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Die Gartenlaube (1856)/Heft 51

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1856
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[689]
Herrn Müller’s Sylvesterabend.
Erstes Kapitel.

Einige wenige Tage vor dem Weihnachtsfeste des Jahres 1757 – also gerade vor hundert Jahren – hatte Herr Müller, einer der wohlhabendsten Kaufleute und Hausbesitzer der guten Stadt Leipzig, zusammengerechnet, wie viel ihm seine Häuser in dem nun bald abgelaufenen Quartale an Miethzinsen einbringen würden. Es war ein ganz artiges Sümmchen, denn außer dem schönen großen Hause in der Reichsstraße, in welchem er sein Geschäft hatte und selbst wohnte, hatte er auch noch eine ganze Reihe Häuser auf der damals sogenannten Bettelgasse – jetzt, mit Respekt zu sagen, Johannesgasse benamset – angekauft, in welchen freilich lauter arme Leute wohnten, von denen er aber den Zins gewöhnlich in eigener hoher Person mit der rücksichtslosesten Strenge einzutreiben wußte.

Herr Müller war, wie wir schon angedeutet haben, mit dem Resultate seiner Berechnung sehr wohl zufrieden. Es war schon über zehn Uhr Abends, als er noch so beschäftigt in seinem einsamen Zimmer saß und als er die Rathhausglocke halb elf schlagen hörte, dachte er als ordentlicher an ein regelmäßiges Leben gewöhnter Mann, es sei nun wohl Zeit, sich zur Ruhe zu begeben.

Er sank von dem Gedanken an seinen immer höher steigenden Wohlstand sanft eingewiegt, in einen so behäbigen Schlaf, daß er es trotz seiner Liebe zum Gelde sicherlich als eine nicht angenehme Störung betrachtet hätte, wenn er jetzt von einem seiner Miethsleute aufgeweckt worden wäre, um den erst in einigen Tagen fälligen Zins schon heute in Empfang zu nehmen.

Um desto größer war begreiflicherweise seine Entrüstung, als er auf einmal durch ein dicht unter seinem Fenster anhebendes Gedudel und Getrompete aus seinem süßen Schlummer aufgeschreckt ward.

Es herrschte nämlich vor hundert Jahren – und Gott sei Dank, daß es jetzt nicht mehr der Fall ist, denn wir haben an der Meßmusik genug! – in Leipzig wie in vielen andern deutschen Städten die Gewohnheit, daß einzelne sogenannte Musikchöre in den letzten Tagen vor Weihnacht, gewöhnlich in den späten Abendstunden von neun bis elf Uhr, wohlhabenden oder vornehmen Bürgern der Stadt ein „Ständchen“ brachten.

Natürlich wünschten sie dafür belohnt zu werden, denn die Musik war damals in vielen Fällen weiter nichts, als eine andere Form der Bettelei.

Diese Serenaden waren übrigens nicht blos musikalischer, sondern auch deklamatorischer Art, denn nachdem ein oder zwei Stücke gespielt waren, trat ein hierzu besonders befähigtes Mitglied des Musikchors vor, um den gewöhnlich an der Hausthür oder am Fenster erscheinenden Hausherrn mit einer Anrede zu begrüßen, auf welche dann ein auf das Fest bezügliches Gedicht folgte. Nach Beendigung desselben ward gewöhnlich das Geschenk verabreicht, die Musikanten spielten noch ein, oder nach Befinden, wenn die Spende besonders reichlich ausgefallen war, zwei Stücke und trollten sich dann weiter.

Bei dem ersten Geschmetter der gurgelnden Hörner und Trompeten sprang Herr Müller aus dem Bett und riß das Fenster auf.

Da standen sie, die bettelnden Künstler bis an die Knöchel im Schnee und musicirten wacker d’rauf los.

„Ihr nichtswürdigen Kerle!“ schrie Herr Müller, „wollt Ihr Euch fortpacken oder soll ich auf die Polizei schicken und Euch alle einsperren lassen?“

Diese Drohworte waren keine aus der Luft gegriffenen, denn schon im vorigen Jahre hatte der wohlweise Magistrat, eben auf Ansuchen einiger ähnlicher reichen Isegrimme, wie unser Freund Müller war, dieses nächtliche Musiciren untersagt und wenn man es auch noch stillschweigend duldete, so war doch keinem Zweifel unterworfen, daß die armen Teufel sofort bei den Ohren genommen werden würden, sobald eine Beschwerde über diesen noch fortdauernden Unfug einliefe.

Hätten daher die Musikanten Herrn Müller’s Drohung sogleich verstanden, so würden sie mit ihrer Musik wohl kaum über die ersten Takte hinausgekommen sein. Aber ihre gellenden Instrumente übertäubten die Stimme des so unsanft aus seinem Schlafe geweckten reichen Mannes und da sich über seinem Fenster noch ohnehin ein sogenanntes tief herabgehendes Wetterdach befand, so sahen sie ihn anfangs gar nicht gleich. In der rauhen kalten Nachtluft aber im bloßen Hemd am offenen Fenster stehen und sich von einer elenden Musikantenbande Trotz bieten lassen zu müssen – das war in der That nicht zum Aushalten.

„Wollt Ihr Euch gleich packen, daß Ihr fortkommt?“ schrie er. „Wart’ – Euch will ich’s eintränken!“

Und er tastete in dem finstern Zimmer nach einer Wurfwaffe umher, fand aber keine. Das machte ihn noch wüthender und gern wäre er hinunter in den Hof geeilt, um den Kettenhund loszumachen und mit diesem die ungebetenen Gäste fortzuhetzen, aber dann hätte er sich doch erst müssen anziehen. Hastig scharrte er nun den draußen auf dem Fenstergesims liegenden Schnee zusammen, ballte ihn hart und fest und warf damit nach den Musicirenden, aber zu hoch, so daß der Ball unschädlich an das gegenüberstehende Haus anflog. Seine Wuth stieg nun so hoch, daß er für den Augenblick sogar seine angeborene Liebe zu seinem Besitzthum vergaß, nach seinem Waschtische lief und ein Stück Seife, eine Bürste, [690] ein Barbierbecken, einen Streichriemen und zuletzt, um vollständig Bresche zu schießen, einen wuchtigen Stiefelknecht in rascher Folge unter das Belagerungskorps hineinschleuderte.

Ein so wohlgezieltes und wohlunterhaltenes Feuer mußte die Tonbatterien des Feindes bald zum Schweigen bringen. Die Instrumente verstummten und die Musikanten blickten nach dem Fenster auf.

„Ihr sollt Euch fortpacken, Ihr Kerle! Hört Ihr nicht?“ schrie Herr Müller, indem er sich so weit als möglich aus dem Fenster neigte.

Noch wollten die erschreckten Künstler nicht gehen und der Sprecher und Direktor der Gesellschaft fand es vielmehr angemessen, erst sein Heil mit der wohleinstudirten Anrede zu versuchen.

„Altem löblichen Gebrauche zufolge,“ begann er vortretend, indem er zugleich seine Querpfeife wie einen Marschallstab in die Höhe hob, „haben wir, Ihre gehorsamsten Diener, in dieser fröhlichen festlichen Zeit des Jahres uns die Freiheit genommen, Ihnen unsere musikalische Aufwartung zu machen und Sie zu bitten, uns zu erlauben, Ihnen das neue Gedicht über die Freude der Schäfer von Bethlehem vorzutragen. Getrieben von dem aufrichtigen Wunsche –“

„Haltet Euer Maul, sage ich!“ schrie Herr Müller wieder. „Ihr seid Lämmermann, der verdorbene Schustergesell, der nicht Sitzefleisch genug hatte, um bei seiner Profession zu bleiben und nun mit seiner Querpfeife und seinen einfältigen Gedichten die Leute anbettelt. Wenn Ihr Euch nicht augenblicklich fortpackt, so hole ich die Polizei und dann könnt Ihr die Feiertage über im Hundeloche stecken.“

Der arme Lämmermann strich vor dieser Drohung, deren inhaltschwere Bedeutung er wohl kannte, sofort die Segel und schlich sich davon, während seine Collegen ihm folgten.

Herr Müller kroch vor Frost schaudernd wieder in sein Bett, wo er noch eine Zeit lang wach lag, ehe er wieder einschlafen konnte.

Am andern Morgen erwachte Herr Müller noch vor Tagesanbruch, aber seine Tochter Barbara war noch früher auf als er.

Sie war bereits seit ein paar Stunden mit ihrer alten Dienstmagd Margarethe beschäftigt, die Wohnzimmer zu säubern und denselben hier und da durch Aufstecken einiger grünen Tannenreiser ein weihnachtliches Ansehen zu geben. Im Ofen prasselte ein lustiges Feuer und das Frühstück stand auf dem Tische, als ihr Vater eintrat.

„Dich haben die Musikanten wohl auch aus dem Schlafe geweckt, Barbara?“ fragte Herr Müller.

„Nein, Vater,“ sagte Barbara; „ich war mit Fleiß aufgeblieben, um sie zu hören und es that mir Leid, daß Du sie wieder fortjagtest. Ich wußte, daß sie kommen würden; Lämmermann hat ein neues Gedicht gelernt, welches Friedrich verfaßt hat.“

„Friedrich thäte besser, wenn er sich um seine Schule bekümmerte,“ sagte Herr Müller. „Seine neumodische Lehrmethode will ohnedies vielen Bürgern, die ihre Kinder zu ihm schicken, nicht recht zusagen.“

Barbara ward, ohne daß ihr Vater etwas davon bemerkte, feuerroth und machte sich, um ihre Verlegenheit zu verbergen, mit dem Ofen zu schaffen.

„Ich habe heute viel Gänge zu gehen, Barbara,“ sagte der Alte, „und werde wahrscheinlich vor Abend nicht wiederkommen.“

Barbara hörte ihn kaum, bis er sie bat, ihm seinen Mantel umzugeben.

„Na, sei nur gut,“ sagte er, indem er sie noch auf der Schwelle küßte. „Siehe zu, daß Du mit Deiner Hausarbeit fertig wirst, ehe ich wiederkomme.“ Barbara versprach ihm zu gehorchen.

Herr Müller war diesen Morgen keineswegs auf angenehmer Laune. Als er zur Hausthür heraustrat, fiel sein Blick auf den Streichriemen, den die alte Margarethe, als sie die Wurfgeschosse ihres Herrn hereingeholt, übersehen hatte und dies erinnerte ihn wieder an den Aerger der vorigen Nacht. Die kalte scharfe Morgenluft sagte seiner Stimmung zu und er beschloß zuerst hinaus in die Bettelgasse zu gehen und dort seine Miethzinsen einzukassiren, die er sich von diesen armen Leuten allwöchentlich bezahlen ließ, um nicht eine für sie unerschwingbare Summe zusammenkommen zu lassen. Es war dies ein Geschäft, welches er sehr gern verrichtete, obschon er unabänderlich sagte, es sei ihm im höchsten Grade zuwider.

Als er die Grimmaische Gasse entlang ging, fühlte er sich von dem Anblick der verschiedenen das Weihnachtsfest verkündenden Erscheinungen höchst unangenehm berührt. Alles ärgerte ihn, die an den Fenstern der Victualienhändler aufgeputzten Butterstückchen, die Pfefferkuchen der Bäcker, die hübschen grünen Tannen, das mit Blumen verzierte Fleisch der Metzger – über Alles raisonnirte er, und nannte es Verschwendung und unnöthigen Luxus.

So war er bis dicht an das Grimmaische Thor gelangt und blieb hier vor einem Hause stehen, welches ebenfalls sein gehörte. Er trat hinein und pochte an die Thüre der Parterrewohnung.

„Niemand zu Hause!“ rief er, indem er nochmals und derber anpochte. „Niemand zu Hause? Niemand, wie gewöhnlich; gewisse Leute riechen einen Hauswirth, der nach seinem Zinse kommt, schon von weitem!“

Er bückte sich und guckte durch das Schlüsselloch, da er aber Niemanden sah und selbst auf das lauteste Pochen mit seinem Hakenstocke keine Antwort bekam, so ging er brummend und scheltend die Treppe hinauf.

„Hier auch Niemand da?“ rief er, indem er an dir Thür pochte.

„O ja, Herr Müller, wir sind zu Hause und stehen Ihnen zu Diensten,“ sagte ein hagerer Mann von mittleren Jahren und feinem Anstande, indem er die Thür öffnete. „Bitte, treten Sie ein.“

Das Zimmer war nur dürftig meublirt und das im Ofen brennende Feuer machte sich nicht allzubemerkbar; die Wände aber waren ringsum mit Gemälden behangen und an dem Fenster stand eine Staffelei.

„Sie sind immer pünktlich, Herr Lukas,“ sagte der Hauswirth. „Bei Ihnen kann man darauf rechnen, daß man nicht vergebens geht.“

„O ich weiß, daß die Bezahlung des Miethzinses eine Sache ist, die keinen Aufschub leidet,“ erwiederte der Maler mit Beziehung.

„Ich wollte, es dächten alle Leute so, Herr Lukas,“ sagte Herr Müller, indem er in das ihm vorgelegte Buch quittirte. „Es ist nichts mit solchen großen Häusern, wie dieses, wo man so viele Miethparten hat. Meine kleinen Häuser in der Bettelgasse machen mir nicht halb so viel Schererei.“

„Werden Sie die Auktion besuchen, die gleich nach dem Feste in dem Hause des verstorbenen Dr. Rivinus stattfindet?“ fragte der Maler.

