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Die Gartenlaube (1856)/Heft 18

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1856
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[233]
Ein Familiengeheimniß.
Novelle von August Schrader.
(Schluß.)

Der Banquier verließ den Laden des Juweliers und eilte nach Hause. In seinem Kabinette suchte er sich zu sammeln. Es war ihm unmöglich, einen leitenden Faden in der verwickelten Sache zu gewinnen. Sophie Saller, Miß Belling, der Kapitain, Edmund Kolbert, der Mann im Schlafrocke, Henriette und der Advokat – alle bewegten sich wie gespenstige Erscheinungen wirr durcheinander vor seinen Blicken.

„Aber warum, warum das Alles?“ fragte er sich. „Was für einen Zweck verfolgen alle diese Personen? Und Henriette, die mich liebt, was könnte sie veranlassen, ein solches Spiel mit mir zu treiben, das meine Ruhe und ihr Glück untergräbt? O, es ist klar, hier liegt ein Geheimniß zum Grunde, das ich mit großer Vorsicht kennen zu lernen suchen muß. Mein Gott,“ flüsterte er vor sich hin, und der kalte Schweiß trat ihm auf die Stirn – „wenn dieses Geheimniß mit der ersten Verleumdung im Zusammenhange stände, wenn der Kaufmann Eberhardi – –“

Er legte beide Hände vor das Gesicht, als ob er fürchtete, in einen Abgrund zu blicken. Sein streng rechtlicher Charakter sträubte sich, ohne Beweise zu verurtheilen – Henrietten zu verurteilen, der er sein Glück als Geschäftsmann und als Gatte verdankte. Das Vertrauen auf die Tugend seiner Frau gab ihm den Muth und die Stärke, ruhig und vorsichtig zu forschen. Aber wo sollte er beginnen? Er beschloß, dem Zufalle zu vertrauen, und der Zufall ließ nicht lange auf sich warten.

Drei Tage lang ging Alles gut. Der vierte Tag war regnerisch und düster, es lag ein so dichter Nebel in den Straßen der Stadt, daß man nicht fünf Schritte weit sehen konnte. In den Kaufläden brannten um Mittag die Gasflammen, und auch die Börse war erleuchtet, als Soltau sie um ein Uhr betrat. Den Banquier schüttelte ein leichter Fieberfrost; er machte die nothwendigsten Geschäfte ab, bat Philipps, etwa eingehende Aufträge anzunehmen, und trat gegen drei Uhr schon den Rückweg nach Hause an. Das Spiel des Zufalls ist oft so wunderbar, daß man es für die Erfindung eines Romandichters halten möchte, wenn man es erzählt. Der Verfasser kann jetzt leicht in den Verdacht kommen, einen solchen Zufall erfunden zu haben, weil er ihn zur weitern Entwicklung seiner Novelle gebraucht; der Leser kann sich aber versichert halten, daß dieser Zufall eine von den Thatsachen ist, die seinem kleinen Werke zum Grunde liegen.

Bei dem schlechten Wetter, und da er sich nicht wohl fühlte, beschloß Soltau einen Fiaker zu benutzen, der langsam an ihm vorüberfuhr. Er hielt ihn an.

„Wohin?“ fragte der Kutscher.

Franz bezeichnete Straße und Haus, und stieg ein. Indem er sich in die eine Ecke des Wagens warf, berührte seine Hand ein Papier, das auf dem Sitze lag. Er fühlte, daß es ein Brief war. Mechanisch behielt er das Papier so lange in der Hand, bis er vor seinem Hause ausstieg.

„Wer hat vor mir den Wagen benutzt?“ fragte er den Kutscher, der ihm den Schlag öffnete.

„Eine junge Dame, Herr; sie ist ebenfalls hier ausgestiegen und in dieses Haus gegangen.“

Soltau zeigte auf die Thür.

„In dieses Haus?“ fragte er.

„Ja, Herr, in das Haus des Banquiers. Vor kaum einer Viertelstunde ist sie hier ausgestiegen. Ich wollte nach dem Stationsplatze an der Börse fahren, als Sie mich anhielten.“

Franz hatte in der Zeit einen Thaler aus seiner Börse genommen.

„Wo ist sie eingestiegen?“

„Am Steinthore; wahrscheinlich hatte sie den Omnibus verlassen.“

„Nimm diesen Thaler für Deine Nachricht!“

„Danke, Herr!“

Der Banquier hielt keinen Thürsteher, sonst hätte er sogleich erfahren können, wer die angekommene Dame sei. Er ging durch das Comptoir in sein Kabinet, wie er stets nach der Rückkehr von der Börse pflegte. Hier betrachtete er den Brief, den ohne Zweifel die Dame in dem Wagen verloren hatte. Er war versiegelt, aber ohne Adresse. Rasch erbrach Franz das Siegel und entfaltete das Papier: die Schriftzüge Edmund Kolbert’s standen vor seinen Augen. Begierig las er folgende Zeilen: :P. P. „Von einem unerklärlichen Zufalle begünstigt, ist der Advokat unserm Handel mit der Lebenspolice auf die Spur gekommen. Ich habe Dir versprochen, mein lieber Engel, Deinen Mann vor jeder Unannehmlichkeit zu schützen, und es wird geschehen. Du kennst meine zärtliche Liebe für Dich, Du weißt, daß ich für Dich den Tod nicht scheue, daß Dein Glück die Aufgabe meines Lebens ist. Du batest mich, ich möge Dich diesen Abend von dem verabredeten Rendezvous entbinden – es ist mir leider unmöglich. In Deinem und meinem Interesse mußt Du Dich einfinden, und solltest Du den kühnsten Vorwand zu Deiner Entfernung ersinnen. Aber damit es Dir nicht gar zu schwer fällt, habe ich dafür gesorgt,

[234] daß Dein Mann von Philipps eine Einladung für diesen Abend erhält, der er nicht ausweichen kann. Du wirst von sechs bis neun Uhr völlig frei sein. Wähle denselben Anzug, den Du in der Polstraße getragen, und finde Dich Punkt halb acht Uhr bei dem Thurme der Kirche von Sanct Georg ein. Es wacht über Dich Dein
E. K.“ 

Wie vernichtet sank der Banquier auf seinen Sessel. Der Brief trug weder Adresse noch Ueberschrift – aber aus Allem ging hervor, daß er an Henrietten gerichtet war. Demnach hatte der Advokat sie wirklich in der Polstraße gesehen, demnach war ihr Ring in seiner Hand geblieben, und der falsche bei dem Juwelier bestellt, um den echten zu ersetzen. Zu dem Schmerze über diese Treulosigkeit kam der furchtbare Gedanke: der Verleumdung, die der Kaufmann einst ausgesprochen, liegt etwas Wahres zum Grunde. Und Edmund Kolbert ist der hohe Protektor. Wer aber ist Kolbert? Wer aber ist der Kapitain Belling?

„Ich kann es diesen Abend erfahren!“ murmelte er mit einer gräßlichen Bitterkeit vor sich hin. „Wohlan, so will ich die Rolle spielen, die man mir zugedacht hat – Philipps mag seine Einladung senden, ich nehme sie an!“

Während der Banquier in seinem Kabinette auf und abging, fand draußen eine andere Scene statt. Ludwig Lambert kam von einem Geschäftsgange zurück. In dem Augenblicke, als er die hell beleuchtete Hausflur betrat, geleitete Madame Soltau eine junge, elegant gekleidete Dame die Treppe herab. Auf der Mitte der Treppe grüßten Beide sehr artig, und trennten sich. Die junge Dame rauschte die Stufen herab, und trat dem Commis entgegen.

„Sophie!“ flüsterte Ludwig überrascht.

Die junge Dame sah ihn verwundert an. In diesem Augenblicke schlug die Uhr auf dem nahen Nicolaithurme drei.

„Mein Gott, sollte ich mich täuschen?“ stammelte der verwirrte Commis.

„Wen glauben Sie in mir zu sehen?“ fragte sie freundlich.

„Sophie Saller!“

„Sie irren, mein Herr. Eine zufällige Aehnlichkeit täuscht Sie.“

„Nein, das ist nicht möglich!“

„Ich wiederhole es, mein Herr.“

„Sie müssen –“

Die Dame zog ihren schwarzen Schleier über das Gesicht, verneigte sich flüchtig und schwebte, leicht wie ein Sylph, der Thür zu, die Lambert offen gelassen hatte. Ein Fiaker rasselte herbei, und hielt dicht vor der Thür. Lambert eilte der Dame nach, um sie noch einmal anzureden – als er aber auf der Schwelle der Thür ankam, ward der Schlag von innen geöffnet, und zwei Männerarme, deren Hände mit schneeweißen Handschuhen bekleidet waren, empfingen die einsteigende Schöne. Das rasche Wiederzuschlagen der Wagenthür gab dem Kutscher das Signal, er hieb auf sein Pferd, und der Fiaker verschwand in der finstern Straße.

Der verliebte Commis stand einen Augenblick bestürzt da, dann schloß er die Thür, und flüsterte vor sich hin:

„Nein, sie war es nicht; Sophie trägt keinen Sammethut mit Straußfedern und keinen mit Pelz gefütterten Atlasmantel. Auch ist sie mir zu gut, als daß sie mich verleugnen sollte. Sahe ich doch, seit ich sie kenne, in jedem jungen Mädchen meine Sophie, und da diese Dame ihr ähnlicher sieht, als jede andere, ist es natürlich, daß ich mich täuschte. Und was hätte Sophie bei Madame Soltau zu thun? Nein, sie war es nicht; die mit weißen Handschuhen bekleideten Hände sollen mich nicht erschrecken! Diesen Abend werde ich ihr das seltsame Zusammentreffen erzählen.“

Ludwig liebte zum ersten Male, und da er selbst keiner Täuschung fähig war, glaubte er fest an die Redlichkeit seiner Geliebten. Soltau würde ihm gesagt haben: armer Mann, Sie kennen die Frauen nicht!

Mit dem gewöhnlichen Eifer gab sich der Commis seiner Arbeit hin, bis die Stunde der Freiheit schlug. Der Banquier ging um vier Uhr zu Tische. Kein Blick, keine Miene verrieth, was in seinem Innern vorging; er nahm immer noch Anstand, den Stab über seine Gattin zu brechen, die mit einer himmlischen Anmuth den Gatten bei Tische bediente. Sie war ganz Zärtlichkeit, ganz Liebe. Die beiden Gatten hatten den Tisch noch nicht verlassen, als die Kammerfrau einen Brief brachte. Er enthielt die erwartete und gefürchtete Einladung Philipps’. Der Agent schrieb, daß er unwohl sei, und den Freund dringend bitte, ihn um sechs Uhr behufs Besprechung einer wichtigen Geschäftsangelegenheit, die sich bis auf den folgenden Tag ohne Nachtheil nicht verschieben lasse, zu besuchen. Er reichte den Brief seiner Frau.

„Philipps war diesen Mittag nicht auf der Börse,“ fügte er hinzu.

Seine stechenden Blicke ruhten auf Henrietten, während sie las. Ihr schönes Gesicht veränderte sich nicht, sie blieb unbefangen wie zuvor. „Sollte sie um die Sache, nicht wissen, da sie den Brief nicht empfangen hat?“ fragte er sich. Daß sie selbst das Papier in dem Wagen verloren habe, ließ sich nicht annehmen, es mußte demnach eine zweite Dame die Ueberbringerin gewesen sein. Gern hätte er gefragt, ob Henriette Besuch gehabt habe; aber er schwieg, um keinen Verdacht zu erwecken.

„Willst Du der Einladung folgen?“ fragte sie, indem sie das Papier auf den Tisch legte.

„Ich muß wohl. Philipps ist krank und das Geschäft läßt sich nicht aufschieben.“

„Nimm unsern Wagen bei dem schlechten Wetter, Franz.“

„Ja, mein Kind, ich werde den Wagen nehmen.“

„Und wann soll ich ihn senden, daß er Dich zurückholt?“

„Um zehn Uhr! Nun ist sie ganz sicher,“ dachte er. „Es unterliegt keinem Zweifel: die Botin hat ihren Auftrag mündlich ausgerichtet.“

Gleich nach sechs Uhr warf sich Franz in den Wagen, nachdem er unter einer furchtbaren Herzensbeklemmung seine Frau geküßt hatte. Ihm war, als ob er ihre schönen Lippen zum letzten Male berührt, als ob er von einer Verlorenen Abschied genommen hätte. Nur einem Charakter, wie ihn der Banquier besaß, konnte es gelingen, unter so schwierigen Umständen scheinbar die Fassung zu bewahren. Als er allein in der Ecke des Wagens saß, flossen seine Thränen. Doch bald erlangte die Energie seines Willens die Herrschaft wieder, und als der Wagen vor Philipps’ Wohnung hielt, lag der Ernst des Geschäftsmannes auf seinem Gesichte. Der Agent, der wirklich von einem starken Catarrh heimgesucht war, empfing den Freund mit der gewohnten Herzlichkeit. Es lag dem Banquier daran, zu erfahren, ob Philipps ein willenloses Werkzeug Kolbert’s sei, oder ob auch der Jugendfreund eine Rolle in dem großen Drama spiele, dessen Katastrophe er diesen Abend herbeizuführen gedachte. Der Agent schlug ihm wirklich ein Actiengeschäft vor, das, wenn es am nächsten Tage auf der Börse eingeleitet wurde, einen großen und sichern Gewinn versprach. Dieser Vorschlag gründete sich auf Nachmittags eingegangene Depeschen und auf das Sinken gewisser Papiere an der Börse, er war mit einem Worte durch rasch eingetretene Verhältnisse entstanden, daß Franz nicht glauben konnte, der Agent habe darin einen Vorwand gesucht und gefunden. Aber hatte Philipps auf dem Balle nicht gesagt, daß er über den Kapitain Näheres erfahren wolle? Hatte ihn Miß Belling durch ihre Schönheit nicht bezaubert? Und hatte er bis jetzt nicht vermieden, des Gegenstandes auch nur mit einem Worte zu erwähnen? Diese Betrachtungen hielten den Argwohn des Banquiers wach, und er beschloß auch bei dem Jugendfreunde, den man ohne Zweifel durch die reizende Miß Belling zu Allem gefügig gemacht, auf seiner Hut zu sein. Man besprach noch eine Stunde das Geschäft, und Franz, der den Gewinn nicht in Abrede stellen konnte, ging darauf ein, obgleich ihm die Börsenangelegenheiten sehr gleichgültig waren. Was lag ihm daran, große Summen zu gewinnen, da er seinen höchsten Schatz, seine Gattin, verlieren sollte?

