Die Gartenlaube (1857)/Heft 2

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1857
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 2. 1857.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0 Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Verfehltes Leben.

Nach wirklichen Erlebnissen vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“
(Fortsetzung.)

„Liebe Therese,“ sagte die Kranke mit einer klaren, milden, freundlichen Stimme, „geben Sie mir Ihre Hand.“

Sie war zu schwach der Freundin die Hand hin zu reichen. Das Mädchen nahm dieselbe sanft, doch sah man zugleich Verwunderung, Freude und Zweifel in ihrem Auge gemischt leuchten.

„Ihre Hand ist warm,“ erwiederte sie, „und Sie sind auch seit einer Viertelstunde so ruhig geworden.“

„Ja, meine Liebe,“ lispelte die Kranke. „Meine Hand ist wieder warm und meine Brust frei. Sie verlassen mich doch nicht? Es ist nur noch eine Viertelstunde.“

„O mein Gott, liebe, theure Marie!“

„Es ist der Tod, der sich mir nahet; ich fühle ihn. Es ist mir so leicht, so frei. Nicht wahr, Sie verlassen mich nicht?“

„Wie könnte ich –?“

„Ich möchte nicht gern so ganz allein sterben. Der liebe Gott wird es Ihnen lohnen, daß Sie bei mir ausharren. Einst –. Aber weinen Sie nicht, Therese, sein Sie freundlich. Ich möchte in dem letzten Augenblicke die schöne Welt so recht schön und freundlich sehen. So, trocknen Sie die Thränen; und nun, wie ist der Himmel draußen?“

„Die Sonne scheint.“

„Und ist die Luft warm?“

„Ungewöhnlich warm heute.“

„Das ist schön, dann sind Sie wohl so freundlich, den Vorhang von dem Fenster zu ziehen.“

Die Freundin stand auf und befreite das Fenster von dem Vorhange. Der blaue Himmel leuchtete, die Sonne schien hell und freundlich in das Zimmer hinein. Draußen unter dem Fenster befand sich ein Aprikosenstock, ein Zweig mit den rothen Blüthen sah durch dasselbe. Die Augen der Kranken wurden glänzender, und die feine Röthe ihres Gesichts lebhafter.

„Die Luft draußen ist warm, sagten Sie, liebe Therese?“

„Sehr schön warm.“

„O, dann öffnen Sie auch das Fenster, damit ich noch einmal die frische, freie Frühlingsluft einathmen kann, den süßen Duft jener Blüthen!“

Die Freundin sah unentschlossen bald auf das Fenster, bald auf die Kranke. Die Kranke bemerkte es.

„Oeffnen Sie nur, Therese, es wird mir nicht mehr schaden.“

Die Freundin öffnete das Fenster. Der blaue Himmel glänzte heller in das Stübchen, die Sonne schien wärmer hinein, die Blüthen des Aprikosenstockes sandten ihren süßesten Duft. Das Aeußere der Kranken belebte sich mehr und mehr; schneller und schneller trat der Tod heran. Ihr Inneres schien in demselben Verhältnisse klarer und ruhiger zu werden; sie ließ voll in ihre Brust die freie, frische Frühlingsluft, den süßen Duft der Blüthen einziehen. Dann fuhr sie mit ihrer freundlichen milden Stimme zu der Freundin fort:

„Falten Sie mir die Hände, Therese; ich will mein letztes Gebet verrichten. Aber weinen Sie nicht, meine Freundin.“

Die Freundin konnte die Thränen kaum noch zurückhalten, die gewaltsam hervordringen wollten, aber nur unter Zittern konnte sie die Hände der Sterbenden falten. Die Sterbende betete still, und die Freundin mit ihr. Das Gebet war beendet.

„Und nun, meine liebe Freundin, meine letzte Bitte an Sie. Oeffnen Sie meinen Koffer dort. Rechts in ihm werden Sie ein kleines Mahagonikästchen finden. Der Schlüssel steckt darin. Schließen Sie es auf. Ganz oben liegt ein Brief, den nehmen Sie und setzen sich damit dicht an das Bett, recht dicht zu mir, und lesen ihn mir vor. Während des Vorlesens werde ich einschlafen, mit dem Gedanken an ihn, bis zur Wiedervereinigung mit ihm. O, drüben gibt es ja keine Zeit!“

In einer Ecke des Stübchens stand ein Reisekoffer, den die Freundin öffnete. Sie fand das Kästchen und schloß es auf. Es lagen nur Briefe darin. Den obersten nahm sie heraus und setzte sich damit an das Bette der Sterbenden, dicht vor diese.

Mit der Kranken war unterdeß eine Veränderung vorgegangen. Aus ihrem Gesichte war plötzlich alle Röthe gewichen; die Leichenfarbe lag darauf, aber eine außerordentlich weiße, klare, durchsichtige. Die Augen waren größer geworden, fast geisterhaft groß; ihr Glanz war noch da, aber er schien ein völlig überirdischer zu sein. Der Tod stand an dem Bette. Nur noch wenige Minuten, und er hatte hier sein Werk vollbracht.

Die Freundin entfaltete den Brief und las:

„Meine liebe Marie! Wie vielen Schmerz und wie viele Freude hat mir Dein Brief gebracht. Ich habe mich lange sammeln müssen, ehe ich Dir antworten kann. Ich mußte es auch, als ich Deinen Brief erhielt, als ich Deine theuern Schriftzüge in meinen Händen hatte, zum ersten Male wieder seit Jahren. Du lebtest noch, das war gewiß. Du liebtest mich noch, auch das war gewiß, denn Du lebtest ja. Aber gehörtest Du noch mir? Warst Du noch mein? Du warst es, Du bist es. Du bist es geblieben in allen Deinen Drangsalen, in allen Deinen Leiden. Und wieviel, wie schwer hast Du gelitten! Mit welcher Geduld, mit welcher Ergebung, mit welcher wahren Seelengröße! Wie [18] selbstsüchtig war ich dagegen gewesen! Fern in dem fremden Norden, flüchtig, ohne Freund, getrennt von allen meinen Lieben, ohne Nachricht von ihnen, und sie ohne Nachricht von mir, meine theure, ehrwürdige Mutter und Du, meine über Alles geliebte Marie! Mein braver König im Exil mit zerrissener Krone; die edle Königin mit dem zerrissenen Herzen, wie bald wird es, muß es völlig brechen. Mein Vaterland –. Aber kann auch nicht dieser Brief in fremde Hände fallen, wie die anderen? Ich hatte gemeint, meine Leiden, mein Schmerz müsse weit Alles übertreffen, was das Schicksal Schweres über Euch verhängen könne. Wie selbstsüchtig war ich! Wie unendlich größer, tiefer, schwerer war Dein Leiden, Du Engelgute!

„Möge es sein Ende gefunden haben, möge nur Glück und Freude für Dich blühen! Wir Alle hier kennen keinen anderen Gedanken, ich, meine Mutter, die gute Emma. Wie freuen sie sich, Dich kennen zu lernen, Dich mit mir in ihre Arme zu schließen, Dich mit mir zu lieben!

„Du kommst, Du willst den weiten Weg allein machen, Du willst mich keiner Gefahr aussetzen, die mich, den Confinirten, nothwendig treffen müsse, wenn ich Dich abholen wollte. Dir drohe in der gegenwärtigen ruhigern Zeit keine erdenkliche Gefahr. Ich habe mit meinen Lieben hier Alles überlegt; Du hast Recht. Ich könnte es vielleicht wagen. Dir entgegenzukommen, aber wenn ich entdeckt würde, so wäre mein Loos das Innere von Frankreich, vielleicht gar Cayenne, immer eine neue, langjährige, wahrscheinlich gar immerwährende Trennung von Dir. Du hast Recht; es wäre Vermessenheit, so viel, Alles, auf das Spiel zu setzen. So mußt Du denn allein kommen; und, o, meine liebe Marie, komm’ nur recht bald. Die Bäume knospen schon, die Luft ist schon warm und mild geworden; der Frühling kommt so schön heran. Mit seinem ersten sanften Wehen, mit seinem ersten fröhlichen Lauten ziehst Du bei uns ein.

„So schreibst Du auch, Du willst Deine Reise antreten, sobald Du diesen Brief erhältst. Thue das, aber reise vorsichtig; bewahre Deine theure Gesundheit. Ich meine ohnehin immer, es sei nicht Alles, wie es sein müsse, Du seiest nicht ganz so wohl, wie Du schreibst. Deine Schriftzüge sind so klar und fest wie je; dennoch, wenn ich sie betrachte, ist es mir, als rufe jeder Buchstabe mir zu: mich hat eine leidende Hand, ein bleiches Bild geschrieben. Und wäre es ein Wunder, wenn es anders wäre, nach allen Deinen Leiden, bei Deinem zarten Körper? O, laß recht, recht bald Dein schönes, frisches, blühendes Bild die Buchstaben und alle meine schwarzen Ahnungen Lügen strafen!

„Deine Reiseroute kennst Du. Bis Holzminden fährst Du mit der Post, welche des Nachts dort ankommt. Von heute über vierzehn Tage an – früher ist Dein Eintreffen nicht möglich – wird in dem dortigen Gasthofe fortwährend ein Zimmer für Dich bereit sein. Du wirst die Nacht dort ausruhen, ein Bote wird sogleich nach Deiner Ankunft hierher zum Gute abgehen, und am andern Morgen wird der Wagen bei Dir sein, Dich abzuholen. Wenn es Dir möglich ist, so sendest Du mir vor Deiner Abreise noch ein paar Zeilen.

„Und nun, meine liebe, meine theure, meine einzig geliebte Marie, lebe wohl. Lebe wohl, und möge der Himmel Dich behüten bis zu unserem baldigen, glücklichen Wiedersehen. Wiedersehen nach so langer, bitterer, schmerzvoller Trennung! Ich kann Dir nicht sagen, wie mir das Herz schlägt bei dem Gedanken des Wiedersehens. Gott im Himmel, behüte meine theure Marie, führe sie glücklich in meine Arme. Ich habe keinen andern Gedanken, kein anderes Gebet mehr. Lebe wohl bis zum Wiedersehen! Meine gute Mutter fügt noch einige Zeilen bei. Lebe wohl. Dein, ewig Dein Hermann.“

„Ewig,“ lispelten leise die Lippen der Sterbenden.

Sie hatte während des Lesens die Augen geschlossen, und dann ohne Bewegung gelegen. So hatte sie zugehört; oder hatte sie nicht mehr zugehört? Las die Freundin den Brief einer Leiche vor? Die geschlossenen Augen, das unbeweglich stille Gesicht, die halb geöffneten Lippen, die schneeweiße Wachsfarbe des Todes, die auf der Brust gefalteten Hände, Alles kündigte eine Leiche an.

„Ewig,“ lispelten die Lippen. Sie lebte noch.

„Lese ich auch das Andere?“ fragte die Freundin.

Die Sterbende wollte eine bejahende Bewegung machen. Sie war zu schwach. Die Freundin glaubte, die Lippen ein leises Ja lispeln zu hören und las weiter:

„Meine herzlich geliebte Tochter! Ich muß die Zeilen meines Hermann mit einigen Worten an seinen Engel begleiten. –“

Die Leserin mußte einhalten; draußen wurde leise an die Thür gepocht. Sie stand auf, um nachzusehen, wer da sei. Vorher warf sie einen Blick auf die Kranke; diese lag unverändert ruhig. Die Freundin öffnete fast unhörbar die Thür, trat hinaus, und zog sie eben so leise hinter sich zu.

Nach etwa einer halben Minute kehrte sie mit einem besorgten, ängstlichen, beinahe erschrockenen Gesichte zurück. Ihr erster Blick fiel wieder auf die Kranke. Diese lag noch völlig so, wie sie sie verlassen hatte. Aber lebte sie noch? Die Freundin beugte sich über sie, um sich zu überzeugen. Sie fühlte den noch eben bemerkbaren Hauch der sterbenden Lippen, und wurde ängstlicher. Sie kämpfte mit einem schweren Entschlusse. Ihr Auge ruhete traurig, mitleidig auf der Sterbenden. Sollte sie diese Ruhe stören, die Todesruhe, die letzten Augenblicke der so sanft, so selig hinüber Scheidenden? Und doch mußte sie es, und zwar sogleich. Es waren ja nur noch wenige Augenblicke ihr zugemessen.

„Liebe Marie,“ sagte sie sanft.

Die Kranke bewegte leise die Lippen, wie zum Zeichen, daß sie zuhöre.

„So eben,“ fuhr die Freundin fort, „ist hier eine Dame eingetroffen, die Sie kennt. Sie steht vor der Thür; darf sie eintreten?“

Die Kranke suchte eine Bewegung zu machen; ihre Anstrengung war vergebens.