„Ja wohl,“ sagte Herr Müller. „Der alte Dr. Rivinus hatte sehr hübsche Sachen und ich glaube, es wird sich ein Geschäftchen machen lassen.“

„Hier liegt der Katalog,“ äußerte der Maler. „Auf Gemälde werden Sie doch nicht bieten, wie?“

„Auf Gemälde? Das wäre noch besser!“ entgegnete Herr Müller und wunderte sich, wie ihm Jemand zutrauen konnte, daß er für so unnütze Dinge, wie Gemälde, Geld ausgeben werde.

„Nun dann kann ich Ihnen sagen,“ fuhr der Künstler fort, „daß sich unter diesen Sachen ein kleines Bild befindet, welches ich selbst zu erstehen hoffe. Wenn es nicht höher hinaufgetrieben wird, als zwanzig bis fünfundzwanzig Thaler, so kann ich es kaufen. Hier steht es ganz bescheiden in dem Kataloge aufgeführt: Nr. 1123, eine Landschaft.“

„Ich sehe es,“ grunzte Herr Müller.

„Dieses Bild,“ sagte der Maler und erwartete offenbar, daß sein Hauswirth durch seine Mittheilung nicht wenig überrascht werden würde, „dieses Bild, mein guter Herr Müller, ist ein echter Cornelius Schuyt!“

„Wirklich?“ rief Herr Müller, indem er mit gerunzelter Stirn eine andere Seite des Katalogs überblickte.

„Jawohl,“ fuhr der Maler mit steigender Wärme fort. „Es ist eins der anmuthigsten Gebilde, die je aus dem Kopfe und unter den Händen eines Malers hervorgegangen – eine reizende, stille Thalgegend, deren Anblick das Herz erfreut. Nicht um ein Rittergut möchte ich mir dieses Bildchen entgehen lassen.“

„Was Sie nicht sagen!“ entgegnete Herr Müller gleichgültig, indem er fortfuhr, den Katalog zu durchblättern.

„Sie können mir glauben,“ sagte der Maler. „Es ist mir so bange, daß es Jemand anders bekommen könne, daß ich schon mehrere Nächte nicht im Stande gewesen bin, zu schlafen und ich weiß, daß ich nicht eher wieder Ruhe haben werde. Ich muß das Bild bekommen, Herr Müller. Schauen Sie, hier gedenke ich es herzuhängen.“

Herr Müller hob seine Augen mechanisch zu der Stelle empor, welche der Maler an der Wand bezeichnete und fuhr dann fort, in dem Kataloge weiter zu lesen.

[691] „Hier werde ich es aufhängen,“ fuhr der Maler fort, „so daß gleich die ersten Strahlen der Morgensonne darauf ihr Licht werfen. Wie freue ich mich schon darauf, wenn meine Augen beim Erwachen auf dieses Kunstwerk fallen.“

„Auf etwas Anderes werden Sie nicht bieten?“ fragte der Hauswirth.

„Nein,“ antwortete Herr Lukas; „auf dieses Bild werde ich bieten, so lange meine Börse zureicht, aber auf sonst weiter nichts.“

„Dann werden wir auch einander nicht in den Weg kommen,“ sagte Herr Müller, „denn auf Ihren Cornelius Schuyt biete ich nicht acht Groschen. Guten Morgen, Herr Lukas.“

„Guten Morgen, Herr Müller,“ sagte der Künstler, indem er die Thüre schloß und sich wieder an seine Staffelei setzte.

Herr Müller wanderte, während er an die Auktion bei Dr. Rivinus und an die Einkäufe dachte, die er dort würde machen können, seines Weges durch das Grimmaische Thor weiter fort nach der Bettelgasse. Dieselbe bestand damals aus einer doppelten Reihe sogenannter Pfahlbürgerhäuser, die, wie schon der Name bezeichnet, blos aus Lehm und Pfählen erbaut waren, um, weil sie außerhalb der Festungsmauern lagen, in Kriegszeiten, wenn die Stadt bedroht war, mit leichter Mühe weggerissen werden zu können. Es wohnten hier fast durchgängig sehr arme Leute und Herr Müller, dem fast eine ganze Reihe dieser Häuser gehörte, ging mit dem Buche in der Hand von Thür zu Thür und kassirte seinen Wochenzins ein.

„Niemand zu Hause hier?“ rief er, indem er an die Thür des letzten seiner Häuser pochte.

„Oja, ich bin da, Herr Müller,“ rief eine weibliche Stimme. „Ich bin immer zu Hause. Wie sollte man denn mit der Näherei etwas verdienen, wenn man nicht vom frühen Morgen bis in die späte Nacht darüber säße!“

„Nun wie steht’s heute? Ihr habt vor acht Tagen keinen Zins bezahlt und vor vierzehn Tagen auch nicht; das sind nun zusammen drei Wochen – habt Ihr das heute beisammen?“ fragte der Hauswirth.

„Nein, noch nicht ganz,“ sagte die Frau; „mein Mann hat jetzt Stückarbeit, mit welcher er erst nach den Feiertagen fertig wird und wir müssen Sie daher bitten, sich noch acht Tage zu gedulden.“

Herr Müller hätte sich vielleicht bewegen lassen, diese Frist zu bewilligen, unglücklicherweise aber fielen seine Augen auf eine auf der Ofenbank in einer Pfanne liegende ausgeschlachtete fette Gans.

„Also zum Zins habt Ihr kein Geld,“ rief er, „wohl aber zu solchen Prassereien!“

„Prassereien!“ rief die Frau. „Wenn ein paar Leute, die das ganze Jahr kein ordentliches Gericht auf den Tisch bekommen, sich einmal zu Weihnacht eine Gans braten, so wird das wohl keine große Verschwendung sein.“

„Jawohl ist dies Verschwendung,“ entgegnete der Hauswirth. „Ich nenne es Prasserei und Verschwendung und Unehrlichkeit obendrein, so lange Euer Zins noch nicht bezahlt ist.“

„Na, Herr Müller, nehmen Sie den Mund nur nicht gar zu voll. Wir sind Ihnen bis jetzt noch nichts schuldig geblieben und werden Sie auch diesmal bezahlen.“

„Ei, seht doch, meine liebe Graupnerin,“ sagte Herr Müller höhnisch, „Ihr sprecht ja in einem ganz besondern Tone mit einem Manne, der Euch sofort auf die Gasse setzen kann. Wahrscheinlich wollt Ihr mich gar nicht bezahlen und bei Nacht und Nebel Eure Sachen forträumen, damit ich das Nest leer finde, wenn ich nach den Feiertagen wiederkomme, aber dafür wollen wir schon sorgen.“

Heftig die Thür hinter sich zuschlagend, entfernte er sich und schon nach wenigen Stunden erschien ein Gerichtsdiener, welcher die sämmtlichen Habseligkeiten der Graupner’schen Eheleute aufschrieb und erklärte, daß er beauftragt sei, nicht eher aus dem Hause zu gehen, als bis der Miethzins berichtigt sei.

Herr Müller war etwas müde ehe er seine Wohnung wieder erreichte. Die Kaufläden, an denen er jetzt vorüberkam, waren alle bunt aufgeputzt und erleuchtet. Er wünschte in seinem Herzen, daß ihre Besitzer sämmtlich Miethsleute von ihm wären, die ihren Zins nicht bezahlen könnten.

Nicht weit von seiner Hausthür kam er an einem zerlumpten vor Kälte zitternden Weibe vorüber, welches mit nackten Füßen mitten auf der Straße im Schnee stand und ein Weihnachtslied sang, um dadurch von den Vorübergehenden eine milde Gabe zu erbetteln. Ein alter Herr in einer ihm bis auf die Schulter herabfallenden Lockenperrücke ging auf die frierende und singende Bettlerin zu und gab ihr eine kleine Münze. Es war der Magister Zinkelmann, Lehrer an der Thomasschule.

„Herr Magister,“ sagte Müller, indem er den Almosengeber an der Schulter berührte, „wissen Sie, wer dieses Weib ist?“

„Allerdings,“ entgegnen der Magister; „sie heißt Marie Schirmer.“

„Ja, aber wissen Sie auch, daß sie vor einigen Wochen Holz gestohlen hat und wahrscheinlich so eben erst wieder aus dem Gefängniß entlassen worden ist?“ sagte Herr Müller.

„Auch das weiß ich,“ entgegnete der Magister, „aber deswegen kann man sie doch nicht verhungern lassen.“

„Na, wenn solches Gesindel noch unterstützt wird, dann werden die Bürger von Leipzig wohlthun, wenn sie sich noch ein paar Extrariegel an ihre Thüren machen lassen,“ meinte Herr Müller.

„Die arme Frau hat wahrscheinlich nur, von der bittersten Noth getrieben, jenen Holzdiebstahl begangen,“ entgegnete der Magister; „aber wenn sie auch noch zehn Mal mehr gefehlt hätte, als wirklich der Fall ist, so würde ich ihr doch bei dieser kalten Weihnachtszeit ein kleines Geschenk nicht verweigern. Hören Sie mich an, Herr Müller,“ fuhr der Magister fort, „wir sind alte Bekannte und ich kenne Sie besser, als Sie sich selbst kennen. Sie sind nicht glücklich, trotz des vielen Geldes, welches Sie in Ihrem Leben zusammengescharrt haben. Sie sind von jeher mit Ueberlegung und Vorsatz rauh und unfreundlich gegen ihre Mitmenschen gewesen und dafür hat der Himmel Sie gestraft. Sie können den Anblick einer guten That nicht ertragen, weil es Ihrer Natur widerstrebt, selbst eine zu üben. Die heitere Stimmung, welche das fröhliche Weihnachtsfest unter den Menschen verbreitet, berührt Sie unangenehm – nicht weil Sie diese Stimmung verachten, wie Sie zu thun vorgeben, sondern weil Sie in Ihrem innersten Herzen sie mit Ihrer eigenen Abgeschlossenheit und mürrischen Laune vergleichen und beneiden. Von Grunde meines Herzens bemitleide ich Sie und möchte Ihnen helfen, wenn ich könnte, denn Sie haben noch nie die Freude empfunden, andern Menschen eine Freude zu machen. Versuchen Sie es und es wird sich Ihnen eine neue Welt erschließen. Verlassen Sie sich darauf, es ist weit leichter glücklich zu sein, als Sie glauben.“

Nachdem der Magister diese Rede gehalten, setzte er seinen Weg weiter fort und ließ den alten Mann so überrascht durch diese unerwartete Zurechtweisung stehen, daß er gar nicht sogleich Worte der Erwiederung fand.

„Nicht übel,“ grollte er in hämischem Tone, als der Magister schon eine Strecke weit fort war. „Diese Schwarzkittel denken, sie haben das Recht, allen Menschen den Text zu lesen.“

Aber dennoch fühlte Herr Müller die Wahrheit der gehörten Worte und konnte sie nicht wieder vergessen.


Das Weihnachtsfest war in Herrn Müller’s Hause still und einsam vorübergegangen, wie gewöhnlich. Es fehlten nur noch wenige Tage bis zum neuen Jahr. Herr Müller war wieder den ganzen Tag herumgelaufen, um Gelder einzukassiren und andere Geschäfte zu besorgen. Als er unter seinen bereits geschlossenen Fensterläden wegging, vernahm er Stimmen im Zimmer, die er sogleich erkannte.

„Haha,“ murmelte er bei sich selbst, „Friedrich, der Schulmeister, ist schon wieder da und schwatzt mit meiner Tochter. Dem muß ich nun nächstens das Haus verbieten.“

„Ich muß mit meinem Vater darüber sprechen,“ hörte er Barbara mit leiser Stimme sagen, „und wenn er böse auf uns ist, so dürfen Sie mich nicht wieder besuchen.“

„Und was wird er wohl sagen, Barbara?“ fragte der junge Schullehrer im Tone der Besorgniß. „Wird er nicht schmähen, daß ich nicht reich genug sei, um mich um die Hand seiner Tochter bewerben zu können?“

„Das weiß ich nicht,“ antwortete Barbara. „Er sprach neulich von Ihnen und war ärgerlich, weil Sie ein Gedicht für die Weihnachtsmusikanten geschrieben. Wenn Sie mir nur nichts davon gesagt hätten.“

„Ach, Barbara,“ rief Friedrich, „das wird das traurigste Neujahr, welches ich jemals erlebt habe.“

[692] „Ja, das ist leicht möglich,“ murmelte der alte Müller, indem er sich zugleich einige Schritte entfernte, denn er hörte drinnen die Stubenthür gehen. Gleich darauf öffnete sich die Hausthür und er sah die Gestalt eines Mannes herauskommen und in dem Nebel verschwinden. Herr Müller wartete noch einige Augenblicke und zog dann die Klingel. Die alte Margarethe öffnete. Er schritt durch die Hausflur in das Wohnzimmer, wo er Barbara antraf, die gedankenvoll am Ofen saß und ihre Näharbeit halb fertig auf einem kleinen Tische neben sich liegen hatte. Ihr Vater bemerkte Spuren von Thränen auf ihrem Antlitz, sagte aber nichts. Barbara sprach wenig über dem Abendessen und der Alte nahm sich vor, nichts von dem zu sagen, was er gehört, sondern zu warten, bis sie ihn von der Erklärung des Schullehrers in Kenntniß setzen würde.