Franz sah, daß man Vorbereitungen zum Abendessen traf.

„Ich muß Dich verlassen, Philipps,“ sagte er, „so gern ich den Abend bei Dir zugebracht hätte. Ehe ich Deine Einladung erhielt, hatte ich dem Theaterdirektor, der, wie Du weißt, seine Gelder bei mir deponirt, versprochen, ihn gegen acht Uhr auf der Bühne aufzusuchen. Wir sehen uns morgen an der Börse.“

Philipps gab sich keine Mühe, den Freund zurückzuhalten, denn er wußte, daß der Banquier sein gegebenes Wort hielt. Er ließ durch den Diener einen Fiaker zur Fahrt nach dem Theater bestellen. Die Freunde trennten sich. In der nächsten Straße befahl Franz dem Kutscher, anzuhalten. Er öffnete das Fenster nach dem Bocke zu, und gab dem Roßlenker einen Thaler.

„Ich habe meinen Plan geändert,“ sagte er. „Fahre mich nach der Vorstadt Sanct Georg, mein Freund. Wenn ich klopfe, hältst Du an.“

Der Fiaker schlug den Weg nach der Vorstadt ein. Bei dem ersten Hause derselben hörte der Kutscher klopfen. Der Wagen hielt und der Banquier stieg aus.

[235] „Soll ich warten, Herr?“

„Nein!“

Der Fiaker lenkte um, und fuhr nach der Stadt zurück.


VIII.
Das Rendevous.

Der Abend war so finster, daß man die Vorübergehenden nicht sah, sondern nur ihre Schritte hörte. Die Alleen, die sich in verschiedenen Richtungen nach der Vorstadt hinziehen, waren still; die Flammen der spärlich angebrachten Gaslaternen verbreiteten in der nebelschweren Luft nur einen kleinen Lichtkreis. Franz kannte zwar die Gegend, aber bei der dichten Finsterniß wußte er nicht, wo die Kirche lag. Da erklangen plötzlich zwei Schläge durch die stille Luft: die Glocke von Sanct Georg schlug halb acht. Der arme Banquier bebte zusammen, als ob der schwere Hammer der Uhr seine Brust getroffen hätte. Schaudernd hüllte er sich in den kurzen Pelzmantel und schlug die Richtung ein, die ihm die Uhr bezeichnet hatte. Nach fünf Minuten stand er an dem Portale der Kirche.

Ort und Zeit paßten vortrefflich zu einem Stelldichein, das kein Ohr belauschen durfte. Die nächste Umgebung des stillen Gotteshauses war wie ausgestorben, selbst das Geräusch der Stadt konnte man nicht mehr vernehmen. Eine Frau mußte gewaltige Beweggründe haben, um sich hierher zu begeben, und Franz fragte sich unwillkürlich, warum man diesen unheimlichen und unbequemen Ort gewählt habe. Ihm blieb nicht viel Zeit zum Nachdenken, denn eine Gestalt huschte an ihm vorüber und verschwand wie ein Gespenst hinter dem nächsten Strebepfeiler der Kirche. Franz drückte sich fest an den Baum, der ihm zur Seite stand.

Zwei Personen befanden sich also auf dem Platze. Sollte Henriette die dritte sein?

Fünf Minuten der gräßlichsten Qual verflossen dem Harrenden, da ließ sich hinter ihm das leise Geräusch von Schritten vernehmen. Die Person, die sie verursachte, war nicht zu erkennen, aber Franz, dessen Kopf wie im Fieber brannte, hielt sie für die leichten Schritte einer Frau. Er hatte sich getäuscht: gleich darauf erschien die Gestalt eines Mannes, die vor dem Portale auf und abzugehen begann. Wer war nun die erste Person gewesen? Der Banquier wartete mit angehaltenem Athem auf die Entwickelung der Dinge.

„Großer Gott,“ dachte er, „ist es so weit gekommen, daß ich bei Nacht und Nebel die Vorstadt besuchen muß, um meine Frau auf dem Verbrechen der Treulosigkeit zu ertappen?“

Unwillkürlich entquoll seiner Brust ein lauter Seufzer. Er erschrak – er hatte seine Anwesenheit verrathen, denn der Mann blieb stehen. Nach zwei Secunden schritt er auf den Baum zu – Soltau, der seiner Sinne kaum noch mächtig war, trat ihm entgegen; er hatte die Vorsicht vergessen, die er beobachten wollte.

„Es ist eine unangenehme Ueberraschung, wenn man statt der Frau den Mann findet!“ sagte der Banquier mit bebender Stimme.

„Und nicht wahr, mein Herr, Sie suchen eine Frau?“

Der Mann schlug schweigend seinen Mantel um die Schultern, und wollte sich entfernen.

„O, mein Freund, so entkommt man mir nicht; ich will wissen, wer die zweite Person bei diesem Rendezvous ist!“

Der Unbekannte bemühte sich, sein Gesicht zu verbergen; Franz aber riß ihm den Mantel ab, packte mit Riesenkraft seine beiden Schultern, und sah ihm in das Gesicht. Die vor Schrecken entstellten Züge des Advokaten Eberhardi grins’ten ihn an.

„Herr Soltau,“ stammelte er, „vergessen Sie Ihren und meinen Stand nicht!“

„Der Advokat!“ murmelte Franz betroffen, indem er ihn fahren ließ. „Gehen Sie, ich weiß genug!“

Eberhardi nahm ruhig seinen Mantel vom Boden auf, und warf ihn um die Schultern.

„Mein Herr,“ sagte er, „mir scheint, Madame Soltau hat Sie abgeschickt, um das zu erfahren, was ich ihr selbst mitzutheilen versprochen habe. Der Gatte hat das Recht, die Geheimnisse seiner Frau zu kennen!“ fügte er höhnend hinzu. „Die schöne Henriette hat eine große Unvorsichtigkeit begangen, wenn sie indiskret gewesen ist; aber ich beklage sie, wenn man sie ertappt hat.“

„Denken Sie besser von meiner Frau, Herr Advokat – sie hat mir Ihre Verfolgungen mitgetheilt!“ flüsterte Franz, der immer noch die Ehre seiner Gattin nicht völlig preisgeben wollte.

„Desto besser!“ lachte höhnend Eberhardi. „Also hat man mich vorsätzlich betrogen. Diese Perfidie will ich mit der größten Offenherzigkeit bezahlen. Herr Soltau, Sie haben mit Hülfe Ihres Vermögens meinen Bruder ruinirt – ich richte Sie mit meiner Wissenschaft zu Grunde. Mein Bruder hat in einer Gesellschaft die Behauptung ausgesprochen, Ihre Frau erfreue sich der geheimen Protektion eines mächtigen Mannes – wohlan, ich bin im Stande, Ihnen juristische Beweise zu liefern.“

„Mein Herr, mein Herr!“ stammelte Franz, den die Wendung der Dinge fast zu Boden warf.

„Hätte die schöne, bewunderte Henriette gewußt, daß ich ihr sagen wollte: Madame Soltau, mir ist jetzt die Quelle bekannt, aus der die Kapitalien Ihres Mannes geflossen, sie würde sicher keinen Stellvertreter geschickt haben.“

„Aus welchem Grunde luden Sie meine Frau zu dieser Unterredung ein?“

„Ich habe mir vorgenommen, offen zu sein, und ich werde es sein. Seit der Geschichte mit dem Ringe habe ich die reizende Madame Soltau näher kennen gelernt, die, als sie vor ihrer Verheiratung noch bei ihrer Tante war, meine Aufmerksamkeit erregt hatte. Um diese Zeit führte und gewann ich für die Tante einen Prozeß. Es handelte sich um fünfmalhunderttausend Mark, um die Summe, mit der Sie Ihr Geschäft gründeten. Der Prozeß war gegen die dänische Regierung gerichtet, die mit dem Vermögen eines flüchtigen Verbrechers auch das Vermögen Henriette’s confiscirt hatte. Wenn ich sagte, ich gewann den Prozeß, so ist das nicht ganz richtig, Herr Soltau, denn der raffinirteste Jurist würde das nicht ausgerichtet haben, was eine Reise Henriette’s und der Tante nach Kopenhagen ausrichtete. Das Geld wurde zurückgegeben, ohne daß man den Prozeß beendete.“

„In welcher Beziehung stand der Verbrecher zu Henriette?“

„Er war –“

Der Advokat konnte nicht fortfahren, denn in diesem Augenblicke erfaßte ihn eine Hand so kräftig beim Halse, daß ihm die Worte in der Kehle stecken blieben. Die Gestalt eines, in einen Pelz gehüllten Mannes stand vor dem bestürzten Banquier. Der würdige Rechtsanwalt krümmte sich wie ein Wurm an der Eisenfaust dieses Mannes, der sich ruhig, als ob ihn durchaus Nichts behinderte, zu Soltau wandte.

„Mein Herr,“ sagte er, „das, was Sie hier erleben, ist eine Fortsetzung der Infamie, die der Rechtsanwalt – ich will dieses Prädicat noch einmal schänden, indem ich es diesem ausgefeimten Schurken beilege – die der Rechtsanwalt mit dem Diamantringe begonnen hat. Ihre Gattin und Ihre Schwiegermutter sind nie in Kopenhagen gewesen. Daß der Prozeß um Henriette’s Vermögen so rasch gewonnen wurde, ist einzig und allein nur mein Werk. Dieser Bursche – er schüttelte den Advokaten, daß er laut röchelte – dieser Bursche würde ihn im Leben nicht gewonnen haben. Ihre Gattin, Herr Soltau, ist rein wie der Schnee, der in diesem Augenblicke vom Himmel fällt.“

„Aber mein Herr, was für ein Interesse leitet Sie, daß Sie sich zum Protector meiner Frau aufwerfen?“ sagte mit fester Stimme der Banquier, der um jeden Preis Aufklärung erlangen wollte.

„Das Interesse für Sie, Herr Soltau.“

„Für mich? Für mich?“

Der Fremde streckte die rechte Hand, welche den Advokaten hielt, so weit als möglich aus, augenscheinlich deshalb, daß der Geknebelte die Worte nicht verstehen sollte, die er dem Banquier zuflüsterte: „Sie haben die Lebenspolice Edmund Kolbert’s gekauft – Edmund Kolbert ist ein rechtlicher Mann, er duldet nicht, daß Sie für diese Gefälligkeit Undank ernten. Gehen Sie nach Hause, mein Herr, kränken Sie Ihre Gattin nicht durch ungerechten Verdacht, und fürchten Sie diesen Advokaten nicht mehr, der von jetzt an schweigen und zittern wird. Nehmen Sie den Ring zurück, damit er nicht zum zweiten Male gemißbraucht werde. Ich forderte ihn von Ihnen – jetzt bedarf ich seiner nicht mehr, da ich den Advokaten in der Hand halte.“

„Mein Herr, wir müssen uns näher kennen lernen – ich muß mit Ihnen sprechen!“ rief Franz.

„Fordern Sie das nicht, Herr Soltau!“ antwortete schmerzlich die bebende Stimme Kolbert’s. „Sie untergraben den Grund, [236] auf dem Ihr Glück ruht. Die Zeit wird kommen, wo Sie Aufklärung erhalten.“

„Und wer giebt sie mir?“

„Sophie Saller! Ich sage nicht auf Wiedersehen, denn ich muß für Sie wie für die Welt todt bleiben.“

Kolbert verschwand hinter der Kirche, indem er den Advokaten mit sich fortschleppte. Wie träumend hatte Franz einige Augenblicke an seinem Platze gestanden, dann eilte er dem Fremden nach. Die Finsterniß war so dicht, daß er Nichts unterscheiden konnte. Er blieb stehen, um sich zu orientiren: da hörte er in der Entfernung Schritte, die sich rasch entfernten. Das Geräusch dieser Schritte wurde von zwei Personen verursacht. Er verfolgte die Richtung, aus der das Geräusch kam – bald stand er an dem Ufer des breiten Alsterbassins. In dem Augenblicke, als er ankam, stieß ein Kahn ab, er hörte es an dem Rauschen der Ruder und dem Geklirr der Kette. Dann sah er, als er seine Sehkraft anstrengte, einen dunkeln Gegenstand auf der Wasserfläche verschwinden. Nach einer Minute war die Gegend wie ausgestorben. Franz suchte und fand den Rückweg. Als er von Schnee und Regen durchnäßt sein Zimmer betrat, schlug es zehn Uhr. Ein Fieberfrost schüttelte ihn; aber er erhielt sich aufrecht, um noch eine Stunde bei seiner Frau zuzubringen, deren Ruhe er nicht stören wollte.



