace Vernet ist.“

„Es ist von seiner Hand,“ sagte Jean. „Aber ich kann es nicht hergeben, und wenn Sie mir die halbe Welt anböten!“

Er eilte heim.

Dort angekommen, öffnete er den Kasten und nahm das wunderschöne Bild heraus, welches in einen breiten Goldrahmen gefaßt war.

Entzückt und staunend betrachtete es Mutter und Sohn. Die Aehnlichkeit war sprechend.

Erst nachdem es an der Wand des ärmlichen Stübchens der Wittwe aufgehängt war, fiel es Jean ein, nachzusehen, ob nicht vielleicht auch ein Brieflein dabei liege, und richtig, da lag ein großer, dicker Brief.

Rasch entfaltete er ihn und – wer malt seinen freudigen Schrecken? – Darinnen liegt sein Abschied vom Militär und eine Banknote von dreihundert Franken!

Herr Vernet schrieb ihm, da er nun nicht General zu werden Hoffnung habe, so verzichte er auf den Preis des Bildes und mache es ihm zum Geschenke. Ueber den errungenen Abschied würde er wohl nicht böse sein; und die Banknote, welche Herr Köchlin gern versilbern würde, sei dazu bestimmt, daß er sich als fleißiger Weber einrichte, um gegen seine gute Mutter die Kindespflichten getreulich erfüllen zu können.

Jetzt war die Freude vollkommen, aber auch die innigsten Dankgebete stiegen zum Himmel auf.

Herr Köchlin mußte um die Sache gewußt haben, denn er lächelte, als Jean zu ihm kam mit der Banknote.

„Wärest Du nicht froh, noch einmal nach Paris zu kommen, um diesem edlen Manne zu danken?“ fragte der Fabrikherr.

Mit einer Thräne im Auge, sagte Jean, daß[WS 2] dies sein heißester Wunsch sei.

„Gut,“ versetzte der Fabrikherr, „so kannst Du mit einem Waarentransport hin- und zurückreisen, der Morgen abgeht. Da kostet es doch nichts.“

Jean nahm dankbar dies Erbieten an und traf in Paris ein, ehe sein Bataillon nach Algerien abging.

Wie innig dankte er Vernet, und wie glücklich machte es den Künstler, ein so lauteres, dankbares Gemüth beglückt zu haben. Auch seinen Kapitain und seine Kameraden sah er wieder und konnte ihnen Lebewohl sagen.

Froh, dem Gefühle seines Herzens genügt zu haben, kehrte er mit dem Wagen des Fabrikherrn wieder heim; richtete sich als Weber ein und pflegte sein Mütterlein. Der Name Horace Vernet aber hatte und behielt in dem Hause des Webers Jean Dümmler den Werth eines Heiligen und das Bild blieb sein höchster Schatz.
O. W. von Horn. 




Von Schön.

Königlich preußischer Staatsminister und Burggraf von Marienburg.
Ein Charakterbild von Alex. Jung.
(Schluß.)

Man hat es mit Recht an den römischen Staatsmännern und Feldherren gerühmt, daß, ungeachtet der größte Theil ihres Lebens bewegt war von den Stürmen der Oeffentlichkeit, von der Sorge um den Staat und den Krieg, sie doch der Natur stets eingedenk blieben, sich gern in ihren Frieden zurückzogen, und sogar der Philosophie ihre Huldigungen darbrachten. Da pflanzten sie ihren Kohl, da kochten sie sich ihre Rüben selbst, und verlachten stolz alle Zumuthungen, die man ihnen auf Kosten ihres Charakters machte, und wiesen voll Verachtung alles Gold ab, daß man ihnen bieten wollte. Jedoch auch hier, und hier erst recht, in dieser goldenen Muse, dachten sie über den Staat nach, sie entrollten aber auch gern die Pergamente der Weisen, der Dichter, und wurden nun erst recht dessen gewahr, was die Zeit für einen Werth hat, und was es heißen wolle, ein Mensch zu sein.

Wie einer dieser alten Römer, von großer Erinnerungen, weltweiser Erfahrungen, voll großen, unbeugsamen, durch und durch nobeln, selbständigen Charakters, gemahnte uns oft Herr von Schön auf seinem einsamen Landsitze, und nicht in dem Prachtbaue der alten Marienburg hat er sich niedergelassen, sondern in einem einfachen Landhause, auf seinem Gute Preußisch-Arnau. Einmal thut ihm hier wohl die Nähe seines geliebten Königsberg, dann steht sein Land-Horst auch hinaus nach der ihm nicht minder theuern Heimath, dem Lande einfacher Sitte und ungebrochener Naturkraft, nach Litthauen, wo seine Väter ruhen, wo er die ersten Eindrücke der Welt erhalten, die ersten Materialien der Bildung empfangen, die er zu einem so weiten Ausbaue fortgeführt hat.

Das Dorf Arnau zieht sich in beträchtlicher Länge dahin; Schiffe gehen auf dem Pregelstrom hin und her, unter denen die riesig-langen, in der Mitte zu ansehnlicher Höhe aufsteigenden Dzimken-Witinnen ganz besonders bemerkbar machen, deren unförmliche, mit Bastmatten belegte Baracken wie Kameele des Wassers, wie kleine Himalaja-Gebirge aussehen, auf denen Menschen-Zwerglein krabbeln[2]. Wir blicken jenseit des Flusses in eine reiche Niederung, aus der die üppigsten Getreidefelder uns entgegenwogen und Ortschaft grenzt an Ortschaft, und da liegt das Landhaus vor uns, wahrlich einfach genug, von einem Stocke, aber von ansehnlicher Länge der Fronte. Die Wirthschaftsgebäude umher im besten Stande, jedoch ebenfalls ganz einfach hergerichtet. Schon sind wir in der Hausflur. Kein Bedientenschwarm macht uns Schwierigkeiten. Ein Diener, einfach gekleidet, meldet uns. Wir stehen vor dem Verfasser von „Woher und Wohin,“ der uns bereits im ersten Zimmer empfängt.

Wenn man berühmte Persönlichkeiten in der Wirklichkeit vor sich hat, so kann man bekanntlich in seiner früheren Vorstellung oft über die Maßen enttäuscht werden. Bei Herrn von Schön, so oft wir ihn sahen, mußten wir uns jedoch immer sagen, so mußte der Mann aussehen, von dem die Geschichte also berichtet. Diese eher hagre als starke Figur, aber von beträchtlicher Größe, die ernst, rasch, wie im wichtigsten Staatsgeschäft eben begriffen, auf uns zu tritt, die Fragen auf Fragen auf uns abschnellt, welche wir in solcher Schnelligkeit kaum zu beantworten vermögen, frappirt uns im höchsten Grade, obwohl sie uns unendlich wohlthut. Diese geistvolle Stirn, auf der so viele Gedanken ein stehendes Lager bezogen haben, dieser noch immer scharfe Augenstrahl, der auf uns eindringt, dieser Mund, um den Grazien der Weisheit weben, sie verrathen den Mann, der nicht blos über den Staat, sondern auch über das Räthsel der Welt viel nachgedacht, und der einen moralischen Halt in sich gefunden hat, um allen Ereignissen und Begegnissen gewachsen zu sein. Gewiß, dieser Kopf, dem das darauf sitzende schwarze Käppchen auch nicht im Entferntesten ein geistliches Aussehen giebt, würde in jeder Parlamentssitzung Aufsehen erregen. Aristokratisch ist der Eindruck der ganzen Gestalt allerdings, die Wahl der schnell auf’s Tapet gebrachten Gegenstände, die feine Art, wie die Fragen gestellt werden, die Leichtigkeit der Uebergänge, der Takt, mit dem jede Ueberlegenheit fern gehalten wird, alles verräth eine Persönlichkeit, die den vornehmsten Kreisen gehört, mit den Größten der Welt zu Tische gesessen und verkehrt hat. Aber schon sind auch wir zum Sitzen genöthigt, und befinden uns im Strom einer Unterhaltung, die nie abreißt, die auch den Besuchenden zum vollen Ausdruck seiner Meinungen, Ansichten, Ueberzeugungen, sogar seiner persönlichsten Interessen kommen läßt, so daß jede Beengung aufhört, ja daß durch die Weise, wie wir uns beachtet, verstanden, selbst durch die huldvollste Einräumung gehoben sehen, die Gewißheit in uns entsteht, die uns auch nicht mehr verläßt, daß wir hier einen Herrn vor uns haben, der die Ebenbürtigkeit der Geister vor allem anerkannt [409] wissen will, und daß man in seinem Hause, in seiner Unterhaltung nicht genirt sein dürfe.