„Die Fremde steht Ihnen nahe,“ sprach die Freundin vorsichtig weiter. „Sie wünscht so sehr, Sie zu sehen, und bittet dringend darum. Sie ist, so sagt sie, Ihre Schwester Antoinette.“

Die Sterbende riß wild die Augen auf; die gefalteten Hände fuhren auseinander.

Welche Kraft hat das starke Gefühl des Herzens! Es überwältigt selbst den Tod, es treibt ihn zurück, wenn auch nur auf wenige, kurze Momente. Oder trat er mitleidig, barmherzig zurück vor dem innigen, tiefen Herzensgefühle? Der Tod mitleidig, barmherzig? wie oft ist er es, und wie freundlich!

Die Sterbende starrte mit den großen, schon zum Tode geschlossenen Augen die Freundin wild, verwirrt an. Sie wollte sich aufrichten, aber dazu reichte die wiedergewonnene Kraft nicht aus. Sie konnte nur sprechen, wenngleich sehr schwach.

„Antoinette!“ sagte sie, und wie sie das Wort aussprach, nahm der wilde, verwirrende Blick ihres Auges den Ausdruck des Schreckes, beinahe des Entsetzens an. Allein schnell wurde er wieder milder, ruhiger. „Sie komme,“ sagte sie.

Die Freundin öffnete langsam, leise die Thür.

„Treten Sie ein,“ flüsterte sie hinaus, „aber sein Sie ruhig, ich beschwöre Sie.“

Die Fremde trat ein. Die Sterbende hörte sie, wandte das Auge nach ihr und sah sie.

Das Auge hatte seinen überirdischen, verklärten, seligen Glanz wiedergewonnen. Einen Augenblick lang, sls es die Fremde sah, kehrte der Ausdruck irdischen Schmerzes, hinein, dann aber war es wieder verklärt, selig. So ruhete es auf der Fremden. Diese hatte sich zusammengenommen. Es mußte dazu großer Kraft bedurft haben, gegenüber der Leidenschaftlichkeit dieser Frau. Sie hatte diese Kraft, aber ihre Thränen hatte sie nicht zurückhalten können. Mit diesen beugte sie sich sanft über die Kranke, und drückte einen weichen Kuß auf die beinahe schon erkalteten, von den erneuten Schlägen des Herzens noch einmal schwach erwärmten Lippen.

Es war ein sonderbarer Anblick, diese beiden Schwestern, die sich so plötzlich, so unerwartet trafen, an dem Todesbette der Einen, die sich, vielleicht nach vieljähriger Trennung, wiederfanden, um sofort für immer wieder von einander gerissen zu werden. Die Form, alle Züge des Gesichtes, einander zum Verwechseln ähnlich, nicht blos ähnlich, ununterscheidbar gleich, dieselben. Und doch, wie unähnlich, wie verschieden waren sie! Vielleicht nicht blos in diesem Augenblicke, vielleicht schon immer! Auch die Eingetretene, Antoinette, war blaß und abgemagert; auch ihre großen, schwarzen Augen hatten einen kranken, müden Blick. Aber hatte die Haut ihres Gesichtes je so wunderbar fein, klar und durchsichtig sein können, wie die der Sterbenden? Waren diese Augen jemals jener überirdischen, seligen Verklärung fähig gewesen? Hatte jemals das ganze Gesicht so unendlich still, erhaben, edel sein können? Nein! [19] sprach entschieden auch das mildeste Urtheil, und es dachte unwillkürlich an ein unbändiges Herz, an wilde Begierden, an ein wildes Leben.

„Meine arme, arme Marie!“ sagte mit dem Tone des innigsten, aber gewaltsam zurückgehaltenen Schmerzes die eingetretene Schwester.

„Antoinette, Du bist es?“ hauchte die Sterbende mit Milde und mit Liebe.

Die Milde und die Liebe zerrissen das Herz der Schwester, zerbrachen alle die mühsam errungene Kraft. Sie fiel vor dem Bette auf die Knie, ergriff die Hand der Sterbenden, und drückte sie leidenschaftlich an ihre Lippen.

„O, meine Marie, meine Marie, und Du liebst mich noch! Du kannst mich noch lieben! Du hast nicht –“

„O, Madame, was haben Sie versprochen,“ ermahnte die Freundin.

Die Schwester nahm sich von Neuem zusammen; sie lächelte ruhiger, mit dem Ausdrucke des innigsten Dankes, der Sterbenden zu. Die Sterbende sah sie verklärter, seliger an.

Im Himmel, sagt die Bibel, ist mehr Freude über einen Sünder, der Buße thut, denn über neunundneunzig Gerechte.

Als wollte es diese Freude des Himmels aussprechen, sah das Auge der Sterbenden vergebend, segnend, glücklich auf die knieende Schwester. Einen Augenblick nachher war es glanzlos, gebrochen. Die Schwester knieete vor einer Leiche.

Man hatte keinen Kampf gesehen, man hatte keinen Laut gehört, nicht einmal einen letzten Seufzer.

Welch’ ein schöner Tod!

Die Freundin drückte das gebrochene Auge zu, und faltete wieder die erkalteten Hände! Sie konnte es diesmal ohne Zittern und ohne Weinen. Aber als es geschehen war, fiel sie in heftigem Schluchzen, in lautem Weinen vor dem Bette nieder. Doch in dem sanften, frommen Mädchen konnte der heftige Ausbruch des Gefühles nicht lange anhalten.

„Lassen Sie uns beten für den Engel,“ sagte sie zu der Schwester. „Es wird auch Sie aufrichten.“

Sie betete, still, wie sie vorhin mit der Todten gebetet halte. Mit ihr betete die Fremde.

Nach einer langen Zeit erhob sich das fromme, besonnene Mädchen.

„Es ist Mancherlei zu besorgen für die Todte,“ sagte sie. „Ich werde es ordnen, wenn Sie es mir überlassen wollen.“

Die Fremde nickte ihr Zustimmung zu.

Bald nachher erhob auch sie sich, küßte noch einmal der Todten die Stirn, die Lippen, die Hände. Sie wurde gefaßter, ruhiger; trocknete ihre Thränen, und konnte mit einem stillen Blicke die Entschlafene betrachten. Dabei fielen ihre Augen auf ein entfaltetes Papier, das auf dem Fußende des Bettes lag. Es war der Brief, den die Freundin der Gestorbenen vorgelesen hatte. Sie warf, wie mechanisch einen Blick hinein. Die Worte, die sie las, erregten ihre Aufmerksamkeit. Sie nahm den Brief auf, las ihn vom Anfange bis zum Ende, mit wachsender Aufmerksamkeit, zuletzt gespannt.

Auf einmal ging sie mit heftigen, beinahe sich überstürzenden Schritten in dem Stübchen umher. Aber wie verändert war sie plötzlich! Wie furchtbar, wie zum Entsetzen verändert! War das die Schwester, die noch vor wenigen Augenblicken auf das Tiefste erschüttert an dem Sterbebette gestanden und dann vernichtet, aufgelöst zusammengebrochen war? Keine Spur mehr von einer Trauer, einem Schmerze. Ein wilder Blitz leuchtete plötzlich in dem dunklen Auge, die Brust keuchte, wie unter einer schweren Bürde, die Lippen warfen sich auf, wie von einem wilden Entschlusse. „Mein Kind – mein Kind,“ rief sie mehrere Male und ihre Schritte wurden hastiger; sie durchrannte die Stube. Mitten im Laufe hielt sie inne. Ein Kampf schien in ihr zu toben. Wollte ein besserer Entschluß jenen wilden zurückdrängen? „Nein, nein,“ rief sie in voller Aufregung, „fort von ihm, der mein Leben, der das meines Kindes vergiftet!“ Sie nahm das Papier wieder auf, das sie auf einen Tisch geworfen hatte, und durchflog es. Der wilde Entschluß hatte den Sieg davon getragen; ihr Auge schoß dunkle feindliche Blicke. Die Blicke trafen die Leiche, die Schwester, die dahingeschiedene Schwester.

Wie unähnlich waren die beiden Schwestern wieder. Jenes stille, selbst von dem Todeskampfe verschonte, selig schlafende, edle Antlitz! Dieses Gesicht, von heftiger Begierde, wilder Leidenschaft, einem furchtbaren Entschlusse entstellt, verzerrt, zerrissen! Sie trat an die Leiche heran, ergriff die kalte Hand und hauchte einen langen, langen Kuß darauf. „Vergib, vergib,“ rief sie leise. Dann warf sie die Augen in dem Zimmer umher und suchte etwas. Auf dem geöffneten Koffer der verstorbenen blieben sie haften. Sie flog zu ihm; sie langte hinein, ihn zu durchwühlen. Ihr Blick fiel auf das Mahagonikästchen. Sie griff danach und sah die Briefe, mit denen es gefüllt war. Sie nahm einige heraus und besah die Aufschrift. Der wilde, feindliche Blick ihres Auges kehrte wilder, feindlicher zurück. Sie zog die sämmtlichen Briefe hervor, setzte sich damit an einen Tisch und entfaltete und las sie, einen nach dem andern, in der Ordnung, in welcher sie gelegen hatten. Sie vertiefte sich in sie immer mehr; sie vergaß alles Andere. Nichts in der Welt schien mehr für sie da zu sein, als die Papiere, die sie verschlang; nicht ihr Reisegefährte, den sie in dringender Gefahr der Verfolgung verlassen hatte; nicht ihr Kind, das bei ihm allein zurückgeblieben, nicht die Schwester, die vor wenigen Minuten verschieden war. Und sie saß so nahe bei der Leiche. Eilig der Stube sich nähernde Schritte störten sie. Sie warf die Briefe in das Kästchen zurück und stellte dasselbe wieder auf seinen Platz in dem Koffer. Die Freundin der Verstorbenen kehrte zurück; sie war eilig, verlegen, verstört.

„Madame, das ist ein schwerer Tag für Sie. Die Gensd’armen verhaften in diesem Augenblicke Ihren Gemahl, wenn der Herr, mit dem Sie gekommen sind, Ihr Gemahl ist.“

Wiederum blitzte es in den Augen der Fremden auf. War es der Blitz plötzlicher Freude! Dann war es der Blitz einer entsetzlichen Freude. Er hielt kaum eine Sekunde an. Nicht Heuchelei verdrängte ihn; es war ein anderes Gefühl, stärker, weil vielleicht unmittelbarer als jene Freude, das sich auf einmal in ihrem Gesichte aussprach.

„Mein Kind!“ rief sie.

Sie stürzte, alles Andere um sich her wieder vergessend, aus der Stube, sie flog zu dem Zimmer, in dem sie ihren Reisegefährten und ihr Kind zurückgelassen hatte. Nur das Kind war noch da. Es schien erst in dem Augenblicke erwacht zu sein, als sie eintrat. Seine schönen Augen leuchteten ihr mit freundlichem Lächeln, seine runden Aermchen streckten sich ihr mit süßem Verlangen entgegen. Sie schloß es in ihre Arme und küßte es.

„Wo ist der Vater?“ fragte das Kind.

Die Frau trat an das Fenster und sah auf die Straße. Dort wurde ihr Reisegefährte von zwei Gensd’armen fortgeführt. Er sah nach dem Fenster zurück, gewahrte sie und warf ihr einen schnellen, sprechenden Blick zu: „Ich verrathe Dich nicht!“

Sie schien sich auf einmal leicht, sehr leicht zu fühlen. „Er ist verloren,“ murmelte sie, „er geht in den Tod!“ Sie schloß das Kind fester in ihre Arme; sie küßte es heißer, inniger.

„Du sollst glücklich werden, meine süße Agnes.“




II.
Die Verlobten.

Der Monat Mai sandte die schönsten Blüthen des Frühlings mit ihrer Farbenpracht und ihrem Dufte in Feld und Flur und Wiese und Wald, also auch in Deutschlands Fluren und Wälder. Aber er fand keine fröhlichen Herzen, und er konnte die Herzen nicht fröhlich stimmen. Ueberall in dem schönen Lande und auf allen Schichten seines braven, herrlichen Volkes lastete der Druck des fremden Despotismus, vielfach niederdrückend, gar lähmend, freilich nirgend erdrückend, tödtend, meistens vielmehr still stärkend die nur augenblicklich geschwächte Kraft, stählend den nie gebrochenen Muth, anfeuernd den nur äußerlich niedergehaltenen Geist, und so vorbereitend jene großen Thaten, durch die nach wenigen Jahren das Volk die fremde Tyrannei von sich abschüttelte.