IX.
Die Lösung.

Am fünfzehnten December mußte Sophie Saller erscheinen, um ihre Rente in Empfang zu nehmen. Es war dies also der Tag, der Franz Aufklärung bringen, der ihn von der furchtbaren Herzenslast befreien sollte. Der Entschluß stand in ihm fest, bis zu diesem Termine in Geduld auszuharren, dann aber mit kräftiger Hand den Schleier zu zerreißen, der so geheimnißvoll über seiner Gattin lag. Der Banquier hatte Mitleid mit Henrietten, denn er sah, wie auch sie kämpfte, er sah, mit welcher Ueberwindung sie die Ruhe und Freundlichkeit erkünstelte, die sie ihm zeigte.

„Warum darf ich nicht wissen, was Dich bedrückt?“ hatte er sie einmal gefragt. „Bin ich nicht Dein Gatte, der Alles mit Dir zu tragen bereit ist?“ – „Franz,“ hatte sie ihm geantwortet, „fordere nicht, daß ich über fremdes Eigenthum verfüge, und das Geheimniß, nach dem Du fragst, ist nicht mein Eigenthum. Ich gäbe Viel, Alles darum, wäre es mir vergönnt, den Zustand Deiner Unruhe und Besorgniß um einen Tag, selbst um eine Stunde zu verkürzen. Habe Geduld, und vertraue Deiner Gattin, die für Dich lebt und stirbt.“

„Ich werde Geduld haben,“ murmelte Franz – „bis zum fünfzehnten December!“

Er begrub sich in seine Geschäfte, um den Geist von der verhängnißvollen Angelegenheit abzulenken, und mied es, Nachforschungen anzustellen. Aber wie die geheimnißvolle Hand das Dunkel um ihn gewoben, so schien dieselbe Hand es ohne seine Mitwirkung lichten zu wollen. Vierzehn Tage nach dem Rendezvous bei der Kirche verbreitete sich das Gerücht, der Advokat Eberhardi sei in seiner Wohnung erhängt gefunden, und es unterliege keinem Zweifel, daß er selbst Hand an sich gelegt, da er auf dem Tische die letzte Bestimmung über sein Vermögen hinterlassen habe. Den Grund, der ihn zu dem Selbstmorde getrieben, kannte man nicht.

„Sollte man einen Zeugen aus der Welt geschafft haben?“ fragte sich Franz mißtrauisch. „Welche furchtbare Gewalt schwebt über mir und meiner – vielleicht schuldigen Frau!“ fügte er schaudernd hinzu. „Und das Alles eines Vermögens wegen, das mich unglücklich macht! O, wie gern wäre ich der einfache, geplagte Commis geblieben, hätte ich mir meine Henriette bewahren können!“

Am folgenden Tage erhielt er durch die Stadtpost ein Zeitungsblatt unter Kreuzcouvert. Es war die neueste Nummer des Hamburger Correspondenten. Als er das Blatt öffnete, fand er einen Artikel mit Rothstift angestrichen, und aus den eingeklammerten Zeilen trat ihm der großgedruckte Name „Edmund Kolbert“ entgegen. Begierig las er folgenden, von London datirten Artikel:

„In diesen Tagen hat die Kings-Bench einen zugleich wichtigen und merkwürdigen Prozeß beendet, der seit beinahe zwanzig Jahren obschwebte. Im Jahre 1831 ward der sehr ehrenwerthe Lord Brougham durch Gift ermordet. Der Verdacht dieser schändlichen That fiel auf einen jungen Marine-Offizier, der mit der einzigen Tochter des edeln Lords, Jenny, heimlich ein zärtliches Verhältniß unterhielt. Lord Brougham, ein strenger Mann, billigte dieses Verhältniß nicht, und sandte die Tochter zu seinem Bruder, der in Deutschland ein Consulat verwaltete. Edmund Dudley, der Liebhaber, gerieth in Verzweiflung, drang in das Landhaus des Lords, und verlangte den Aufenthalt des Mädchens zu wissen, mit dem er, wie er sagte, vor Gott verlobt sei. Der Vater ließ den Verwegenen durch seine Diener zur Thür hinauswerfen. Einige Tage nach diesem Vorfalle verschied der Lord, und die Aerzte constatirten eine Vergiftung, die dadurch verübt, daß man Arsenik in die Karaffe geworfen, aus der der Lord das Wasser trank. Nach der angestellten Untersuchung konnte kein anderer der Giftmischer gewesen sein, als der verzweifelnde Liebhaber, der die Geliebte von der Tyrannei des Vaters befreien, ihr aber auch zugleich das große Vermögen erhalten wollte, da sie die einzige Tochter war. Edmund Dudley ward in dem Augenblicke ergriffen, als er sich nach Deutschland einschiffen wollte. Man brachte ihn in das Criminalgefängniß, und machte ihm den Prozeß. Nach einem Jahre verschwand der Angeklagte, gegen den keine Beweise aufzubringen waren, auf eine unerklärliche Weise aus dem Gefängnisse. Alle Bemühungen, ihn aufzufinden, blieben vergeblich, und das Untersuchungsverfahren mußte ruhen. Da auch die junge Lady aus dem Hause ihres Onkels verschwunden war, hatte man allen Grund zu der Annahme, daß die beiden Liebenden zusammen die Flucht ergriffen hätten. Das große Vermögen des Lords ward von dem Staate verwaltet. Die Aufforderungen an die Erbin blieben erfolglos. Im Jahre 1847 starb der Consul Brougham, der Bruder des Vergifteten, in Kopenhagen, wohin er sich aus Deutschland zurückgezogen hatte. Sein Vermögen, das aus fünfmalhunderttausend Mark bestand, hatte er der Tochter eines gewissen Edmund Kolbert vermacht, der ihm in Berlin bei einer Feuersbrunst das Leben gerettet. Der Consul war aus Dankbarkeit der Pathe des jungen Mädchens geworden. Als Henriette Kolbert das Vermögen ihres verstorbenen Pathen in Kopenhagen erheben wollte, machte man ihr Schwierigkeiten, da ihr die Legitimationspapiere fehlten, und es ergab sich, daß sie eine uneheliche Tochter Kolbert’s war. Es entspann sich ein Prozeß, der dadurch zu ihren Gunsten ausfiel, daß sie endlich den Trauschein ihrer Eltern brachte. Aus diesem Scheine nun ergab sich, daß die Mutter keine andere war, als jene Lady Jenny Brougham, die seit der Vergiftung ihres Vaters verschwunden war. In Kopenhagen wußte man um das Verbrechen nicht, und zahlte ihr die Erbschaft aus. Wiederum vergingen einige Jahre, da schrieb der Advokat E. aus Hamburg der Kings-Bench in London, daß Edmund Kolbert wahrscheinlich Edmund Dudley sei, da er sich mit Jenny Brougham verheirathet habe. Die Nachforschungen begannen von Neuem zunächst bei dem holsteinischen Prediger, der die Liebenden getraut und ihnen den Trauschein ausgestellt hatte. Der Pfarrer Lambert, der sich bei der Erhebung der Herzogthümer gegen Dänemark betheiligt, war seines Amtes entsetzt und verschwunden. Schon glaubte man dem vermeintlichen Verbrecher auf der Spur zu sein, als man durch den Globe erfuhr, Edmund Kolbert sei in Berlin gestorben, nachdem er seine Lebenspolice verkauft habe. Auch Jenny war nicht mehr am Leben, man sandte ihren Todtenschein von Hamburg ein, wo sie in dürftigen Verhältnissen gestorben war. Wem gebührt nun das große Vermögen des vergifteten Lords? war die Frage. Die Kings-Bench entschied für Confiscation, da Edmund und Jenny ungerechtfertigt gestorben seien. Da erschien zu Anfang des November ein Mann vor dem Tribunale, den das Gewissen trieb, sich als den Mörder des Lord Brougham zu bekennen. Er war der Kammerdiener des Verstorbenen gewesen, und hatte, in der Meinung, sein Herr werde ihm ein großes Legat für treu geleistete Dienste aussetzen, das Gift in die Karaffe geworfen. Er hatte die Ausführung des Verbrechens in dem Augenblicke gewählt, wo der Verdacht auf den verzweifelnden Liebhaber fallen mußte. Man ist neugierig, wer sich als die Erbin des Vermögens legitimiren wird, das jetzt aus mehr denn einer Million Pfund Sterling besteht.“

Dem armen Banquier schwindelte der Kopf als er diesen Artikel gelesen hatte. Er las ihn zum zweiten, zum dritten Male. Das also war das Familiengeheimniß, das ihm so großen Kummer bereitet hatte. Wie Schuppen fiel es von seinen Augen. Alle [237]

Elephanten-Artillerie.


Intriguen des Advokaten lagen enthüllt vor ihm. Die Mutter Henriette’s hatte also jene Reise, die man ihm als verdächtig geschildert, nur unternommen, um sich mit Kolbert trauen zu lassen.

Der Verkauf der Lebenspolice war deshalb eilig geschehen, um den Tod Kolbert’s, der den erneuerten Nachforschungen entgehen wollte, festzustellen. Und der Pastor Lambert – wohnte er nicht in Hamburg? War der würdige Mann nicht der Onkel seines ersten Commis? Er hatte den vertriebenen Prediger nie gesehen, aber er kannte das verwandtschaftliche Verhältniß desselben zu Ludwig.

Er wollte den Commis rufen, dieser aber trat in das Kabinet.

„Fräulein Sophie Saller!“ kündigte er mit bebender Stimme an.

Soltau warf einen Blick auf den Wandkalender; er zeigte den fünfzehnten December an. Rasch trat er in das Comptoir, wo das junge Mädchen wartete. Statt sie in das Kabinet zu führen, führte er sie in das Zimmer seiner Frau. Sophie sank Soltau’s Gattin weinend an die Brust.

„Was ist Dir, Schwester?“ rief Henriette erschreckt.

„Begleite mich, ohne Zögern! Aber auch Sie, Herr Soltau, dürfen in den letzten Augenblicken unsers armen Vaters nicht fehlen.“

„Wie, Edmund Dudley liegt krank?“ fragte bestürzt der Banquier.

„O, säumen Sie nicht, es könnte zu spät werden!“

„Franz, wie ist Dir dieser Name bekannt geworden?“ fragte Henriette.

Er überreichte ihr, statt der Antwort, das Zeitungsblatt.

„Lies, lies, mein herrliches Weib, und Du bedarfst meiner Erklärung nicht. Ich gehe, um unsern Wagen anspannen zu lassen und Ludwig Lambert Aufträge für die Börse zu geben.“

Franz eilte aus dem Zimmer. Henriette las mit bebender Stimme den Zeitungsartikel vor. Sie kannte den Verdacht, der auf ihren Eltern lastete, nicht aber die Lösung des Prozesses.

„Mutter, Mutter,“ rief sie laut schluchzend, „warum hat Dir der Himmel nicht noch einige Jahre geschenkt, daß Du den heutigen Tag erleben konntest! Du bist zwar stets von der Unschuld meines armen Vaters überzeugt gewesen; aber daß er nicht vor der Welt gerechtfertigt war, hat Dich mit tiefem Kummer erfüllt. Aber auch ich habe viel, viel gelitten!“

Eine weitere Erklärung der beiden Schwestern war nicht möglich, da Soltau eintrat. Henriette ergriff Pelz und Hut. Am Arme des Banquiers stiegen beide Frauen die Treppe hinab. Vor der Thür hielt der Wagen.

„Wohin fahren wir?“ fragte Soltau, als die beiden Frauen eingestiegen waren.

Sophie bezeichnete Haus und Straße in der Vorstadt Sanct Georg. Franz gab dem Kutscher Anweisung, stieg ein, und der Wagen rollte davon. Nach einer Viertelstunde hielt er vor demselben Hause, vor dem Ludwig Lambert Sophie gesehen hatte. Man stieg aus, und eine Minute später betraten die drei Personen ein freundliches Zimmer des ersten Stocks. Ein alter Mann empfing sie. Der überraschte Soltau erkannte den Boten, der den unechten Ring im Auftrage Edmund Kolbert’s von ihm abgeholt hatte. Sophie stellte den Greis als den Pastor Lambert vor.

„Leider muß ich mich Ihnen bei einer traurigen Gelegenheit zu erkennen geben,“ sagte bewegt der Greis. „Der Arzt hat den Ausspruch gethan, daß Herr Kolbert nur noch wenige Minuten leben wird.“

In diesem Augenblicke ließ sich ein lautes Weinen vernehmen. Als der Pastor und der Banquier in das angrenzende Schlafzimmer traten, lagen die beiden Schwestern vor dem Bette des todtblassen Kolbert schluchzend auf den Knieen. Der Kranke streckte dem Banquier die Hand entgegen.

„Sie kennen mich?“ fragte er mit matter Stimme.

Und dabei umschwebte ein schmerzliches Lächeln seine bleichen Züge.

Soltau erkannte den Verkäufer der Lebenspolice.

„Mein Herr, wir sahen uns an dem Tage auf der Börse –“

„Wo ich Ihnen meine Lebenspolice verkaufte?“ fragte Edmund. „Und dann auch auf dem Balle, wo Sie den Kapitain Belling kennen lernten. Herr Soltau, Sie haben das Zeitungsblatt [238] erhalten, das Ihnen mein würdiger Freund, der Pastor Lambert zusandte?“

„Ja, mein Herr!“

„Dann habe ich Ihnen wenig noch zu eröffnen, ehe ich die Augen schließe.“

„Um Gottes willen, Vater, was ist geschehen?“ rief Henriette.