Was wir nun aber von einem solchen Gesellschafter, von einem so über alles liebenswürdigen Wirthe empfangen, es übertrifft alles, was wir ihm geben könnten, ja es könnte uns überwältigen, in solcher Fülle und Mannigfaltigkeit spendet er es, wenn der Wechsel des Gedankens, der Gegenstände, die hier von allen Seiten hereinspielen, nicht auch wieder kräftigte und neu entzündete. Aus einem solchen Brillantfeuer von Gelesenem und Selbstgedachtem, von geschichtlichen Fakten, Anekdoten (an denen Herr von Schön eben so reich ist, und die er eben so appetitlich anzubringen weiß, wie einst Kant), Notizen, Erfahrungen, persönlichen Begegnissen, Urtheilen, Schlüssen, Vermuthungen, Forderungen, Mißbilligungen und Anerkennungen entnahmen wir genugsam, um einstweilen eine Skizzirung auf das Papier zu bringen. Wir geben sie hier, theils aus dem unmittelbaren Eindrucke, den wir empfingen, theils aus Combinationen, die wir machten, und aus Folgerungen, die wir zogen, um eine so gewaltige Persönlichkeit, über welche erst die Geschichte vollständig berichten wird, freilich nur sehr mangelhaft zu charakterisiren.

Der philosophische Grundcharakter des Grafen von Marienburg, des Weltweisen von Preußisch-Arnau, des Staatsmannes mit den Mitteln der Intelligenz giebt sich bei allem zu erkennen, was aus seinem Munde und aus seiner Feder kommt. Der Weltweise von Arnau mit seinem Halten auf unverbrüchliche Ordnung und Pünktlichkeit, mit seiner unerbittlichen Wahrheitsliebe, seiner Strenge der Moralität gegen sich und gegen andere, will daß jeder Mensch ohne Ausnahme in seinem Denken geschult sein solle, damit er seiner Würde sich bewußt werde, seine Vernunft in Ausübung bringe, und so also auch im Besitze eines gesunden Menschenverstandes und eines Herzens ohne Falsch sei. Erst wenn die Vernunft in jedem einzelnen Menschen entwickeit, geklärt ist, kann man über Weiteres mit ihm unterhandeln, kann er begreifen, was die Vernunft für Forderungen macht, und wie sie zu Wahrheiten führt, die über allen Zweifel fest stehen. – Man sieht, die Philosophie des Herrn von Schön ist vor allem praktisch, sie ist Lebensweisheit, die sich für Jeden schickt, ob er Fürst oder Edelmann oder Bürger oder Bauer sei. Man sieht aber auch, Herr von Schön giebt noch etwas auf die alte Logik oder Lehre vom richtigen Denken. Er ist ein Todfeind von allem Drunter und Drüber, von aller Verwirrung der Begriffe, und fordert Theilung und Eintheilung, Ober- und Unterabtheilung, wenn auch nicht auf dem Papiere, stets aber im Kopfe, damit das, was der Mensch will, als ein Ganzes klar in das mündliche oder schriftliche Wort hinübertrete. In diesem Sinne construirt Herr von Schön sicher auch den Staat zum Wohle jedes Staatsbürgers, vom Haupte bis zu den Gliedern. Wie Heinrich IV. von Frankreich einst wünschte, daß jeder Bauer Sonntags ein Huhn in seinem Topfe habe, so wünscht ihm Herr von Schön gewiß dasselbe, aber auch Licht im Kopfe und Wärme im Herzen. Das also erworbene Licht und die also gewonnene Wärme müssen dann in einer reichen Welt der Erfahrung sich bewähren und in Anwendung bringen.

Es ist wahrhaft erhebend, in unserer Zeit eines überhand nehmenden genußsüchtigen Materialismus, einer Gedankenscheu ohne Gleichen, welche die Philosophie fürchtet und abschafft, weil sie ihr unbequem wird, weil sie für Haus und Staat Ordnung und Gesundheit will, einen Staatsmann und Menschenfreund vor sich zu erblicken, der auf dem Grunde der Weisheit und nach dem Plane eines richtigen Denkens den Bau des Einzellebens wie des Staates ausgeführt wissen will. Das mindestens muß man eingestehen, für das Zweckmäßige, Anwendbare solcher Lebensweisheit spricht dieses, daß Herr von Schön sich selbst als Beispiel geben darf, wie er im Besitze der ächten Lebenskunst sein müsse. Denn ein Mann, der sich im 83sten Lebensjahre befindet, der nie seine Seelenkräfte hat ruhen lassen, nie seinen Körper verweichlichte, sich in den verwickeltsten Lagen des Lebens zurecht fand, keiner Gefahr aus dem Wege ging, und der sich so beweglich in seinem Denken, so frisch in dem Interesse, Neues aufzunehmen, seinen Körper bis auf alle Sinne (Herr von Schön liest und studirt die umfangreichsten Werke ohne Brille) so brauchbar erhalten hat, ein solcher Mann von den reinsten Tugenden muß sich mit seiner Weisheit auf dem rechten Wege befinden. Er hat schwere Verluste erlitten! Vor nicht langer Zeit wurden ihm Gattin und Tochter - und wie seltene, hochgebildete, seelenvolle Persönlichkeiten Beide! – durch den Tod entrissen. Des Zurückbleibenden gewaltiger Geist wurde bis in’s Tiefste erschüttert, aber in seiner Lebensweise, in seinem auf alle Sphären des Geistes und der Tagesfragen gerichteten Streben änderte das nichts, blieb er bis auf diesen Augenblick derselbe. Wir erinnern uns aus dem Munde des Mannes von so seltener Weisheit vernommen zu haben, Zweierlei erhalte frisch und bis in’s höchste Alter ungeknickt. Einmal müsse man stets mit Jüngeren Umgang pflegen, sodann sich stets das Interesse für Literatur bewahren, also für jede neue Erscheinung, die sich auf dem Gebiete der sprachlichen Schöpfung kund giebt.

Kant, der im Gedankenreichthum ein Millionär, und ebenfalls im Besitze der weisesten Lebenskunst war (er erreichte ein sehr hohes Alter), Kant, der selbst unter den schlichtesten Bürgern Königbergs seine Anhänger hatte, und sogar jetzt noch unter ihnen in seinen verständlicheren Schriften eifrige Leser findet, Kant bemerkte einmal, man solle vor jeder Abfassung einer schriftlichen Arbeit erst „Lärm schlagen“ in seinem Kopfe, um die nöthigen Gedanken zu versammeln, diese Gedanken dann auf dem Papiere ordnen, und nun erst die Ausarbeitung vornehmen.

Herr von Schön, wohl der älteste und ohne Zweifel der tiefste der noch lebenden Schüler des Weisen von Königsberg, hat diese Kunst des Lärmschlagens im Geiste früh schon geübt, so daß dieses Gedankenheer jetzt auch in der Unterhaltung stets ihm zu Gebote steht. Wie er im Gespräche diese Gedanken, mit unermeßlichen Erfahrungen vereinigt, anrücken läßt, mit fliegender Eile sie in Bewegung setzt, so merkt man’s ihm ab, wie er auch jeden Andern, mit dem er spricht, auf den Gedanken und die Erfahrungen hin, die er etwa gemacht hat, beobachtet, wie er sie in ihm zum Appell ruft, um Rede zu stehen, und ihm beizustimmen oder ihn zu bekämpfen.