„Jemand dagewesen, Barbara?“ fragte er endlich, um sie an ihren Vorsatz zu erinnern. Die arme Barbara bedurfte keiner Erinnerung. Sie hatte während des ganzen Essens daran gedacht, aber bis jetzt noch nicht Muth genug zusammenraffen können, um davon anzufangen.

„Niemand, als Herr Friedrich, lieber Vater,“ gegenredete Barbara mit unsicherer Stimme.

„Friedrich kommt seit einiger Zeit sehr oft,“ meinte der Alte. „Was will er nur immer?“

„Heute brachte er Dir und mir einen schön geschriebenen Text zu der Musik, die am Neujahrsfeste in der Nikolaikirche aufgeführt werden wird,“ antwortete Barbara immer noch zögernd.

„Und das war Alles?“ fragte ihr Vater.

„Nein, lieber Vater, es war nicht Alles,“ antwortete Barbara, indem sie sich ein Herz faßte. „Ich will Dir nichts verschweigen. Er sagte noch, er liebe mich.“

„Und was hast Du ihm denn darauf zur Antwort gegeben?“ entgegnete der Alte, bleich vor Zorn.

Barbara ließ den Kopf hängen und fing an zu weinen.

„Monsieur Friedrich soll einen Brief von mir bekommen, den er nicht hinter den Spiegel stecken wird,“ sagte der Alte. „Gib mir ein Licht!“

Barbara that, wie ihr geheißen ward und ihr Vater verließ sie, während sie weinend sitzen blieb und das Gesicht mit den Händen bedeckte.

Herr Müller ging aus dem Wohnzimmer quer über die Hausflur in seine Arbeitsstube. Dieselbe war ungemein lang, breit und hoch, denn sie hatte früher, als er noch Handelsgeschäfte betrieb, zugleich mit zum Waarenlager gedient. Jetzt aber, wo Herr Müller sich nur noch mit Häuservermiethungen und Geldgeschäften befaßte, war sie bis auf ein kleines Schreibpult an dem einen Fenster mit einer danebenstehenden, großen eisernen Geldkasse vollständig geräumt, und gewährte mit ihren moderfleckigen, kahlen Wänden und langen von der Decke herabhängenden Spinnweben einen öden, trostlosen Anblick. Hier saß Herr Müller oft Stunden lang allein und brütete über seinen Rechnungsbüchern bei einem einsamen Lichte, welches nur die Ecke erhellte, in welcher er saß, aber sonst das ganze übrige Zimmer dunkel ließ.

An diesem Abende schloß er sich wie gewöhnlich ein, steckte das im Ofen von der alten Margarethe schon in Bereitschaft gelegte Holz in Brand und setzte sich nieder, um den Brief an den unglücklichen Schulmeister zu schreiben. Er beendete diese Aufgabe zu seiner eigenen großen Zufriedenheit, und wollte sich eben an das weit angenehmere Geschäft machen, die an diesem Tage einkassirten Zinsen in sein großes Buch einzutragen, und die Gelder selbst in Rollen zu packen und in die eiserne Kasse zu legen, als die alte Margarethe an die Thür pochte und meldete, daß der junge Herr von Schönberg mit ihm zu sprechen wünsche.

Der junge Herr von Schönberg, ein Sprößling dieser altadeligen, vielverzweigten Familie, war Studiosus der Rechte. Seine Eltern waren schon vor mehreren Jahren gestorben, und hatten ihm ein nur mäßiges Vermögen hinterlassen, welches dem jungen flotten Manne nicht gestattet haben würde, so zu leben, wie er lebte, wenn ihn nicht eine alte, reiche, unverheirathete Tante, die er später beerben sollte, durch namhafte, regelmäßige Zuschüsse unterstützt hätte. Diese Zuschüsse erhielt er gewöhnlich durch Herrn Müller ausgezahlt, welcher mehrere in der Nähe von Leipzig gelegene, dem alten reichen Fräulein von Schönberg zugehörige Grundstücken zu verwalten hatte.

Daher rührte die Bekanntschaft zwischen zwei so ganz verschiedenen Naturen, wie der alte reiche Geizhals und der junge flotte Musensohn.

Herr Müller erhob sich sofort, um die Thür zu öffnen, denn mit einem jungen Manne von so glänzenden Aussichten, von dem es in der Folgezeit gewiß manchmal ein schönes Stück Geld zu verdienen gab, durfte er es keinesfalls verderben.

„Treten Sie gefälligst ein, mein werther junger Herr von Schönberg,“ sagte er. „Es ist freilich etwas dunkel und kahl hier, aber ich sitze gern ruhig und ungestört.“

„Donnerwetter, ist das eine gewaltige Scheune!“ rief der junge Mann, indem er sich verwundert umschauete, denn er sah dieses Heiligthum des Geizhalses jetzt zum ersten Male. „Wenn dieses Zimmer mein wäre, so verwandelte ich es binnen wenigen Stunden in einen ganz allerliebsten Tanzsaal. Die Spinnweben ließ ich herunterkehren, die Wände sodann mit grünem Tannenreisig tapezieren, rings herum ein paar Dutzend Lichter aufstecken und in der Mitte an der Decke einen Kronleuchter aufhängen, so groß ich ihn bekommen könnte. Dann ließ ich zum Sylvesterabend eine fidele Gesellschaft einladen, und es müßte hier lustiger zugehen, als irgendwo in ganz Leipzig.“

„Sie scheinen heute auf ganz vorzüglich guter Laune zu sein, mein werther Herr von Schönberg,“ sagte Herr Müller.

„Sehr richtig bemerkt, mein weiser Salomo,“ entgegnete der junge Mann, „und ich habe auch Ursache dazu. Hören Sie und staunen Sie: Fräulein Johanna Friederike Sophia Adelgunde von Schönberg hat gestern das Zeitliche gesegnet. Hier ist der Brief, den mir vor einer Stunde ein reitender Bote überbracht hat.“

Herr Müller überflog hastig den dargebotenen Brief.

„Ich condolire und gratulire,“ entgegnete er mit einer tiefen Verbeugung vor dem jungen Manne, der jetzt, als nunmehriger Besitzer eines großen Vermögens, in seinen Augen eine weit höhere Bedeutung gewonnen hatte. „Hoffentlich werden Sie mir die mir von dem seligen Fräulein zeither übertragen gewesenen Administrationen auch fernerhin belassen.“

„Ei, das versteht sich, mein bester Herr Müller,“ antwortete, der junge Mann. „Doch das sind Geschäftssachen, über welche wir später ausführlich sprechen werden. Was ich heute mit Ihnen verhandeln möchte, ist etwas Anderes, obschon ich durch den Glückswechsel, der mich, wiewohl längst erwartet, dennoch ganz unverhofft betroffen, ebenfalls darauf geführt worden bin.“

„Nun, womit kann ich Ihnen denn dienen, mein werther Herr von Schönberg?“ sagte Herr Müller in immer devoterem Tone. „Sie wissen, Sie haben mir zu befehlen.“

„Herr Müller,“ äußerte der junge Mann, indem er sich rittlings auf einen Stuhl setzte und die Arme auf die Lehne legte, „ich glaube, es fehlt in Leipzig nicht an armen Leuten.“

„Ja, leider haben wir deren mehr, als wir wünschen,“ sagte Herr Müller.

„Ich glaube, es gibt darunter nicht wenige, die ganz ohne ihr Verschulden in Armuth gerathen, und daher einer Unterstützung wohl würdig sind.“

„Meistentheils ist es faules, liederliches Gesindel,“ entgegnete Herr Müller.

„Na und wenn auch,“ hob der junge Mann wieder an, „da wir einen so strengen Winter haben, und jetzt die festlichen Tage sind, wo vorzugsweise jedem Menschen eine Freude zu gönnen ist, so glaube ich, ich kann die mir zugefallene Erbschaft nicht bester antreten, als wenn ich ein paar hundert Thaler unter die Armen vertheilen lasse. Leben und Lebenlassen!“

„Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, mein werther Herr von Schönberg,“ sagte der Alte, „so würde ich mein Geld anders anzuwenden wissen. Indessen, ich habe Ihnen keine Vorschriften zu machen, und wenn Sie das faule Bettelvolk unserer Stadt in seiner Faulheit noch mehr bestärken wollen, so kann ich es weiter nicht hindern. Wie viel wünschen Sie denn?“ setzte er hinzu indem er zugleich den Schlüssel zu seiner großen Kasse aus der Tasche zog.

„Lassen Sie stecken,“ entgegnete der junge Herr von Schönberg mit abwehrender Geberde. „Ich selbst will das Geld nicht austheilen, sondern wollte Sie eben ersuchen, dieses Geschäft für mich zu besorgen.“

„Mich?“ fragte Herr Müller verwundert.

„Ja, Sie; erstens möchte ich nicht wissen lassen, daß die Geschenke von mir kommen, weil ich eines Theils nicht prahlen, andererseits mich aber auch nicht der Gefahr aussetzen möchte, von dem gesammten Proletariat Leipzigs überlaufen zu werden; zweitens aber auch, weil ich die hülfsbedürftige Einwohnerschaft nicht [693] kenne, und daher auch nicht weiß, bei wem eine solche Unterstützung am besten angewendet ist.“

„Mein werther Herr von Schönberg,“ entgegnete der alte Geizhals, dem bei den Worten des jungen Mannes sehr unbehaglich zu Muthe ward, „ich würde es als eine große Gefälligkeit von Ihnen betrachten, wenn Sie mich mit einem solchen Auftrage verschonten. Unterstützung der Armen ist ganz gegen meine Grundsätze. Ich bin in der ganzen Stadt als ein Mann bekannt, der das Seine zu Rathe hält, und nicht unter die Bettelleute wirft. Was müßte man nun von mir denken, wenn ich auf einmal in der Stadt herumliefe und Geld austheilte! Da könnte ich am Ende noch gar auf meine alten Tage in den Ruf eines wohlthätigen Mannes kommen – einen Ruf, von welchem ich mich bis jetzt, Gott sei Dank, frei zu erhalten gewußt habe.“

Herr von Schönberg lachte, zog aber gleich darauf eine etwas verdrießliche Miene.

„Mein lieber Herr, Müller,“ sagte er, „was Sie da äußern, glaube ich Ihnen aufs Wort, aber es ist mir doch fatal, wenn ich nun erst noch lange nach Jemandem anders suchen soll, der meine Spenden besorgt. Ich hatte ganz gewiß darauf gerechnet, daß Sie mir diesen Gefallen thun würden.“

Herr Müller sah, daß der junge Erbe sich zum Fortgehen anschickte, und fürchtete in seiner Habgier schon, der für die Zukunft in Aussicht gestellten Geschäfte verlustig zu gehen, wenn er dem eigensinnigen jungen Manne nicht den Willen thäte.

„Nun gut,“ sagte er, „wenn Sie es durchaus wollen, so sei es. Wie viel befehlen Sie, daß ich austheile?“

„Nehmen Sie etwa hundert Speciesthaler,“ antwortete der sogleich wieder begütigte junge Erbe, „und geben Sie davon nach Ihrem Ermessen armen Familien drei bis vier, einzelnen Personen aber nur einen. In ein paar Tagen werde ich mir erlauben, Sie wieder zu besuchen, und hoffe dann von Ihnen zu hören, daß die Austheiluug meiner Spenden Ihnen mehr Vergnügen gemacht hat, als Sie jetzt davon zu erwarten scheinen. Gute Nacht!“

„Da sieht man’s“ sagte Herr Müller, nachdem er seine Thür sorgfältig wieder verschlossen und der junge Mann das Haus verlassen hatte, „da sieht man’s, was das Geld solchen jungen Sausewinden nützt, die in ihrem Leben nicht erfahren haben, wie sauer ein Thaler zu verdienen ist. Wenn’s der junge Herr so anfängt, so wird er mit seinem Erbe nicht lange feil halten.“

(Schluß folgt.)




Der Taubenthurm.
Eine Novelle aus der Criminalpraxis.
(Fortsetzung.)

Der Criminalrath fixirte ihn scharf. „Und das sagen Sie mir, von Moorhagen?“

„Warum sollt’ ich das nicht? In wenig Tagen weiß es gewiß die ganze Stadt.“

„Glauben Sie, daß man Sie ungestraft ziehen lassen wird?“

„Gewiß nicht, doch sind das Geldstrafen; ich gebe mein Lehn ab und verkaufe das Wenige, was an Ländereien mein ist; freilich ohne Verluste wird es nicht abgehen, allein das sei meine letzte Strafe für den unseligen Streich –.“

„Er ist wahnsinnig geworden,“ dachte der Rath und lehnte sich bekümmert zurück. „Er ist jedenfalls wahnsinnig oder er muß glauben, seine Frau nach Belieben todtstechen zu dürfen.“ – Einen Augenblick sann er unschlüssig nach, dann beschloß er, haarscharf auf den Delinquenten einzugehen, um die Wirkung auf seinen umdüsterten Geist zu erproben.

„Sie wissen also, daß Ihre Frau noch lebt?“ fragte er drohend.

Richard sprang auf. „Criminalrath, Sie peinigen mich!“ rief er aufgeregt. „Leider, leider lebt sie und wird auch so leicht nicht sterben. Solche Geschöpfe sind wie die Schlangen, sie sterben nicht am eigenen Gifte, das sie für ihre Zwecke zu sammeln pflegen.“

„Aber Ihre Frau wird wieder gesund werden, von Moorhagen, sie wird als Anklägerin wider Sie auftreten, sie wird Sie des Mordes zeihen,“ sprach der Beamte mit starker kraftvoller Stimme.