„Du wirst Alles erfahren, mein theures Kind, wenn Du mich ruhig anhören willst.“

Mit Hülfe Sophie’s richtete sich der Kranke mühsam empor; dann begann er mit schwacher Stimme:

„Ich werde es nicht versuchen, meine Person zu rechtfertigen, denn Sie können Alles ermessen, Herr Soltau, weil Sie lieben. Ach, auch ich liebte, ich liebte wie Sie, mit der ganzen Kraft eines jugendlichen Herzens. Und Jenny, Henriette’s und Sophie’s Mutter – Sie haben sie gekannt, mein Herr – war sie nicht ein Engel an Liebe und Güte? Wir beteten uns an, und durften uns nur heimlich sehen, weil die Welt den vermeintlichen Giftmischer ausgestoßen hatte. In meinen Kindern lebte dieser Engel fort; aber auch des Vaters furchtbares Geschick würde sich auf sie übertragen haben, wenn ich nicht wie eine zweite Vorsehung über sie gewacht hätte. Diese Pflicht fesselte mich an das Leben, denn ich hatte die Hoffnung aufgegeben, meine Unschuld je entdeckt zu sehen. Als die Mutter meiner Kinder gestorben war, erzitterte ich vor dem Gedanken: was wird aus Henriette? Kann sie ohne Schaam sich an die Brust ihres Mannes werfen? Kann Sophie einst dem Geliebten die Hand reichen, ohne erröthen zu müssen? Kolbert starb in den Augen der Welt, aber er lebte fort, um eine schützende Mauer um seine Kinder zu bilden. Der Advokat trat zuerst zwischen Sie und Ihre Gattin. Ein tückischer Zufall spielte ihm Ihren Ring in die Hände, als Henriette mich besuchte. Unser Geheimniß stand auf dem Spiele, und die arme Henriette zitterte, daß die Liebe dessen beeinträchtigt würde, den sie anbetete, dessen Stolz auf seine Gattin sie kannte. Mein ganzes Leben war ja eine Täuschung, und ich nahm zu der des falschen Ringes meine Zuflucht, als ich die Angst meiner Tochter sah, die mir den Werth und die Entstehung des Kleinods mitgetheilt hatte. Henriette besaß einen falschen Ring, ohne es zu wissen, ich hatte ihn ihr als wiedergefunden gegeben. Erst auf dem Balle erfuhr ich, in wessen Händen sich der rechte befand. Der Advokat benutzte ihn, um seine Rache auszuführen. Ich konnte nicht verhindern, daß er einen Angriff auf Sie ausführte. Wäre ich eine Minute früher gekommen, Sie hätten nie erfahren, eben so wenig auch Henriette, daß ein falscher Ring existirte. Glauben Sie mir,“ sagte Edmund traurig, „es kam mir schwer an, Mittel dieser Art zu ergreifen; aber ich hätte noch andere nicht verschmäht, um mein Kind zu schützen.“

Der Kranke war erschöpft, er schwieg einen Augenblick. Soltau ergriff gerührt die Hand seiner Frau, die ihn mit nassen Augen anblickte. Henriette verstand, daß er sie des ungerechten Verdachtes wegen um Verzeihung bat.

„Vater,“ rief Henriette, „Sie haben in meinem Herzen gelesen! Mein ganzes Bestreben war, daß Franz mit Recht auf seine Gattin stolz sein konnte. Ich wußte, was er von mir forderte, und ich wollte ihm Alles gewähren oder sterben!“

„Du warst eine gute Tochter und eine gute Gattin, mein Kind! Doch, ich fühle, daß meine Kräfte rasch schwinden. Mir bleibt noch Einiges Deinem Gatten zu entdecken – hören Sie mich an, Herr Soltau. Die Summe, die Sie für die Police zahlten, brauchte ich zu einer Reise nach England. In Berlin starb wirklich ein Kolbert – er war Gesandtschaftssecretär und mein Freund. Die Versicherungssumme sollte ich seiner Schwester nach London bringen. Da er Edmund Kolbert hieß – denselben Namen hatte ich schon Jahre lang geführt – so beschloß ich, von seinem Tode Vortheil zu ziehen. Durch die Rente stellte ich meine Sophie sicher, und um auch meiner Henriette etwas zukommen zu lassen, schloß ich mit Ihnen den bewußten Kauf ab. Henriette kannte mich, sie hatte mich bei der Trauung gesehen, die deshalb vollzogen worden war, um ihr das Vermögen des Consuls, ihres Großonkels zu verschaffen. Sophie hatte eine Pension verlassen, in der sie von ihrem zartesten Alter an gewesen war. So lange der Fluch auf dem Vater ruhete, sollte sie ihn nicht kennen lernen; sie sollte lieber eine Waise bleiben, als die Tochter eines Giftmischers werden. Ich reis´te nach London, theils um dem Auftrage meines verstorbenen Freundes zu genügen, theils um nach dem Stande meines Prozesses und nach dem Vermögen meiner Frau zu forschen. Als Kapitain Belling hielt ich mich einige Zeit in London auf. Jetzt erkannte ich, daß eine Vorsehung lebte, an der ich schon gezweifelt hatte. Ich suchte die Schwester Kolbert’s auf, eine Wittwe Lay: sie erkannte in mir den unglücklichen Edmund, und ich erkannte in ihr die Erzieherin meiner armen Jenny. Unser Wiedersehen war ein schmerzliches. Die gute Frau hing noch mit so großer Liebe an ihrer Schülerin, daß sie beschloß, mich nach Hamburg zu begleiten, um die Kinder Jenny’s kennen zu lernen und der verlassenen Sophie Mutter zu sein. Sie können sich denken, mit welcher Freude ich diesen Entschluß aufnahm. Nun machte sie mir wichtige Entdeckungen. Von jeher überzeugt, daß ich den Mord nicht begangen, hatte sie die Domestiken des alten Lords beobachtet. William, der Kammerdiener, ein habsüchtiger Mann, hatte durch sein gedrücktes, scheues Wesen ihren Verdacht erregt. Wir schrieben ihm einen anonymen Brief, in welchem wir ihn geradezu des Verbrechens beschuldigten, und ihn aufforderten, sein Seelenheil zu wahren, was nur dadurch geschehen könne, daß er den Verdacht von den Häuptern zweier Unschuldigen wälze, die ihn vor Gott verklagten. Wir riethen ihm, die Schwere seines Verbrechens zu lindern, indem er dem Tribunale schriftlich die Wahrheit anzeigte, und England verließe. Da dieser Brief keine Wirkung zu haben schien, so folgte ich dem Drange meines Herzens, und reis’te mit Mrs. Lay nach Hamburg zurück. Nun entdeckte ich mich der armen Sophie und gab ihr in meiner Reisegefährtin eine Mutter. Ich miethete unter dem Namen Kapitain Belling dieses Haus, in dem Sophie zeither ein Stübchen bewohnt hatte. Dieses Haus nun gehört dem Schiffsrheder Herrn S. Madame Lay wurde mit Madame S. bekannt, und so kam es, daß wir zu dem Balle geladen wurden, auf dem Henriette die Erzieherin ihrer Mutter kennen lernte.

„Die übrigen Vorgänge kennen Sie, – mir fehlt die Kraft, Ihnen mehr zu sagen – aber was ich bisher gesagt, wird Ihnen den Schlüssel zu den Räthseln geben, zu dem Geheimnisse, das auf der Familie Ihrer Gattin lastete. Ich bin schwer verwundet – durch einen Schuß des Advokaten – mit dem ich in Folge der Unterredung an der Kirche – ein Duell hatte. Er kannte bereits aus den Zeitungen meine Unschuld – als wir uns auf dem Kampfplatze einfanden. O, meine Kinder, nun sterbe ich zufrieden, denn Ihr könnt mich vor der Welt Euren Vater nennen, ohne vor Schaam erröthen zu müssen. Und Dir, Jenny, verklärte Dulderin, Dir habe ich den Eid gehalten – den ich Dir in Deiner letzten Stunde geschworen – unsere Kinder beweinen den Vater, der von jeder Schuld frei ist!“

Edmund sank in das Bett zurück. Nach einigen Augenblicken jedoch erhob er sich wieder mit großer Anstrengung. In seinem Gesichte war eine auffallende Veränderung vorgegangen: die Augen glühten seltsam, und die Blässe war bläulich geworden.

„Herr Soltau,“ fragte er leise, „darf ich Sie jetzt meinen Sohn nennen?“

Der bewegte Banquier war keines Wortes mächtig; er ergriff die Hand des Sterbenden und drückte sie mit Innigkeit an seine Lippen.

„Vater meiner angebeteten Henriette!“ stammelte er endlich.

„Ich werde stolz sein, mich Ihren Sohn nennen zu dürfen!“

„Dann vergessen Sie meinen alten Freund nicht!“ sagte Edmund, indem er zu dem Pastor hinüberblickte. „Dafür, daß er den Eltern Ihrer Gattin den kirchlichen Segen gegeben, hat er sein Amt eingebüßt. Die Denunciation ist von dem Advokaten ausgegangen.“

„Verzeihen wir ihm,“ sagte der würdige Pfarrer; „er wandelt ja nicht mehr auf der Erde!“

„Ist er todt?“ fragte der Kranke.

„Er hat sich selbst entleibt; seine Sophismen waren nicht mächtig genug, um das schwer belastete Gewissen zu beruhigen.“

„Mein Gott, mein Gott!“ rief Edmund, indem er die Arme ausbreitete.

Der letzte Todeskampf begann. Nach einer Viertelstunde war Edmund verschieden.

„Herr,“ betete der Pfarrer, „nimm seine Seele gnädig auf!“


Noch an demselben Tage überreichte Pastor Lambert dem Banquier die Papiere, die zur Erhebung des Vermögens in London erforderlich waren; Edmund hatte sie ihm vor dem Duelle anvertraut. [239] Am dritten Tage bestattete man zwei Leichen: auf dem Friedhofe der Vorstadt Sanct Georg unter feierlichem Gepränge Sir Edmund Dudley, wobei Pastor Lambert an dem Grabe des Freundes eine erhebende Rede hielt – und auf einem Friedhofe der Stadt in der Morgendämmerung den Advokaten Eberhardi, den man als einen Selbstmörder in einem Winkel verscharrte. Ihm ward keine Thräne nachgeweint, es waren ihm im Leben genug geflossen: die Thränen der armen Menschen, die er an den Bettelstab gebracht hatte. Wie sich später ergab, hatte er sein bedeutendes Vermögen in einer großen Spekulation verloren, und da er außerdem in eine Criminaluntersuchung verwickelt war, glaubte man die Gründe seiner letzten und einzigen ersprießlichen Handlung erkannt zu haben.

Drei Monate später kam Franz von London zurück; er hatte das enorme Vermögen Henriette’s und Sophie’s erhoben. Der Kammerdiener William war wahnsinnig im Gefängnisse gestorben, nachdem er zuvor ein offenes Bekenntniß seiner That abgelegt hatte.

„Und was wird nun mit unserer Sophie Saller?“ fragte Franz seine Gattin eines Tages, als sie im traulichen Gespräche die Leidensgeschichte ihrer Ehe recapitulirt hatten.

„Sie verheirathet sich.“

„Mein Freund Philipps hat sich auf dem Balle in sie verliebt.“

„Sie liebt längst einen Andern.“

„Wen?“

„Unsern Ludwig Lambert. Du siehst, mein lieber Freund, daß die Banquiers in unserer Familie Glück machen. Du bist der Vormund Sophie’s – wirst Du Deine Einwilligung versagen?“

„Knüpfe Du das Band Deiner Schwester, ich werde den armen Philipps zu trösten suchen.“

Ein halbes Jahr später hatte sich die Firma des Bankhauses verändert; man las auf dem Schilde „Soltau und Lambert.“ Die beiden Schwäger waren Associé’s geworden. Der Pastor Lambert lebte bei seinem Neffen, und Madame Lay wartete auf die Enkel Jenny’s, um ihr Amt als Pflegerin und Erzieherin von Neuem anzutreten. Ob die Hoffnungen der guten Frau in Erfüllung gehen werden?

Sophie vergalt ihrem Gatten die kleine Mystifikation, die sie auszuüben gezwungen gewesen, durch das offene Geständniß, daß sie den Schlüssel, der ihre Bekanntschaft eröffnet, mit Fleiß verloren habe.

„Und der Mann im Wagen?“ fragte Ludwig.

„War mein armer Vater, unser Schutzgeist!“




Genrebilder aus Birmanien.
Rangoon, die Hauptstadt, in der nassen und trockenen Jahreszeit. – Die üppige Vegetation der Umgegend. – Ein Leichenbegängniß, mit Feuerwerk und das Abenteuer auf einem durchgehenden Elephanten. – Guapee, die Nationalwürze. – Bemerkungen über Land und Leute.
(Mit Abbildung.)

Die englische Politik that sich während des Krieges mit Rußland gern etwas darauf zu Gute, daß sie blos für’s „Recht“, für die „Civilisation“ kämpfe, durchaus nicht eigennütziger Absichten wegen, nicht um zu erobern. Während dieser aufopfernden Uneigennützigkeit knüpfte sie aber ein ganzes, großes Königreich, Oude, an ihre schon europagroß ausgedehnten Eroberungen in Indien und kurz vorher war es, nach manchen blutigen Kriegen, ihrer List und Waffengewalt gelungen, den schönsten, größten und werthvollsten Theil des birmanischen Reiches ihren umherschwärmenden Steuereintreibern unterthänig zu machen.