Am Strengsten dürfte Herr von Schön in seinem Urtheil über den Staatsmann und den publicistischen, historisch-politischen Schriftsteller sein. Der Burggraf von Marienburg und Schüler Kant’s wird die Ueberzeugung hegen, daß es in Deutschland bis dahin noch wenig ächte Staatsmänner gegeben hat, nicht aus Mangel an Talent, vielmehr aus Mangel an Gelegenheit, aus Mangel an Oeffentlichkeit des Staatslebens, (welches erst in den letzten Jahren unter uns sich entwickelt und schon glänzende Talente bekundet hat), ferner aus Mangel an hochherziger Freisinnigkeit im Zusammentreffen der Ideen, im Kampf mit der öffentlichen Meinung, in der Gegenseitigkeit aller Stände, um das Volk mit seinem Fürsten lebendig zu vermitteln. Den Staatsmännern Englands wird Herr von Schön Bedeutendes zuerkennen, aber auch sie werden ihm lange noch nicht genügen. Und wenn man an die Alten, zumal an die Griechen denkt, wie deren Weise den Staat construirt haben, so hat Herr von Schön Recht. Der Schüler Kant’s wird es in keiner Art zugeben, daß der wahre Staatsmann sich bilden könne auf dem Wege der bloßen Rechtswissenschaft, nur beim Studium der bisherigen Gesetze und der Akten, in Verbindung mit der cameralistischen Wissenschaft, der Statistik und Volkswirtschaftslehre, auch nicht blos im Kampf der öffentlichen Parteien, der Debatte, und wären es die Reden und Gegenreden beider Parlamente. Am Wenigsten wird der Weltweise von Arnau geneigt sein, einzuräumen, daß die bisherige Diplomatie, die Klugheit und Gewandtheit des Ausweichens und Vorgehens, des Geheimhaltens und Enthüllens, wenn auch mit der feinsten Berechnung und Abwägung durchgeführt, den Staatsmann, wie er sein soll, zur Folge haben könne. Dazu gehört, nach Herrn von Schön, philosophischer Grund und Boden, der in die ganze Bildung des Mannes, der sich dem Staate widmen will, mit seiner Saat hineinwachsen muß, um die Früchte davon dem Volke zu Gute kommen zu lassen. Daher auch den Staats-Weisen vor Allem Klarheit und Richtigkeit des Denkens, feste, aber nicht pedantische Grundsätze, Wahrheitsliebe um jeden Preis, moralische Unumstößlichkeit, Kenntniß des Volkes in allen seinen Ständen und Fähigkeit bei der Erhaltung des bewährten Alten auch auf Neues prüfend, aber auch willig einzugehen, bilden werden. Alles in Allem, ohne Philosophie, ohne die Weisheit und Gedankenlichtung dieser Wissenschaft auch auf das Volk zu übertragen, um dessen Reife immer entschiedener zu gewinnen, ist nach Herrn von Schön kein Staatsmann, und am Wenigsten ein deutscher, auch nur möglich, geschweige denn zu verwirklichen.

Den ähnlichen Maßstab wird der Verfasser des „Woher nicht Wohin“ an den publicistischen Schriftsteller legen. Dieser soll nicht [410] blos für die Kabinette – und nie im Geheimen dafür besoldet – auch nicht blos für die Gelehrten, er soll auch für die Nation schreiben. Er soll ebenfalls philosophische Durchbildung besitzen, und sie auch seinerseits in das Volk hinüberleiten, und alles Das, was nach dem oben Angedeuteten aus dem Geiste der ächten Weltweisheit folgt. Die Quellen seiner geschichtlichen Abfassung hat ein solcher Schriftsteller nicht blos in anderen, wenn auch noch so bewährten Schriften zu finden, sondern vor Allem in dem Studium, in der Vernehmung der noch vorhandenen lebendigen Wirklichkeit der Geschichte, also in den Augenzeugen, in denen die noch leben, und entweder die einstigen Vorgänge selbst veranlaßten, oder doch mit Denjenigen verkehrten, unterhandelten, vielleicht sogar kämpften, welche einst die Hauptrolle im Geschichtslaufe spielten, und die Umwälzungen herbeiführten. So erst werden publicistische Werke gewonnen, auf welche der künftige Historiker sich verlassen kann, solche, welche die Nation der Wahrheit gemäß unterrichten.

Einer der seltensten deutschen Autoren auf den erwähnten Gebieten, classisch in jedem Betracht, ist, auch nach Herrn von Schön, Varnhagen von Ense, wie auch sein letztes Buch, dieses Meisterstück in der Durchdringung und Darstellung eines Feldherrnlebens, beweist, die Biographie des Grafen Bülow von Dennewitz.

Vergegenwärtigen wir uns einigermaßen, welcher Reichthum des Mitgetheilten, Gelernten, der Unterhaltung, der Erheiterung, bis zum geistreichsten Witzwort und den pikantesten Originalzügen aus der Gallerie des Jahrhunderts uns im Laufe einiger Stunden von dem ausgezeichneten Staatsmanne zu Theil geworden, so bedauern wir um so mehr, hier schon abbrechen zu müssen, und wenigstens für jetzt noch nichts Specielleres mittheilen zu dürfen.

Welche Erlebnisse sind an jenem gründlichsten Beobachter seiner Zeit vorübergegangen, welche Thatsachen, Personen, und nicht vorübergegangen, nein, er bewahrt sie lebendig in sich, er weiß sie durch die Gewandtheit seiner Rede, noch einmal sprechend, handelnd auf den Schauplatz zu bringen. Ganze Zeitalter der Kultur und politischen Geschichte werden uns in solcher Scenerie lebendig, als erlebten wir sie unmittelbar, wenn wir sie aus dem beredten Munde der Herrn von Schön vernehmen. Die Blüthenperiode Königsbergs steht in allen ihren Gestalten aus dem Grabe vor uns auf: Kant, Hamann, Herder, Werner, Hoffmann, Borowski, Mangelsdorf, und erstreckt sich nach Deutschland, nach England hinüber, wo neue Persönlichkeiten uns begegnen. Und nun folgt ein ähnliches Eingehen auf das vorige und jetzige Jahrhundert in dem Processe des Staatenlebens, wo die einflußreichsten, zum Theil noch unerschlossensten Charaktere, wie sie in Intriguen und wahrhaft großen, genialen Handlungen ihre Pläne und Ausführungen über Europa und weiter fortspannen, uns ganz neue Seiten enthüllen und nun erst durchsichtig für uns werden.

Indem wir im Begriff sind, dem Weisen von Arnau uns zu empfehlen, blicken wir noch in die nächsten Räume seiner Umgebung, denn sie bildet der große Mann ähnlich bedeutsam um sich, wie das Gestirn seine Atmosphäre oder seinen Aether, den es sich wolkenlose zu erhalten weiß. Unsrem Standpunkt gegenüber glauben wir ein Bild J. J. Rousseau’s zu erblicken, dessen politische Ansichten und Experimente auf gut Glück, wenn auch mit allem Glanze französischer Eleganz und Beredtsamkeit durchgeführt, einem so logischen Denker und geschulten Staatsmanne wie Herrn von Schön natürlich unendlich fern liegen, welcher aber als Repräsentant einer ganz neuen Geistesbildung in anderen Beziehungen, vor Allem als Naturfreund, ganz in diese Einsiedelei unseres Helden gehört.

Das Eingangs-Zimmer, in welches wir jetzt wieder treten, scheint einem Gelehrten von Fach und nicht einem Staatsmanne anzugehören. Auf einem geräumigen Tische liegen broschürte Bücher massenweise, die in ihren frischfarbigen Umschlägen uns sogleich sagen, daß der Bewohner dieser Räume noch lange nicht abgeschlossen hat, sondern auf den mannigfaltigsten Gebieten den Literaturen der Völker folgt, so daß dieses Gemach nur die Vorhalle zu der Bibliothek ist, in welche diese Novitäten hinüberwandern, um Neuem Platz zu machen. Vielleicht ist es dieser andere Tisch, mit Schreibmaterialien reichlich angefüllt, an dem der preußische Staatsminister täglich seine Denkwürdigkeiten dictirt, deren noch ungeahnte Mysterien vielleicht jene saubersten Eichenschränke verschließen. Das Andenken, welches Herr von Schön in diesem mit höchster Spannung schon längst erwarteten Werke seinen Zeitgenossen schenkt, die fast alle schon dahin sind, wird Epoche bilden in der Geschichte der Denkwürdigkeiten aller Jahrhunderte. Es wird aber auch das Andenken an den Verfasser selbst, in dieser gewiß höchst eigenthümlichen Auffassung wie Darstellung der Ereignisse und Personen, welche doch eben dadurch ganz neue Lichter auf die Wahrheit wirft, in einer Weise überliefern, die ihn selbst auch in seiner großartig unwiderstehlichen Individualität in der Geschichte unvergänglich macht. Königsberg, welches in diesem Sommer sein sechshundertjähriges Jubiläum feiert, hat in dem Staatsminister Herrn von Schön den würdigsten Jubilar zu begrüßen, der dieser Stadt einen ganz neuen Aufschwung gegeben, der dem Vaterlande Außerordentliches geleistet, und der, erfüllt von der treuesten Liebe zu seinem Könige, das Wohl aller Stände, der deutschen Nation, das Gedeihen der Menschheit von Geschlecht zu Geschlecht unverwandt im Auge gehabt hat.