Der junge Edelmann blieb vor ihm stehen und starrte ihm in’s Gesicht.

„Meine Frau,“ stammelte er, „mich? Des Mordes? O, wäre es möglich, daß sie ihre Verrücktheit so weit triebe? Das müßte sie aber doch beweisen, Criminalrath?“

Der Beamte nahm das Messerchen hervor, schlug es langsam aus seiner blutigen Hülle und hielt es mit den Worten: „Hier ein corpus delicti, das den Thäter verräth, das Sie als den Thäter gravirt!“

Richard sah auf das Messerchen nieder, welches der Rath festhielt; er las den fein eingegrabenen Namen „Richard v. Moorhagen,“ schüttelte ganz verwirrt mit dem Kopfe und fuhr mit der Hand in seine Westentasche.

„Wie kommen Sie denn in aller Welt zu meinem Messer?“ fragte er, als er sich überzeugt hatte, daß wirklich sein Messer aus der Tasche verschwunden und in einem ominösen Zustande vor seine Augen zurückgebracht war.

„Dieses Messer fand man bei der blutigen Leiche Ihrer Frau?“

„Blutige Leiche?“ stotterte der junge Mann. „Ich verstehe und begreife nichts, bester Herr –“

„So will ich es Ihnen verständlich machen,“ sprach der Rath nun hart und trocken, denn er hatte die vollständige Ueberzeugung gewonnen, einen leichtfertigen Mörder vor sich zu sehen, der seine That durch den Charakter seiner Gattin zu beschönigen suchte.

„Sie sind um sieben Uhr in dem Landhause ihres Onkels eingetroffen.“ Richard nickte und horchte athemlos gespannt auf diese Auseinandersetzung. „Sie haben eine Unterredung mit Ihrer Frau gehabt,“ fuhr der Rath fort. Richard stieß einen tiefen, tiefen Seufzer aus. „Die Unterredung verlor sich in einen furchtbaren Zank. Sie verließen Ihre Frau im höchsten Zorne und als Fräulein Dora unmittelbar nach Ihrem stürmischen Abgange das Zimmer Ihrer Frau betrat, da fand sie diese als blutige Leiche am Boden. Sie werden einsehen, daß Ihnen alles Leugnen der That nichts hilft, da Sie dieses Messer, womit ersichtlich die Schnitte im Halse vollführt sind, zurückgelassen haben; was Sie zur Milderung Ihres Vergehens sich selbst vorzusprechen belieben, das hält gegen die Gesetze nicht Stich!“

Von Moorhagen hatte den letzten Theil der Auseinandersetzung mit ganz wiedergewonnener Fassung angehört und seine hohe schlanke Gestalt, die vorher wie geknickt erschien, würdig in Haltung gebracht. Ein Lächeln sonderbarer Art zuckte über sein männlich hübsches Antlitz als er erwiederte: „Und ich scheine Ihnen wirklich der Mann, zu dem man sich solcher That versehen kann?“

„Nein, von Moorhagen,“ entgegnete der Beamte fest. „Ich zweifelte, ich würde noch zweifeln, wenn Ihr Betragen, Ihre Verstörtheit mir nicht Gründe zum Verdacht an die Hand gegeben hätten.“

Richard sah ihn freundlich an. „Zweifeln Sie immerhin, bester Herr, zweifeln Sie so lange, bis es klar und unumstößlich gewiß vor Ihren Augen steht: Richard von Moorhagen ist ein elender Mensch, der seine Hand gegen seine schwache Frau ausstreckte, um sie zu morden! Aber, so lange Sie dies nicht bewiesen vor sich sehen, mein Herr, so lange bitte ich, mich als einen Ehrenmann zu betrachten, der Ihnen sein Ehrenwort gibt, daß er nichts von der Verwundung der Frau Leopoldine von Moorhagen weiß, daß er nicht begreift, wie sein Messer bei der Leiche gefunden werden konnte und daß er nicht mit einem Gedanken das Leben dieser Dame gefährdet hat! Diese Erklärung gebe ich dem Beamten, Herr Criminalrath, und ich verlange, daß sie den Eingang zu dem Untersuchungsprozesse bildet, der wahrscheinlich über mich verhängt werden wird. Uebrigens ersuche ich Sie, wenn Ihre Beamtenpflicht es erlaubt, jeden Schritt dazu zu vertagen bis Frau Leopoldine im Stande ist, selbst Auskunft über den Vorfall zu geben. Nicht wahr, Sie sagten vorhin, Leopoldine würde wieder gesund werden?“

[694] Der Rath bejahete es, aber stellte eine mögliche Gefahr nicht in Abrede. Er schien sichtlich umgestimmt zu von Moorhagen’s Gunsten, seitdem der junge Mann wieder zu seiner gewöhnlichen ruhigen Entschlossenheit zurückgekehrt war. Nachdem er noch einige Worte mit demselben gewechselt und ihm auch gesagt hatte, daß er mit dem Arzte hinausfahren und wo möglich sofort eine Aufklärung suchen werde, schied er mit neuerwachtem Vertrauen von seinem jungen Freunde.

„Erschweren Sie mir mein Amt nicht, von Moorhagen,“ sprach er, nochmals in der Thür umwendend, „lassen Sie mich nicht bereuen, daß ich der Stimme der Freundschaft gehorcht und nicht die ganze Schwere meiner Amtspflicht, die Sicherung Ihrer Person heischte, entwickelt habe. Verlassen Sie die Stadt nicht.“

„Besorgen Sie nichts,“ entgegnete Richard gelassen, „ich werde selbst meine Wohnung nicht verlassen, damit die Hand der Gesetzvertreter mich greifen kann, wenn sie will.“

So lange der Criminalrath bei seinem Freunde geweilt hatte, war der Verdacht, entkräftet durch seine Versicherung, gewichen.

Kaum befand er sich wieder allein und unter der nachhaltigen Einwirkung der ersten Scenen in von Moorhagen’s Zimmer, so brach sich derselbe wieder siegend Bahn und er erwartete mit fieberhafter Ungeduld den Aufgang der Sonne, der ihn an den Ort der That führen sollte.

Der Doktor fuhr endlich vor und beide Herren traten unter sehr verschiedenen Empfindungen den Weg zum Landhause an.

„Gott gebe, daß die Dame noch lebt und im Stande ist, Auskunft über die Art und Weise ihrer Verwundung zu geben,“ sprach der Rath mit etwas bedrücktein Tone.

„Man sieht, Sie nehmen Partei für den Mörder,“ entgegnete der Doktor sarkastisch lachend. „Solche Stoßseufzer habe ich noch nie von den Lippen unseres Großinquisitors vernommen. Wenn es der gnädigen Frau Gesundheit gestattet, Hochwohlgeborner, so gebe ich die Erlaubniß zu drei Fragen, hören Sie, drei Fragen! Ueberlegen Sie sich nun diese drei Fragen; es geht Ihnen aber bei Gott wie dem dummen Hans mit seinen drei Wünschen, die Gelegenheit ist vorbei, wenn Sie nicht klüglich diesen Fragen eine ganze Enthüllung zu Grunde legen.“ Der Rath lächelte trübe zum Scherze des Doktors.

„Ich habe gestern Abend von Moorhagen noch aufgesucht,“ meinte er leichthin.

„Und der leugnet, nichts natürlicher, als das.“

„Nein, er versicherte mir auf sein Ehrenwort, nichts von dem Attentate auf das Leben seiner Frau zu wissen,“ sprach der Beamte erregter.

„Und Sie alter Criminalist glaubten diesem Ehrenworte? Das ist kurios!“

„Von Moorhagen ist mir stets als ein Muster des ehrwürdigen alten Adels erschienen,“ sprach der Rath zurechtweisend.

„Alter Adel pflegt aber sonst lieber auf altadeligen Schlössern zu hungern, als Goldschmiedstöchter mit vollen Geldbeuteln zu heirathen,“ spottete der Doktor.

„Ich kenne die Dame wenig,“ meinte der Rath, „von Moorhagen ist mir in früheren Jahren lieb geworden und erst durch seinen jetzt in der Stadt genommenen Aufenthalt wieder näher getreten. Ob Liebe oder Berechnung den jungen Edelmann zu dieser Mesallianz verleitet hat, ist mir unbekannt.“

„Nun, mindestens müßte es eine seltsame Liebe, eine Katzenliebe gewesen sein, denn mit Zank und Streit hat’s begonnen und mit Blut scheint’s zu enden.“

„Sie hassen von Moorhagen?“ fragte der Rath schnell.

„Bewahre, ich kenne ihn kaum. Ich hasse nur das Junkerthum, dem der durch Geist emporgeschwungene Mann ein Parvenu ist, während die Herren „Von“ unser Bürgergeld nicht verschmähen.“

Der Rath warf einen Blick auf den Doktor, worin zu lesen war, daß er sich des Angeschuldigten wegen freue, dieser Ansicht auf die Spur gekommen zu sein, bevor er dem Träger derselben Einfluß auf die Untersuchung gestattet hatte. Als Kreisphysikus konnte er durch seine Berichterstattung viel schaden und viel nützen.

Als der Wagen hielt, trat Fräulein Theodore den Herren todtenbleich entgegen. Sie hatte den Criminalrath erkannt und wußte, was sein Kommen zu bedeuten hatte.

Der Rath war nicht ganz fremd in den Verhältnissen, die zwischen Richard und Theodore obwalteten; er empfand die peinliche Sorge mit ihr und beeilte sich, ihre Spannung zu lösen.

„Mich treibt nur eine gewisse freundschaftliche Nothwendigkeit hierher, mein Fräulein,“ sagte er freundlich.

Theodore, ganz eingenommen von ihrer auf Wahrnehmungen gestützten Besorgniß, machte eine abwehrende Bewegung und flüsterte: „Ich bin auf Alles gefaßt!“

Das frappirte den Criminalbeamten. Sie mußte also Erfahrungen gemacht haben, die das Schlimmste fürchten ließen.

„Was macht meine Patientin?“ fragte der Doktor.

„Sie liegt unbeweglich, wie gestern Abend,“ referirte Theodore. „Zeigte nicht die Wärme ihrer Haut und das leise Pulsiren ihrer Adern ihr Leben an, so würde ich sie für todt halten.“

„Dann hat es keine Gefahr, Criminalrath, wenn Sie mit eintreten,“ meinte der Doktor und öffnete die Thür. „Uebrigens kennt die Dame Sie auch nicht.“

„Doch, ich glaube ihr vorgestellt zu sein,“ warf der Rath ein.

Die Herren schlichen auf den Zehen in das Zimmer, wo Frau Poldine, steif ausgestreckt wie eine schöne Leiche, im elegantesten Nachtkostüm auf ihrem Lager ruhete. Der Rath trat so, daß er nicht von der Kranken gesehen werden konnte, während der Doktor sich, unbekümmert um den leichenähnlichen Zustand, behaglich am Bette zurecht setzte und den Puls Leopoldinens sondirte.

„Ganz normal,“ murmelte er, „matt aber gleichmäßig; Nervenaffektation, sonst nichts; Mattigkeitsschlaf, aber keine Bewußtlosigkeit.“

„Der Schlaf scheint mir nur sonderbar tief,“ flüsterte Dora ängstlich.

Ach, sie hatte in der Nacht Gott unaufhörlich angerufen, nur dieses Leben zu retten, um das furchtbare Geschick, Richard als Mörder belastet zu wissen, abgewendet zu sehen.

„Reizbare Konstitution,“ murmelte der Doktor wieder. „Aber freilich!“ er zuckte vielsagend die Schultern. Er lehnte sich über das bleiche Gesicht der jungen Frau und prüfte horchend den Athem. „Guten Morgen, gnädige Frau,“ rief er in ihr Gesicht hinein.

Leopoldine rührte kein Glied und zuckte nicht mit der Wimper. Der Arzt runzelte die Stirn und schüttelte mit dem Kopfe. Theodore faltete krampfhaft ihre Hände. Leopoldine mußte todt sein, daß sie diesen lauten Ruf nicht gehört hatte.

Der Doktor berührte die Hände, die Arme und die Wangen der Kranken, dann hob er ihren Kopf und schrie in ihre Ohren.

Jetzt zeigte sich eine Spur von Bewußtsein; die junge Frau athmete tiefer, dann öffnete sie mühsam die Augen.

„Gut geschlafen?“ fragte der Doktor sehr laut.

Frau Poldine sah träumerisch um sich und musterte befremdet den Arzt und Dora. Den Rath konnte sie nicht sehen, weil er oberhalb hinter dem Bette stand.

„Wo ist er?“ fragte sie kaum hörbar.

Der Rath winkle dem Arzte zu. Dieser verstand sehr wohl, daß ihm mit diesem Winke die drei von ihm zugestandenen inquisitorischen Fragen übertragen worden waren.

„Wer denn, meine Gnädige?“ examinirte er. „Wen suchen Sie?“

Ein Schauder, überflog den ganzen Körper der jungen Dame.