Unsere Geschichte fällt in die letzte Periode dieses birmanischen Krieges. Die flache Küste und die dicht mit Vegetation überwucherten Ufer um die Hauptstadt des eroberten Birmanien, Rangoon, waren den Sommer über die unerschöpfliche Geburtsstätte massenhaften Fiebertodes gewesen, Rangoon ein ödes, heißes, feuchtes Verhungern, Sterben und Begraben. Aber mit Eintritt des September änderte sich plötzlich die ganze Scenerie wie durch Zauber. Die stehenden Wasser der Ebenen waren verschwunden, und diese überkleideten sich rasch mit der luxuriösesten Vegetation aller Farben und Schattirungen von einer Schönheit und Fülle, wovon wir im üppigsten Norden noch keine Ahnung bekommen. Die Stadt mit ihren zwei Meilen langen Pfahlwerken und Holzhäusern, jetzt keine menschenarme Wüste voller Sterbenden mehr, sondern auf’s Neue gefüllt mit geflüchteten und neuen Eingebornen unter englischem Schutze, lief nach allen Seiten in unabsehbare blühende Paradiese, wogende Felder, Frucht- und Blumengärten und Bananengebüsche. Selbst die noch gebliebenen Wasserstände hatten sich mit Teppichen grüner, blühender, betrügerischer Wiese überzogen. Am Zauberhaftesten war der Blick nach den stumpfen, kleinen Hügelreihen hinauf, auf welchen die ungeheuere Schoe-Dagon-Pagode glüht und glittert.

Die Häuser Rangoons schwärmten wieder lustig aus und ein und die verschlossenen und verfallenen Läden öffneten und putzten sich unter den Händen emsiger, schnatternder Chinesen. Selbst die Umgegend und die Klöster wurden wieder menschenfreudig und heiter, besonders letztere, da es keine heiterere, fröhlichere und lustigere Menschenrasse giebt, als die gelben birmanischen Priester.

Ich (ein englischer Offizier erzählt es) befand mich nach langem Siechthume im Zustande der Genesung, und benutzte nach Kräften die herrliche Natur mit ihrem Balsam, den sie nun statt des Fiebergiftes von und nach allen Seiten ausduftete. Mein Arzt lud mich eines Tages ein, die Beerdigungsfeierlichkeiten eines Priesters von großer Berühmtheit mit anzusehen. Die ganze Gegend war in freudiger Aufregung, denn die Vorbereitungen zu dieser Feierlichkeit waren im großartigsten Maßstabe getroffen worden, obgleich auch minder berühmte Personen nicht selten mit dem größten, lustigsten Pompe begraben werden.[1] Der Körper war üblicher Weise einbalsamirt und dann mit einer Schicht geschmolzenen Wachses überzogen worden, um ihn zu erhalten, bis die Vorbereitungen zu seiner Verewigung vollendet sein würden. Außerdem hatte man über diese Wachsschicht noch eine dünne Vergoldung von Goldplättchen gezogen. In diesem Zustande wartete er des Feuerwerks, welches ihn beerdigen, d.h. der Ewigkeit übergeben sollte.

Der Festtag war endlich gekommen und damit mein Arzt, der mir zugleich die freudige Mittheilung machte, daß er für uns Sitze auf einem der wenigen erlaubten Elephanten gemiethet habe. Der Schauplatz der Feierlichkeit war eine große Ebene, die sich nach dem Meere absenkte, beherrscht von einer verfallenen und in ein Festungswerk verwandelten Pagode. Wir drängten uns durch dichte Menschenmassen, die sich schon aufgestellt hatten, obgleich die Prozession mit der Leiche um die Stadt herum noch nicht angekommen war, und bestiegen unsere Sitze auf dem Elephanten, der gleich von Anfang an nicht bester Laune zu sein schien. Der übergoldete Sarg erschien endlich auf einer hohen Tribune von Holz, reichlich bedeckt und behangen mit Sprüchen in Goldpapier geschnitten. Von da wurde er auf einen sehr hohen Leichenwagen gestellt, der ebenfalls auf einer hohen Tribüne stand. Eine große Menge Priester und sonstige Birmanier zogen mit Flaggen und Fahnen, Bannern und goldenen Götzenbildern um den Wagen, Knaben und Mädchen tanzten und sangen lustig um die Tribüne herum. Als unser Mahout (Wärter und Lenker des Elephanten) sein mürrisches Thier näher getrieben, bemerkten wir, daß die in den Leichenwagen gesteckten Götzenbilder dicht mit Feuerwerkskörpern, Racketen u. s. w. gespickt waren. Eine Schaar gelber Priester stand dicht drum herum; in deren Nähe glänzten etwa sechs große übergoldete Tii’s (Sonnenschirme), unter denen die höchsten obrigkeitlichen Personen sich vor den Sonnenstrahlen und dem Anblick der Menge verbargen. Das schöne Geschlecht war nicht stark vertreten. Außer hier und da älteren Frauen fielen mir blos mehrere jugendliche Gestalten im grellsten Gelb und unter eigenthümlicher Kopfbedeckung auf, Priesterinnen und Nonnen der buddhistischen Religion. Dicht hinter dem Sarge stand eine geladene Kanone, vor demselben wurde ein großer Raum frei gehalten, ohne daß die Beamten große Schwierigkeit damit zu haben schienen.

Während dieser Zeit hatte die ärgerliche Stimmung unseres Elephanten offenbar stets zugenommen, so sehr sich auch der Mahout bemühte, ihn zu controliren und zu beschwichtigen. Wir erfuhren nachträglich auch den Grund: sein eigentlicher Lenker lag [240] krank im Hospitale, und den neuen, ihm octroyirten, konnte er nicht leiden, weil dieser ihn nicht zu leiten verstand. Endlich plärrte aus einem sehr verstimmten Horne das Signal. Die Kanone donnerte weithin durch die Ebene, die Racketen und Schwärmer zischten und sprudelten und platzten nach allen Seiten, und das geölte Holz flatterte in qualmigm Flammen hoch auf, und erstickte das brüllende Freudengeschrei der Menge. Dies trieb den Aerger unseres Elephanten auch zur lodernden Flamme. Mit rasender Geschwindigkeit stürzte er sich schnaubend durch die aufkreischende Menge und den dicken Rauch, und hätte mich sogleich von meinem Platze geschüttelt, wär’ ich nicht, wie die Kissen, auf denen ich saß, durch Stricke und Bandagen gesichert gewesen. Bald hatte er die ganze qualmende, flackernde Feierlichkeit hinter sich; und stürmte mit fürchterlichem Trompetenton – das sicherste Zeichen von Elephantenwuth – im rasendsten Galopp immer gerade aus über die blühende, üppige Vegetation hin. Ungeachtet meiner Angst hatte ich doch noch den Hauptakt der Feierlichkeit gesehen, die Aufsprengung des Sarges und Leichnams zu tausend Atomen in den Himmel hinein, in die Luft, wo der entseelte Körper jedenfalls eine geeignetere Gruft fand, als in der langsam zersetzenden und zu neuem Leben rufenden Erde.

Als ich wieder ordentlich zu mir selbst kam und über meine gefährliche, geschüttelte, uncontrolirte Lage nachdachte, sah ich zugleich, daß hinter mir mein Arzt und alle andern Reiter mit sämmtlichen Kissen verschwunden waren. Ich und der Mahout waren noch die einzigen Spielbälle des wüthend dahin trompetenden Elephanten. Ich hielt mich krampfhaft an die Stricke und Bandagen fest, und der Mahout hatte offenbar jeden Versuch, ihn zu lenken und zu besänftigen, aufgegeben. Auch er beschäftigte sich blos mit den Anstrengungen, sattelfest zu bleiben. Bald kam die wüthende Thiermasse in das Bereich von Büschen und Bäumen, durch welche er knatterte und krachte, als beständen sie aus dünnem, dürren Reisig. Größere Aeste, die ihm im Wege waren, riß er mit Trompetengeschmetter ab, als wären es Zwirnsfäden. Meine Hauptangst war nun, daß ich von einem Aste plötzlich unsanft gepackt und weggerissen werden würde, besonders als er sich auf einen ungeheuern Baum losstürzte. Hier stand er zum ersten Mal still, schnaubte, wackelte mit seinen großen lappigen Ohren und schien nachzudenken, aber nicht lange. Sein Rüssel schwang sich wie eine Peitsche empor, faßte den Mahout und schleuderte ihn in die Baumkrone hinein, wie ein Kind einen Federball. Der Mahout kreischte fürchterlich und rauschte und krachte dazu in der Baumkrone oben, wie nichts Gutes, aber jedenfalls gut genug, um nicht wieder herauszukommen, sondern sich hübsch oben zu halten. Als der Elephant sich durch Augenschein überzeugt hatte, daß er seinen Bändiger und Peiniger los und dieser in Sicherheit war, gab er seinen Beifall über diese Aenderung der Dinge durch einen eigenthümlichen quiekenden Laut zu erkennen und setzte dann seinen Marsch mit mir ruhiger fort. Jetzt glaubte ich auch die Ursache seiner Revolution zu erkennen, eine blutende Wunde neben dem Ohre, dem empfindlichsten Theile, welchen die Mahouts mit ihrem Stachel zu kitzeln pflegen, um ihn anzutreiben. Der Mahout hatte den Stachel gar zu fleißig gebraucht und eine ältere Wunde dabei aufgerissen.

Das arme, brave Thier war nun vollkommen ruhig und latschte gemüthlich umher, um sich von dem reich gedeckten Tische der Natur das Beste auszusuchen. Ich dachte nach, wie ich eine solche Gelegenheit benutzen könnte, um auf den sumpfigen, weichen Boden herunter zu gleiten, ohne meinen Herrn und Meister aus’s Neue zu beleidigen, und wie ich wohl meinen Weg zurückfinden könnte; denn ich wußte absolut nicht mehr, wo ich war und in welcher Richtung ich Rangoon suchen sollte, als mich ein eigenthümlicher, birmanischer Geruch an die Nähe eines Daches erinnerte, wo dieser Geruch so recht eigentlich zu Hause ist. Das Dorf lebt ausschließlich von Bereitung des Gnapee oder Balischong, einer Art von Kleister, welcher nicht nur, wie bei uns Petersilie, auf allen Suppen schwimmen will, sondern den unfehlbaren Theil und die unerläßliche Würze jeder birmanischen Mahlzeit bildet, Mostrich zum Fleisch, Sauce zum Fisch, Butter zum Brot, Brot zur Butter, Caviar um Appetit zu erregen, und Speise, diesen Appetit zu stillen. Dieser allgegenwärtige, zu allen Dingen nützliche Gnapee besteht aus – faulen Fischen, besonders Seeheuschrecken, welche in Fäulniß versetzt und dann in Oefen getrocknet, in Mörsern mit Zwiebeln, Schnittlauch, Salz und andern Gewürzen gestoßen, in Töpfe gepackt, mit heißem Essig überschüttet, verschlossen und so verkauft werden. Doch läßt man die Masse erst eine Zeit, je länger, desto besser, offen stehen, ehe man sie hermetisch verschließt und in den Handel bringt. Der Geruch dieses Nationalgewürzes ist ungemein streng und eigenthümlich penetrant, der Geschmack noch mehr, so daß ich alle meine Courage zusammennehmen mußte, um es zum ersten Male zu kosten.

Jetzt war mir aber dieser Geruch in der Atmosphäre sehr willkommen, ich wußte doch, wo ich war und daß Menschen in der Nähe seien. Aber ich saß immer noch umstrickt auf dem willkürlich und launisch umherschweifenden Elephanten, der wieder lebendiger wurde und schneller lief, just als ich glaubte, einen Versuch zum Hinunterrutschen machen zu können. Ihm war ein mächtiger Baumwollenbaum, üppig geschmückt mit großen scharlachnen und weißen Blüthen, in die Augen gefallen, denen er sofort seine Aufwartung machte, um sich aus diesem Blüthenmeere zu laben. Während er stand und sich mit dem Rüssel reichlich bediente, rauschte und knisterte es in den Zweigen oben. Ich und der Elephant wir horchten zugleich verwundert und erschracken. Zugleich sah ich auf und erkannte einen höchst unwillkommenen Gast über uns, eine halb um den Baum gewickelte, mit graugrünfleckigem Vordertheile und dem dicken Kopfe und den glühenden Augen umher peitschende und zischende, monströse Schlange. Mich überlief es mit grauenhaftem Schrecken. Auch der Elephant zitterte und gab einen Laut von sich, wie ich ihn noch nie von einem Elephanten vernommen, ganz verschieden von seiner Trompete des Zornes und den eigenthümlichen Baßquieken des Beifalls und der Befriedigung, so daß ich hierin eine neue Nota zu meiner Behauptung fand, jedes Thier habe für seinen Gedanken- und Gesichtskreis eine eben so reiche Sprache, wie der Mensch für seinen weiten Geist. Der Elephant wollte fliehen, aber in demselben Augenblicke hörte ich das Klatschen und Zischen des Ungeheuers hinter mir. Der erschreckte Riese aller Thiere that einen so gewaltigen Satz und Sprung, daß ich in die Luft flog und dort mich verlor. Wenigstens hatte ich in dieser Region meine Besinnung verloren, die ich erst auf dem sumpfigen Boden, bedeckt mit Schmutz und Schlamm und seltsamen Blumen, wiederfand. Ich kroch hervor und heraus aus Sumpf und Blumen, noch zitternd in Gedanken an das ringelnde, gelblichgrüne, fleckige, zischende Ungeheuer, das mich zwar nicht wieder überfiel, wohl aber ein seltsames Gefühl von Schwäche und Uebelkeit, worin ich mich abermals verlor. In ehrlichen Worten, obgleich Krieger, gestehe ich, daß ich ohnmächtig gewesen war, als ich mich durch den starken Geruch von vier Gnapee-Fabrikanten, die mich wegtrugen, wiederfand.