Gesundheits-Regeln.

Wie der Magen im gesunden und kranken Zustande zu behandeln ist.

Der Magen, – ein dudelsackförmiger häutiger Beutel, welcher alles Feste und Flüssige, das wir verschlucken, in sich aufnimmt und seine Lage in der Oberbauchgegend, in der sogenannten Herzgrube und unter den untern Rippen der linken Seite hat, – spielt insofern eine große Rolle im menschlichen Organismus, als er das Hauptorgan für die Verdauung der Nahrungsmittel (und zwar vorzugsweise für die wichtigsten, für die eiweißstoffigen; s. Gartenlaube Jahrg. I. Nr. 39. S. 423) und sonach auch für die Blut- und Stoffbildung ist. Störungen der Magenverdauung, in Folge von Krankheiten dieses Organes, ziehen deshalb bald Blutarmuth und schlechtere Ernährung des ganzen Körpers[WS 3] mit Bleichwerden, Abmagerung, Kraftlosigkeit und Mattigkeit nach sich und können selbst zum Tode durch Auszehrung führen. – Die krankhaften Affectionen des Magens sind: Katarrhe, Geschwüre (a), welche Narben (c) hinterlassen, leichtblutende Abschorfungen (b), Verhärtung mit Verengerung und Krebs; die meisten dieser Krankheiten sind bei richtiger diätetischer Behandlung des Magens heilbar, und die wenigen unheilbaren lassen sich durch richtige Diät weniger gefährlich und beschwerlich machen. – Es deuten sich die Magenaffectionen an: durch Appetitlosigkeit, Ekel, Aufstoßen, Uebelkeit, Sodbrennen, Würgen, Brechen (von genossenen Speisen, sauerem Magensaft, Schleim, Galle oder Blut), bald oder einige Stunden nach dem Essen, und durch unangenehme oder schmerzende (krampfartige, reißende) Empfindungen in der Magengegend (s. Magenkrampf in Gartenlaube Jahrg. I. Nr. 42. S. 456).

Um den Magen gesund zu erhalten bedarf derselbe einer passenden Behandlung von außen und von innen. Die richtige äußere Behandlung besteht darin, daß man zuvörderst dem Magen bei und nach dem Essen den gehörigen Raum zu seiner Ausdehnung und Bewegung gestattet. Deshalb sollten alle, die Oberbauchgegend verengende und zusammenschnürende Kleidungsstücke, wie Schnürleib, Unterrocksbänder, Hosenbund, Weste, Rock u. s. w., soviel als nur möglich locker gemacht werden. Auch ist gleich nach dem Essen das Sitzen mit vorgebeugtem Oberkörper zu vermeiden. Sodann kann nicht genug vor stärkerer Erkältung der Magengegend gewarnt werden, weil diese bei vielen Personen Magenkatarrh nach sich zieht, während Wärme dieser Gegend die Magenverdauung zu unterstützen scheint. Daß stärkere Stöße und Erschütterungen den Magen schädlich werden können, versteht sich wohl von selbst. – Was die innere Behandlung des Magens betrifft, so bezieht sich diese auf die Aufnahme von Stoffen in denselben, welche Schaden verursachen können, im Allgemeinen also auf zu viele, zu heiße oder zu kalte und zu schwer verdauliche, sowie auf sehr reizende und giftige Stoffe (s. einen spätern Aufsatz). Ueberladungen [411] des Magens, besonders mit festen und schlecht gekauten, sehr fetten, reizenden und spirituösen Stoffen geben die häufigste Ursache der Magenverderbniß ab. Sehr oft thut dies aber auch der Genuß vielen kalten Wassers, sowie ganz besonders der häufige Gebrauch von Abführmitteln, deren Anwendung doch ganz entbehrlich ist (s. Gartenlaube Jahrg. III. Nr. 1 und 21). Bei Cigarrenrauchern und Tabakskauern trägt gar nicht selten das Verschlucken von Tabakssauce Schuld an der Magenverderbniß.

Der kranke Magen, es mag seine Krankheit sein welche sie will, verlangt zu seiner Heilung eine strenge und consequent durchgeführte Diät, namentlich also warme, flüssige oder breiige, leicht verdauliche und milde Nahrungsstoffe, welche lieber öfterer, aber in kleinern Portionen zu genießen sind. – Bei Magenverderbniß durch Ueberladung (Indigestion) taugt das gewöhnliche Reizen des Magens durch bittere Spirituosa (Liqueure, Bier u. dgl.) oder durch sehr salzige Stoffe durchaus nicht, und wenn sie auch einigemal nichts schaden, sogar zu helfen scheinen (denn es ist dies nur Schein, weil sich der Magen nach und nach ganz von selbst wieder herstellt), so bringen sie, öfter angewendet, doch endlich Nachtheil und bleibende oder doch schwer zu hebende Magenverderbniß (eine Art Stockschnupfen mit Verdickung und Verhärtung der Magenwand). Deshalb ist es weit vortheilhafter, einen durch Ueberladung verdorbenen Magen lieber einige Zeit, einen oder einige Tage ruhen (hungern) zu lassen, oder nur ganz milde, reizlose, lauwarme und schleimige Nahrungsmittel zuzuführen. – Hat Jemand schon längere Zeit an diesen oder jenen, oben angeführten Magenbeschwerden gelitten, dann ist die angegebene Magendiät so bald als möglich und auch längere Zeit hindurch einzuhalten; denn Arzneinen machen den Zustand wahrlich nicht besser. Es muß deshalb der Patient alles Kalte und Reizende (Pfeffer, Senf, Meerrettig, starke Gewürze und Säuren), sowie Spirituosa und scharfe Arzneien vermeiden; er muß anstatt fester und unverdaulicher, besonders pflanzlicher Stoffe (wie Hülsenfrüchte, Gemüse, Obst, Schwarzbrot, hartes Fleisch und hartes Ei, Eingepöckeltes und Geräuchertes, Fische, Käse, sehr fettreiche Substanzen u. s. f.) nur flüssige, weiche und leichtverdauliche, besonders thierische Nahrung (vorzugsweise also gute Fleischbrühe und weiches Ei, lockeres Weißbrot und zartes, saftiges, weiches Fleisch) zu sich nehmen, und dies, wie schon gesagt, in kleiner Quantität, aber öfterer. Milch wird deshalb nicht so gut vertragen als man wohl glaubt, weil sie im Magen gerinnt und dadurch Quarkstückchen bildet, welche weniger gut und nicht so schnell als flüssige Eiweißstoffe verdaut werden. Alles Feste (zumal Fleisch und Brot), was von einem Magenkranken genossen wird, muß sehr klein geschnitten und tüchtig gekaut werden, damit es breiig weich in den Magen gelangt. Uebrigens ist auch die Magengegend durch eine Leibbinde warm zu halten (Ueber die Verdaulichkeit der Nahrungsmittel soll ein späterer Aufsatz handeln).