Sie wehrte mit beiden Händen ein Phantom ihrer Phantasie ab: „Er ist der böse Geist meines Lebens, er hat alle meine Lebensfreuden gemordet;“ ihre Stimme verstärkte sich merkwürdig und wurde beinahe kreischend. „Er ist Schuld an meinem Tode! O mein Gott, laßt mich nicht sterben! Rettet mich, rettet mich!“

Erschüttert wankte Theodore zurück bei dieser Anklage. Der Rath warf einen traurigen Blick auf sie, der Rath sah unverrückt vor sich nieder. Es entstand eine peinliche Pause. Nach einem sehr verständlichen Winke des Beamten, der, gleichsam hinter den Coulissen, die Inquisition einleitete, begann der Doktor wieder: „Wen fürchten Sie denn, Gnädige? Wer ist Schuld an Ihrer Verwundung, nicht an Ihrem Tode, denn sterben werden Sie, gottlob, nicht; wer ist Schuld?“

„Wer? Zweifeln Sie denn noch?“ wiederholte Frau Poldine sehr matt und leise – „mein Mann, – Richard, – Richard!“ Sie schien ohnmächtig zu werden; man bemühete sich um sie.

Der Rath verließ unbemerkt das Zimmer und nach einer halben Stunde fuhren die beiden Herren wieder zurück nach der Stadt, beide schweigsam, beide mit Gesichtern, aus denen Kümmerniß leuchtete. Besonders verdrießlich sah der Doktor aus. Auf [695] des Rathes Frage, was er von dem Zustande der Dame halte, antwortete er kurz: „Weiß nicht!“

Als dieser, unzufrieden mit der Abfertigung, weiter examinirte, ob die Genesung derselben zu hoffen und bald zu erwarten sei, referirte er gleichfalls:

„Weiß nicht!“

Erst beim Abschiede rüttelte er sich etwas aus seinem Mißmuthe heraus und rief dem Rathe humoristisch nach:

„Verehrtester, weil Sie sich heute so exemplarisch human und so entschieden diskret gegen meine Patientin betragen haben, so erlaube ich, kraft meines Amtes, daß Sie morgen früh als Großinquisitor Ihre Funktionen beginnen können. Glück auf!“ Er lachte und fuhr davon.

Zerstreut und der neckischen Manier des Doktors sehr gewöhnt, hörte der Criminalrath diese seltsame Abschiedsrede und ging tiefsinnig in sein Zimmer. Hier begannen die Einflüsterungen des Mißtrauens und die Berechnungen des Verdachtes ihr Spiel mit weit größerer Macht als Tags zuvor zu treiben. Zweifel kamen überhaupt nicht mehr in seine Seele, konnten auch nicht, nach der speciell ausgesprochenen Beschuldigung der verwundeten Dame, aber es galt, vorgefaßte gute Meinungen zu bekämpfen, die sich mit Gewalt dagegen sträubten zu dieser That die Motive in einem Uebermaße von Eigennutz zu suchen. Nach der oben gemachten Entdeckung blieb ihm als Beamten nichts weiter übrig, als von Moorhagen vor die Schranken zu fordern und damit seine Stellung in der Welt auf immer zu untergraben.

Es war ein schwerer Entschluß! Die ganze männliche Liebenswürdigkeit des Angeschuldigten, sein ehrenhaftes, chevalereskes Wesen und der unangetastete gute Ruf desselben stellten sich immerfort kampfbereit vor des Beamten Geiste auf, wenn er, müde der Unentschlossenheit, zu der Feder griff, um den Befehl zu von Moorhagen’s Verhaftung zu ertheilen. Mitten in dies Chaos von widerwilligen Gefühlen trat Herr Richard von Moorhagen selbst in’s Zimmer, nachdem er vergeblich mehrere Male stark angepocht hatte.

Der Criminalrath stand jäh auf und maß den jungen Mann mit bedeutungsschwerem Ernste von Kopf bis zu den Füßen, ohne ihn zu begrüßen.

Von Moorhagen wurde verlegen. Das Betragen war beleidigend und hätte jedenfalls seine Galle rege gemacht, wenn er sich nicht innerlich schuldig gefühlt hätte, die Grenze, welche sein Ehrenwort gezogen hatte, willkürlich erweitert zu haben, indem er seine Wohnung verließ.

„Ich hörte, Sie seien vom Landhause meines Onkels zurück,“ sagte er befangen; „nennen Sie es einen kleinen Ueberrest von Neigung für Leopoldine, oder nennen Sie es, wie Sie wollen, aber mich trieb es her um zu erfahren: wie es mit ihr steht? Lebt sie? Wird sie bald genesen? Was sagte sie über ihren Unfall?“

„Sie lebt, sie wird genesen und was sie über ihren Unfall berichtet, wird Sie nicht erfreuen, mein Herr!“ erwiederte der Rath kurz. Die Herbe seines Stimmentones mußte von Moorhagen, der ihn sehr gut kannte, auf das Schlimmste vorbereiten, aber dennoch überlief der Schatten des Schreckens seine Züge, als derselbe, dicht vor ihn hintretend, hinzufügte: „Frau von Moorhagen nennt Sie als ihren Mörder.“

„Mich? Unmöglich! Unerhört! Mich? Mich?“ rief der Edelmann aus aller Fassung gebracht. Einen Augenblick schien er hülflos, einen Augenblick wankte sein Männermuth. – „Nun ja, sie wird mich anschuldigen, man wird ihr glauben und mein vergiftetes Dasein ist ganz vernichtet. – O Weib, Weib, wie willst du vor Gott bestehen!“ schloß er mit ganz wiedergewonnener Haltung.

Der Criminalrath fühlte sich bewegt, die Kraft und Wärme des Ausdrucks bei den letzten Worten warf wieder allen Verdacht über den Haufen. Er stand stumm und unentschlossen. Von Moorhagen reichte ihm die Hand. „Jetzt noch dürfen Sie diese Hand berühren, jetzt ist sie noch nicht befleckt vom Schimpfe der öffentlichen Meinung – verfügen Sie über mich! Aber ehe Sie mich in eine Gefangenzelle sperren lassen, und ehe Sie die Feder zum Protokolle ansetzen, hören Sie, als Freund, meine Aufklärungen über den gestrigen Vorfall, dessen Schluß mein Unglück ist.“ Er lehnte des Rathes Einladung, sich zu setzen, ab, und stellte sich demselben in einer Art gegenüber, die ihn mehr als Sieger, wie als Unterlieger bezeichnete.

„Ich demüthige mich vor Ihnen, vor dem Freunde, indem ich Ihnen einen Einblick in das Heiligthum meiner Leiden gestatte. Vor dem Richter wird kein Wort über diese Lebenserfahrungen über meine Lippen kommen, und sollte mein Tod damit aufgehoben werden können. Daß meine Ehe mit Leopoldine unglücklich gewesen ist, zeigt unsere beabsichtigte Scheidung an. Wodurch sie auf diesen Standpunkt getrieben wurde, habe ich nicht nöthig gehabt, anzugeben, da Leopoldinens öffentliche Erklärung: „ich könne sie nicht ernähren –“ von mir benutzt wurde, eine Trennung herbeizuführen. Wir sind geschieden. Was noch fehlt an Decreten des Gerichtes ist unwesentlich. Ich habe mich nie zu Enthüllungen des Charakters einer Frau herabgelassen, die ich – zur Gattin gewählt hatte, und ich habe nie Veranlassung genommen, zu verrathen, daß von ihr die ersten Aufforderungen zu einem Bündnisse zwischen uns ausgegangen sind.“

„Von ihr – von der schönen, reichen Leopoldine Probst, die umschwärmt und von allen Seiten bewundert worden ist?“ rief ungläubig der Rath.

Von Moorhagen fühlte den Ton des Mißtrauenn, fuhr aber dennoch ruhig fort:

„Wir lebten über alle Begriffe unglücklich! Aber die Welt sollte es nicht wissen – Saus und Braus umhüllte unser Leben – Glanz und Luxus übertünchte unser Elend. Die Welt merkte das, ließ sich aber unsere Gastfreiheit gern gefallen. Ich bin nicht reich – das Gut, das ich besitze, ist Lehn, und wirft nur bei der Selbstbewirthschaftung einen hinreichenden Erwerb zum einfachsten Leben ab. Etwas Ackerland im Dorfe ist Allodialvermögen meines Stammes; sonst habe ich nichts, was zu veräußern wäre. Leopoldine weiß das. Sie hatte das alte Stammschloß ganz umbauen lassen wollen; ich willigte nicht darein. Darauf ließ sie neben dem Schloßgarten, auf einem Stück Land, das mir gehörte, ein brillantes Gartenschloß, mit der Front dem Garten zugewendet, bauen, und wir bezogen diese sehr schöne Villa kurz zuvor, ehe der Bruch unserer Verhältnisse beschlossen wurde. Natürlich verließ ich es sofort nach den ersten Schritten zur Scheidung – Leopoldine blieb wohnen. Ich siedelte mich hier an, obwohl meine veränderte Lebensstellung meine Aufsicht über meine Wirthschaft in Schloß Moorhagen gefordert hätte. Wie wäre es mir aber möglich gewesen, dort zu sein, gleichsam unter den Augen meiner Frau und ihren täglichen Angriffen und Beleidigungen ausgesetzt. Bei der Scheidung beanspruchte sie „Erstattung sämmtlicher Verbesserungskosten.“ Es war nicht möglich zu machen – die Ausgaben konnten nicht sondirt werden, weil wir unsere Einnahmen gemeinschaftlich gemacht hatten. Als dieser Anschlag auf meinen Ruin nicht durchgesetzt werden konnte, ließ meine Frau nichts, nichts unversucht, mich zu kränken und mir mein Dasein zu erschweren. Ich begann, den Entschluß zu überlegen, „nach Amerika überzusiedeln.“ Was sich Alles in meiner Seele wider diesen Vorsatz auflehnte, kann sich nur der denken, der ein Stückchen Erde hier bewohnt, welches seit Jahrhunderten von seinen Voreltern bewohnt war. Vorgestern erhalte ich ein Briefchen von Leopoldine, worin sie mir sagt: sie hätte mir Vorschläge zu machen, die meine Uebersiedlung nach Amerika unnöthig machten, aber nur mir, nur mir ganz allein unter vier Augen würde sie diese Vorschläge enthüllen. Es war Thorheit, daß ich darauf einging – aber, tadeln Sie mich – ich hoffte auf weibliche Gesinnungen, wo ich Hyänenwildheit kennen gelernt hatte.“

Er schwieg und verfiel in ein trübes Sinnen. Der Rath saß unbeweglich, wie aus Stein gehauen.

„Erlassen Sie mir die Schilderung der Scene, die begann, als ich in ihr Zimmer eingetreten war, das sie hinter sich verriegelte. Sie bot mir ihre wiedererwachte Liebe an, und erntete meine Verachtung dafür. Sie bot mir ihr Geld unumschränkt – was sie sprach, jedes Wort war Gift und Dolch! Ich wollte sie verachtungsvoll verlassen – die Thür war zu. Endlich gelang es mir, den Riegel zu fassen – sie warf sich auf der Schwelle nieder und klammerte sich um meine Kniee – o, und mit welchen niedrigen Beschuldigungen, mit welchen gemeinen Beschimpfungen belastete sie mein Leben – mein Zorn überflügelte jetzt jedes Bedenken – ich riß sie vom Boden auf und schleuderte sie seitwärts – sie schrie entsetzlich – ich stürzte hinweg, und habe sie nicht wieder gesehen!“

Große Schweißtropfen perlten auf der Stirn des jungen Mannes. Er endete sichtlich verstört durch diese Reminiscenz. Der Rath schwieg lange, dann sagte er kalt und gefaßt: [696] „Wie wollen Sie aber nun die Verwundung der Frau von Moorhagen erklären?“

„Sie selbst muß sich verwundet haben,“ entgegnete von Moorhagen ganz ruhig.

„Sehr gut gedacht,“ entgegnete der Rath trübe lächelnd, „wenn der Mord nicht mit diesem Messer – er nahm das seitwärts liegende Mordwerkzeug zur Hand – versucht wäre.“

(Schluß folgt.)


Gegen den Arnica-Schwindel.

Hat sich Einer gestoßen, gequetscht, geschnitten, gestochen, gehauen, geschossen, verhoben oder verdreht, ein Glied verstaucht, verrenkt, zerbrochen, verbrannt oder erfroren, gleich räth ein Anderer: „legen Sie Arnica auf; reiben Sie Arnica ein.“ Ist nun gar Jemand ein homöopathischer Nichts-Freund, dann hat er in der Arnica ein inneres und ein äußeres Heilmittel gegen alle nur möglichen Störungen im Blutlaufe, im Gehirne und Rückenmark, sowie bei fast allen Leiden, besonders Entzündungen und Blutungen, die durch mechanische Ursache (Verletzung, Erschütterung) erzeugt sind.