Reife Bananen und frisches Wasser machten mich wieder zum Manne. Als ich meinen Arzt aufgesucht, fand ich diesen mitten in Vorbereitungen zu einer Aufsuchungs-Expedition nach mir. Er war, wie ich, ohne Schaden zu nehmen, gefallen. Von dem Mahout hörten wir nichts wieder. Der Elephant war ruhig zu seinem Herrn zurückgekehrt, ohne zu verrathen, wie er sich seines letzten, umarmenden Reiters entledigt hatte.

Birmanien umfaßte nach den Messungen, die dessen abenteuerlicher Generalfeldmarschall Orgoni, ein geborner Franzose, anstellen ließ, 40,500 französische Quadratmeilen, von denen die Engländer den besten Theil am Meere weggenommen haben. Es wird von verschiedenen Racen bewohnt, Malaien, Mogs, Cassaiten u. s. w. Sie haben in Taille und Figur etwas Chinesisches, sind aber im Durchschnitt schöner, kräftiger, ungemein lebhaft, lustig, gastfreundlich, neugierig und tanzsüchtig. Jederzeit wird getanzt, wenn Einige Muse haben. Die Tänze bestehen aus pantomimischen Sprüngen, Verrenkungen und Gestikulationen zu den Tönen verschiedener Instrumente. Die Hauptreligion ist die buddhistische, die Regierung despotisch. Nach dem Staatsoberhaupte kommt im Range gleich der weiße Elephant. Es giebt eine ziemlich reiche Literatur auf Palmenblättern in einer Schrift, die, wie hebräisch, von der Linken nach der Rechten geschrieben ist. Unsers Wissens ist noch nichts davon durch Übersetzung bekannt geworden. Vielweiberei ist gesetzlich gestattet, doch genießt das schöne Geschlecht mit wirklich viel Schönen, dieselben Freiheiten und Rechte, wie das männliche. Kultur und Industrie giebt’s nicht besonders, außer was die Chinesen und Engländer treiben. Die Eingeborenen spielen und singen, kämpfen, tanzen, machen Feuerwerke und führen dramatische Pantomimen auf, und wenn sie hungrig sind, greifen [241] sie eben blos in die Natur hinein, deren Eidechsen und Schlangen sie zur Noth auch nicht verachten.

Ob sie mit ihrem natürlichen kriegerischen Muthe und unter der Disciplin Orgoni’s die englische Oberherrschaft auf die Dauer sich gefallen lassen, wird von Einigen bezweifelt. Orgoni soll 40,000 Mann und eine besonders starke Elephanten-Artillerie haben, auch eine gute Elephanten-Cavallerie mit lebendigen Festungen. Um hier weitere Worte zu sparen, lassen wir ein Kriegs-Elephantenbild sprechen. Die Kanonen werden durch Maschinen und Schraubenzieher auf die Rücken dieser Ungeheuer befestigt, und die Kugeln sausen über die Köpfe derselben ihrem Ziele zu. Viele dieser vierbeinigen Batterien sind, um sie vor den Geschossen der Gegner zu schützen, mit hölzernen, eisenbeschlagenen Decken gepanzert, und einige tragen kleine Thürmchen mit den besten Scharfschützen des Heeres.




Vom Baue des menschlichen Körpers.
Des Menschen Fleisch und Bein.
(Fortsetzung.)

Die Muskeln, welche vermöge ihrer Struktur mit Beihülfe der Nerven fast alle Bewegungen veranlassen und diese entweder nach unserem Willen oder unabhängig von unserem Willen ausführen können, stellen solide, weiche, feuchte, rothe, verschieden geformte Organe dar, deren Gewebe, die Muskelsubstanz oder das Fleisch, hauptsächlich aus feinen, weichen, rothen Fasern (aus Faserstoff) besteht, zwischen denen sich zahlreiche Blutgefäße und Nerven, sowie lockeres Zell- oder Bindegewebe und der Fleischsaft befindet, welcher letztere einer dünnen sauren Milch nicht unähnlich zusammengesetzt, reich an Eiweiß, Salzen, Fett und Milchsäure ist. Die mit bloßem Auge deutlich wahrnehmbare Fleischfaser, welcher die Fähigkeit zukommt, sich zusammenzuziehen und zu verkürzen (die Contractilität), und dies hauptsächlich in Folge der Einwirkung von Nervenreizung, läßt sich durch das Mikroskop als aus einer größern oder geringern Anzahl von feinen Fäserchen zusammengesetzt erkennen, die, wie die dickern Fasern selbst, bei den sogen. willkürlichen und unwillkürlichen Muskeln von verschiedenem Baue sind. Die ersteren nämlich, welche auch weit röther und saftiger als die unwillkürlichen Muskeln sind, bestehen aus Bündeln von quergestreiften Fasern (Knötchenfibrillen), während die letzteren aus glatten Fasern (Faserzellen) zusammengesetzt sind. Außer der Contractilität kommt den Muskelfasern aber auch noch Elasticität zu und von dieser hängt die Starre ab, von welcher bald nach dem Tode viele Muskeln befallen werden.

a) Schädelmuskeln. b) Gesichtsmuskeln. c) Halsmuskeln. d) Nackenmuskeln. e) Brustmuskeln. f) Rückenmuskeln. g) Bauchmuskeln. h) Becken- (Gesäß-) Muskeln. i) Schulterblattmuskeln. k) Deltamuskel. l) Oberarmmuskeln. m) Vorderarmmuskeln. n) Handmuskeln, o) Oberschenkelmuskeln. p) Unterschenkelmuskeln. q) Wadenmuskeln. r) Achillessehne. s) Fußmuskeln.

Nach der Form, in welcher die Muskeln vorkommen, bezeichnet man sie als Längen-, Flächen-, Ring- und Hohlmuskeln. Die langen Muskeln finden sich an den Gliedmaaßen und der Wirbelsäule, sind dem Willen am meisten untergeordnet und besitzen einen Kopf (das an einem festen Punkte befestigte Ursprungsende), einen rundlichen Bauch (das Mittelstück) und einen Schwanz (das mit einem beweglichen Theile verbundene Ansatzende). Kopf und Schwanz laufen gewöhnlich in eine kürzere oder längere Flechse aus. Die breiten oder Flächenmuskeln sind dünn und platt; mehrere derselben entspringen mit Zacken und endigen in breite Sehnenhäute. Sie kommen vorzugsweise am Rumpfe vor und begränzen hier die großen Körperhöhlen. Die Ring-oder Schließmuskeln bilden Fleischringe um gewisse Leibesöffnungen (Mund, Auge) herum und können diese verengern und schließen. Die Hohlmuskeln bilden entweder für sich hohle Organe (Herz, Gebärmutter) oder befinden sich als Muskelhäute in der Wand von Höhlen und Kanälen (am Magen, Darmkanal, Harnblase).

Nach den Bewegungen, welche die willkürlichen Muskeln, von denen es über 500 giebt, ausführen können, benennt man dieselben: Beuger und Strecker, Abzieher und Anzieher, (Einwärts- und Auswärts-)Roller, zusammenwirkende und gegenwirkende Muskeln (Genossen und Gegner oder Antagonisten). Die Beuger trifft man besonders an Scharniergelenken; sie nähern zwei Theile in der Längenrichtung des Körpers unter einem Winkel einander, wie z. B. den Vorderarm dem Oberarme. Ihre Gegner sind die Strecker, welche die gebeugten Theile wieder von einander entfernen. Die Anzieher ziehen die Theile nach der Mittellinie, von einer Seite des Körpers zur andern hin. Die Abzieher bewirken die entgegengesetzte Bewegung eines Theiles, nämlich von der Mittellinie des Körpers ab und nach der Seite hin. Die Roller drehen einen Theil entweder um seine eigene Achse oder um einen andern Theil in einem Halbkreise, nach außen oder innen, nach vorwärts oder rückwärts herum. Antagonisten nennt man die Muskeln eines Theiles dann, wenn sie Bewegungen ausführen, welche denen anderer Muskeln desselben Theiles gerade entgegengesetzt sind; so sind z. B. die Strecker des Vorderarmes, Knies u. s. w. die Antagonisten von den Beugern dieser Theile.

Die einzelnen willkürlichen Muskeln, von welchen die Muskellehre (Myologie) handelt, sind zum allergrößten Theile, dem Ebenmaaß der Körperhälften folgend, paarig vorhanden und die wenigen unpaarigen, welche in der Mittellinie des Körpers ihre Lage haben, sind aus zwei gleichen Hälften zusammengesetzt. Die Anordnung der Muskeln hinsichtlich ihrer Lagerung ist übrigens so getroffen, daß sie an der vordern und hintern Körperfläche in zwei-, in drei- und noch mehrfachen Schichten über einander liegen, durch sehnige Muskelbinden ebensowohl von einander getrennt, wie mit einander vereinigt sind, daß sie rings die Gelenke mit ihren Sehnen umgeben und schließlich sämmtlich nach der Oberfläche des Körpers hin von einer allgemeinen Sehnenhaut überkleidet werden.

A Die am Kopfe liegenden Muskeln scheidet man in die des Schädels und des Gesichtes. Die Schädelmuskeln (a) dienen theils zur Bewegung der Kopfhaut (wie Stirn- und Hinterhauptsmuskeln), theils gehören sie dem äußern Ohre und einer derselben (der Schläfemuskel) dem Unterkiefer an. Die Gesichtsmuskeln (b), [242] welche mehr oder weniger in Polstern von Fett eingehüllt liegen, sind für die äußern Theile der Sinnesorgane, besonders zum Schließen und Oeffnen der Sinneshöhlen, bestimmt und zerfallen deshalb in Augen-, Ohr-, Nasen-, Backen-, Mund- und Kaumuskeln. Innerhalb der Augen- und Mundhöhle trifft man dann noch: in ersterer auf Muskeln des Augapfels, in letzterer auf die des Gaumens. Die Kaumuskeln können den Unterkiefer herauf und herunter, nach rechts und links bewegen, sowie kreisen.

B. Die Rumpfmuskeln zerfallen in die des Halses und Nackens, der Brust und des Rückens, des Bauches und Beckens. – Am Halse und Nacken finden sich zuvörderst Muskeln, welche den ganzen Kopf und Hals bewegen, nämlich vorwärts und seitwärts beugen, strecken, drehen und kreisen. An der vordern Fläche des Halses, an welcher vor den Halswirbeln zunächst unter der Haut und dem breiten Halsmuskel das Zungenbein mit der Zunge, der Kehlkopf und die Luftröhre mit der Schilddrüse, und hinter diesen Organen der Schlundkopf und die Speiseröhre angetroffen werden, liegen Muskeln (c), welche diese genannten Theile verschiedentlich bewegen können und seitlich von den deutlich vorspringenden Kopfnickern eingegränzt werden. Einige der vordern seitlichen Halsmuskeln ziehen beim tiefen Einathmen das Brustbein und die obersten Rippen aufwärts; einige andere bewirken das Herabziehen des Unterkiefers (das Oeffnen des Mundes). Von den Nackenmuskeln (d) dienen mehrere zum Bewegen (Rück- und Aufwärtsziehen) der Schulter. – Die Brustmuskeln (e) bedecken den vordern und seitlichen Umfang des Brustkastens und lassen nur die Mitte des Brustbeins frei; sie liegen theils schichtenweise über einander, theils füllen sie die Räume zwischen den Rippen aus. Diese Muskeln bewegen theils den Brustkasten selbst (besonders beim Einathmen), theils dienen sie zum Bewegen (Herab- und Anziehen) der Schulter und des Armes. Der Gränzmuskel zwischen Brust- und Bauchhöhle ist das Zwergfell (Diaphragma), welches die wichtigste Rolle beim Athmen spielt und zugleich zur Verengerung (Entleerung) der Bauchhöhle beiträgt. – Die Rückenmuskeln (f) liegen in 5 Schichten über einander und dienen theils zum Aufrechterhalten, Strecken und Seitwärtsbeugen der Wirbelsäule (also des ganzen Rumpfes), theils beim Ein- und Ausathmen, sowie zum Bewegen der Schulter und des Oberarmes. – Die Bauchmuskeln (g) bilden den vordern und seitlichen Theil der Bauchwand und ziehen sich vom untern Theile des Brustkastens zum Becken herab, hinterwärts aber bis zu den Lendenwirbeln. Dieser Muskelapparat bildet eine theils fleischige, theils sehnige Decke zum Schutze und zur Unterstützung der Unterleibsorgane, auf die diese durch ihre Zusammenziehung (Bauchpresse), wodurch die Bauchhöhle verengert wird, drückt und so theils ihrer Funktion förderlich ist, theils dieselben bei heftigen Körperbewegungen oder wo der Körper in einer anstrengenden Stellung eine bedeutende Kraft ausüben oder Widerstand leisten soll, in ihrer Lage sichert. Außer zum Umhüllen, Stützen, Bewegen und Drücken der Baucheingeweide, dienen die Bauchmuskeln auch noch zum Ausathmen, sowie zum Vor- und Seitwärtsbeugen des Oberkörpers. – Die am Becken lagernden Muskeln (h) äußern zum größten Theile ihre Wirkung auf die Beine, besonders die am hintern Theile des Beckens befindlichen und das Sitzfleisch (die Hinterbacken) bildenden Strecker und Roller des Oberschenkels.