Etwa anderthalb Meilen von Holzminden, oberhalb dieses Städtchens an der Weser lag in einer malerischen Gegend das Schloß Harthausen. Es lag auf einer mäßigen Anhöhe, mit der Aussicht in eine weite Strecke des Thales, auf die Krümmungen des schönen Stromes oberhalb, und unterhalb und auf die vorspringenden Parthien des Sollingerwaldes. Es war ein Besitzthum der verwittweten Generalin von Rixleben, deren Mann in preußischen Diensten gestanden hatte, aber schon vor längerer Zeit, [20] vor der unglücklichen Katastrophe von 1806, gestorben war. Die Generalin lebte seitdem in diesem Schlosse.

Sie lebte hier sehr zurückgezogen und einsam. Manches trug hierzu bei. Ihr Mann hatte ihr kein anderes Vermögen hinterlassen, als das Gut Harthausen; wie wohl erhalten dieses nun war, so war es doch nur klein und gab geringe Einkünfte. Die Wittwenpension, die die Generalin von der preußischen Regierung bezog, war seit dem unglücklichen Jahre 1806 um die Hälfte heruntergesetzt worden. Andererseits hatte die Generalin nur ein Kind, einen Sohn, den bis vor kurzer Zeit seine Pflicht und das Schicksal stets entfernt von ihr gehalten hatten. So hatte sie auf Schloß Harthausen allein gelebt, blos in Gesellschaft einer Nichte, Emma von Rixleben, einer Tochter ihres verstorbenen Schwagers, der als Rittmeister, gleichfalls in preußischen Diensten, vor mehreren Jahren gestorben war. Sie hatte die Waise schon als kleines Kind zu sich genommen.

Seit einigen Wochen lebte auch ihr Sohn bei ihr. Hermann von Rixleben hatte, wie sein Vater, sich der militairischen Laufbahn gewidmet. Schon in seinem vierzehnten Jahre war er, nach der damaligen militairischen Adelssitte, als Junker in ein Regiment eingetreten. Er hatte sich bald durch Kenntnisse, Diensteifer und vielfältig bewiesenen großen Muth ausgezeichnet. Ein fester, großherziger Charakter hatte ihn überall beliebt gemacht. Im Jahre 1806 befand er sich, erst sechsundzwanzig Jahre alt, bereits mit dem Range eines Stabskapitains in der Generaladjutantur. Nach der Schlacht bei Jena kam er in das Hauptquartier des Königs. Er blieb hier während der Schlachten von Eylau und Friedland. Er zeichnete sich auch in diesen aus, sowohl durch seine militairischen Kenntnisse, wie durch seine kaltblütige Umsicht und eine allgemein bewunderte persönliche Tapferkeit. Der König belohnte ihn durch die Ernennung zum Major und durch Verleihung des Ordens pour le mérite; das letztere bekanntlich eine überhaupt sehr seltene Auszeichnung in der preußischen Armee; das Erstere eine seltene Auszeichnung für einen jungen Mann von kaum achtundzwanzig Jahren. Nach dem Tilsiter Frieden mußte er dem Könige nach Memel folgen. Hier konnte er indeß nicht lange bleiben.

Der junge, lebhafte Offizier, tief ergriffen von dem Unglücke seines Königs und seiner Königin, in deren unmittelbarer Umgebung er lebte, nicht minder grollend über das Elend, in dem sein Vaterland unter der fremden Gewaltherrschaft seufzte, hatte sich öfters ohne Scheu und Hehl über das französische Regiment und den französischen Kaiser insbesondere auf eine Weise ausgesprochen, die allerdings für seine Stellung unvorsichtig war, und die, durch Spione hinterbracht, von dem Kaiser Napoleon als eine staatsverrätherische aufgefaßt wurde. Die Folge war, daß von Seiten Frankreichs an die preußische Regierung das Verlangen gestellt wurde, den Major von Rixleben auszuliefern, damit er vor ein französisches Kriegsgericht gestellt und erschossen werde. Es war das damals so der Gebrauch der Franzosen in Deutschland. Ob es gesetzlich und recht war, darauf kam es dem Stärkeren gegenüber dem Schwächeren nicht an, damals nicht, wie auch später nicht.

Daß er nicht ausgeliefert wurde, verstand sich von selbst. Er flüchtete nach Rußland. Als ein treuer und ausgezeichneter Diener seines Königs fand er dort anfangs eine wohlwollende Aufnahme. Aber der Haß des französischen Kaisers verfolgte ihn bald auch dahin, und die russische Freundschaft mit Preußen war von jeher die politische Freundschaft des Stärkeren gegen den Schwächeren, Freundschaftsdienste stets verlangend, selten erwiedernd, wenn es convenirt, die ganze Freundschaft verleugnend, wenn sie nicht mehr convenirt. Der Major von Rixleben wurde zwar auch von russischer Seite nicht ausgeliefert, aber er wurde desavouirt und seinem Schicksale überlassen. So war er ein verlassener Flüchtling in Rußland.

Dabei lebte er in einer fast völligen Abgeschiedenheit. Eingegrenzt in die Gouvernementsstadt Twer, erhielt er von Allem, was sich in der Welt zutrug, keine andere Kunde, als die ihm russische Zeitungen brachten. Kein Brief gelangte zu ihm. Freilich war auch kein Brief übergekommen, den er absandte. Wohin französische Hände unmittelbar reichen konnten, waren zu damaliger Zeit in allen Postbureaux schwarze Kabinette eingerichtet. Anderswo waren, wo es nur irgend darauf ankam, bestochene französische Spione. Rußland war wahrlich davon nicht ausgenommen. So blieb er in seiner Einsamkeit ohne alle Kunde von den Seinigen in Deutschland, wie diese ohne Kunde von ihm geblieben waren. Erst gegen das Ende des Jahres 1809 war es ihm gelungen, auf Umwegen einen Brief, in dem er seine ganze traurige Lage schilderte, in die Hände Friedrich Wilhelm’s III. gelangen zu lassen. Das Herz des Königs war tief betrübt über das harte Schicksal seines treuen Dieners. Er leitete sofort Schritte ein, es zu mildern. Sie führten zu einem glücklichen Resultate. Im März 1810 durfte der Major von Rixleben aus seiner Verbannung nach Deutschland zurückkehren, freilich unter sehr beschränkenden Bedingungen. Er durfte nicht wieder in den preußischen Dienst treten, nicht einmal die preußischen Staaten berühren, und mußte seinen Aufenthalt auf dem Gute seiner Mutter, Harthausen, nehmen, das er nicht weiter als in einem Umkreise von zwei Meilen verlassen durfte. Die benachbarte Stadt Holzminden war ihm unbedingt verboten.

Er lebte seitdem auf dem Gute der Mutter, aber nur unter der strengsten polizeilichen Aufsicht. Die Regierung des Königreichs Westphalen war, wie eine der humansten, so jedenfalls die urbanste der Napoleonischen Regierungen. Der Herr von Rixleben wurde daher unmittelbar persönlich von der Polizei wenig belästigt. Desto strenger bewachten diese jeden seiner Schritte. Gensd’armen und Polizeiagenten umgaben und umschwärmten das Gut Harthausen, bei Tag und bei Nacht, offen in ihrer Uniform, versteckt unter allerlei Bekleidung. Höhere Beamte von Kassel, die früher von der Generalin von Rixleben und dem Gute Harthausen kaum Notiz genommen hatten, kamen jetzt oft dorthin, freilich nur gelegentlich, auf einer Geschäftsreise verirrt oder von dem schlechten Wetter übereilt, auch wohl um der Frau Generalin ihre Verehrung zu bezeugen, oder unter irgend einem anderen Vorwande. Ueber ihre eigentliche Absicht war Niemand im Zweifel.

Der Herr von Rixleben hatte im Winter von 1806 auf 1807 in Königsberg in Preußen, wo er sich damals im Hauptquartier des Königs aufhielt, die Tochter eines an der dortigen Universität lehrenden Professors kennen gelernt. Maria Andreä zählte damals achtzehn Jahre. Wie durch große Schönheit, so war sie auch ausgezeichnet durch Reichthum und Bildung des Geistes, Sanftmuth des Herzens und Anmuth ihres ganzen Wesens. Die Herzen des liebenswürdigen jungen Mädchens und des gefeierten jungen Offiziers hatten sich bald gefunden. Sie schlugen bald in einer Liebe zusammen, die für dieses Leben nur der Tod lösen konnte. Im Sommer 1807, vor der Schlacht von Friedland, hatten sie sich zum letzten Male gesehen. Der Herr von Rixleben mußte dem Könige nach Tilsit, dann nach Memel folgen und von da kurz nachher nach Rußland flüchten. Bis dahin hatten sie fleißig mit einander korrespondirt. Von da an waren die Briefe gegenseitig nicht mehr übergekommen, nur mit Ausnahme eines einzigen.

Der Professor Andreä war erst seit dem Jahre 1805 in Königsberg; er hatte vorher an der Universität Erlangen gelehrt. Das rauhe, nordische Klima Königsbergs sagte dem schwächlichen Gelehrten nicht zu. Er nahm zu Ostern des Jahres 1808 mit Freuden einen Ruf an die Universität Würzburg an. Das Schreiben, in welchem Marie Andreä diese Nachricht ihrem Verlobten meldete, hatte er noch erhalten. Dies war seine letzte Nachricht von ihr.

Die erste Zeile, die er nach seiner Rückkehr aus Rußland schrieb, war an seine Verlobte nach Würzburg gerichtet. Mit welcher Angst harrte er auf die Antwort. Sie kam, war aber schmerzlich für ihn und doch so beglückend. Die Geliebte lebte und liebte ihn noch. Auch sie hatte eine traurige, mitunter schreckliche Zeit verlebt; ihr Vater war gestorben, ihre Mutter war schon längst todt, ein früher Auszehrungstod hatte sie fortgerafft. Der Vater hatte ihr kein Vermögen hinterlassen; sie stand nach seinem Tode allein und hülflos da, und mußte sich durch Unterricht und weibliche Arbeiten für Andere kümmerlich ernähren. Dabei war sie öfters kränklich. Hatten Leiden, zu sehr angestrengtes Arbeiten und mancherlei Entbehrungen ihren Körper geschwächt oder hatte die Krankheit der Mutter sich auf sie fortgeerbt?

(Fortsetzung folgt.)



 

[21]
Das rutschende Dorf Tschappina.

Das Gebiet der Tschappiner Erdrutsche.

Vor einiger Zeit brachten mehrere Zeitungen folgende Nachricht: „Das Dorf Tschappina ob Thusis ist in Zeit von sechs Jahren mit Boden und den darauf stehenden Gebäulichkeiten eine halbe Stunde weit fortgerutscht und dennoch fortwährend benutzt und bewohnt geblieben.

In dieser Mittheilung sind zwar Wirklichkeit und Uebertreibung so stark gemischt, daß ein mit der eigentlichen Sachlage Vertrauter ungewiß bleibt, ob es sich dabei um Scherz oder Ernst handle, und er beinahe in Versuchung geräth einen berichtigenden Artikel zu schreiben.

Die geehrten Leser sollen jedoch nicht mit einer Polemik behelligt werden, welche eben so trocken als langweilig ausfallen könnte. Dagegen mögen dieselben gestatten, daß jene Nachricht Anlaß zu einer Wanderung an Ort und Stelle gibt, welche wir der Feder eines dortigen, mit den Verhältnissen vertrauten Predigers verdanken.

Von Chur kommend, gelangen wir nach dem freundlichen, von der schönsten Burgruine Graubündens überragten, aber auch durch Feuer und Wasser schwer heimgesuchten Marktflecken Thusis, von welchem Tschappina nur zwei Stunden entfernt liegt und zwar 3000 Fuß höher als jener. Der Anstieg des Berges wird dem Fuße schon beim Ausgange aus Thusis fühlbar, und indem wir mit jeder Viertelstunde um etwa 375 Fuß über das Meer uns erheben, befinden wir uns bei der Kirche von Tschappina schon 5075 Fuß über demselben. Auf unserer Wanderung dahin überschreiten wir die Grenze der Obstregion, wo den nackten Häusern mit ihren steinbeschwerten Schindeldächern die trauliche Bekleidung und Umgebung der belaubten Fruchtträger gänzlich fehlt, und haben die Grenze der Waldregion vor uns, auf welcher noch einzelne Zwergtannen von ungewisser Heimathsangehörigkeit umherirren. Wir gehen weiter und ergötzen uns noch einmal an den Getreidefeldern des römischen Urmein oder Romain, nicht als ob diese besonders üppig und den Augen eine Weide wären, sondern weil wir hier im Begriff stehen, auch über die Getreideregion uns zu erheben. Wir werfen noch einen Blick auf die zahlreichen Alphütten und Ställe des Heinzenberges, hören noch einmal auf die Jodler der Hirten und die Glocken der grasenden Kühe, und gelangen nach Tschappina!