Trotz dieser allseitig gerühmten Heilmächtigkeit der Arnica ist nun doch der Ruhm dieser Pflanze, – welche auch Wohlverlei oder Fallkraut heißt, zu den Strahlenblümlern gehört und in den Monaten Juni, Juli und August blühend eine wahre Zierde der Gebirgswiesen des nördlichen Deutschlands ist, – nicht weit her und erdichtet, denn sie nützt als Heilmittel, zumal als homöopathisches, geradezu gar nichts. Wendet, man sie äußerlich mit kaltem Wasser als Umschlag an, dann wirkt das kalte Wasser und nicht die Arnica; wird Arnicatinktur eingerieben, dann ist der Spiritus dieser Tinktur und das Reiben das Wirksame und nicht die Arnica. Man lasse sich sagen, daß wenn Jemand auch Tage lang bis an den Hals in Arnicatinctur sitzt, doch nicht das winzigste Bischen davon durch den hornartigen Ueberzug unserer Haut in das Innere des Körpers dringt. Von ihrer inneren Wirksamkeit sieht aber zur Zeit auch der mittelsüchtigste Heilkünstler ab, mit Ausnahme der Homöopathen. – Fragt der Leser: wie konnte aber dieses Mittel zu einem solchen Rufe gelangen, es muß doch oft geholfen haben? so ist die Antwort: allerdings tritt auch beim Gebrauche der Arnica oft Heilung ein, allein die Krankheitsfälle, wo Arnica in Gebrauch gezogen wird, heilen in der Regel ganz von selbst und bei vielen unterstützt Kälte oder Reiben die Heilung. Also nicht durch die Arnica, sondern trotz der Arnica ist die Krankheit verschwunden. – Dies kann man übrigens auch von den allermeisten anderen Arzneien sagen und findet seine volle Bestätigung in der homöopathischen Heilkünstelei, welche bei Nichts mit Milchzucker oder Alcohol manchmal erstaunliche Wunderkuren zu verrichten scheint. Freilich versetzen diese Kuren nur Unwissende in Staunen, die nicht wissen, daß die Einrichtung unseren Körpers eine solche ist, vermöge welcher alle Veränderungen in der Ernährung und Beschaffenheit der flüssigen oder festen Körperbestandtheile (d. s Krankheiten) solche Processe nach sich ziehen, durch welche jene Veränderungen sehr oft vollkommen oder doch zum Theil gehoben werden (d. s. die Naturheilungsprocesse; s. Gartenl. Jahrg. 1855. Nr. 25.).

Wer sich von der Wahrheit des Gesagten überzeugen will, braucht nur einmal zu probiren (denn Probiren geht oft über Studiren) und in Fällen, wo es ihn zur Arnica hinzieht, von dem Gebrauche derselben absehen, oder, wo es rathsam, blos kaltes Wasser oder Reibungen anwenden. Freilich muß dann der Arnica-Fanatiker hübsch Augen und Ohren, sowie seinen Verstandeskasten öffnen, um richtig wahrnehmen und urtheilen zu können, denn es macht die Kurzsichtigkeit und Benommenheit Solche, die sich einmal in eine Lieblingsidee verbissen haben, oft ganz unzurechnungsfähig.

Der Bergwohlverlei (arnica montana), welcher bei den wissenschaftlich gebildeten Aerzten immer mehr in Mißcredit kommt, bei den Homöopathen und Laien dagegen fortwährend im Ansehen steigt, liefert für die Apotheken seine Wurzeln, Blätter und Blüthen als Arzneimittel (in der Form des Aufgusses, der Abkochung, des Extracts, der Tinctur und des ätherischen Oels). Die Wurzel ist der wichtigste Theil, denn sie enthält am meisten von einem ätherischen Oele, einem scharfen Harze (Arnicin) und einem ekelhaften, scharfen, bittern Extractivstoffe, kurz von den Stoffen, welche, wie so viele andere ähnlicher Art, beim Verschlucken Brennen im Schlunde, Ekel, Erbrechen, Schmerzen im Magen und Verlust des Appetites, sowie Beschleunigung des Blutlaufes und Athmens mit Kopfschmerz und Schwindel erzeugen.

Die Blüthen haben erst aufregende und dann betäubende Eigenschaften, die bei Lähmungszuständen des Nervensystems, sowie bei Epilepsie (Fallsucht, daher Fallkraut) gute Dienste thun sollen, aber Nicht thun. Vor Zeiten, als die Arnica eben erst Mode geworden und in die Gesellschaft der andern Arzneien (in den Arzneischatz) aufgenommen worden war, sollte sie auch, wie alle neu entdeckten Heilmittel (denn „neue Besen kehren gut“) bei einer Unmasse von Krankheiten Hülfe leisten; nach und nach lernte man jedoch einsehen, auch wieder wie bei den meisten andern Heilmitteln, daß es damit nichts war, und so ist denn die Arnica endlich bis zum Volks- und homöopathischen Mittel herabgesunken.

Der Aufklärung wegen wollen wir schließlich noch von der enormen Wirksamkeit der Arnica sprechen, welche derselben in homöopathischer Gabe (d. h. in Nichts-Form) von den Hahnemannianern zugeschrieben wird. Wir sehen dabei ganz ab von der verschiedenen Wirksamkeit dieses Mittels bei den verschiedenen Vieharten und in den verschiedenen homöopathischen Heilmittellehren, und berichten nur das, was die bücherschreibenden Matadore in der Homöopathie (von denen freilich manche Bastard-Homöopathen sind, die, wenn sie mit ihren homöopathischen Nichtsen nicht mehr fortkommen können, ruhig zu allopathischen Mitteln und Gaben greifen) von der Heilkraft der Arnica phantasiren. Ein Hauptmittel und zwar innerlich anzuwenden, soll nach ihnen die Arnica sein: bei Gehirnentzündung und Kopfschmerzen von mechanischen Ursachen, die mit Eingenommenheit, Schwere, Schwindel, Erbrechen und Betäubung verbunden sind; bei Zungen- und Augenentzündung in Folge mechanischer Verletzungen und eingedrungener fremder Körper; bei fauligem Geschmacke, bitterem Aufstoßen und gelbem Zungenbelege; bei Zahnschmerzen nach einer Operation an den Zähnen und bei harter rother Backengeschwulst nach Beseitigung der Zahnschmerzen; bei Husten und Schwindsucht mit blutigem Auswurfe, sowie bei Husten nach Weinen und bei solchem Husten, der nachläßt, wenn man etwas ißt; bei Wundsein der Brustwarzen und Entzündung der Brustdrüse; bei Magenkrampf und Blutbrechen, besondern wenn es durch Trinken hervorgerufen wird; bei Rothlauf der Neugebornen; bei Blutschwären; bei Rheumatismus und Gicht mit Verrenkungs- oder Quetschungsschmerzen; beim Hexenschuß und bei Wehadern; bei Schlagfluß und Abortus; bei Zwängen im Mastdarme nach der Ausleerung; bei Haut- und Bauchwassersucht, sowie auch noch bei einer Menge von Beschwerden, die sich hier nicht angeben lassen. – Nach Hahnemann erstreckt sich die Wirkungsdauer der Arnica höchstens auf fünf Tage und es erzeugt, also heilt auch dieses Mittel: von Zeit zu Zeit wiederkehrenden, fein stechend reißenden Kopfschmerz, besonders im linken Schlafe, dagegen harte Auftreibung der rechten Bauchseite, die einzig durch Abgang von Blähungen erleichtert wird, und täglich von früh an bis Nachmittags zwei Uhr wüthet; Wackeln und Verlängerung der Zähne ohne Schmerz; in und unter der Nase Blüthen; in der rechten Brustseite Schmerz wie Nadelstiche, dagegen in der Mitte der linken Brust starke Stiche; einzelne Stöße in den Hüften; fürchterliche Träume gleich Abends nach dem Einschlafen, von großen schwarzen Hunden und Katzen; unwillkürlichen Abgang des Stuhlganges im Schlafe; halsstarrige Widerspenstigkeit und mürrische Trotzigkeit mit Befehlshaberei; ängstliche Befürchtungen zukünftiger Uebel und Hoffnungslosigkeit. – Daß die Arnica hoffnungslos machen kann, muß der Verfasser bestätigen, da er selbst, ja ohne dieses Mittel eingenommen zu haben, schon während des Niederschreibens dieser Zeilen bei dem Gedanken an die Arnica alle Hoffnung auf Verständigwerden der Menschheit in Bezug auf Alles, was ihrem gesunden und kranken Körper angeht, verloren hat.

Bock.

[697]
Arktische Entdeckungen und Erlebnisse.

Der große Amerikaner in kleiner, gedrungener Körperform, Dr. Elisha Kent Kane, ein Mann von 34 Jahren, seit seinem vierzehnten Jahre fast immer unterwegs zu Wasser und zu Lande, besonders kühn und tapfer zu Fuße, unter allen Breiten- und Längengraden messend, forschend, entdeckend, in China, unter den Menschenfressern der Philippinen, auf und in[1] noch nie besuchten Kratern feuerspeiender Berge herumstöbernd, zwischen nie untersuchten Felsengebirgen Indiens geologisirend und mineralisirend, Wüsten durchwandernd, durch die Reiche afrikanischer Könige und Sklavenhändler reisend, als Offizier der amerikanischen Armee in Mexico in der Schlacht bei Nopaluka verwundet, als Gesandter des Präsidenten Polk an den General Scott die „Cactusrepublik“ durchstöbernd, und das berühmteste Gebirgsungeheuer Mexico’s, den Popocatopell messend, aus dem vermessenen Golf von Mexico die erste amerikanische „Grinnell-[2]Expedition“ zur Aufsuchung Franklin’s als erster Wundarzt curirend und beschreibend, nachher Haupt und Seele der jetzt von ihm in zwei Prachtbänden erschienenen zweiten „Grinnell-Expedition“ zur Aufsuchung Franklin’s, jetzt in London, um noch eine dritte Expedition zu Stande zu bringen, da er Franklin noch nicht aufgegeben – dieser kleine Dr. Kane ist ein merkwürdiger Charakter, ein mit Wissenschaft erdumgürtendes Musterbild Amerika’s, wohl der kühnste Reisende dieses Jahrhunderts und einer der bedeutendsten Entdecker und Forscher, der Columbus einer neuen arktischen Welt. Er hat nicht nur eine große weitere Ausdehnung des amerikanischen Festlandes entdeckt, eine große Flußmündung und neue Gebirgszüge im Norden Grönlands, dessen Küsten und ganze Ausdehnung vom äußersten Norden her er vermaß, wie Niemand vor ihm, sondern auch vom nördlichsten Punkte aus, den je ein arktisches Schiff erreichte (78° 41’) hinter Wassern, Eisalpen und Landstrecken absoluten Todes und ewigen, dick eingefrornen Starrens eine neue, wärmere Welt, in der sich unter weicheren Winden wieder pflanzliches und thierisches Leben einstellten, und das längst geahnte, gehoffte und prophezeite Polarmeer, mit einer ermittelten eislosen Ausdehnung von 4200 englischen, d. h. beinahe 1000 geographischen Meilen. Diese wärmeren Winde hinter Land und Wasser absoluter Lebensunfähigkeit können auf Inseln jenes vom Gestade aus gesehenen, in seinen Grenzen noch unbekannten Polarmeeres auch noch Franklin und die Seinigen und deren Saaten umwehen und reifen. Und der Nordpol mag vielleicht etwas Wahrheit von jener alten nordischen Mythologie bergen, welche nicht nur ein Paradies dahin versetzte, sondern auch eine feenhaft prächtige Einfahrt in das von lachendem Leben glühende Innere der Erde. Etwas von jenem lachenden Leben vermuthet wohl auch der wissenschaftliche Kopf Dr. Kane’s, der trotz einer ernsten Erkrankung die Hoffnung nicht aufgibt, daß er noch eine Expedition zu Stande bringe, öder sich wenigstens dem wieder von England vorbereiteten Aufsuchungsgeschwader anschließen könne.

Dr. Elisha Kent Kane.

Wir können uns hier nicht darauf einlassen, ein Bild von der ganzen geschilderten Expedition Dr. Kane’s zu geben, und bemerken nur noch, daß er, im äußersten, bis jetzt erreichten Norden, ganzer 21 Monate in neun Fuß dickes Eis eingefroren, mit seinen achtzehn Mann und seinen Hunden über 3000 englische Meilen Entdeckungs- und Forschungsreisen machte, und endlich die unerhörteste Heldenthat ausführte, aus dem ewig festgefrornen Schiffe mit einem einzigen Gespann Hunden über 1300 Meilen Eisgebirge, Eissümpfe und Eismeere nach der nördlichsten Kolonie Grönlands zurückzukehren, ohne einen Mann zu verlieren. In der grönländischen Kolonie wurden sie eines Tages von dem Sternen- und Streifenbanner Amerika’s von einem Dampfschiffe aus begrüßt, [698] das zu ihrer Aufsuchung und Rettung ausgesandt worden war, und sie nach dreijährigem Kampfe mit dem kältesten Entsetzen der Natur wieder in die warme Welt des Lebens und der Liebe zurücknahm.