C. Die Muskeln der obern Gliedmaaßen theilt man hinsichtlich ihrer Lage in die der Schulter, des Oberarms, des Vorderarms und der Hand. Die Schultermuskeln (i) erstrecken sich vom Schulterblatte oder Schlüsselbein zum Oberarme und dienen theils zum Heben, theils zum Ein- und Auswärtsrollen desselben. Der das Schultergelenk bedeckende starke Muskel heißt der Deltamuskel (k); er zeigt sich bei Verrenkungen des Oberarms abgeflacht oder auch vertieft. Die von Muskeln begränzte Höhle unter der Schulter nennt man die Achselgrube und diese birgt die großen Gefäß- und Nervenstämme für den Arm. – Die Oberarmmuskeln (l) sind entweder Beuger oder Strecker des Vorderarms; erstere liegen an der innern (vordern) Fläche des Oberarms und schwellen (besonders der dicht unter der Haut liegende zweiköpfige Armmuskel) beim kräftigen Beugen des Ellenbogengelenkes deutlich an; letztere haben ihre Lage an der äußern (hintern) Fläche des Oberarms und heften sich an den Ellenbogen. – Die Vorderarmmuskeln (m) bewegen entweder die Speiche als Ein- oder Auswärtsdreher, oder die Hand und die Finger als Beuger, Strecker, An- und Abzieher. An der innern (vordern) Fläche des Vorderarmes lagern die Einwärtsdreher, die Beuger und Anzieher, an der äußern (hintern) Fläche die Auswärtsdreher, Strecker und Anzieher. Die große Mehrzahl dieser Muskeln geht in lange dünne Sehnen über, welche am Handgelenke durch ringförmige mit Schleimscheiden ausgekleidete Kanäle hindurch zu den Fingern treten. – An der Hand (n) finden sich Muskeln zur Bewegung der Finger, und von diesen liegen die meisten in der Hohlhand, vorzugsweise am 1. und 5. Mittelhandknochen, hier den fleischigen Ballen des Daumens und kleinen Fingers bildend.

D. Die Muskeln der untern Gliedmaaßen werden in die des Oberschenkels, Unterschenkels und Fußes getrennt. – Die Oberschenkelmuskeln (o) dienen theils zum An- und Abziehen des Schenkels, theils zum Beugen und Strecken im Kniegelenke. An der vordern Fläche des Oberschenkels befinden sich die Strecker des Unterschenkels und diese heften sich an die Kniescheibe an; ihre Antagonisten, die Beuger des Unterschenkels, liegen an der hintern Fläche und begränzen mit ihren Sehnen seitlich die von großen Gefäßen und starken Nerven durchsetzte Kniekehle. Das Fleisch an der innern Fläche des Oberschenkels wird von den Anziehemuskeln des Schenkels gebildet. – Am Unterschenkel (p) trifft man auf Beuger und Strecker des Fußes und der Zehen. Die Strecker des Fußes, welche beim Gehen und Tanzen hauptsächlich in Thätigkeit gesetzt werden, haben ihre Lage an der hintern Fläche des Unterschenkels und bilden die Wade (Wadenmuskeln q), welche nach unten in eine starke, durch die Haut hervortretende Flechse, die Achillessehne (r) ausläuft und sich an die Ferse befestigt. Die übrigen Unterschenkelmuskeln treten mit langen Sehnen entweder um die Knöchel herum oder vor dem Fußgelenke hinweg zum Fuße und zu den Zehen herab. – Am Fuße (s) liegen einige kleine und dünne Streckmuskeln der Zehen auf dem Rücken des Fußes, während in der Fußsohle, von einer dicken und festen Sehnenhaut bedeckt und geschützt, die Beuger, An- und Abzieher der Zehen zu finden sind.

Der Name Achillessehne (deren Verwundungen die Aerzte des Alterthums für tödtlich hielten) schreibt sich höchst wahrscheinlich davon her, daß der griechische Held Achilles, den die Mythe nur an dieser Stelle verwundbar sein ließ, an den Folgen eines Pfeilschusses (von Paris) in die Ferse starb. Achill’s Mutter Thetis hatte nämlich, in Folge eines Orakelspruches, ihren Sohn, um ihn unverwundbar zu machen, in den Styx getaucht und dabei an der Ferse gehalten, so daß diese nicht mit eingetaucht wurde. Man könnte aber auch den Namen daher leiten, daß Achill die Leiche des Hector mit Riemen, die er um diese Sehne zog, an seinen Triumphwagen befestigte.

(Ueber die naturgemäße Pflege und Ausbildung, sowie über, die Behandlung der Krankheiten der Knochen und Muskeln später.)
Bock. 




Die weltgeschichtliche Rolle eines Steines.

Wir wollen nicht das ganze weite Gebiet der Steine durchwandern, um die weltgeschichtliche Rolle derselben Schritt bei Schritt nachzuweisen, sondern wollen nur den schneeweißen Kieselquarz betrachten, der überall auf Feldern und Gartenwegen liegt, der verächtlich mit dem Fuße fortgestoßen wird, da nur Wenige die unermeßliche Bedeutung kennen, welche er für das Bildungs- und Kulturleben der Völker hat, seit sie die trefflichen Eigenschaften desselben kennen lernten: mit blanken Kieseln griffen die Schleuderer, die Tirailleurs der Heere des Alterthums, den Feind an, mit einem Kiesel besiegte David den Riesen Goliath. Wer sieht es diesem unscheinbaren Steine an, daß aus ihm alljährlich in Europa ein Kapital von 50 Mill. Thalern gewonnen wird? Die Londons des Alterthums, Sidon und Tyrus, verdankten ihren Reichthum zum Theil dem Quarzkiesel, und die wunderbare Seestadt Venedig mit ihren Marmorpalästen und Galeeren gründete ihren Großhandel und ihre Weltstellung zum Theil auf die Benutzung des Quarzsandes, [243] und Böhmen verdankt einen seiner blühendsten Industriezweige dem Quarzsande. Denn aus jenem blendendweißen Sande wird unter Zusetzung einiger Kali’s und färbender oder entfärbender Mineralien das Glas gewonnen, welches für das bürgerliche Leben nicht minder wichtig geworden ist als für Kunst und Wissenschaft. Das Glas hat unsern Wohnungen die Behaglichkeit der Beleuchtung verliehen, mit Glasmosaiks und Glasgemälden schmückte das schöpferische Mittelalter seine dämmerigen Dome, mit Hülfe des Glases studirt der Physiker den Lichtstrahl, mit Glasröhren, Retorten und Näpfchen experimentirt der Chemiker, mit Spiegeln schmückt der Tischler das Zimmer, das Glas im Fernrohr eröffnet dem Astronomen den Blick in die Unendlichkeit des Sternenhimmels, das Glas im Mikroskop erschließt dem Naturforscher die Unendlichkeit des unsichtbar Kleinen, mit dem Fernrohr in der Hand leitet der Feldherr die Schlacht, durch’s Fernrohr schaut der Lootse nach gefährdeten Schiffen, dem Glas der Brille verdankt der Augenschwache wohlthuende Hülfe, dem Glase entlockt der Mensch die zauberhaften Lichtspiele der Panoramen, der Zauberlaterne, des Kaleidoskops und anderer optischer Instrumente. Unsere ganze Gegenwart mit ihren tiefeingehenden Wissenschaften, mit ihren farbenblitzenden Kronleuchtern im Ballsaale, mit ihren Sternwarten und photographischen Ateliers, mit ihren fensterreichen Industriepalästen und Bijouteriehallen, mit ihren Optikern und Chemikern; ein Herschel und Ehrenberg, ein Liebig und Arago, ein Humboldt und Newton, ein Fraunhofer und Schwerd, ein Young und Bouillet, jene glänzenden Entdeckungen am Himmel und in den Stäubchen der Erde, würden wir uns ihrer erfreuen und rühmen können, wenn das Glas aus der Reihe der Dinge gestrichen würde, wenn der Quarzsand nicht in den Dienst des Menschen getreten wäre? Gegenüber den Verdächtigungen, mit welchen die Beschäftigung mit der Natur gegenwärtig verfolgt wird, beweist uns der Quarzkiesel, daß sich der menschliche Geist, Gesittigung, Bildung, Kunst und Wissenschaft an der Benutzung der Materie entwickelt. Das Unscheinbarste wird oft das Bedeutsamste und das Verachtetste das Kostbarste. Sagt doch schon Hiob: „Nicht kann man der Weisheit gleichstellen Gold und Glas,“ und Kaiser Nero rechnete seine Glasvase zu den Kostbarkeiten seines Palastes, da sie eine halbe Million Thaler werth war; ein englischer Herzog des 15. Jahrhunderts nahm, wenn er sein Schloß verließ, jedesmal die Fenster mit, weil er diesen kostbaren Schatz nur in seiner Nähe sicher glaubte.

Verfolgen wir die Geschichte des Glasverbrauchs! Irrthümlich wird von der Sage behauptet, daß phönizische Seefahrer durch Zufall beim Kochen ihres Mittagsmahles am sandigen Strande das Glasschmelzen entdeckt hätten. Denn da das Schmelzen des Quarzsandes eine sehr große Hitze erfordert, so reicht ein gewöhnliches Kochfeuer natürlich nicht hin, um Sand in Glas zu verwandeln. Dagegen sind in den Todtengewölben der Egypter, die vor etwa 4000 Jahren mit Gemälden versehen wurden, bereits Glasbläser dargestellt, die an der Pfeife eine Glasflasche ausblasen, und wenn wir dem Worte „Glas“ selbst nachgehen, so werden wir nach dem uralten Kulturlande Indien geführt, von woher das Wort stammt und fast durch die ganze Welt verbreitet ist, weil mit der Waare auch deren Name von Volk zu Volk ging. Unser deutsches Wort Glas, welches offenbar mit Glanz, Glut, Glast, glatt, klar u. s. w. verwandt ist, hat seinen Stamm in dem Sanskritworte kelasa, welches glänzend, leuchtend bedeutet, womit die Hindus den Krystall und Diamant bezeichneten. Die Fabrikanten des Alterthums verstanden aber weder reines Spiegel- noch Fensterglas zu machen, sondern beschränkten sich auf Schmucksachen, Korallen, Perlen und Trinkgefäße aus farbigem Glase. Daher fehlte den Palästen der Pharaonen wie der römischen Kaiser, den Prunkgemächern des Darius wie Alexander’s das Fensterglas, welches man durch Vorhänge, Jalousien oder Hornscheibchen ersetzte. Die Tempel und Königsschlösser des Alterthums entbehren daher jener traulichen Wohnlichkeit, welche das Glasfenster dem Hause verleiht. Wie luxuriös würden dem Welteroberer Cyrus oder Cäsar unsere Bürgerhäuser oder unsere Kaufhallen mit den mächtigen Spiegelscheiben erscheinen, denn selbst unter der späteren Kaiserzeit der Römer waren gläserne Schüsseln und Glasbecher kostspieliger Luxus, wie etwa zu unsern Zeiten ein Gold- oder Silberservis. Nicht einmal Spiegel verfertigte man aus Glas, sondern aus Silber oder polirtem Stahl, und des Archimedes berühmte Brennspiegel, mit denen er die römischen Schiffe angezündet haben soll, waren nur blanke Metallplatten von sehr geringer Brennweite. Nur die Unwissenheit der Römer vermochte die unglaubliche Fabel zu erfinden, daß man mit solchen Metallspiegeln von einer Festungsmauer aus die unten im Hafen liegenden Schiffe anzünden könne.

Obschon die egyptischen Glashütten Gefäße, Teller, Lampen, Schalen, Becher und Flaschen fabricirten, obschon die alten Assyrer Glaswaaren verfertigten und in Sidon und Tyrus bedeutende Glasfabriken arbeiteten, so blieb doch bei den Griechen das Glas bis zu Alexander’s Zeit unbekannt, und im römischen Reiche fanden Glaswaaren erst unter den Kaisern Eingang, zu deren Zeit man zu Rom Glasfabriken errichtete, in denen grünliches Glas geblasen, gedreht, gepreßt und zu allerlei Luxusartikeln verarbeitet wurde. Noch besser gelangen buntfarbige Glasflüsse, die man zu Mosaikarbeiten, Perlen und Edelsteinen benutzte, und unter Konstantin wurden sogar die Glasarbeiter abgabenfrei. Durch die Römer lernten Gallier und Deutsche Glaswaaren kennen und hielten den bunten Tand der Perlen für kostbare Güter, wie es die Bewohner Amerika’s und der Südseeinseln zur Zeit ihrer Entdeckung ja auch thaten. Der römische Luxus verwendete das bunte Glas aber nicht blos dazu, Badezimmer ganz mit marmorartigen Glastafeln auszulegen und sogar die Wände mit ihnen zu bedecken, er lernte nicht nur doppelfarbige Schalen und Becher mit aufgeschmolzenen Figuren verzieren, sondern schloß auch das Fenster des Badezimmers mit mattweißem gepreßtem Fensterglas. Um dieselbe Zeit, etwa 2000 Jahre vor Christo, hatten auch die Chinesen bereits große Fertigkeit in der Verfertigung des Glases, aus welchem sie Spiegel, Spielzeug, Glocken, Trompeten, natürlich gefärbte Trauben mit seidenen Blättern u. dergl. machten, aber ihre Fenster mit ölgetränktem Papier schlossen.