Ein kranker Magen.
a. Ein frisches Magengeschwür. b. Wunde und leicht blutende Stellen. c. Geschwürsnarben.
d. Eingang in den Magen (Magenwand). e. Ausgang (Pförtner). f. Milz.[WS 4]

NB. Die homöopatische Behandlung von Magenbeschwerden, wie sie in den neuesten (1855 erschienenen) Schriften empfohlen wird, wirft ein helles Licht auf die ganze homöopathische Wirthschaft. Denn welcher verständige Mensch glaubt wohl, daß es in jedem einzelnen der folgenden Fälle mehrere verschiedene Heilmittel geben kann? So: bei Verderbniß des Magens nach Ueberladung und Ueberfütterung, nach Rausch, durch fette Speisen, Zucker und Süßigkeiten, Salziges, Saueres, Blähendes, Obst, Gegohrnes und Fauliges, Kaltes und Eis, Wasser, Milch, Bier, Branntwein, Wein, Kaffee, Thee, Tabak; – mit bitterm, saurem, fauligem, versagendem, gewaltsamem Aufstoßen, mit Sodbrennen, Schlucksen, Erbrechen (von Speisen, Galle, Schleim, Wasser, sauren Stoffen, Blut, schwärzlichen Stoffen; früh, Nachts, durch Trinken u. s. f.). – Nur weil die homöopathischen Mittel gleich Nichts sind und der erkrankte Magen sich gewöhnlich von selbst herstellt, darum wird ein Magenkranker auch bei homöopathischer Behandlung gesund. Noch niemals ist durch Homöopathie ebensowenig aber auch durch eine andere Heilmethode, eine Magenverhärtung und ein Magenkrebs geheilt worden, obschon die Homöopathen heilsame Mittel dagegen besitzen wollen. Ein Heilkünstler, welcher sich mit einer solchen Heilung brüstet, ist entweder ein Lügner und Betrüger oder ein Dummkopf. (Bock.) 

[412]

Lebensbilder aus der Türkei Kleinasiens.

Im Allgemeinen weiß Jeder, wie ein Türke etwa aussehen mag: ernst, würdig, beturbant, weithosig, krummbeinig, langbärtig und langpfeifig; aber Wenige können sich eine deutliche Vorstellung von ihrem Alltagsleben[WS 5] machen, wo und wie sie essen, schlafen, leben, lieben und arbeiten. Wie sieht der Türke ohne Turban aus? Oder wird er mit ihm geboren? Lächeln diese ernsten, traurigen, Untergang ahnungsvollen Gesichter nie? Beschleunigt sich zuweilen sein träumerischer Schritt zu einer modernen, geschäftigen Eile? Sind die Türken nie Kinder gewesen und wie sehen sie in diesem Stadium aus? Giebt es keine jungen, rosenwangigen, lebenslustigen türkischen Mädchen?

Ich habe lange Zeit in ihrem sonnigen Lande gelebt (sagt eine englische Dame, Tochter eines englischen Konsuls in Kleinasien, der wir diese nachfolgenden Mittheilungen verdanken) und kann daher Manches aus dem Privatleben der Türken zum Besten geben. In Kleidung, Sprache, Sitten und Gebräuchen, Bewegungen und allem Beiwerk sind die Türken als Volk so durchaus malerisch, daß man sie sich nur als lebende Gemälde, als „lebende Bilder“ denken kann. Mag man sie sich in ihrem Geschäftsleben vorstellen in den alten, wundervollen Bazars, wie wir sie aus den „Arabischen Nächten“ kennen, oder zu Hause auf ihren Füßen sitzend und Taback rauchend, oder an ihre Weiber denken, wie sie hinter vergitterten Fenstern ihr unwürdiges ziel- und gedankenloses Leben hinschleppen, überall kamen sie als seltsame Bilder und Gemälde vor unsere Erinnerung. Ich habe die Türken in ihrer eigentlichen, noch nicht von der Civilisation beleckten Heimath, in Kleinasien, kennen gelernt, und kann daher von ihrem wahren Wesen und ihren ächten Farben sprechen. Wir kamen ihnen von Hause aus mit vollkommenem Vertrauen entgegen und hatten nie Ursache, es zu bereuen. Furchtlos, ohne bewaffnete Diener – die ersten Engländer unter ihnen, ritten wir umher und wurden überall, besonders auf dem Lande, mit der größten Freude begrüßt. Mancher alte Türke gab uns ein trauliches Kopfnicken und freundliches Wort. Oft mußte ich vor dem gegitterten Fenster eines türkischen Mädchens stehen bleiben und mich neugierig ausfragen lassen wegen meines Unglaubens, meiner Kleidung und meiner Freiheit, um die sie mich herzlich beneideten – arme, gefangene Sklavinnen. Manche Frau kam auch heraus zu uns, um und um eingehülst, um sich vor meinem Vater nicht sehen zu lassen, sich mir nur dicht Auge gegen Auge zeigend, um mir Früchte, Quitten oder Pflaumen, zuzustecken und ein freundliches Wort von mir zu erhaschen.

Mit welcher Freude erinnere ich mich unserer köstlichen Spazierritte, vom dämmernden Morgen bis zur frisch aufgehenden Sonne, durch schwer beladene Weingärten, an curiosen, einsamen, ländlichen Hütten vorbei, in denen die Weinbergswächter schliefen, so oft es ging, nie aber, ohne ein Auge offen zu behalten, da die Trauben von Menschen und Thieren arg angefeindet werden, in wüste Strecken hinein, durch fichtendunkle Schluchten, durch welche nie ein Sonnenstrahl drang, hin an rauschenden, donnernden Wasserfällen und aufsteigend in Paradiese der wildesten, üppigsten Vegetation, aus welcher uns nicht selten kleine schwarze Bären, Bewohner der Berge, aber große Liebhaber der Trauben des Thales, oder scheußlich heulende Schakals entgegensprangen. Auch trafen wir manchen Deserteur von der Armee, der hier in diesen Wildnissen als freier Räuber sich häuslich eingerichtet und gern auf Alles schießt, was sich im nähert. Wir kamen immer gut davon. Auch die wilden Hunde, die hier einsamen Reitern (zu Fuße sieht man Niemand in diesen üppigen Wüsten) oft lebensgefährlich werden, wußten wir stets zu treffen oder abzuwehren. Wir waren das Wunder der Gegend zehn Meilen ringsum, und wenn wir zum Frühstück nach Hause kamen und abstiegen und der starke Araber Ibrahim unsere Pferde nahm, waren wir jedesmal von Neugierigen umringt.

Ibrahim war ein Herkules von Körper, der grimmigste Türkenhasser und meines Vaters persönliche, zuverlässige Leibgarde. Er spielte bei Tische den Kellner und sattelte unsere Pferde. Aller übrige Pferdedienst fiel einem Türken zu, der den Araber ebenso grimmig haßte, wie dieser ihn, so daß sie sich gegenseitig mit Luchsaugen bewachten und jeden kleinen Fehler vergrößert vor den Richterstuhl meines Vaters trugen. Außer dieser Bedienung hatten wir noch einen braunen Malteser und einen schwarzen Portugiesen aus einer Kolonie. Eine scharfe, brünette Griechin war meine Kammerjungfer und perfekte Köchin für unser ganzes Haus. Zu diesem seltsamen Personal paßte das Haus, ein langes, niedriges Gebäude, wie sie hier fast alle sind, mit einem Vorbau. Unmittelbar dem Eingange gegenüber war ein mysteriöser Raum, in welchem die Griechin stets commandirte, schabte und scharwerkte, um Frühstück, Mittag- und Abendmahlzeit zu componiren. Links eine lange Halle zum Essen und Besuche zu empfangen. Das eine Ende mit einer kleinen Anhöhe und Kissen ringsum, um Ehrengäste zu placiren. Die Wände weiß, Meublement ein grober Tisch, einige Stühle und zwei große Wasserkrüge – ein bedeutender Luxus, da die Türken in ihren Putzzimmern in der Regel weder Tische noch Stühle haben. Nichts als Divans ringsum. Auf einer Seite eine offene Abtheilung, Rauchzimmer, in welches ein Granatenbaum seine mit glühenden Früchten schwer beladenen Zweige hereinschüttelte. Die Schlafzimmer öffneten alle in diesen Hauptraum und waren mit Brettern, auf denen einige Decken und über welchen mousselinene Mosquito-Vorhänge angebracht waren, außerdem mit einigen einfachen Waschapparaten ausgestattet. So wenig braucht der civilisirte Mensch, wenn er’s nicht bequemer haben kann. Wir in unsern luxusüberstopften Läden und Ansprüchen werden all Lebtage nicht fertig, Stückchen in die Wirthschaft nachzukaufen.