Aus dem Unterdorfe führt uns der Weg nach der höher [22] gelegenen Kirche über mastige, elastische Wiesen, deren Torfboden unter unsern Füßen sich senkt und hebt und über eine Menge von Bäche und Wassergräben, die wir jedoch mit leichter Mühe alle überschreiten. Es tönt uns hier kein romanischer bunu di und keine bunna saira[1] mehr entgegen, sondern die Bevölkerung grüßt mit dem wohlbekannten „Guten Tag“ und „Guten Abend;“ denn sie ist rein deutsch.[2]

An der Kirche, welche gleich den übrigen 7 Kirchen des Heinzenberges dem protestantischen Cultus gewidmet ist, lassen wir uns nieder und schauen nach Süden. Wir haben an dieser Stelle einen lohnenden und für unsern Zweck ziemlich bequemen Prospekt. Es präsentirt sich die ganze Jamskette und zugleich jener Felsriese, den wir vorhin näher zu betrachten hofften. Er schließt auf eine gravitätische Weise den Jams ab; denn bei seiner Höhe von beiläufig 10,000 Fuß überschaut er denselben noch bedeutend, mit seinem obersten, jäh hervorstehenden Horne ragt er in den Himmel, auf seinem Rücken trägt er einen kleinen Gletscher, seine ganze nördliche, uns zugekehrte, weit ausgedehnte und von vielen Rinnsalen durchfurchte Breitseite fällt in eine tiefe Schlucht nieder, deren Grund uns jedoch durch die Masügger Halde verdeckt wird. Das ist der Piz Beverin.

Sind Sie mit einem scharfen Gesicht ausgerüstet, so mögen Sie wohl bemerken, wie auf einem der seltenen Rasenplätzchen da drüben einige Gemsen ruhig grasen, bis sie, wir wissen nicht wodurch gestört in kühnen luftigen Sprüngen die Flucht ergreifen. Auch kann es sich sehr leicht treffen, daß Sie Zeugen eines Lavinensturzes werden, deren schon unzählbare aus jener Höhe herabgedonnert sind, wie Sie selbst aus den abgeriebenen Furchen der Abhänge schließen; denn das sind die regelmäßigen Lavinenstraßen.

Zwischen uns und dem Piz Beverin zieht sich abwärts die Masügger Halde, ein steiler, graubläulicher Bergrücken, der nur noch an seinem östlichen Ende einige Tannenbäume trägt und hinter dessen scharfem Kamme Sie schwerlich etwas anderes als Schrecken und Grausen vermuthen. Und doch wohnen dort – im Hofe Masügg – noch Menschen und ich zweifle nicht, daß dieselben in ihrer Art sehr glücklich leben. Das Oertchen selbst sehen wir nicht, wohl aber einige dazu gehörige Ställe.

Wenden Sie nun Ihren Blick von dem östlichen Fuße dieser Halde an nach rechts hin aufwärts, so weit Sie sehen können d. h. bis zur Höhe des Heinzenberges, folgen Sie dann dem Höhenzuge abermals rechts und gleichfalls so weit Sie, ohne Ihren Platz zu verlassen, sehen können. Ziehen Sie endlich von da eine Linie zurück nach dem Ausgangspunkte unten an der Halde: und Sie haben hiermit das Gebiet der Tschappiner Erdrutsche und Schlüpfe seiner ganzen Ausdehnung nach eingegrenzt und in der Gestalt eines Amphitheaters vor sich liegen. Der erste Blick aufwärts durchläuft den Raum einer halben, der zweite horizontal den einer dreiviertel und der dritte abwärts den einer ganzen Stunde. Von diesem Terrain ist also zur Zeit noch ausgeschlossen das ganze Untertschappina und eben so das ganze, wirklich so genannte Oberdorf.

Sie haben jetzt dieses Gebiet mittelst eines Ueberblickes durchmustert und zu meinem Bedauern nehme ich wahr, daß der Befund Ihren gehegten Erwartungen nicht hinlänglich entspricht, obgleich ich dieselben schon vom Anfang an herabzustimmen versuchte.

Es würde freilich kurzweiliger sein, von einem sichern Posten aus zu sehen, daß da ein Stall und dort ein Haus, ja das ganze Dorf gleichsam Füße bekämen oder hier ein Trupp Menschen, dort eine Heerde Rinder, auch ohne die Füße zu bewegen, wie sonst in einem Zauberspiegel durch Täuschung, so jetzt in der Natur durch die Wirklichkeit an uns vorüberzögen und zwar der Art, daß die Rutschparthie für die betheiligten lebenden Wesen ganz ohne alle Störung und unbemerkt vor sich ginge, bis sie endlich selbst überrascht wären durch die auf verschobener Basis nöthig gewordene Orientirung. Aber wer einen Begriff von dem enormen Schaden hat, welchen die armen Tschappiner schon durch die bisherigen Vorgänge auf ihrem heimathlichen Boden erleiden mußten, der wird ihnen gewiß nicht, und am wenigsten der bloßen Kurzweil halber, noch größeres Unglück überbinden wollen.

Dort, unterhalb der Masügger Halde sehen Sie einen tiefen gährenden Abgrund. Das ist gleichsam der Trichter, durch welchen das Verderben seinen ursprünglichen Anfang genommen haben muß und durch welchen es noch fortwährend seine periodischen Ausgänge nimmt. Ihm rieselt von allen Seiten alles Wasser der benachbarten Höhen zu: ein Bach von den Masügger Ställen, mehrere andere aus den Alpen des Heinzenberges und vom Oberdorfe. Diese Bäche haben zwar gerade jetzt ein äußerst unschuldiges Aussehen, denn wie zarte Silberfäden schlängeln sie sich dahin, aber lassen dieselben ihre Wuth los, so sind sie schon hier oben furchtbare entsetzliche Mächte, schreckliche Vorbilder ihres schrecklichen Productes, des Nolla. Unmittelbar nach ihrem Zusammenflusse in der Tiefe bilden sie denselben, welcher im Ferneren alle Zuflüsse vom Jams und mehrere vom Piz Beverin aufnimmt.

Auch sagt man, daß der eine Stunde oberhalb gelegene Lüscher Alpsee, welcher keinen sichtbaren Abfluß hat und bis in dessen Nähe das Rutschgebiet sich erstreckt, sein Wasser auf unterirdischem Wege nach eben demselben Abgrund sende.

Und diesem Kessel treiben alle Rutsche zu, um, wenn das Fundament gehörig ausgewaschen und untergraben ist, nach dem Gesetze der Schwere in einem letzten Schlupfe sich aufzulösen und der Wuth des Nolla zu verfallen.

Dahin stürzte auch vor etwa 40 Jahren und in Zeit von nur ein paar Stunden der schöne dichte Wald, welcher ehemals die nunmehrige Masügger Halde bedeckte. Waren erst die untersten Bäume zum Falle gebracht, so folgten ihnen mit Nothwendigkeit je die nächsten. Endlich aber wurde die Katastrophe eine so allgemeine, daß nebst dem Holzbestande auch zugleich schichtweise der Boden mit abwärts fuhr, während noch überdies von weiter oben Schutt und Geschiebe nachfolgten, welche der Bäume viele aufhielten und überdeckten. Noch jetzt sehen Sie da und dort Stämme, Aeste und Wurzeln aus jenem Geschiebe hervorragen.

Vor Alters war es hier anders. Da sah man keinen gähnenden Abgrund, keine Rüfen, kein Gerölle, keine Schutthalden, keine bloßgelegten Wüsten: über üppige Wiesen und freundliche Maiensässe[3] schweifte der Blick. Zahlreiche Heerden suchten und fanden hier auf bequemen Triften ihre wohlbekannten Ställe. Friedlich dampften die Kamine einer hübschen Anzahl Häuser in die reine Gebirgsluft hinaus, die glücklichen Bewohner lebten in Sicherheit und einfachem Wohlstande und ein überaus nützlicher Wald schloß das ländliche Gemälde mit einem dunkelgrünen Saume ab.

Ueberblicken Sie mit einiger Aufmerksamkeit jetzt das Gebiet, so sehen Sie zwar auch noch mehrere Ställe und auch sogar etliche bewohnte Häuser; aber alle stehen sie schief, stark nach Abend hin geneigt und sie scheinen dem Einsturze entgegen zu wanken. Sie erblicken ferner zwar noch etwas Graswuchs; aber er ist unterbrochen durch zahllose und lange klaffenden Risse des Humus, durch nutzloses Gestäude und Gesträuch und so weit Ihr Auge reicht durch eine endlose Menge graublauer Sättel und Halden, welche jedesmal über einer Einsenkung sich bilden und darüber hervorbäumen. Nur unsre immerhin noch große Entfernung macht, daß Sie die Ausdehnung und Höhe dieser Terrassen unterschätzen. Sie meinen vielleicht, es sei eine Kleinigkeit, über dies Alles, von unten an bis oben hinaus in Zeit von einer Stunde hinwegzuschreiten? – Aber ich versichere Ihnen, Sie kommen nicht in zwei Stunden, auch nicht in zwei Tagen, nein, geradenwegs kommen Sie gar nicht durch und würden auch auf jeden Fall gar bald die Lust dazu verlieren.

Jenes Wieschen in der Tiefe, das nächstkünftige Opfer der völligen Zerstörung, ist von seinen Nachfolgern durch eine mindestens 200 Fuß hohe und ziemlich steile Halde getrennt, in deren verwitterten durchnäßten[4] und breiartigen, Thon- und Mergelschiefer man keinen festen Fuß fassen und nach Befinden spurlos versinken kann. Zwar ragen hie und da aus dieser und aus andern Halden große und scheinbar compacte Felsgruppen hervor, denen man eine schützende Kraft zutrauen möchte. Allein man kann dieselben zum großen Theil mit den Fingern zerreiben und zerbröckeln, und weil sie gleichfalls nur auf verwitterter Basis [23] ruhen, so muß ihre ganze Masse, wie alles Andere nolens volens vorwärts rücken und abwärts rutschen, wenn unten leerer Raum wird und gleichzeitig von oben die Wucht drückt. Und welch’ eine Wucht mag da drücken, wo aus dem ganzen Gebiete die Potenzen von Millionen Kubikklaftern und Milliarden Centnern sich auf einem verhältnißmäßig kleinen Raume concentriren!

Hat man nach vielen Umwegen, Mühen und Gefahren die nächstfolgende Wiese erreicht, so steht man abermals vor einer hohen Wand, aus welcher wiederum hie und da dickflüssige Schiefermaterie hervorquillt, und die geheimnißvoll-tückisch abwärts schleicht.

Hier findet sich der erste Stall, welchen zunächst die Reihe treffen möchte. Aber dennoch wird er kein Raub des Nolla werden, eben so wenig als seine vielen von ihrer Stelle verschwundenen Vorgänger. Denn obgleich die ganze Gegend, Grund und Oberfläche, ohne Unterlaß in abschüssiger Bewegung ist, so geht doch die letztere so langsam und allmälig, so allerwärts in stetigen und gleichmäßigen Proportionen von Statten, daß sie eben wegen dieser Continuität am allerwenigsten von der An- und Bewohnerschaft wahrgenommen wird. Hat also ein Gebäude sein letztes und als solches nun freilich in die Augen springendes Stadium erreicht, so bleibt den Tschappinern allemal noch Zeit genug, um das Material zu retten: sie gehen hin, nehmen die Hölzer auseinander, tragen sie fort und fügen sie an einem andern Orte nach Bedürfniß und Bequemlichkeit wieder zusammen.

Die nun folgende auch nur auf Umwegen zu gewinnende Parthie bietet uns einen Stall und ein bewohntes Haus dar, welche gegen 250 Fuß tiefer als die Kirche liegen mögen, so daß die Bewohner zu sagen haben: „Wir gehen auf zur Kirche.“ Gleichwohl hat man bestimmte Nachricht, daß diese nämlichen Gebäude vor etwa einem Jahrhundert um beinahe eine Viertelstunde höher oben standen und man von dort aus gesagt hat: „Wir gehen ab zur Kirche.“ Ungeachtet ihrer verhängnißvollen Reise und sehr geneigten Stellung werden diese Gebäude von den gesunkenen Enkeln noch eben so benutzt, wie vormals von den erhabenen Urahnen und es zeigen auch die Stockmauern des Hauses keine erheblichen Risse.

So geht es weiter fort, von Terrasse zu Terrasse, nur daß die Zahl derselben nach rechts und links sich fortwährend vermehrt und sie selbst, je höher den Berg hinauf, desto niedriger werden.