Die Leiden, welche die Mannschaften auf allen ihren Expeditionen auszustehen hatten, waren entsetzlicher Natur. Rattenfleisch und dito Suppe war längere Zeit eine Delikatesse auf dem Schiffe. Stets auf Eisfeldern, die oft durch tiefe, schauererregende Klüfte getrennt vor ihnen lagen, konnten sie nur mit Lebensgefahr die Schlitten mit den wenigen Habseligkeiten der Reise von einem Ufer zum andern über die steilen Seitenwände hinüberexpediren, während sie selbst mit großer Vorsicht und an einander gebunden dann nachkletterten. Eine Expedition dieser Art zeigt unsere Abbildung. Auf der oben angedeuteten Rückkehr nach der nördlichsten Kolonie Grönlands waren sie nahe daran, dem Hungertode zu erliegen. Während dieser ganzen langen Tour zwischen enorme Eisberge und mächtige Eisschollen hindurch, beschränkte sich ihre tägliche Nahrung pro Mann in der Regel auf sechs Unzen Mehlstaub und einen Klumpen gefrorenen Talg von der Größe einer Wallnuß. Aber selbst diese elenden Rationen hielten nicht lange vor; nach zehn Wochen voll unsäglicher Beschwerden schien der Hungertod unvermeidlich. In dieser Krisis zeigte sich zu ihrer namenlosen Freude ein Seehund; er suchte zu entkommen, aber ihr Leben hing von dem Fange dieses Thieres ab, und mit wildem Geschrei trieben sie ihre Böte ihm nach durch die Eisschollen. „Eine Menge Hände ergriffen den Seehund und trugen ihn auf sichereres Eis hinauf. Die Leute schienen halb wahnsinnig; ich begriff erst jetzt, bis zu welchem Aeußersten der Hunger uns gebracht hatte. Sie liefen über die Scholle, weinend, lachend und ihre Messer schwingend, und ehe fünf Minuten vergangen waren, saugte schon Jeder an seinen blutigen Fingern oder verschlang lange Streifen von rohem Seehundsspeck. Man ließ nicht eine Unze von dem Thiere übrig. Das Eingeweide wurde ohne vorhergängige Reinigung in die Suppenkessel geworfen. Die knorpeligen Theile der Vorderpfoten wurden in der Eile abgeschnitten und zum Kauen herumgereicht, und selbst die Leber hätte man gern, roh und warm wie sie war, verzehrt, ehe sie noch in den Topf kam. In der Nacht wurden auf einer großen, stehenden Eisscholle, auf welche, die Gefahr des Treibens verachtend, wir Glücklichen unsere Böte hinaufgeschleppt hatten, zwei ganze Bohlen „Red Eric“ zu einem großen Kocheuer verwendet, um welches wir einen seltenen und wilden Schmaus hielten.“

Transportirung der Schlitten über Eisklüfte.

Die einundzwanzig Monate lange Gefangenschaft in der Festung des nordischen Königs und Tyrannen, Eis, gab Veranlassung und Gelegenheit zu den originellsten Jagden, Jagden, die sich unsere Jagdberechtigten auf Ebenen, über welche manchmal ein Hase läuft, nicht pachten und privilegiren können, Jagden gegen den Polarbär, den Eisbär, Seehunde, Walrosse, „Narwhals“ oder Seeeinhorns u. s. w. So etwas ist keine Hasenjagd, kein Rebhühnerschießen. Dazu gehört etwas mehr, als ein Privilegium von der Polizei, vor allen Dingen der zwischen ewigem Eise aufgewachsene Eskimo und sein Hund. Kane hatte sich einen jungen Eskimo von neunzehn Jahren engagirt, einen fetten, kaltblütigen, dummen Jungen, der ihnen aber mehr als einmal das Leben rettete, wenigstens als Hundewärter die Hunde, ohne deren Tapferkeit, Stärke und Scharfsinn sie wahrscheinlich alle umgekommen wären. Hans, so hieß der junge Eskimo, den Kane dankbar mit unter seine Illustrationen aufgenommen hat, schoß den Vogel im Fluge mit dem Speere aus der Luft und nahm es zur Noth allein mit jedem Bären auf.

Das Lebensbild von einem Eskimo ist sehr einfach. Er baut sich von eiszerstoßenen Felsenstücken einen inwendig hohlen Haufen, übergießt ihn mit Wasser und läßt ihn vom Himmel mit weißem oder „rothem“ Schnee bedecken. Ein Loch unten zum Aus- und Einkriechen und eins oben, den Rauch vom Feuer hinauszulassen, und seine Häuslichkeit ist fertig. Die Felle der Thiere, die er jagt, sind seine Kleidung, deren Fleisch und Thran seine Nahrung. In Grönland tauscht er sich gegen Seehundsfelle, Rennthierhäute und deren Oele, gegen getrocknete, gesalzene und gepreßte Stockfische, delikate Rennthierzungen u. s. w. Kaffee, Tabak, Spirituosen u. s. w. ein und ist der glücklichste der Sterblichen. Aber unten im Norden, wo kein Handel hinreicht und kein Weg herausführt, ist er in der Regel blos auf seine Hunde, seine Jagd im Wasser und die Ernten daraus angewiesen. Das unentbehrliche Rennthier fehlt ihm, nichts als Fische zu essen und deren Thran zu trinken oder Eis zu kauen, wenn’s ihm zu durstig und zu heiß wird. Letzteres kommt nicht häufig vor. Zuweilen spionirt er einen Bär aus und verfolgt ihn mit seinen Hunden, bis er ihm das Fell abziehen und sich Bärenschinken aus ihm schneiden kann. Regierung ist nicht, Polizei, Abgaben, Militairpflichtigkeit, Bürgerbrief, Jagdzettel, [699] Schlagbaum, Thoraccise, Paßkarte – alle diese höchst unentbehrlichen Behörden, Einrichtungen und Steuern fehlen ihm ganz, ohne daß er’s merkt. Er hat niemals Erde unter seinen Füßen, die er graben, von der er ernten könnte, also auch nicht einmal einen Kirchhof, seine Todten zu begraben. Man setzt den Verstorbenen mit dicht an den Körper gezogenen Knieen hin zum ewigen Schlummer, hüllt ihn in einen Sack von Thierfellen, umgibt ihn mit den Werkzeugen und Geräthen, die er im Leben brauchte, dann mit einem Haufen von Steinen und baut eine Art Dach darüber. So findet man dort in den arktischen Einöden oft weit und breit keine Spur irgend eines lebendigen Athems oder Mooses, sondern nur solche wohlerhaltene Grabdenkmale. Der Eskimo vergreift sich nie an einem Grabe. Solche Spuren ehemaligen Lebens in endloser Oede sind das Traurigste und Schwermüthigste, was ein Mensch auf Erden sehen kann.

Nach dem Eskimo selbst ist der Eskimohund die wichtigste Person in jenen äußersten, hier und da von ein paar Dutzend Menschen bewohnten Gegenden, wo das Rennthier nicht mehr hinreicht. Diese Hunde sind Wölfe an Gefräßigkeit, Wildheit und Kraft, aber Pferde, Rennthiere und treue Hausfreunde im gezähmten Zustande. Ehe sie Kane und sein Hundepolizeipräsident Hans ordentlich gezähmt hatten, waren sie die größte Plage, nachher aber mehr werth als eben so viel Gold.

„Welche Qualen mit diesen Hunden!“ ruft er an einer Stelle. „Schlimmer, als eine ganze Straße Konstantinopels voll ausgeleert auf unserm Deck. Unbändige, diebische Bestien! Keine Bärenpfote, kein Eskimoschädel, kein Korb voll Moos, nichts ist vor ihrer Gefräßigkeit sicher. Mit fürchterlichem Geheul fallen sie darüber her und verschlingen es mit einem Schluck. Einmal machten sie sich über ein ganzes Federbett her. Ein ander Mal fraßen sie zwei ungeheuere Vogelnester, Federn, Schmutz, Steine, Moos, zusammen ein Scheffel voll – Alles. Sobald wir Land oder eine schwimmende Eismasse, oder einen Eisberg erreichen, springen sie davon, ohne sich von der Peitsche zurückhalten zu lassen. Wir verloren einmal zwei auf einer Insel. Ich mußte eine große Bootexpedition acht Meilen weit durch Eis und Wasser zu ihrer Aufsuchung ausschicken. Sie wurden endlich fett und frech über einem todten Narwhal gefunden, aber nur einer konnte nach stundenlangem Bemühen eingefangen werden.“

Diese Arbeit und Gefahr um einen Hund läßt sich nur erklären, wenn man erfährt, was diese Thiere leisteten.

„Ich hatte sowohl Eskimohunde als Neufundländer. Von letzteren zehn, alle sorgfältig dressirt auf bloße Stimme beim Ziehen. Ich übte sie vor einem Schlitten, je zwei nebeneinander. Sechs bilden eine mächtige Locomotivkraft für größere Ausflüge; doch zogen auch vier mich und meine Instrumente mit der größten Leichtigkeit. Mein Schlitten, genannt „Little Willie“ war ein Kunstwerk ganz für seinen Zweck ausstudirt und mit der Sorgfalt feiner Tischlerarbeit aus dem trockensten amerikanischen Kernahorn gemacht. Die Krümmung der Kufen war mit Rücksicht auf die möglichst geringe Reibung, Kraft und Leichtigkeit durch Versuche bestimmt worden, mit polirtem Stahl beschlagen und durch Kupferklammern befestigt, die nach Belieben erneuert werden konnten. Alle andern Theile bestanden aus Holz, zusammengebunden mit Seehundsfellriemen, so daß er sich leicht allen Unebenheiten und Zacken und Kanten des Bodens anschmiegte und den heftigsten Stößen widerstand. Er hielt alle Strapazen aus und bewährte sich als das leichteste und bequemste Mittel, auf jenem Boden rasch vorwärts zu kommen. Die stärkeren Eskimohunde blieben für die großen Aufsuchungsreisen und den heldenmüthigen Zug über eine 1300 Meilen lange Wüste von Eis und Wasser vorbehalten. Die härtesten Erfahrungen haben ihnen den unschätzbarsten Werth in meinen Augen gegeben. Damals hatte ich noch keine Ahnung von ihrer Kraft und Schnelligkeit, ihrer geduldigen, ausdauernden Tapferkeit, ihrem Scharfsinn, womit sie sich zwischen eisigen Morästen, auf welchen sie geboren und groß geworden, zurecht- und aus ihnen herausfanden.“

Die ganze Expedition bestand aus achtzehn Amerikanern, zwei Eskimo’s und mehr als fünfzig Hunden. Für die Gefräßigkeit Letzterer war durchaus nicht gesorgt, so daß man öfter blos ihretwegen auf die Jagd gehen mußte, z. B. auf die Walroßjagd.

„Wir sahen wenigstens fünfzig dieser schwärzlichen Ungeheuer im Sunde herumwirthschaften und näherten uns öfter bis auf zwanzig Schritt. Aber die Kugeln aus unsern Rifles prallten von ihren Pelzen ab wie Korkkügelchen von einer Knallbüchsenscheibe, und bis zum Harpuniren ließen sie es nicht kommen, so daß wir ohne Beute abziehen mußten. Später jedoch entdeckte Jemand den Kadaver eines Narwhals oder Seeeinhorns, der uns wenigstens sechshundert Pfund Fleisch lieferte. Er war vierzehn Fuß lang und sein Rüssel oder Horn von der Spitze bis zur hornigen Hülle vier Fuß, kaum halb so groß, als das herrliche Exemplar, welches ich von meiner ersten Expedition mitbrachte und der Akademie der Naturwissenschaften übergab. Wir bauten ein Feuer auf dem Felsen zurecht und schmolzen Dessen Speck aus, der uns reichlich zwei Fässer Thran lieferte.“

Ein anderes seltenes, noch arktischeres Geschöpf als das Rennthier, ist der Moschusochse, den man nördlicher findet, als jedes andere vierfüßige Thier, aber ungeheuer selten. Wir sprechen von ihm vielleicht ein ander Mal und von dem merkwürdigen, an ihn sich knüpfenden Schlusse, daß Grönland und Amerika zu Lande zusammenhängen. Die interessanteste und dramatischste Jagd ist die gegen den Polarbär. Man braucht etwas Kourage und Geschicklichkeit, aber auch darauf dressirte Hunde dazu.

Letztere sind sorgfältig darauf abgerichtet, sich mit dem Bäre selbst nicht einzulassen, sondern ihn blos zu beschäftigen und aufzuhalten, bis die Jäger, von andern Hunden über Eis und Schnee stiebend herangezogen, ihn angreifen. Während ein Hund den Bären vorn beschäftigt, attackirt ihn ein anderer vom Rücken her, wobei jeder sich bemüht den andern zu schützen, so daß selten einer ernsthaft verletzt wird oder ihnen die Aufhaltung des Bären mißlänge. Sobald ein Bär ausgewittert ist, vielleicht am Fuße eines Eisberges, untersucht der fabelhaft scharfe Eskimo dessen Spur und findet darin nicht blos die Richtung, welche der Bär genommen, sondern auch dessen Alter und die Schnelligkeit heraus, womit er lief. Die Hunde vor dem Schlitten werden nun auf die Spur geführt und ihnen das Zeichen zum Abmarsche gegeben. Schweigend fliegen sie über das Eis, bis sie um eine Kante des Berges kommen und den Feind vor sich sehen, der noch mit ruhigem Schritte seinen Weg dahin stahkt, aber doch sofort voll Verdacht in die Luft hineinschnüffelt. Die Hunde springen heran mit einem wilden, wölfischen Geheul, ihr Kutscher schreit: Nannook! Nannook! und Alles ist äußerste Spannung in jeder Muskel. Der Bär setzt sich jetzt auf seine Hinterkeulen, sieht sich seine Feinde an, findet diese zu überlegen und reißt aus im vollsten Galopp. Der Jäger macht im vollsten Jagen die zwei vordersten Hunde los, die nun befreit, den Bär sofort in die Mitte nehmen. Die andern Hunde folgen, trotz ihrer größeren Last, mit der größten Leichtigkeit. Der Bär, die doppelte nahe und die sich nähernde Gefahr beherzigend, merkt jetzt seine Gefahr und sucht eine schützende Stätte auf einem Eisberge zu finden, woran ihn die beiden vordersten Angreifer zu verhindern wissen, bis der oder die Jäger nahe genug sind. Jetzt werden alle Hunde losgelassen. Der Jäger ergreift fest seinen Speer und rücksichtslos über Schnee und Eis stolpernd, schreitet er zum Angriff. Von zwei Jägern wird der Bär leicht überwunden. Der eine macht eine Finte und thut, als wollt’ er ihn in die rechte Flanke stechen, was der Bär durch grimmige Wendung gegen den Angriff zu verhindern sucht. Dies macht sich der andere zu Nutze und bohrt ihm den Speer in die linke Seite. Aber auch ein Einziger bedenkt sich nicht lange. Mit festgegriffener Lanze, die vielleicht nur eine roh gehauene Knochenspitze hat, reizt er den Bär, ihn zu verfolgen, indem er ihm quer in den Weg läuft und thut, als wollt’ er vor ihm fliehen. Aber kaum hat sich der Bär zur Verfolgung gestreckt, wendet sich der Jäger mit raschen Sprüngen um und stößt ihm, ehe dieser seine ungeschickte Körpermasse aus dem einmal eingelegten Schusse bringen kann, die Lanze in die linke Seite unterm Schulterblatte und zwar nicht selten so tief, daß er diese im Stiche lassen und für sein Leben fliehen muß. Aber auch dann wird der Bär noch geliefert, falls dem entwaffneten Sieger geschickte Hunde zu Gebote stehen.