Unser Haus stand auf der Braue eines Hügels, der einen steilen bewaldeten Abhang hinunter sah. Der Wald zirpte jede Nacht von Millionen Grashüpfern so laut, daß jeder andere Laut, selbst die gemüthliche Musik der grünen Frösche, darin unterging. Feigen und andere Bäume steckten ihre üppigen Fruchtarme durch jedes Fenster und jede Ritze in der Wand, als bäten sie uns, ihnen von ihrer schweren Bürde abzunehmen. Der Früchte aus dem Schooße der Natur sind ja hier so überschwenglich viele und der Menschen so traurig wenige! Wo die Natur zu freigebig und weichherzig ist, gedeiht der zum Kampfe mit der Natur bestimmte Mensch nicht. Das ist der natürliche Fluch der Türkei und aller schönsten Gegenden der Erde. Wer durch den Bosporus kommt, den schläfert die weiche, üppige Natur ein und flüstert ihm in’s Ohr: Erschlaffe an Geist und Leib, schlafe und rauche, vegetire und steige aus dem Geschichts- in das sonnige Pflanzenleben herab und laß dich beiläufig Tag und Nacht von Insekten aller Art quälen. –

Die andere Seite unseres Hauses wurde ganz von einem Bade eingenommen. Es bestand aus zwei Räumen, einem Kühlzimmer mit einem kleinen Bade für eine Person, und einem großen Gewölbe über einem ringsum von Stufen umgebenen Marmorbassin, das aus einer natürlichen Quelle fortwährend versehen ward. Es dampfte stets mit großem Geräusch hinzu und ab. Es gab verschiedene heiße Quellen in der Nachharschaft; unsere hieß wegen der Klarheit des Wassers die „Silberquelle.“ Die Weiber und Mädchen der Nachbarschaft hatten jeden Tag während gewisser Stunden die Erlaubniß, die Silberquelle zu benutzen. Von dieser Zeit ließen sie auch selten etwas nach. Die Mädchen und Frauen und selbst Kinderchen, die kaum laufen konnten, schwammen in dem heißen Silber von 45 – 48 Grad wie Enten und lachten, jauchzten, sangen und kreischten dazu, daß die ganze Halle von dieser Musik wiedertönte. Ich habe sie mehrmals belauscht und denke an diesen nackten Jubel unten, leicht verschleiert durch den stets aufqualmenden Dampf, wie an Zaubermährchen zurück. Ich hielt es höchstes eine Viertelstunde in diesem heißen Elemente aus; sie plätscherten Stunden lang darin herum, schliefen dann ein Weilchen im Kühlzimmer und sprangen dann mit neuem Jubel in das flüssige, dampfende Silber.

Eines Tages hört’ ich eine merkwürdig-eintönige Kindesstimme im Bade und ging, um zu sehen, wer es war; eine niedliche, sechsjährige Griechin aus unserer Nachbarschaft, die wie ein Kork auf dem klaren Wasser umhersprang und dazu aus Leibeskräften ihre Melodie kreischte. Von meiner Gegenwart erschreckt, tauchte [413] sie unter, und ich eilte hinweg, aus Furcht, sie könnte sich ersäufen, um nicht gesehen zu werden.

Die Hauptthür zu unserem Hause stand immer offen, so daß Weiber und Kinder sich oft hereinstahlen, um uns erst aus der Ferne in großäugiger Verwunderung anzustaunen, dann leise näher zu treten und ernstlich und andächtig auf uns seltsame Exemplare des Menschengeschlechts zu starren. Den tiefsten Respekt hatten sie vor unsern Büchern und unserer Kunst, darin zu lesen. Das erschien ihnen ganz übermenschlich. Sie besahen die Bücher von Innen und Außen, gingen um uns herum, schüttelten mit den Köpfen, wunderten sich gegenseitig an und gingen ganz in Wunder und Staunen davon.

Eines Morgens traten wir eine lange vorher besprochene Reise zu einem türkischen Landeigenthümer mit einem unaussprechlichen Namen an. Er bewirtschaftete sein Gut selber. Wir wollten nur ein Bild von dieser Wirthschaft haben. Sein Grundbesitz war größer als manche unserer Grafschaften, so daß wir ein gewaltiges Vorurtheil von Respect mitnahmen. Unsere Straße führte uns über fetteste, üppigste Landstrecken hin, die nach Kultur schrien, auch innerhalb des Gebietes unseres großen Landwirths, der von seinem Vater etwas knapp gehalten worden war, und nach dessen Tode die Freiheit sofort dazu benutzt hatte, nach Constantinopel zu reisen und „das Leben zu genießen.“ So hatte er natürlich Schulden gemacht, welche durch Pfändung gedeckt wurden. Auch lebte er unter einer Art Verbannung. Die Regierung hatte ihm nämlich gerathen, bis auf Weiteres hübsch zu Hause zu bleiben. Dies mochte den traurigen Anblick der Residenz dieses Herrn erhöhen. Das Haus war lang, einstöckig und öde, mit einzelnen Anbauten und besondern Zimmern für die Frauen. Das Ganze sah wie ausgestorben aus. Das Getrappel unserer Pferde versetzte die vorher verschlafenen Hunde in bellende Wuth, durch welche einige dienstbare Geister erweckt und auf die Beine gebracht wurden, für unsere Pferde zu sorgen, während wir unangemeldet, wie alte Bekannte, hineinschritten. Es war ein merkwürdiger Stil von Besuch. Wir gingen von der äußern Thür in eine große Halle. den Lieblingsaufenthalt aller Türken, mit Kissen an den Seiten hin und einen Springbrunnen in der Mitte, dem ganzen Meublement. Kein menschliches Wesen ließ sich sehen, bis wir in eins der anstoßenden Zimmer traten. Hier kühlten sich einige Melonen im Bassin des andern Springbrunnens, und der Hausherr lag daneben, that nichts und rauchte Tabak dazu.

Ein dummer, langer Mann mit delicatem Gesicht, das aber wie gestorben aussah, zumal da er als gebildeter Mann von Lebensart in Gegenwart unverschleierter Damen nichts Anderes thun konnte, als die Augen an den Boden zu heften. Seltsame Sitten! Wir mußten ihm frech erscheinen und möchten doch keinen Augenblick eine der peinlich gehüteten Perlen eines Harems sein. - Drei Diener standen wie von Stein umher, so daß es mir schien, als seien diese Gestalten alle in dem staubigen, schmutzigen Raume hier von der Geschichte vergessen worden, und aus Versehen aus frühern Jahrhunderten hier kleben geblieben. Alles umher athmete verstaubte, öde Trostlosigkeit. Auch das alte, verwitterte Weib, welches jetzt erschien, um uns, den weiblichen Theil des Besuchs, in ihre Zimmer einzuladen, erschien wie ein Stück vertrocknete Geschichte. Wir folgten ihr durch den Hof, auf dem gigantische, schwarze, rauhe Buffalo’s mit fürchterlichen Hörnern umher lagen, in den Harem, den man sich in der Regel als reizend vorstellt. Aber dieser war, wie die meisten, die ich gesehen, traurig, öde, staubig, kahl und geistlos. Wir wurden zuerst der Mutter des Herrn vorgestellt, einer starken, freundlichen Dame, dann seiner einzigen Frau, einem blassen, gebrechlichen Mädchen, die wir für ein schönes Kind hätten halten können, wenn sie nicht so kränklich und hülflos aussähe. Sie trug die üblichen, weiten Beinkleider mit einer kurzen Tunika und einer Jacke von Tuch mit Pelz verbrämt. Ihr schwarzes Haar hing lose herab unter dem ewigen Fez hervor, der noch mit farbigem Mousselin umwickelt war. Die Dienerinnen trugen sich in demselben Stile, nur von hellfarbigem, englischem Kattun.

Die Unterhaltung war nicht sehr interessant, da sie uns schwer ward und die Damen wegen ihres Negligee offenbar Verlegenheit fühlten. Sie bestand aus kurzen Fragen und Antworten. Nur auf die Frage, ob sie viel von dem Fieber des Landes litten, wurden sie sehr lebhaft und läugneten dies in aufgeregtester Weise.

Eine der Damen sprang auf, faßte meine beiden Hände und rief ängstlich: „Yok! Yok! – Yok! Yok!“ (Nein! Nein!) als wenn man das Fieber just schon von bloßer Erwähnung bekommen könne. Die blassen, kränklichen Gesichter bestätigten dies auch nur zu gut. Fieber ist das Gift von ganz Kleinasien. Eine Sclavin machte uns in üblicher Weise Kaffee auf einem Dreifuße im Winkel des Zimmers mit Holzkohlen, in einem rostigen entstellten Kessel, dick wie Honig und ohne Milch und Zucker in kleinen Gefäßen (wie Eierhalter) auf kleinen silbernen Bretchen umher gereicht. Das Aroma ist schön, aber das Trinken oder Essen dieses schwarzen Brei’s war uns ein großes Opfer, das wir aber bringen mußten, um nicht auf das Grimmigste zu beleidigen. Nach dem Kaffee Früchte, eingemachte Kirschen, ein Präparat von Rosen und andern Delicatessen, die mit kleinen silbernen Löffeln gegessen werden. Dabei wird Wasser herum gereicht. Nach dieser Erquickung traten wir unsere Rückreise an, froh, daß es bei uns keine Harems giebt und keine verschlafenen Türken, die keine Dame, die sie nicht gekauft, ansehen dürfen.