Trauriger gestalten sich bei dieser Sachlage von Jahr zu Jahr die Aussichten dieser Berggemeinde; denn die Verwüstung kennt hier keinen Stillstand, und die Befürchtung, daß im Laufe der Jahrhunderte mindestens das ganze Oberdorf in die Peripherie der unheilvollen Bewegung hineingezogen werde, drängt sich an Ort und Stelle unwillkürlich jedem Beschauer auf. Da sollte wohl ein Versuch der Abhülfe gemacht werden, zumal in Anbetracht der weiteren hieran sich knüpfenden Schädigungen, deren wir zuvor gedachten. Aber weil selbst die Kräfte des Kantons hierzu zu schwach waren, so könnte einzig die Eidgenossenschaft helfen, wozu in der That auch nicht jede Hoffnung abgeschnitten ist.
Dr. S. M.




Naturbetrachtungen im Zimmer.
Von Berth. Sigismund.

Gewiß sind unter den tausend Familien, welche in der „Gartenlaube“ sich erholen, nur wenige, die nicht im Winter zuweilen in Verlegenheit gerathen sind, wie sie den Kindern eine anmuthige und geistbildende Erholung bereiten sollen. Das Spielzeug, wenn es auch vom heiligen Christ in reichster Fülle bescheert wurde, läßt endlich gleichgültig; auch der Farbenkasten will nicht fortwährend behagen; die Märchen, welche die Eltern mittheilen können, sind hundert Mal erzählt, so daß, wenn auch nicht der Hörer, doch der Erzähler ihrer überdrüssig wird; die Bilderbücher sind so oft betrachtet und durchgelesen, daß sie allen Reiz verloren haben, und von Garten und Flur, wo die Kinder sich auch ohne Anleitung der Erwachsenen auf der Schnee- und Eisbahn belustigen, kommt die junge Welt nach kurzer Zeit halberfroren nach Hause, um im Zimmer in dem traurigsten Unwohlsein, welches der leidige Winter mit sich bringt, zu leiden, an der Langeweile.

Ich beobachtete diesen unbehaglichen Zustand der Kinder während der rauhen Jahreszeit in so vielen Familienkreisen, daß ich, als mir die freundliche Einladung zukam, mein Scherflein zur Unterhaltung in dieser Zeitschrift für den Familienkreis beizutragen, es nicht für ungeeignet hielt, ein Heilmittel dagegen vorzuschlagen.

Argwöhne der freundliche Leser nicht, daß ich zu diesem Zwecke in diesen Blättern Erzählungen und Naturschilderungen für Kinder einschmuggeln wolle! Was ich mittheile, ist für die Erwachsenen, und nur aus zweiter Hand für die Jugend bestimmt. Unsere jungen Zeitgenossen lesen schon so eher zu viel als zu wenig, und die todten Lettern sind nicht einmal das geeignetste Mittel, um das Kind in die Natur und das Menschenleben einzuführen; sie sind und bleiben nur ein dürftiger Ersatz des lebendigen Wortes. Angeschaut, erzählt und – was die Hauptsache ist – durchgesprochen, und im Zwiegespräch verarbeitet muß das werden, was dem Kinde rechte Freude machen und tiefe Wurzeln in ihm schlagen soll. Frage sich der geneigte Leser selbst, welches Märchen lebendiger in seiner Erinnerung haften geblieben sei, das, welches er gelesen oder eins, welches ihm die Mutter erzählte; prüfe er sich, welche Naturerscheinung er freudiger und gewinnreicher aufgefaßt habe, die, welche er aus Büchern kennen lernte, oder eine andere, welche er an der Hand des Vaters beobachtete und mit diesem durchsprach! Immer fällt der größere Reiz und der höhere geistige Gewinn in die Wagschale des mündlichen Verkehrs; die tiefsten Anregungen, die klarsten Urtheile verdankt das Kind stets dem unmittelbaren geistigen Austausche, wo der Mensch durch das lebendige Wort sich ganz individuell mittheilt und auf die Vorstellungen des Hörers direkt eingeht, um sie zu berichtigen und zu erweitern.

Für solchen geistigen Verkehr des Vaters mit dem Kinde, der die erste, süßeste und segensreichste Schule für das letztere sein soll, will ich auf eine Quelle der Unterhaltung aufmerksam machen, die leider von zu wenig Vätern benutzt wird, obgleich sie eine wahre Labequelle für das Gemüth und eine treffliche Gesundheitsquelle für den Geist ist, ich meine die Betrachtung der Natur. Tausende von Kindern lernen die Natur der Heimath fast nur aus den blassen Schilderungen in Büchern oder aus den gelehrten Erklärungen der Schule kennen, und wie viele wachsen auf, die über höchst oberflächliche sinnliche Anschauung derselben nicht hinauskommen! Und doch könnte jeder Vater, jede Mutter, wenn sie auch nicht in die Wissenschaft tiefer eingeweiht sind, kräftig beitragen, um dem Kinde zu genauer und treuer Auffassung und zu deutender Beurtheilung der Naturerscheinungen zu verhelfen. Was ich hier mittheile, sind Stoffe für die Naturforschung im Familienkreise und wirken zur Ausbeutung derselben. Es sind freilich keine großartigen Naturvorgänge, die ich zur Betrachtung vorschlage, im Gegentheil alltägliche, von vielen Erwachsenen kaum eines Blickes gewürdigte Dinge. Aber so wie ein schlichtes Märchen, das halb vergessen und bestaubt im Gedächtniß schläft, für den Erwachsenen neue Reize bekömmt, wenn er es den Kindern erzählt und bemerkt, wie sie sich daran freuen: so gewinnt man den schlichtesten Naturdingen, an denen man wie vor Trivialitäten achtlos vorüberging, Interesse ab, wenn man sieht, wie das Kind, dem jenes Alltägliche neu ist, sich daran ergötzt, und kaum ein Vater macht mit seinen Kindern einen Spaziergang, auf dem er nicht die Wahrheit der schönen Worte Goethe’s freudig erlebt:

„Nur durch der Jugend frisches Auge mag
Das längst Bekannte neubelebt uns rühren,
Wenn das Erstaunen, das wir längst verschmäht,
Aus Kindesmunde hold uns widerklingt.“



[24]
Am Fenster.
I.
Die Ersatzmittel des Glases. – Sein Nutzen für den Chemiker. – Erklärung der Durchsichtigkeit. – Blinde Scheiben. – Die Chladni’schen Klangfiguren. – Das Glas als Wärmeleiter. – Die optischen Erscheinungen am Fenster. – Die Lampe auf der Straße. – Die brennenden Fenster bei Sonnenuntergang. – Erscheinungen am bethauten Fenster. – Farbenspiele.

In den schönen Jahreszeiten lernt man den Werth des Fensters nicht lebendig fühlen. Da werden ja die Flügel desselben ausgehoben, um den freien Lufthauch zugleich mit den Düften von Flieder, Linden- oder Rebenblüthen hereinzulassen, und die Glasscheibe erscheint als eine unnütze und lästige Polizei, da ein Gazegitter hinreicht, die lästigen Vagabunden, die Fliegen, abzuhalten.

Im Herbste dagegen, wenn durch die aufgerissenen Fensterflügel der brausende Windstoß hereintobt und die Kerze zu verlöschen droht, sowie im Winter, wenn draußen der Schnee unter den Wagenrädern quiekt und kreischt, daß das bloße Anhören uns eine Gänsehaut zuzieht, das ist die rechte Zeit, die Aufmerksamkeit auf das Fenster, diesen treuen Wächter der Nordländer, der uns lästige Zudringliche abhält und nur die erwünschten Gäste hereinläßt, zu lenken, um dessen Eigenschaften und die physischen Prozesse, die an ihm vorgehen, zu studiren.

Um den Werth des Glases für die Wohnlichkeit unserer Zimmer recht zu erkennen, versuche man nur, Ersatzmittel für dasselbe ausfindig zu machen; dann werden die herrlichen Eigenschaften dieses köstlichen Stoffes recht in die Augen springen.

Zuerst ist das Glas der Luft vollkommen undurchdringlich, weshalb es vom Chemiker zum Kerker für Luftarten gewählt wird, wenn er dieselben, wie Dionysius zu Syrakus mit seinen menschlichen Gefangenen gethan haben soll, in ihrem Gefängnisse belauschen will. Zwar könnten Metallplatten eine eben so luftdichte Scheidewand abgeben; aber sie vermögen das Glas mit nichten zu ersetzen, denn sie würden, so dünn man sie auch hämmerte oder walzte, das Licht nur äußerst kümmerlich einlassen. Legt man ein Stückchen des dünnsten Blattgoldes auf ein behauchtes Glas und blickt durch dasselbe nach der Sonne, so gewahrt man nur einen trüben grünen Schein, aber nicht einmal das Bild dieses hellsten aller Körper auf der Welt. Von den Dingen auf der Straße würden uns also auch die dünnsten Metallplättchen, die von jedem Luftstoße zerrissen werden, nicht eine Spur erkennen lassen.

Das Glas ist zwar nicht vollkommen durchsichtig (denn durch sehr dicke Glasmassen oder durch viele auf einander liegende Glasplatten sieht man nicht deutlich mehr), aber doch so durchsichtig, wie man es für ein Fenster nur wünschen kann. Zugleich läßt sich dieses, durch den erfinderischen Menschengeist ersonnene Produkt aus Sand und Asche durch kein durchsichtiges Mineral, welches die Natur fertig liefert, ersetzen. Denn was hilft es, daß der Diamant höchst durchsichtig ist, da er so äußerst selten und nicht in Tafeln spaltbar ist; was nützt der häufigere prächtige wasserhelle Bergkrystall, da er nur in Säulen, nicht in Plattenform vorkommt; was fruchtet das in durchsichtigen ziemlich großen Tafeln vorkommende Marienglas (Gyps), da es so wenig haltbar ist? Wo eine durchsichtige Scheidewand nöthig ist, müssen wir immer zum Glase greifen.

Die meisten Menschen nehmen die Durchsichtigkeit rein sinnlich wahr, ohne sich nach dem „wie“ des merkwürdigen Vorganges zu fragen. Welche Erklärung hat man einem Forschlustigen zu geben, der darüber Auskunft verlangt? Durch Versuche, welche sich leider nur durch sehr umständliche Auseinandersetzungen anschaulich machen lassen, ist erwiesen, daß das Licht aus den wellenartigen Schwingungen eines äußerst feinen, unwägbaren Stoffes entsteht, den man Aether genannt hat. In ihm werden durch leuchtende Körper – wie in der Luft durch eine tönende Glocke – Erzitterungen erregt, welche auch die benachbarten Aethertheilchen durch Stoß in Erzitterung bringen, bis endlich unser Sehnerv die Brandung dieser unendlich feinen Wellen als Licht spürt. Es ist diese Ansicht nicht etwa eine leere Vermuthung, sondern sichere allen Thatsachen entsprechende Hypothese; denn obgleich man von der stofflichen Beschaffenheit dieses Aethers nichts weiß, kann man doch dessen Wellen messen und zählen und aus der Wellentheorie alle Lichterscheinungen mathematisch herleiten. Die Durchsichtigkeit des Glases läßt sich demzufolge nur so erklären, daß zwischen den kleinsten Theilchen des Glases, obgleich keine Luft zwischen ihnen durchschlüpfen kann, doch Zwischenräume sein müssen, in denen sich Aether befindet. Ist nun der Aether außerhalb des Zimmers durch die Sonne oder durch eine Straßenlaterne erschüttert, so pflanzt sich der Stoß seiner Wellen auf den im Glase befindlichen Aether und von da aus weiter bis in das Auge fort. Die Fenstertafel gleicht also einer netzartigen Scheidewand, welche die Lufttheilchen, gleichsam die größeren Fischlein einsperrt, aber den feinen Aether, der dem Wasser vergleichbar ist, hindurchläßt.

Es ist vielleicht aufgefallen, daß das Glas, dieser wegen seiner Zerbrechlichkeit zum Sprüchworte dienende Stoff, vorhin haltbar genannt wurde. Und doch verdient das luftdichte, durchsichtige Glas auch diesen Ehrentitel mit Recht. Man vergleiche nur die gebräuchlichen durchsichtigen Surrogate des Glases, z. B. das Marienglas (Blättergyps) mit dem echten Glase, und man wird seine Vorzüge auch in dieser Hinsicht anerkennen müssen. Der Blättergyps, aus welchem in Sibirien Fensterscheiben gemacht werden, ist so weich, daß er vom Fingernagel geritzt wird. Wollten also die Sibirier ihre Fenster so fleißig abwischen, wie es unsere reinlichen Hausfrauen thun, so würden sie ihre Fensterscheiben bald matt und wund reiben. Wie hart ist dagegen das Glas! Will sich ein Miethsmann in seinem Fenster verewigen, so muß er seinen Namenszug mit dem härtesten Körper der Welt, mit einem Diamant, oder in Ermangelung eines solchen, wenigstens mit dem harten Feuerstein einschneiden.