Erst das Christenthum bringt einen Fortschritt in die Glasbenutzung und damit in das Kulturleben der Völker. Der Zweck der Kirche, welche die Gemeinde von der Welt abschließen sollte, machte es nothwendig, daß man die kleinen Fenster schloß und zugleich das Innere der Bedeutung des Gebäudes angemessen schmückte. In der Regel hing man vor die Fenster schön gestickte Teppiche, wie es noch einige Jahrhunderte lang fast allgemeine Sitte blieb, in großen Kirchen dagegen setzte man bunte Glasstückchen so zusammen, daß sie ein Teppichmuster darstellten, und schloß mit dieser Glastafel die Fensteröffnung. Auf diese Weise floß ein bunter Lichtschein in das Innere der Pfeiler- und Bogenhallen und füllte den dämmerigen Raum mit wunderbaren Lichtspielen. Schon der Frankenkönig Gildebert (um 580) schmückte eine Kirche mit bunten Glasfenstern, und zu derselben Zeit besaß die Sophienkirche zu Byzanz, der Dom zu Ravenna, Rom u. s. w. solche Zierde; Wilfried holte für seine Peterskirche in York 670 aus Frankreich bunte Glasfenster, Leo III. versah mit ihnen den Lateran (um 800), doch größere Räume bedeckte man noch nach altrömischer Weise mit Horn oder Marienglas. Doch finden wir schon im 7. Jahrhundert in deutschen Klöstern Glasmacher, welche bunte Perlen und Glasstückchen verfertigten. Diese bunten Glasstückchen brachten aber die kunstsinnigen Mönche auf den Gedanken, aus ihnen Gemälde zusammenzusetzen, wie die Römer mit bunten Steinen den Fußboden belegten und sie zu bildlichen Darstellungen zusammenpaßten. Damit war der Anfang der Glasmalerei erfunden; denn nun strahlten in schillernden Farben die Personen des Alten und Neuen Testaments von den Wänden, Kuppeln und Nischen der alten Kirchen zu Rom, Venedig, Ravenna, Pavia, Aachen u. s. w., und Theodorich wie Karl der Große ließen in ihren Palästen große Scenen aus der Weltgeschichte, die Thaten ihrer Vorfahren und ihren eigenen Hof in solchen Bildern aus bunten Glasstückchen zusammensetzen. Wie glitzerte und schimmerte es da in der alten Markuskirche zu Venedig, im Königssaal zu Pavia, in dem Reichssaal zu Aachen und Ingelheim! Noch steht ja das Marienbild in der Giebelnische des marienburger Ordenshauses, dessen bunte Außenseite aus lauter Glasstiften besteht. Nun fing man an, auf ähnliche Weise auch die Kirchenfenster mit solchen bunten Glasbildern zu schmücken, worin das Benedictinerkloster Tegernsee in Baiern etwa um’s Jahr 1000 den Anfang machte, indem es den Fensterraum mit Arabesken oder teppigartigen Mustern oder anderem Zierrath füllte, wie er dem Baustile angemessen war. In Klostergängen wurde auf solche Weise die heilige Schrift in einer langen Reihe von Figuren dargestellt, bis man etwa seit der Mitte des 14. Jahrhunderts auf Glas malen und diese Farben einbrennen lernte, womit die eigentliche Glasmalerei erfunden war. Diese [244] gewann so lebhafte Theilnahme, daß die bedeutendsten Maler der folgenden Jahrhunderte die Zeichnungen zu den Glasgemälden entwarfen, welche der eigentliche Glaser mechanisch nachzeichnete, malte und einbrannte. Zugleich war diese Kunst aus den Händen der Geistlichen in die der Bürger gekommen, welche sie handwerksmäßig betrieben, so daß sie herabkam und gar verloren ging. Erst in neuester Zeit hat sie der Nürnbürger Frank 1827 wieder entdeckt, und der Breslauer Höcker auf alte Weise die Fenstergemälde des marienburger Schlosses wieder hergestellt.

So viel verbraucht auch Glaswaaren, buntes Glas und vielleicht auch seit 1250 gläserne Spiegel waren, so blieben die Wohnungen doch ohne Verglasung. Denn im 14. und 15. Jahrhundert wurde es als Merkwürdigkeit erwähnt, daß in Basel einige Häuser Glasfenster statt geölten Papiers oder Horns hätten; im 15. Jahrhundert hatten die Könige von Frankreich nur bunte Glasfenster, denn erst gegen Ende des 14. Jahrhunderts lernte man weißes Glas verfertigen und bildeten sich die ersten Glaserinnungen. Das Rathhaus in Zürich hatte noch im Jahre 1402 Tuchfenster, die Schlösser des Adels in England Fenster aus Weidengitter oder feiner Eichenrinde; im 16. Jahrhundert hatte in ganz England nur das königliche Schloß Glasfenster, die übrigen Häuser Flechtwerk statt Glas; im Anfang des 17. Jahrhunderts kannte man in Frankreich fast nur papierne Vorfenster, und 1750 besaßen Paläste zu Mailand und Florenz nur Papierfenster, und Glasflaschen waren im 15. Jahrhundert noch eine Seltenheit, während jetzt z. B. die Fabrik von Breffet in England wöchentlich 60,000 liefert, und die Fabrik des Franzosen de Vicolaine jährlich 3 Millionen. Die erste Glashütte erhielt England erst 1557, Schweden 1640, Portugal 1750. Im Mittelalter hatte sich Venedig der Glasfabrikation bemächtigt, indem es Spiegel und Glasperlen verfertigte, von denen die letztern noch heute in Ostafrika als Münze gelten. Venetianische Glasfabrikanten erhielten Adelsrang, und der Staat verbot schon 1275 die Ausfuhr des Glassandes. Auf der Insel Murano lagen diese Glashütten, denen Venedig seinen Reichthum und seine Macht neben der Weberei und dem Handel verdankte. Gegenwärtig hat man nicht nur Fensterglas machen lernen, sondern man spinnt auch ein Glasstück in einer Minute zu einem Faden von 90,000 Fuß aus, den man wie Seide verweben und Kleider daraus verfertigen kann. Zuerst machte man kleine grünlich-runde Fensterscheiben, später tafelförmige. Eine einzige englische Fabrik macht jährlich 21 Millionen Q.-Fuß Tafelgläser, Belgien 32 Millionen Q.-Fuß, die 14 Millionen Franks Werth haben. Die erste Spiegelfabrik ward in Deutschland 1697 zu Neustadt an der Dosse, in Frankreich 1665 bei Cherbourg errichtet, und kurz darauf lernte man die Spiegel gießen, so daß eine französische Fabrik Spiegel von 150 Zoll Höhe und 100 Zoll Breite, England einen solchen von 18 Fuß 2 Zoll Höhe und 10 Fuß Breite verfertigte, der 20 Centner wog.

Seit man das Glas rein und in großer Menge darzustellen wußte, ist es Gemeingut geworden, so daß auch der Aermste des Glasfensters nicht entbehrt, welches dem Licht freien Zutritt und eine Aussicht gewährt, dagegen Kälte und Wind abhält. Wie trübselig mag es sich in den Schlössern der deutschen Kaiser gewohnt haben, deren offene Fensteröffnungen man mit Tuch oder Läden schloß! Wie qualvoll mag dem Kranken eine lange Krankheit geworden sein, da er sich abgeschlossen von Licht und Sonne halten mußte! Da konnte er sich nicht erquicken am Anblick des blauen Himmels und der grünen Bäume, da konnte er nicht nach banger Nacht den jungen Tag und das rosige Morgenroth begrüßen! Gewiß, wir haben dem Glase viel Annehmlichkeit, Bequemlichkeit und Wohnlichkeit zu danken.

Aber die Chemie ist ihm noch größeren Tribut schuldig. Denn das Glas, welches große Hitze aushält, den Säuren widersteht und durchsichtig ist, bleibt das vorzugsweise geeignete Mittel für chemische Experimente, die Medicinflasche das beste Gefäß für die Arznei. Ohne gläserne Röhren und Retorten wäre die Chemie auf niedriger Stufe stehen geblieben, so daß auch hier das unscheinbare billige Glas von der größten Wichtigkeit wird. Nicht minder groß ist die Bedeutung des Glases für die riesigen Fortschritte der übrigen Naturwissenschaften, welche mit der Verbesserung der Glasbereitung Hand in Hand gingen, weil das Prisma und das Fintglas die Mittel und Werkzeuge zu tiefern Forschungen hergaben.

Man kann mit Recht behaupten, daß die Welt für unsere Vorstellung von derselben eine ganz andere geworden ist, seit man in dem Glas das Werkzeug gefunden hatte, durch welches man den ungreifbaren und unwägbaren Lichtstrahl erfassen, theilen, behandeln, brechen, zurückwerfen, seine Wärme, Farbe und Natur, die Schnelligkeit seiner Bewegung berechnen, ungeheure Fernen dicht vor’s Auge und unendlich Kleines bis zu klarster Sichtbarkeit vergrößern konnte. Das Licht war den Griechen und Römern ein Geheimniß, von dessen Wundern sie keine Ahnung hatten, denn erst die Araber bemerkten etwa tausend Jahre nach Christo die Lichtbrechung und suchten den Bau des Auges zu begreifen. Drei Jahrhunderte später verfertigte man in Italien die ersten Brillen, und sechs Jahrhunderte später in Holland das erste Fernrohr. Von da ab begannen die gewaltigen Fortschritte in der Erkenntniß der Welt, die jedesmal von der Verbesserung der Glasfabriken und optischen Instrumente ausgingen. Da verdankten Galilei und Kepler die günstigen Erfolge ihrer Forschungen dem von ihnen verbesserten Fernrohr, da erfand Kircher 1646 die Zauberlaterne, Porta 1650 die Camera obscura, verfertigte Gregory 1663 Spiegelteleskopen, lehrte Newton die Natur der Farben, berechnete Römer 1675 die Geschwindigkeit des Lichtes, erfand Lieberkühn 1730 das Sonnenmikroskop, Dolland 1755 das achromatische Fernrohr, entdeckte Malus 1808 die Polarisation des Lichtes, Daguerre 1838 die Lichtbilder, erwarben sich Herschel, Fraunhofer u. A. durch ihre Teleskopen unsterbliche Namen. Jene Leuchtthürme auf Klippen und an Häfen bedienen sich der Spiegel, um die Lichtstrahlen meilenweit hinaus auf’s Meer zu werfen, die Wunder des Himmels, die Beschaffenheit von Sonne und Mond, die Erklärung vieler wunderbaren Erscheinungen über und auf unserer Erde, die Luftspiegelungen, Regenbogen, der wunderbare Bau des menschlichen Auges sind uns erst durch Hülfe der gläsernen Prismen, Spiegel und Linsen begreiflich geworden; die Urformen der Dinge, die Steinarten, der Bau der Baumrinde und Baumblätter, das Zellgewebe der Pflanzen, des thierischen und menschlichen Körpers, und damit der Grund vieler Krankheiten wird durch das Mikroskop erkennbar, ganze Gebirge und die Bodenbedeckung ungeheurer Länderstriche hat sich unter dem Mikroskop in Thierleichen und Panzer und dem Auge unsichtbare Thierchen verwandelt, in den Bau der kleinen Geschöpfe, in ihr Entstehen und Verwandeln hat uns das Mikroskop die Einsicht eröffnet, wogegen das Teleskop Lichtnebel in Sternenwelten auflöste, und der Farbenmesser die Entfernung und die Natur der Sterne aus dem aufgefangenen Lichtstrahl kennen lehrte. Wer hat endlich nicht von den Wundern des Glaspalastes zu Sydenham und der Industriepaläste gehört? Was sind gegen diese Bauwerke aus Glas und Eisen mit ihren malerisch geordneten Waaren und Fabrikaten, mit ihren Kunst- und Alterthumssälen die sieben Wunder des Alterthums? Steigt der Taucher nicht in der Glasglocke hinab in die Meerestiefe? Entzückt uns nicht die Glasharmonika durch ihre weichen, seelen- und klangvollen Töne? Sind nicht unsere Barometer und Thermometer von Glas? Und welche unermeßlichen Vortheile bringen diese dem Naturforscher wie dem Oekonomen, dem Physiker wie dem Chemiker, dem Fabrikanten wie dem Kranken?

Wohin wir blicken, überall finden wir die sprechendsten Beweise von der weltgeschichtlichen Bedeutung des Glases, auf dessen Benutzung unser bürgerliches, technisches und wissenschaftliches Leben zum großen Theil gegründet ist. Am Glase erkennen wir recht augenscheinlich die Eigenthümlichkeiten der verschiedenen Zeitperioden. Dem Alterthum diente das Glas nur zum Luxus, dem Mittelalter zum Schmuck der Kirchen, die Neuzeit macht es zum Gemeingut, schenkte uns die Wohlthat verglaster Fenster, machte es zum Werkzeug der tiefsten wissenschaftlichen Forschungen und ein Glaspalast zum Triumph der Baukunst wie der Industrie.
Fr. K. 

Für die Abgebrannten in Eibenstock ging ferner ein:

Hr. Adolf Marzann in Hohenelbe 1 Thlr. – Von einem Lesezirkel der Gartenlaube in Rudolstadt 2 Thlr. 10 Ngr. – Hr. Superintendent Stern in Marggrabowa in Ostpreußen 21 Ngr. 4 Pf. – Hg. in Connewitz 1 Thlr. – B., Poststempel Dessau 1 Thlr. – Frau Emilie A. aus Bernburg 1 Thlr. – Aus Gerstungen, Ertrag einer Einsammlung bei den dortigen Honoratioren 2 Thlr. 9 Ngr. – J. K. in Eilenbürg 1 Thlr.


  1. Nur die Armen werden begraben, reiche und berühmte Todte aber verbrannt.