Nach einigen Tagen erwiederte der galante Türke unsern Besuch, malerisch angethan auf einem schönen Rosse. Da er aber keinen Mann zu Hause fand, ritt er wieder fort, aus Galanterie nicht die geringste Notiz von uns nehmend. Uns erschien das freilich wie das roheste Bauernthum.

Klima und Vegetation sind hier wahrhaft paradiesisch, und wenn Kultur dazu käme, könnte ein Morgen hier mehr leisten als bei uns in Monden eine Quadratmeile. Pflanzen und Bäume wachsen und blühen mit einem Luxus, einer Ueppigkeit, daß man an Wunder glauben lernt. Man wirft hier irgendwo etwas Samen hin, und in einigen Wochen wogt und blüht und fruchtet es, daß man vor Fülle umkommen möchte. Man kauft für einen Penny so viel Melonen, wie kein Mensch fortschleppen kann.

Aber nach jeder Ueberfülle des Sommers folgt der verhungernde Winter. Kein Türke denkt daran, Vorräthe für den Winter zu sammeln, so daß während der Zeit jedesmal die Hälfte des Viehs tatsächlich verhungert und die andere als Knochengerippe dem Frühlinge zu wankt. Manche Franken von England, Frankreich, Deutschland u. s. w., haben sich durch die ungeheuere Wohlfeilheit des reichsten Bodens verleiten lassen, sich hier anzusiedeln, aber sie kamen um in der Fülle, die sie aus Mangel an Wagen und Absatzstellen nicht verwerthen, und daher nicht zu Mitteln machen können, den Ackerbau zu verbessern und ihr Leben mit den nöthigsten Bedürfnissen der Civilisation zu versorgen. Die üppige, jedes Jahr in sich selbst verfaulende Vegetation unterhält stets eine giftige Fieberluft, in der die Ansiedler jämmerlich dahin sterben. Wir waren Zeuge eines herzzerreißenden Beispieles der Art. Eines Morgens erfuhren wir, daß die Frau eines Franzosen, der sich unweit von uns angesiedelt hatte, im größten Elend lebe. Ihr Mann sei abwesend, ihr Kind liege im Sterben. Wir ritten am nächsten Tage zu ihr. Ich werde den Anblick, der uns hier begegnete, nie vergessen. Eingefallene oder noch halb stehende Ställe, ein Unkraut überwucherter Hof mit ein Paar Gänsen, ein verschlossenes, spaltiges, abgebröckeltes Häuschen. Wir klopften, aber der Wiederhall kam hohl zurück, wie aus einer todten Höhle. Endlich öffnete uns die blasse Mutter mit einem entsetzlichen Kinde aus ihrem Arme, zusammengefallen. Es war vier Jahr alt und hatte ein hundertjähriges, verwittertes, tieffaltiges, gelbes Gesichtchen mit großen, klugen Augen. Es wimmerte fortwährend in einem eintönigen, schwachen Jammer an der Brust ihrer Mutter zusammengekauert. Die Beinchen hingen wie Skelette machtlos herab. Die Mutter suchte mit angeborner Höflichkeit uns Sitze zu verschaffen und färbte sich mit dem aufleuchtenden Roth neuer Hoffnung unter unserm trostreichen Zuspruch. Sie wußte nicht, wo ihr Mann war. Er war weggegangen, um sein Heil irgendwie zu versuchen, da er zu Hause der Verzweiflung an jedem Erfolge verfallen war. Geschrieben hatte er einige Mal und auch einmal Geld geschickt - fünf Piaster (etwa zehn Silbergroschen), sonst aber nichts von sich hören lassen. Sie hatte Niemand, ihr oder dem Kinde zu helfen.

Einige Frauen, die ihr kurz vorher Mais gehülset, hatten mehr mitgenommen als zurückgelassen. Kein Pfennig im Hause, kein Freund in der Nähe ringsum, unter sich den heißen Sumpf, der das Kind verzehrte, so einsam und unglücklich hatte ich noch kein Weib gesehen. Und doch glänzte noch die nationale Heiterkeit der Französin auf ihrem Gesichte. Wir wollten helfen, ohne gerade Almosen zu bieten, wurden daher von einer Passion für Gänse [414] ergriffen, den einzigen käuflichen Gegenstand, und kauften daher den ganzen auf dem Hofe umherwatschelnden Vorrath. Unsere gackernden Schätze wurden heimgetrieben und in zwei Abtheilungen für die Nacht einlogirt. Aber die ganze Nacht hindurch gackerten und kreischten sie sich gegenseitig die Ungerechtigkeit dieser Trennung zu, so daß sie sich erst beruhigten, bis sie wieder vereinigt worden waren. Während der Nacht war nach unserer Meinung der Preis der Gänse gestiegen, so daß wir einen großen, rumpfigen Slavonier, der uns zuweilen auf unseren Reitparthien als Verstärkung begleitete. mit noch einer Hand voll Piaster zu der Frau hinüber sandten. Der brave Kerl begnügte sich nicht damit, sondern zog auch seine graue mit gelben Schnuren besetzte Jacke aus, fegte ihre Stube, hackte ihr Holz, machte ihr Feuer und holte ihr verschiedene Bedürfnisse und Erquickungen zusammen. Ich habe seit der Zeit immer gern auf die grüngelbe Jacke und das breite, ehrliche Gesicht dieses Slavoniers geblickt, und er war immer sehr glücklich, wenn ich ihm ein freundliches Wort sagte.

Zwei Tage nachher erfuhren wir, daß das unglückliche Kind vollends erloschen war. Wir schickten der Mutter eine Arabah (ländliches Fuhrwerk) und beförderten sie in die nächste Stadt, wo wir für ihren nöthigsten Unterhalt Sorge trugen.

Das sind kleine, aber wirkliche Erlebnisse aus der asiatischen Türkei, hinreichend zu einem Bilde und zu der Ueberzeugung, daß diese herrliche Halbinsel, die einst die mächtigsten, blühendsten Völker und Staaten trug, der Alles durchdringenden modernen Kultur gegenüber nicht so bleiben kann. Der Krieg wüthet jetzt auch in ihren Eingeweiden, leider, wie die Sachen jetzt stehen, nicht zu einer Regeneration oder „Rettung der Türkei.“ Die civilisirten Westmächte haben im Ganzen Alles gethan und unterlassen, um sich den Türken verhaßt zu machen und den „kranken“ in einen wirklich sterbenden Mann zu verwandeln, der Rußland viel lieber zum Erben einsetzt, als irgend einen seiner Erretter.


Blätter und Blüthen.

Der verliebte Luftballone. Während unlängst Monsieur Godard, der Aeronaut, auf dem Marsfelde zu Paris einen ungeheuern Luftballon füllte, amüsirte er die Zuschauer durch verschiedene Kleinigkeiten, besonders durch Absendung eines kleinen Ballons, der ganz die Gestalt und Figur des kleinen Exdiplomaten Thiers hatte. Als der kleine Staatskünstler gehörig mit Luft gefüllt war, erhob er sich majestätisch in die Luft und verschwand unter dem Jauchzen der Menge in höheren Regionen, doch kam er an einer andern Stelle wieder unter Sterbliche, und benahm sich beinahe wie einst der verliebte Göttervater Zeus, der sich auch Jupiter schrieb. Der kleine Luftschiffer ward nämlich von einem Sturme gepackt und bei Bievre vor einem feinen Landhause mit der Erde in Berührung gebracht. Die junge Herrin des Hauses machte eben bei großem offenen Fenster, das in den Park öffnete und daher keine neugierigen Augen zuließ, Toilette für eine Abendparthie. Im größten Negligee war sie eben damit beschäftigt, ihre Taille zu einem bloßen Gedankenstrich der Gedankenlosigkeit zusammenzuschnüren, als der kleine Windbeutel Monsieurs Thiers sich wie ein ungestümer Liebhaber zum Fenster hereinstürzte und Miene machte, seine Flamme zu umarmen. Die Dame schreit, wirft einen Shawl um ihre schönen Schultern und bittet den ungestümen Don Juan: „O, Monsieur, gehen Sie! gehen Sie! Sie ruiniren mich!“ Aber der durch’s Fenster blasende Sturm giebt dem leichtsinnigen Anbeter einen Stoß, so daß er auf die Dame zuläuft. Sie schreit wieder, und da sie draußen auch nahende Schritte hört, spedirt sie ihn eiligst unter’s Bett. Der Gatte ras’t jetzt mit einem mächtigen Säbel in der Hand, herein, und ihn schwingend, brüllt er:

„Ha, jetzt hab' ich ihn! Jetzt soll der Schurke sterben!“ und sucht schnaubend nach dem Verführer.