Außerdem ist das Glas in hohem Grade wetterfest. Eine gute Scheibe widersteht den Einflüssen der Luft und des Wassers, welche selbst den härtesten Felsen beständig zernagen, mit großer Zähigkeit, obgleich das Glas im Wasser nicht ganz unlöslich ist. Schlechtes Glas freilich, zumal in Stallfenstern, trägt sich merklich ab und wird „blind.“ Die blinden Scheiben, welche milchartig trübe sind, und von gewissen Standpunkten aus prächtige Regenbogenfarben zeigen, sind in der Art verändert, daß der auflöslichere Bestandtheil des Glases, das Kali oder Natron, weggespült ist, während der andere Bestandtheil, die Kieselsäure, in Form dünner Plättchen zurückbleibt und das Licht auf ähnliche Art in Farben zerlegt, wie es in der dünnen Hülle der Seifenblasen geschieht. Eine Gypstafel würde, da diese aus Kalk und Schwefelsäure bestehende Verbindung viel leichter im Wasser löslich ist, als das Glas, gar bald durch die Verwitterung verzehrt werden.

Spröde ist freilich das Glas, darum ist es leicht zerschellt, und bricht durch einen Stoß nicht blos an der getroffenen Stelle, sondern es splittert in sternförmigen Sprüngen weit über den unmittelbar verwundeten Punkt hinaus, wenn es nicht von einem so raschen Stoße durchbohrt wird, daß die an die Wunde angrenzenden Glastheilchen nicht Zeit fanden, sich an die Bewegung anzuschließen. Wohl mancher Leser hat schon gesehen, daß eine aus der Nähe durch eine Glasscheibe in gerader Richtung geschossene Pistolenkugel ein scharfrandiges, wie ausgebohrtes Loch durchriß, ohne die Scheibe sonst zu verletzen. Wegen der Sprödigkeit des Glases braucht mancher sparsame und Feuersgefahr fürchtende Hausvater zur Umkleidung der Stalllaternen dünngeschabtes Horn, welches in alter Zeit wohl auch die Stubenfenster bekleiden mußte; deshalb soll man zu Kajütenfenstern auf Kriegsschiffen, wo das Glas durch Sturzwellen und Kanonendonner zu sehr gefährdet sein würde, Glimmertafeln wählen. Aber stets büßt man an Durchsichtigkeit ein, was man an Haltbarkeit gewinnt. Jeder durchsichtige, feste Körper, auch der Edelstein, ist nun einmal spröde. Bricht doch selbst das Wasser, wenn es vom Froste zu einer Glasdecke über dem Teiche erhärtet ist, und von einem niederfallenden Schlittschuhläufer einen derben Stoß bekömmt, mit sternförmigen Sprüngen; wird doch selbst der Diamant, das klassische Sinnbild der Festigkeit, durch einen kräftigen Stoß im Stahlmörser zertrümmert.

Uebrigens ist das Glas bei aller Sprödigkeit elastisch genug, um nicht nur kleine Biegungen wieder auszugleichen, sondern auch, wie das Fell der Trommel, überaus rasche Schwingungen auszuführen, welche die Luft zu Tonwellen anregen. Fährt man mit dem fest aufgestemmten Finger über eine feuchte Fensterscheibe, so gibt sie durch quiekende Töne gleichsam ihr Mißbehagen kund; durchrollt ein Kanonenschuß oder der Donner die Luft, so zittert und bebt sie, wie Espenlaub, und äußert gleichsam ihre Furcht durch Klirren. Seine größte Elasticität und zugleich seine höhere musikalische Begabung zeigt aber das Glas beim Anklingen der Pokale oder vollends in der Glasharmonika, der man mit einem Korkhämmerchen süße, nervendurchschauernde Töne entlockt. Will man die beim Tönen entstehenden Schwingungen des Glases sichtbar [25] machen, so gewähren die Chladni’schen Klangscheiben die bequemste Gelegenheit. Man läßt sich vom Glaser drei-, vier- und mehreckige und runde Glasscheiben schneiden, die etwa die Größe der Spielkarten haben. Eine oder mehrere Kanten derselben reibt man auf einem Sandstein ab, so daß sie keine Schärfe mehr besitzen. Dann faßt man eine solche Glastafel so zwischen Daumen und Zeigefinger, daß sie wagrecht liegt und nirgend an die Hand anstößt, bestreut sie mit trockenem Streusande und streicht den geschliffenen Rand mit einem gut geharzten Geigenbogen. Sobald die Scheibe tönt, sieht man den Sand auf ihr hüpfen, und sich in regelmäßigen Figuren anhäufen, die bald Dreiecke, bald Vierecke, bald Sterne u. dgl. darstellen. Streicht man eine andere Stelle mit dem Bogen, so daß die Scheibe einen andern Ton gibt, so bekommt man auch wieder eine neue „Klangfigur.“ Die Stellen der Tafel, auf welchen der Sand ruhig liegen bleibt, sind diejenigen, welche an der Erzitterung nicht Theil nahmen und heißen Schwingungsknoten.

Eine andere löbliche Eigenschaft des Glases ist seine Farblosigkeit. Mögen die bunten Fensterscheiben in Kirchen, wo sie nur gedämpftes Licht, aber nicht die Bilder der irdischen Dinge einlassen sollen, auch noch so zauberhaft wirken, so würde doch buntes Glas zu Fenstern in Wohnzimmern wenig geeignet sein. Denn schaut man auch gern einige Minuten lang eine Landschaft durch ein blaues oder rothes Glas an, so wird es dem Beschauer, nachdem er die geisterhafte Beleuchtung, die manche Farben der Naturdinge verwandelt und andere ganz vertilgt, angestaunt hat, doch bald ordentlich unheimlich zu Muthe, und er blickt wieder mit wahrer Freude durch das farblose schlichte Fenster seiner Alltagsstube, welches die Außenwelt in ihrem wahren, ungefälschten Aussehen zeigt.

Noch ist eine sehr werthvolle Eigenschaft des Glases zu erwähnen, die dasselbe, wenn es auch von den Metallen an Durchsichtigkeit übertroffen wurde, doch über dieselben stellen würde, nämlich seine geringe Wärmeleitung, vermöge deren es nur einen kleinen Theil der Zimmerwärme an die äußere Lust abgibt. Daß Metalltafeln mit der Zimmerwärme, die der Mensch so gern aufspart, weniger haushalten würden, beweist folgender einfacher Versuch. Man bohrt in die Seitenwände eines Topfes in derselben Höhe vom Boden gleich große Löcher und steckt in dieselben gleich lange, mit geschmolzenem Wachse überzogene Stäbchen von Holz, Glas, Eisen und Kupfer so ein, daß sie gleich weit herausragen. Füllt man nun das Gefäß mit siedendem Wasser, so schmilzt das Wachs auf dem außerhalb des Topfes befindlichen Theile der Metallstäbchen früher, als das auf den Glasstäbchen befindliche. Die Wärme bewegt sich also auf der Eisen- und Kupferbahn schneller fort, als auf der gläsernen Straße. Noch weniger leicht wird die Wärme vom Holzstäbchen geleitet. Deshalb versieht man eiserne Ofenthüren und die Deckel von zinnernen Theekannen mit Holzgriffen; deshalb hält ein vor das Fenster gestellter Vorsetzer von Pappe, selbst ein Rouleau oder ein außen angebrachter Fensterladen die Kälte so wirksam ab. Am wenigsten leicht wird die Wärme von der Luft fortgeleitet, wie sich aus der Betrachtung der Doppelfenster ergibt. Die zwischen der innern und äußern Glaswand derselben eingeschlossene Luftschicht bekommt weder viel Wärme vom Zimmer, noch gibt sie von der ihr zugeführten Wärme viel nach außen ab, so daß sie beständig eine mittlere Temperatur behauptet, in welcher die wohlriechende Tulpe, die Tazette und Hyacinthe um Weihnacht fröhlich erblühen und länger vor dem Verwecken sicher sind, als in dem Zimmer. Die Kunst, mit größter Wärmeersparung und geringster Lichteinbuße Doppelfenster einzurichten, soll man in Rußland am besten verstehen. Dort werden die Lücken der Fensterrahmen vorher sorgfältig verklebt, und die im Doppelfensterraume eingeschlossene Luft durch eingestreutes Kochsalz, welches die Feuchtigkeit anzieht, so trocken erhalten, daß die äußeren Fenster der Häuser in Petersburg, wo den Leuten auf der Straße nicht selten die Augenlider anfrieren, eisfrei bleiben, während die äußere Glaswand der Doppelfenster bei uns durch die auf ihr stehenden Eisvorhänge das Licht in der Stube merklich dämpft und die freie Aussicht umflort. Ein zwischen die Doppelfenster eingehängtes Thermometer läßt die frühlingsmäßige, mittlere Temperatur der Lust im Doppelfensterraume deutlich ermessen, und die Leitungsfähigkeit der Luft schätzen.

Läßt man nun zum Schlusse der Fensterbetrachtungen die Eigenschaften des Glases zusammenpassen, und denen des Goldes gegenüberstellen, so wird auch das Kind – selbst wenn es den Werth des Glases für die Wissenschaften, denen es als Linse im Fernrohre und Mikroskope unersetzliche Dienste leistet, nicht kennt – gewiß das Urtheil fällen, daß der Mensch wohl das Gold, nicht aber das Glas entbehren könne, um in außertropischen Ländern sich ein wohnliches, auch im Winter die volle körperliche und geistige Arbeit gestattendes Zimmer herzustellen.

Wir haben das Glasfenster als einen Freund in der Noth erprobt und dadurch den Werth desselben erkannt. Nun wollen wir die physischen Vorgänge, die sich am Fenster darbieten, beobachten und deren Entstehung begreifen lernen, und beginnen unsern Betrachtung mit den Erscheinungen, welche dem Bereiche der Optik angehören.

Das erste Wunderbare, welches den Kindern, selbst schon den Säuglingen am Fenster ausfällt, ist ein Vorgang der Spiegelung. Wenn Abends die Lampe in das dunkle Zimmer gebracht wird, zeigt sich auf der Straße eine in der Luft schwebende Lampe, welche der im Zimmer befindlichen vollkommen gleicht. Jeden Abend betrachten die Kinder dieses Schauspiel mit neuer Lust. Doch bemerken nur ältere und aufmerksamere, daß neben oder vielmehr hinter dem wunderbaren Bilde auf der Straße noch eine gleiche, etwas blässere und oft von der helleren theilweise verdeckte Lampe schwebt. Während man sich bei jüngeren Kindern begnügt, sie zur scharfen Beobachtung der Erscheinung anzuregen, wodurch ihnen auch das Spiegelbild ihres eigenen Gesichtes in sehr blassen Zügen sichtbar wird, müssen die verständigeren zur denkenden Ergründung des angestaunten Phänomens angeleitet werden. Zuerst müssen sie einmal in’s Freie gehen, um sich zu überzeugen, daß man von draußen jenes Bild nicht sieht, daß es also in Wirklichkeit nicht da ist, wie es zu sein scheint. Diese Ueberzeugung ruft den Gedanken an den Spiegel hervor und die Vermuthung drängt sich auf, daß der dunkle Hintergrund der Straße den undurchsichtigen Spiegelbeleg aus Zinn und Quecksilber ersetze. Die durch eine, auf der hintern Seite durch Ruß oder Tusche geschwärzte, Glastafel entstehenden Spiegelbilder machen diese Ansicht zur Gewißheit. Daß die Spiegelung ein Echo des Lichtes ist, und auf dem Zurückprallen der elastischen Aetherwellen von glatten Flächen beruht, ganz so entstehend wie das Abspringen des Gummiballes von der Wand oder der Wiederhall des Rufes vom Felsen, läßt sich leicht begreiflich machen. Bringt man die Lampe dem Fenster näher, so rückt ihr Doppelgänger auf der Straße näher heran; entfernt man die Lampe nach dem Hintergrunde des Zimmers, so zieht sich auch ihr Spiegelbild weiter vom Fenster zurück. Aus diesen Beobachtungen ist leicht das Gesetz herauszufinden, daß das Spiegelbild stets soweit hinter dem Spiegel zu liegen scheint, als der wirkliche Gegenstand sich vor demselben befindet. Die Entstehung des blasseren zweiten Lampenbildes (gewissermaßen eines Doppelecho’s) erklärt sich daraus, daß durch das Anprallen der Aetherwellen an der vordern Spiegelfläche auch der in der Glastafel befindlich Aether in schwache Schwingungen versetzt wird. Dessen Wellen branden an der hintern Glasfläche und wirken auf den Acther des Zimmers zurück.