Die Eskimo’s der Etah-Bucht tragen freilich manche Wunde aus diesen Kämpfen davon. Bei ihnen ist der Bär wilder und grimmiger, als in den südlicheren Gegenden. Auch braucht er seine Zähne häufiger, als bisherige Schriftsteller über diesen Gegenstand hervorheben.

In den Gegenden der Reusselaer Bucht, wo unsere Helden einundzwanzig Monate lang eingefroren und abgeschnitten von jedem Hauche der Lebenswärme und der „Gesellschaft“ logirten, ist der [700] Bär eben so grimmig, so daß er ihnen manchmal das Leben selbst unter diesem Breitengrade warm machte und ihnen die „Gesellschaft“ ersetzte. Natürlich ließe sich noch vieles Merkwürdige aus den zwei Bänden voller Abenteur und Heldenmuth mittheilen, wir schließen deshalb auch ohne Schluß, insofern wir hoffen, noch eine anderweitige Blüthenlese daraus zu sammeln und zu bieten.




Blätter und Blüthen.

Schriftstellerloos. Mit wie schweren Sorgen oft der Dichter sein trocknes Brot ißt; wie er mit dem Elende, das riesig sich erhebt, den ungleichen Kampf kämpft, bis ihm das Herz bricht; Wenige wissen es. Erst in der neueren Zeit ist der Schleier hier und da gehoben worden. Wer kümmert sich um Den, dessen Geistesschöpfungen erfreuen, erheben? Man liest sie. Die Neugierde tritt einmal zu ihm heran und begafft ihn, aber die Liebe, die Dankbarkeit fragt nicht: warum ist dein Auge trübe, deine Stirne gefaltet? Am wenigsten ist eine rettende, erhebende, helfende Hand da. Und die Reichen und Hochgestellten? Nun, sie lassen sich die Dichtungen vorlesen, diniren, halten Jagden, Feste – und der Dichter hungert. Ist nicht der Dichter Friedrichsen vor dreißig und etlichen Jahren in der Metropole der Geistesbildung Hungers gestorben?

Auf ein ähnliches Lebensbild möchte ich die Blicke richten, wenn es auch weit hinter unseren Tagen liegt. Pendants fehlen auch in dieser Zeit nicht.

Louis von Boissy war unter der Regierung Ludwig’s XV. von Frankreich einer der begabtesten und beliebtesten Lustspieldichter in Paris. Seine Texte zu komischen Opern wurden mit Lob überhäuft, füllten die Theater – aber ihm brachten sie kaum soviel ein, daß er leben konnte. Vermögen hatte er nicht, aber eine theuere Familie, ein geliebtes Weib, ein herziges Kind. Er arbeitete Tag und Nacht, aber er sank, bei geringem Ehrensolde, in immer tiefere Armuth. Weder Theaterdirektoren noch Komponisten achteten darauf; noch weniger die Buchhändler; am allerwenigsten das Publikum, das er ergötzte und erfreute. Zu Amt und Würden führten nur zwei Wege: entweder man mußte es erkaufen – dazu fehlte Boissy das Geld – ober man mußte zu Füßen eines Höflings von Einfluß oder gar der regierenden Maitresse kriechen – dazu war der edle Boissy zu stolz. Da blieb nur eins – arbeiten und hungern, und das war in reichlichem Maße sein Loos. Er war zu stolz, zu betteln. Nun, Einer oder der Andere hätte vielleicht ein gnädiges Almosen gegeben, aber das mochte Boissy nicht. So blieb auch den wenigen Bessern seine wahre Lebenslage verborgen. Allmälig wuchs das Maß des Elendes ihn, über den Köpf. Verzweiflung ergriff ihn. Der Gedanke, durch den Tod seinem Jammer ein Ende zu machen, erfüllte ihn anfänglich mit Schauder und Entsetzen; aber mit dem Uebermaße seines Elendes schwand auch das zuletzt und er sah im Tode nur den Erretter, den letzten, besten Freund, der allein Wort hält. So weit war es mit dem Armen gekommen, und die ihm helfen konnten, lebten herrlich und in Freuden, und doch – die Brosamen von ihren Tischen hätten ihn glücklich gemacht – Niemand gab sie ihm! – Vor seiner ihn zärtlich liebenden Gattin hatte er kein Geheimniß, sie keins vor ihm. Sie war den elenden Daseins eben so müde, wie er. Mit ihm sterben zu können, erhob sie; nur das theure Kind? – Aber welch’ ein Loos stand ihm bevor? – Sie schauderten. Es war ein fünfjähriger hoffnungsvoller Knabe. War's nicht besser, wenn er mit ihnen hinüberging, dahin, wo die Jammertage des Lebens enden und das arme Herz Frieden findet, den es hier nie findet? Unter maßlosem Elende reifte der Entschluß, Hungers zu sterben. Das war ja das Leichteste und Wohlfeilste. Der Tod auf diesem Wege war ja nur die Meisterschaft, zu der sie tägliche Uebung befähigte. So weit führte die unglücklichen Menschen der Wahnsinn des Elendes.

Sie bewohnten ein Dachstübchen, das allein, abgeschlossen lag. Sie verschlossen denn lebensmüde, todesmuthig ihre Thüre. Wenn Jemand klopfte, schwiegen sie. Der Knabe, der das Bedürfniß der Natur nicht mit wahnsinnigen Ideen beherrschen konnte, jammerte nach Brot, aber es gelang, ihn zu beruhigen. So war es bis zum Morgen des dritten Tages. Das Ziel war bald errungen; es war nahe.

Boissy hatte einen redlichen Freund, der mehrmals kam und vergeblich pochte. Er glaubte, die Familie sei ausgegangen, aber der Portier des Gebäudes versicherte entschieden das Gegentheil. Den Freund überkam eine unbeschreibliche Angst. Als er am Morgen des dritten Tages zitternd wiederkam und heftiger pochte, da meinte er, er höre ein leisen Wimmern. – Er hatte, recht gehört, es war die Stimme des verschmachtenden Kindes. Jetzt rief er in Todesangst Hülfe herbei, sprengte die Thüre und stand erstarrend da – denn Boissy, seine Gattin und das Kind lagen bleich, entstellt, keines Tones fähig da; sie hielten sich fest umschlungen. Das wimmernde Kind konnte noch seine Aermchen ausrecken und den Laut hinhauchen. Der Freund legte sein Ohr an seine Lippe und: „Brot!“ vernahm er mit furchtbarem Entsetzen! – Gatte und Gattin waren schon im Hinsterben. Sie hatten länger gehungert, als das Kind.

Sie glaubten schon das Schwerste überstanden zu haben, als man sie wieder in das arme Leben zurückrufen wollte. Darum widerstanden sie hartnäckig allen rettenden Versuchen, die ihnen dargeboten wurden. Endlich nahm der Freund das Kind aus ihren Armen; das weckte die Liebe, die im Elternherzen allmächtig ist. Das Kind war durch die gewonnene Nahrung neu belebt. Es rief die theuern Namen; es schmeichelte der Eltern Wangen mit seinem Händchen, weinend, flehend. Das wirkte. Sie versuchten, sich auszurichten; sie nahmen die vorsichtig gebotene, kräftige Nahrung. Sie erwachten endlich zum klaren Bewußtsein und Leben.

„Ach, warum ließest Du uns nicht sterben? Wir wollten es ja, um dem Elende zu entgehen!“ flüsterte Boissy in des Freundes Ohr. Der aber verließ sie nicht mehr. Er that Alles, was in seinen Kräften stand, bis sie gerettet waren.

Er selbst, der treue Freund, machte das Ereigniß in Paris bekannt. Es war der Gegenstand in allen Gesellschaften, in allen Kaffeehäusern, an allen Theetischen. Auch am Hofe redete man davon; aber Niemand dachte daran, die Unglücklichen dauernd ihrem Elende zu entheben. Nur Einer hatte ein Herz unter diesen Schranzen, es war der edle Graf von Termin. Er schilderte der Frau von Pompadour die Lage dieser Familie mit so glühenden, brennenden Farben, daß sie erschüttert wurde. Sie legte in des Grafen Hand ein reiches Geldgeschenk, und bewirkte durch ihren mächtigen Arm, daß Boissy ein Amt erhielt, von dessen Einkünften er nun gemächlich leben und sein Kind erziehen konnte. Aber bis zur Schwelle des Hungertodes ließ man den Dichter kommen, ehe man ihm ein Loos bereitete, das ihn vor Aehnlichem beschützte! – Tout, comme chez nous! möchte man ausrufen.





Der alte Jahn konnte durchaus nicht leiden, daß man ihm schmeichelte, ja er konnte dann sogar grob werden. Nachstehender Vorfall gibt dafür den Beleg. Im Jahre 1838 oder 39 ersuchte mich ein Universitätsgenosse, Namens - jan, mit dem ich zufällig durch Freiburg kam, ihn doch beim alten Jahn einzuführen. Nach kurzer Begrüßung und Vorstellung wollte mein Freund etwas Angenehmen sagen: „Ich bin glücklich,“ begann er freilich etwas ungeschickt und fade, „daß mein Name wie der Ihrige endet.“ Rasch fiel ihm Jahn in’s Wort und sagte: „Ach, darauf brauchen Sie sich nichts einzubilden, umsoweniger, als Ihr Name mit den Worten Grobian, Schlendrian und Dummrian noch viel mehr Verwandtschaft hat, als mit meinem Namen.“



Briefwechsel.

Z. Z. in Breslau. Unsere Manuscriptretournirung wird unter der angezeigten Ziffer auf der Post nicht angenommen, bitten also um andere Disposition.

An verschiedene Dichter und Dichterinnen. Bereits mehrere Male haben wir im Briefkasten erklärt, daß wir uns mit Rücksendung von Gedichtmanuscripten nicht befassen können und bitten deshalb wiederholt, uns mit allen derartigen Reklamationen zu verschonen.

H. in G. Wir hoffen, Ihnen nächstens über die betreffende Frage genügende Antwort geben zu können, ersuchen aber den mehrmals erinnerten Artikel nun baldigst zu liefern.

S. in L. Sie sind im Irrthum, wir werden nichts dagegen thun. Das Ganze trägt schon von vornherein den Todeskeim in sich und ist in Allem so ungeschickt angefaßt, daß es unbeachtet vorübergehen muß. Uebrigens gönnen wir Jedem seine Bahn.



Nicht zu übersehen!


Mit der nächsten Nummer schließt das 4. Quartal und der Jahrgang 1858 und ersuchen wir die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen für das nächste Jahr schleunigst aufgeben zu wollen.

Für diejenigen Abonnenten, welche sich die Gartenlaube einbinden lassen, bemerken wir, daß durch uns auch zum Jahrgang 1856

höchst geschmackvolle Decken mit Golddruck

nach eigends dazu angefertigter Zeichnung zu beziehen sind. Alle Buchhandlungen sind in den Stand gesetzt, dieselben zu dem billigen Preise von 13 Ngr. zu liefern. – Zu den Jahrgängen 1854 und 1855 stehen ebenfalls Decken zu dem gleichen Preise zur Verfügung.

Die Verlagshandlung.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.


  1. Er ließ sich von einem überhängenden Felsen mit einem Seile 100 Fuß tief in den Krater des Vulcans Zall hinab, drang dann noch 600 Fuß tiefer in denselben hinein, und durchforschte diese furchtbare Unterwelt so genau, daß er, obwohl bewußtlos herausgezogen, nachher eine klare Skizze von der Gestaltung derselben entwerfen konnte. Solcher tollkühnen Wagnisse im Interesse der Wissenschaft ist sein buntes Leben überhaupt ziemlich voll.
  2. Beide amerikanische Expeditionen zur Aufsuchung Franklin’s gingen aus der Anregung und aus den Mitteln eines Privatmannes, Grinnell, hervor, welche die Regierung und andere reiche Amerikaner, eben so Dr. Kane aus eigenen Mitteln unterstützten. Die Schilderung dieser zweiten Expedition von Dr. Kane ist zugleich in typographischer, artistischer und buchhändlerischer Beziehung eins der glänzendsten Unternehmungen. Das Publikum subscribirte auf 30000, der Congreß auf 15000 Exemplaxe.