Die Dame, mehr todt als lebendig bittet flehentlich, unter das Bett: „Monsieur, fliehen Sie und ersparen Sie mir eine blutige Tragödie!“

Aber Mr. Thiers liegt still und will lieber zu ihren Füßen sterben als schmachvoll Hackenleder zeigen. Freunde und Diener springen nun ebenfalls herbei. Einige halten den wüthenden Herrn, Andere suchen nach dem ungesetzmäßigen Anbeter der Frau, und ziehen ihn endlich an einem Beine unter’m Bett hervor. Jetzt reißt sich der eifersüchtige[WS 6] Gatte los und ist eben im Begriff, ihn zu durchbohren, als er sich erhebt[WS 7] und stumm und Ehrfurcht gebietend bis zur hohen Decke erhebt. Aber unterwegs hatte ihn das tödtliche Schwert in die Achillesferse gebohrt, es flieht die Leidenschaft aus ihm mit melancholischem pustenden Geräusch, der kleine Mann magert rasch ab an der Decke und sinkt sterbend wie ein Häufchen Unglück von luftdichtem, aber durchlöchertem Seidenzeug zu den Füßen der Angebeteten nieder. Keine Thräne des Schmerzes rieselt auf die Leiche[WS 8] nieder, wohl aber manche Thräne unbändigen Gelächters. Der Hausherr lacht nicht mit, sondern versteckt sein Schwert und zieht sich bald selbst zurück. Es war ihm, als Franzosen und Gatten, beinahe empfindlicher, sich lächerlich gemacht zu haben, als wenn Mr. Thiers ein wirklicher Concurrent seiner ehelichen Zärtlichkeit gewesen wäre.




Elephanten-Klugheit. Von der beinahe an Doctoren der Philosophie grenzenden Klugheit und Weisheit der Elephanten giebt es eine Menge geschichtliche Beweise, wenigstens mehr als von dem Verstande der Doctoren der Philosophie. Hier sind einige Thatsachen neuen Datums.

Ein indischer Rajah hatte eine Zahl Elephanten für die Armee gekauft und ließ sie in seine Residenz bringen. Unterwegs zeigte sich ein Wärter und Treiber gegen seinen Elephanten sehr nachlässig und unterschlug große Portionen seines Futters. Der Elephant merkte dies jedesmal und bewies dies durch verschiedene Zeichen seines Zornes. Doch da das Thier in seiner natürlichen Großmuth es bei Drohungen ließ, wurde der Wärter frecher und fuhr fort, ihn mit halben Portionen abzuspeisen. Eines Morgens wurden die Rekruten-Elephanten von dem Commandeur des Rajah inspicirt, und zu diesem Zwecke in Reihe und Glied aufgestellt. Als der Offizier eben den vernachlässigten Elephanten erreichte, stieß dieser einen eigenthümlichen Ton aus, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Der Offizier sah ihn auch besonders an. Und in demselben Augenblicke ergriff er seinen Wärter mit dem Rüssel, warf ihn zur Erde und stampfte ihn zu Brei. Dies war das Werk einer halben Minute. Jetzt fiel der Elephant auf seine Knie und bat, so gut er konnte, um Gnade. Der Offizier ließ das Verhältniß des Wärters zum Elephanten untersuchen und gab dem Letzteren Recht, obgleich er eigener Richter gewesen und „gelyncht“ hatte.

Zu tragischen Geschichte lieferte ein die Anderer die Komödie. Der komische Elephant stand zu seinem Wärter im zärtlichen Freundschaftsverhältnisse. So oft Letzterer zu Tische ging, ließ er einen kleinen, schwarzen, häßlichen Jungen unter Aufsicht des Elephanten, der nun, wie das beste Kindermädchen dafür sorgte, daß der Junge nicht davon kroch oder zu Schaden kam. Eines Tages war er aber doch in der drückenden Mittagshitze etwas eingedusselt, so daß der kleine schwarze Sprößling, davon gekrochen war und in eine lehmige Pfütze fiel. Der Elephant hörte in seinem Mittagsschläfchen das Geschrei des Jungen, und sah bald, was von seiner Nachlässigkeit gekommen war. Doch hatte er Geistesgegenwart genug, sich aus er Verlegenheit und den Jungen aus der Pfütze zu ziehen und die Beweise seiner Schuld abzuwaschen. Er brachte seinen mit Lehm beschönigten Schwarzen auf’s Trockene, lief hinunter an einen Fluß, holte sich einen tüchtigen Rüssel voll Wasser, kam zurück und gab dem Jungen erst von der einen, dann von der andern Seite eine Radical-Wäsche mit Sturzbad. Dann legte er die letzte Feile an, indem er jeden einzelnen noch gebliebenen Fleck abspülte, und trug nun das „weißgewaschene Mohrenkind“ in die Sonne zum Trocknen, da kein Handtuch zu Handen war. Hier stand und wartete er zärtlich und ernsthaft aufmerksam auf das Handtuchswerk der Sonne und sah, als der Mann vom Essen zurückkehrte, so ehrwürdig und unschuldig aus, als ob gar nichts vorgefallen wäre.




Mutterliebe der Spinne. Die Spinne, die aller Welt „spinnefeind“ ist und von keinem Menschen geliebt wird, außer von einigen wilden Völkern, denen recht fette Kreuzspinnen wahre Leckerbissen sind, die Spinne ist gleichwohl als Mutter ein wahres Muster von aufopfernder Zärtlichkeit. Man mag ihr einen Fuß nach dem andern ausreißen, sie läßt das zart gesponnene Nest nicht los, in welches sie ihre Eier gesponnen. Reißt man ihr das Nest geschickt so weg, daß sie nicht verletzt wird, scheint sie sofort vor Schmerz erstarrt und wickelt ihre zitternden Glieder zusammen, ohne sich dann weiter zu rühren oder je wieder ein Lebenszeichen von sich zu gehen. Schiebt man ihr das Nest mit den Eiern wieder so zu, daß sie es gewahr wird, bekommt sie plötzlich alle ihre Lebenskraft und ihren Todesmuth wieder, womit sie den wieder[WS 9] ergriffenen Schatz vertheidigt und festhält. Das Nest von ihr zu entfernen, ist sehr schwer, da sie sich in der Regel den ganzen Kopf eher abreißen, als es los läßt. Sonach wird wohl keine Spinnenmutter so vornehm sein, ihre Kinder in Pension zu geben.



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Die hier erzählte Begebenheit hat dem Ref. eine hochgebildete und hochgestellte Pariserin mitgetheilt, die mit dem Maler und seiner Familie in vielfacher Beziehung stand. Er hält es für nöthig, das hier ausdrücklich zu bemerken.
  2. Dzimken sind eine Art Polen, welche im Sommer zu Wasser auf langen Fahrzeugen, Witinnen genannt, nach Königsberg kommen. Sie sind ein so naturwüchsiger, lustig-eigenthümlicher Menschenschlag, daß wir ihnen in diesen Blättern vielleicht einmal ein besonderes Genrebild widmen.
    Anmerk. des Verf. 

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Horaze
  2. Vorlage: das
  3. Vorlage: Korpers
  4. Beschriftung durch WS-Mitarbeiter
  5. Vorlage: Altagsleben
  6. Vorlage: eifesüchtige
  7. Vorlage: errhebt
  8. Vorlage: Lechie
  9. Vorlage: wideer