Sind diese Erscheinungen aufgefaßt, so ist es Zeit, beobachten zu lassen, daß das Fenster auch am Tage der außerhalb des Zimmers Stehenden abgespiegeltes Licht zurückwirft, bei welcher Spiegelung der dunkle Zimmerraum den Spiegelbeleg darstellt. Daraus erklärt sich der eigenthümliche Glanz der Fenster von Außen, den die Maler bei einem, der Symmetrie wegen auf die Wand des Hauses gemalten, Scheinfenster nie darstellen können: daraus erklärt sich ferner die prächtige Vergoldung und Versilberung der Fenster in welche die Abendsonne oder der Mond blickt.

Daß nur die hellsten Gegenstände des Zimmers, wie die Lampe oder Kerze, nicht aber die Wände des Zimmers sich sich abspiegeln, daß ihr Bild auf der Straße erscheint, wird durch die Beobachtung eines Kinderspieles erklärlich. So wie nur der mit Kraft an die Wand geschleuderte Gummiball merklich zurückspringt während der mit geringem Stoße gegen die Wand gerollte Ball an der Wand liegen bleibt, so prallen nur die von sehr hellen Gegenständen ausgehenden kräftigen Lichtwellen von der Glasscheibe so zurück, daß sie das Auge erreichen und in ihm ein deutlichem Bild erzeugen. Sehr matte Aetherwellen erzeugen im Auge keine Empfindung, so wie sehr schwache Luftwellen im Ohre keinen Ton entstehen lassen. So erzeugen auch die von den gegenüber liegenden Häusern an die äußere Fläche der Fenster anbrandenden Aetherwellen [26] nur dann ein von der Straße aus sichtbares Spiegelbild, wenn sie von der Sonne hell beleuchtet sind und der Beschauer einen günstigen Augenpunkt wählt:

Recht schöne Lichterscheinungen zeigen sich am bethauten Fenster. Betrachtet man den Mond durch die zart bethaute („schwitzende, angelaufene“) Scheibe eines Fensters, so erblickt man ihn bleich aussehend und mit einem mattgelben Hofe umgeben. Die wissenschaftliche Erklärung dieses Phänomens, welches Fraunhofer aus der Beugung des Lichtes herleitet, die dasselbe beim Durchgange zwischen kleinen Kügelchen erfährt, ist an dieser Stelle unthunlich, und es möge genügen zu erwählen, daß auch der wirkliche Hof um den Mond, den Jedermann als Vorbedeutung regnerischen Wetters kennt, auf gleiche Weise entsteht. Man sieht dabei den Mond durch eine in der Atmosphäre befindliche Dunstschicht, welche der bethauten Fensterscheibe entspricht.

Eine weit prächtigere Lichterscheinung bietet sich dar, wenn man durch eine mit feinen Wassertröpfchen beschlagene Fensterscheibe in schräger Richtung die Sonne betrachtet. Jedes Tröpfchen des Fensterbeschlages nämlich erscheint dann so herrlich mit Regenbogenfarben umsäumt, daß das Auge des Beschauers ordentlich farbentrunken wird. Auch auf die wissenschaftliche Erklärung dieser Beugungs-Erscheinung muß hier verzichtet werden. Nur möge einem Irrthume vorgebeugt werden, der sich bei diesem Farbenspiele wenigstens in die Kinder einschmuggeln könnte, nämlich dem Vorurtheile, daß auch der Regenbogen auf gleiche Art seine Farbenschönheit erhalte. Bei dem Farbenlicht des Fensters gelangt das Sonnenlicht zwischen den Tröpfchen der bethauten Scheibe hindurch in das Auge; den Regenbogen erblickt aber nur der, welcher der Sonne den Rücken kehrt; es kann also dabei das Licht der Sonne nur durch Spiegelung zu dem Beschauer kommen und muß dabei in seine farbigen Bestandtheile zerlegt werden. Jede Lichtwelle nämlich, die von der Sonne angeregt zu uns fluthet, besteht aus mehreren farbigen Bestandtheilen, welche, wenn sie verbunden in das Auge gelangen, die Empfindung des Weißen erzeugen, geradeso wie drei harmonische, gleichzeitig in das Ohr dringende Töne zu einem Akkorde verschmelzen, der die einzelnen Tonbestandtheile dem Hörer kaum noch verräth. Ein ähnliches Farbenschauspiel, wie durch die bethaute Glastafel, erhält man, wenn man durch eine mit Drudenmehl bestreute Glastafel (welche man, um das Abfallen jenes Mehles zu verhüten, mit einer andern Glastafel bedeckt) nach einer Kerzenflamme blickt; oder wenn man durch die zarte Befiederung einer Flaumfeder nach der Sonne blinzelt.

Hiermit beschließen wir unsere optischen Studien am Fenster, und wollen ein anderes Mal die Phänomene betrachten, welche durch die Wärme hervorgerufen werden.




Der englische Perserkrieg um Herat.

Die englische Diplomatie hat sich wieder entschließen müssen, ihr hübsches Capital von etwa 6,000,000,000, (geschrieben sechs tausend Millionen) Thalern Kriegsschulden, wo möglich schon wieder etwas zu vergrößern, d. h. Krieg anzufangen oder wenigstens so viel Geld durchzubringen, als ob sie Krieg führe. Der künftige Kommandant der englisch-indischen Flotte im persischen Meerbusen zur Demüthigung Persiens und zur Beschulung ihres alten Freundes Dost Mahomed, des Beherrschers von Afghanistan, Sir James Outram verließ Ende Novembers Southampton in England, um nach Bombay in Indien zu fahren und von dort die Flotte in den persischen Meerbusen zu führen.

Weshalb Krieg mit Persien? Das ist eine kurze Frage, worauf man nur durch Beleuchtung sehr weiter und breiter, dunkler Verhältnisse etwas genügend antworten kann. Wer pflegt die Berichte, welche die englische Oberlandpost von Indien etwa alle vierzehn Tage bringt, in den englischen Zeitungen zu lesen? Wer, der da sagen könnte, er habe etwas davon verstanden und die darin vorkommenden, abenteuerlichen Namen nur aussprechen können? Man nehme, wo möglich, eine gute Karte von Indien und den Ländern zur Hand, durch welche die Oberlandpost sich nach Europa windet, und studire die Namen von Städten und Ländern und Racen und Völkern, die um diesen Weg herumliegen und welche alle Indiens und der Oberlandpost wegen von England in Furcht oder Freundschaft gehalten, beschützt und bewacht werden müssen, Punjab und Derejat, Kandahar und Kabul, Turkestan und Beludschistan, die Afghanen, Usbeken, Seikhs und hundert andere Racen, die in Bergfestungen hausen oder deren wandernde Zeltenstädte mit Kameelen und Dromedaren weithin durch sonnig-heiße Ebenen und Thäler glänzen. Man denke sich diese Hunderte von wilden, wandernden, leidenschaftlichen, auf einander eifersüchtigen Racen in unaufhörlichen Konflikten und Kämpfen mit einander, mit ihren Oberhäuptern, die so lange köpfen, bis sie geköpft werden, die Rachekriege Derer, die im Kampfe um den Thron unterlagen, gegen den Sieger und dessen wilde Wuth, womit er sich zu behaupten sucht, die Blutrachezüge von Familie gegen Familie, die endlosen Scenen von Raub und Mord der Racen, die geschäftsmäßig und gewerblich von Nichts leben als den Schätzen, die sie Andern abnehmen – man male sich dies über das ungeheuere Terrain aus, durch welche die englisch-indische Oberlandpost alle vierzehn Tage hindurchsteuern muß, und man wird begreifen, wie es möglich war, daß die Engländer einen „afghanischen Krieg“ führten und jetzt trotz der grimmigsten Verlegenheiten in Europa in den persischen Meerbusen segeln wollen, um ihre Oberlandpost, um ihr Indien vor immer ernstlicher drohenden Gefahren zu schützen. Jede ungewöhnliche Erregung unter den noch nicht von England unterjochten Indiern und den wilden und halbwilden Stämmen, die sich zwischen dem englischen Indien, Rußlands äußersten Grenzen und Persien umhertreiben, weckt in den unterjochten Indiern stets die glühendsten Hoffnungen, Sympathien, abergläubischen Sagen und messianischen Ideen von Erlösung und Freiheit. Dazu kommt unter den indischen Engländern selbst die immer näher kommende Furcht von einer Invasion Rußlands. England hat an seinen Kolonien, so blühend sie auch erscheinen oder geschildert werden, keine Freude, so viel Waaren sie auch dorthin absetzen und so viel Steuern sie auch den Unterjochten abpressen. Es hat in Indien zwei neue Königreiche gewonnen, Birmanien und Oode, aber jeder Gewinn erhöht den drohenden Verlust und macht ihn wahrscheinlicher. Das alte römische Reich war mächtiger als England. Ihm gehörte unter Kaiser Augustus ziemlich die ganze bekannte Erde Europa’s, Asien’s und Afrika’s, aber es starb daran einen gräßlichen, langsamen Tod, indem die eingeschlungenen Theile in Gährung und Fäulniß übergingen und es selbst 700 Jahre lang von innen heraus verfaulte. Nur ein Schwachkopf erster Klasse oder ein gegen das Walten der Sittengesetze in der Geschichte der Menschheit von Besitz, äußerer Größe und Geld geblendeter constitutioneller Philister sieht die Nemesis nicht heraus, die über Englands äußere, besonders Palmerston’sche Politik hereinbricht und aus dem Mutterlande, das Jahrhunderte lang das Gift derselben einsog. Man wirft in Deutschland den Leuten, die aus England schreiben, ziemlich geläufig und häufig vor, daß sie sich vereinigt hätten, England schlecht zu machen. Ich frage hier blos beiläufig: Begehen oder erfinden wir die endlosen Schwindeleien, Betrügereien, Morde, Selbstmorde, Räubereien auf offener Straße, Fälschungen, Mißhandlungen von Weibern und Kindern u. s. w., die fast täglich die großen englischen Zeitungen mit enggedruckten Spalten füllen? Täglich etwa eben so viel, als Deutschland in dieser Sphäre in einem Jahre kaum liefert, insofern wenigstens die brutale Geldgier oder kaltblütige Feigheit und Berechnung, die in England den Verbrechen durchschnittlich zu Grunde liegt, in Deutschland sehr lange gesucht werden müßte, um mit dem kriminalistischen Inhalte eines Jahres gegen die tägliche Produktion in England in Konkurrenz zu treten! – Haben wir die 6000 Millionen Thaler Kriegsschulden für auswärtige Politik gemacht? Sind wir Schuld, daß dieses Geld und die Millionen Menschenleben, die für diese Summe geschlachtet wurden, immer mehr als rein weggeworfen in Schatten wiederkehren und an dem starken Marke John Bull’s so zehren, daß selbst ihm bange wird, ob er’s noch länger aushalte?

Dies bei- oder vorläufig zur Beleuchtung eines besonderen, wenig bekannten Stücks auswärtiger englischer Politik, des afghanischen [27] Krieges, dessen Nemesis sich jetzt zum ersten Male im Großen durch den Kriegszug gegen Persien offenbaren wird.

Indien und die Oberlandpost lassen der englischen Diplomatie keine Wahl. Sie muß sehen, wie sie ihren Dost Mohamed noch einmal retten und den persischen Angriff auf Herat, hinter welchem noch mehr steckt, zurückschlagen helfe. Der Schach von Persien belagert Herat, die ziemlich selbstständige, aber zu Dost Mahomed’s Lande Afghanistan gehörige Festung an der persisch-afghanischen Grenze. Er that dies schon einmal 1851, wurde aber damals diplomatisch gezwungen, den oft wieder aufgenommenen Plan aufzugeben, wenigstens zu verschieben. Die Umstände, die dazu führten, sind folgende:

Am 4. Juni 1851 starb der specielle Beherrscher Herats, Yar Mahomed, und hinterließ den Thron seinem Sohne Syed Mahomed. Yar Mahomed war eins der größten Scheusale selbst im Oriente. So wie er todt war, jubelte Alles in Freude auf und eine Menge Racen und Fürsten, die Yar Mahomed ausgeplündert u. s. w. machten Anspruch auf seinen Thron, Fürsten von Kandahar, Dost Mahomed, nicht zum Erben eingesetzte Söhne Yar Mahomed’s, Männer von seinen Töchtern, die er bis zu Tausend hinterlassen haben soll, und andere Herren. Die Fürsten von Kandahar trieben den Thronerben Syed Mahomed leicht zum Tempel hinaus. Um sich aber zu halten gegen eine wilde Schaar anderer Thron-Prätendenten, fühlten sie sich zu schwach und baten daher den Schach von Persien um Beistand. Dieser schickte mit der größten Bereitwilligkeit 12,000 Mann, die aber bald und seitdem mit kurzen Unterbrechungen stets darauf ausgingen, Herat für ihren Schach, dem es früher gehörte, wieder zu gewinnen. Um diese Zeit schickte Rußland eine große Truppenmasse an die Nordküste des kaspischen Meeres. Von da an marschirten sie landeinwärts auf Herat und hielten sich irgendwo, man sagt, vielfach versteckt zwischen Indien und Persien auf. Die Invasion Indiens von Rußland war früher ein verlachter Aberglaube, jetzt glaubt man immer ernstlicher daran. Herat ist jetzt wieder erobert von Persien. Herat heißt unter den Völkern dort: Schlüssel oder Thor Indiens. Dieser Titel ist kein poetischer, sondern ein strategischer. Herat ist die beste Basis zu einer Kriegsoperation gegen Indien, dessen Grenzen nicht weit davon anfangen und auch sonst vorzüglich geeignet zur Unterhaltung einer Armee in den sonst unwirthlichen Gegenden. Das dazwischen liegende Land ist Afghanistan, dessen Beherrscher Dost Mahomed allen Grund hat, die Engländer zu hassen. Sie trieben ihn erst in die Arme Rußlands und Persiens und erklärten ihm dann 1838 den Krieg. Dies gab den berüchtigten afghanischen Krieg, in welchem die ganze englische Armee auf ihrem Rückzuge von Kabul bis auf den letzten Mann vernichtet ward, in welchem Schrecken und Meutereien vorkamen, wie man sie sonst in der Geschichte selten finden wird. Persien stand, wie jetzt, vor Herat. Dost Mahomed hatte eben so großes Interesse gegen diese Belagerung, wie die Engländer und strebte daher nach der Freundschaft Englands. Dieses aber erklärte Krieg gegen ihn, jagte ihn vom Throne, setzte dafür einen Schwächling darauf, verlor 7 Millionen Pfund dabei und mehr als 10,000 Mann Truppen und setzte dann Dost Mahomed wieder auf seinen Thron, wo er noch herrscht, alt und knorrig, fest und grimmig gegen England. Wer an diesem unglaublichen Inhalte des afghanischen Krieges zweifelt, den müssen wir auf das zweibändige Werk von John William Kaye: „Geschichte des Krieges in Afghanistan“ u. s. w. verweisen. Es enthält die größte Schmach der englischen Diplomatie aller Zeiten. England zieht jetzt in den Ketten der Nemesis dieses Krieges in den persischen Meerbusen, um den „Schlüssel zu Indien“ nicht zu verlieren. Mit einigem gesunden Menschenverstande wäre es 1838 dahin gezogen, statt gegen Dost Mahomed. Jetzt kommen sie mindestens achtzehn Jahre zu spät mit Dost Mahomed zwischen sich, in dessen Lande sie 7 Millionen Pfund Sterling und 10,000 Menschenleben vergeudeten, blos um ihn ab- und dann wieder einzusetzen und 1856 endlich das „Mißverständniß“ gut zu machen. Die Flotte wird inzwischen noch weniger im Kampfe um Herat thun können, als neuerdings vor Sebastopol oder Kronstadt.

Herat, um uns diesen fernen, aber politisch jetzt sehr nahe liegenden Zankapfel etwas genauer anzusehen, liegt in einem reichen Thale voller Getreidefelder, Weingärten und Blumen. Die Umgegend, in welcher alle Straßen von und nach Indien zusammenlaufen, ist üppig fruchtbar und wird nur die „Kornkammer Central-Asiens“ genannt. Herat ist einer der wichtigsten Centralpunkte asiatischen Handels und so reich an Bodenertrag und Handelsgewinn, daß es zehn Mal so viel Soldaten ernähren kann, als jetzt darin und darum stehen. Aber die Schönheit und Pracht der Stadt, wie aller orientalischen Städte, ist blos auswendig. Drum herum Alles lachendes, üppiges, blühendes Leben, innerhalb zwischen engen Straßen lauter Gebirgszüge uralter, stets mit frischer Fäulniß bedeckter Schmutzhaufen, bestehend aus dem Kehricht, den Küchenabfällen, Leichen und Excrementen vieler Generationen. Selbst für den Abfluß des Regens und viel schlimmerer Flüssigkeiten ist nicht im Geringsten gesorgt. Daher zwischen den Schmutzgebirgen unzählige Thäler voller Jauche.

Und mit welchem Plan und Pomp ist die Stadt gebaut! Von allen Seiten stark und strategisch genial befestigt und durch tiefe Gräben und bombenfeste Erdwälle uneinnehmbar gemacht, war sie schon zur Zeit des Perserangriffs 1838 so verfallen, daß sie nach dem Urthelle von Sachverständigen schon binnen vierundzwanzig Stunden hätte fallen müssen, wenn die Perser Ernst gemacht hätten und nicht von dem Glauben, daß sie uneinnehmbar sei, zurückgehalten worden wären. Die Stadt bildet ein regelmäßiges Viereck, jede Seite etwas über eine englische Meile lang und in der Richtung der vier Hauptlinien des Kompasses gebaut. Die Straßen laufen, den Außenseiten entsprechend, in regelmäßigen Linien, von den zwei Hauptstraßen, die sich in der Mitte durchschneiden, in vier regelmäßige Viertel getheilt. Aber die Art, wie die Straßen gebaut wurden, gab mit dem üppigsten orientalischen Glanze oben zugleich überall durchlaufenden Grund zum Verfalle unten. Die untern Geschosse bestehen aus verfaulten, von Kehricht und aufgehäuften Unrath zum Theil schon verstopften Läden, ehemals prächtigen offenen Bazars, mit hervorspringenden Dächern und Bogen, deren Thürmchen und Zinnen aber noch lügnerisch in der Sonne glänzen und von orientalischem Pompe fabeln, während unten Häuser und Menschen Fäulniß, Tod und Verderben aus- und einathmen und nur die lachenden, gesunden Umgebungen das Wunder erklären, daß die etwa 45,000 Einwohner nicht längst alle von der Pest hingerafft wurden. Sie bestehen aus einem seltsamen Gemisch von Indiern, Armeniern, Juden u. s. w., die sich zwar stets durch Tod aus der Luft und eine Zeit lang durch ein eigenthümliches Geschäft des Stadtkommandanten verringerten, sich aber immer wieder durch Einwanderung, wozu die vortheilhafte Lage als Handelsplatz verführte, ergänzten.

Die Regierung Kamrae’s, den die Perser 1851 entfernen wollten, war eine der scheußlichsten, die je ein Volk ausgehalten. Sein Kommandant und erster Minister von Herat bekam nur einen geringen Gehalt, den er aber durch geschäftsmäßiges Einfangen und Verkauf von Leuten zu erhöhen wußte. Die Bewohner von Herat wagten sich nur im äußersten Nothfalle verstohlen über die Straße, und huschten dann blaß und hager vorsichtig von Versteck zu Versteck. Häuser und Läden wurden schon vor Sonnenuntergang geschlossen und verbarrikadirt, und die Stille der Abende und Nächte nur durch das gräßliche Geheul Abgefaßter und Eingefangener unterbrochen. Es war wie im Königreiche Dahomey, wo der Sklavenhandel ein königliches Privilegium ist, und von allen „gesetzlichen“ Mitteln unterstützt und gegen Konkurrenz geschützt wird.

Unter den als Sklaven verkauften Heratern waren einige Perser. Dies gab dem Schach Veranlassung, gegen Herat zu ziehen, um wo möglich die ihm früher gehörende beste Stadt seines Reiches wieder zu gewinnen. Auch nahm er den Heiligenschein eines religiösen Beschützers an. Die Perser bekennen sich größtentheils zu der Schiiten-, die Afghanen zu der Sunnitensekte des Muhamedanismus, die sich gegenseitig zerfleischen, wie wilde Thiere im wüthendsten Hunger. Die regierenden Klassen und Soldaten von Herat waren größtentheils Sunniten, die Bürger und Einwohner Herats Schiiten oder Schiiahs. Letztere als die Unterliegenden zu beschützen, schien dem Schach von Persien ein guter Vorwand, der denn auch stark mit hervorgehoben ward. Seine Armee ward größentheils von freiwillig gesandten russischen Offizieren und Ingenieurs befehligt. Außerdem handelte der Schach im Vertrauen auf weitere russische Unterstützung für die Eroberung von Khiva, Khorassan u. s. w. Da Persien bereits so ziemlich in den Rang einer russischen Provinz gekommen ist, würde der Schach diese Eroberungen rein für Rußland machen, dem sein Land doch früher oder später zufallen wird. Die Engländer wissen das, [28] aber sie haben während dieses ganzen Jahrhunderts diese Richtung mit Palmerston’scher Politik mehr unterstützt, als zu verhindern gesucht, obgleich sie sehen, daß ihnen dadurch die Oberlandpost und die ganze Sammlung zusammengeraubter Königreiche und Mongoleien in Indien verloren gehen wird. Sie sind jetzt, wie es heißt, mit 15 Dampfschiffen beschäftigt, 11,000 Mann, 1200 Pferde und die nöthigen Seeleute und Marinesoldaten nach Persien zu schaffen, um Indien zu retten. Zur Zeit des afghanischen Krieges war es Zeit dazu, jetzt ist’s wahrscheinlich 18 Jahre zu spät.

Der dermalige Herrscher der Afghanen, Dost Mahomed, steht gegenwärtig an der Spitze einer Armee von beinahe 70,000 Mann, und soll dieselbe, sagt man, auf 100,000 Mann gebracht werden; aber diese undisciplinirte Armee, in welcher der Schach von Persien alle Muselmanen der Sekte der Schiiten zu Anhängern hat, würde der persischen Armee weit nachstehen, wenn sie nicht von den Engländern bis in die Organisationsdetails unterstützt würde. Die Armee der Afghanen ist aus den Kontingenten der verschiedenen Stämme zusammengesetzt. Sie besteht zu zwei Dritteln aus Kavallerie, welche ihren besten Theil bildet. Diese Truppe ist in 25 Korps unter den Hauptchefs des Landes getheilt. Ihre malerische Kleidung ist uralt. Die Soldaten tragen eine sehr hohe konische Mütze, eine lange Jacke, weite Beinkleider und Maroquinstiefeln. Die Bewaffnung ist nicht gleichförmig; die Einen haben lange Flinten wie die Araber, die Andern sehr mörderische Lanzen oder Aexte, deren sie sich mit grosser Gewandtheit bedienen. Diese Kavallerie, welche nicht nach europäischer Weise manövrirt, ist wirklich furchtbar. Die Inferiorität der Armee der Afghanen besteht sohin in der Infanterie. Die Soldaten tragen schwere Karabiner, deren sie sich schlecht bedienen; sie sind weder an Märsche noch Strapazen gewöhnt, und manövriren ohne Zusammenwirken. Um diesem um so fühlbarern Uebel zu steuern, da die persische Infanterie ausgezeichnet ist, lassen die Engländer die Infanterie der Afghanen durch eine ihrer besten Brigaden verstärken.

Die Artillerie der afghanischen Armee ist nicht besser, als ihre Infanterie, weshalb es die Engländer für nöthig erachteten, der Brigade zwei Feldbatterien und eine Haubitzenbatterie beizugeben. Aber ein ebenso wirksames Mittel als die Truppensendungen ist das von den Engländern angewendete, indem sie Dost Mahomed, dessen Habgier bekannt ist, bedeutende Summen zuschickten und ihm Waffen und Munition auf ihre Kosten lieferten. Der wilde Häuptling weiß übrigens sehr wohl, daß Rußland der Verbündete Persiens ist, und er fürchtet die Macht des Czar. Die Afghanen sind tapfer, räuberisch und undisciplinirt. Der Armee folgt ein beträchtliches, den verschiedenen Stämmen gehöriges Material. Mehre führen Weiber und Kinder mit sich in den Krieg; eine Gewohnheit, die ihren Nomadensitten entspricht. Das westliche Afghanistan, welches sich mit Persien im Kriege befindet, umfaßt drei große Abtheilungen: das Königreich Kabul mit fünf Provinzen, das Königreich Kandahar mit drei Provinzen, dann das Fürstenthum Herat, das aus zwei Provinzen besteht: der Stadt Herat und ihres Gebietes mit den Städten Zurudge und Ubah und jener von Siahband mit der Hauptstand gleichen Namens.

Kabul ist die Residenz Dost Mahomed’s und der Hauptort des ganzen Reichs. Sie liegt 2000 Meter über der Meeresfläche und hat Befestigungswerke, welche die Fürsten der Familie Timur erbauen ließen. Die Stadt Kandahar liegt am linken Ufer des Orghendab, einem der Nebenflüsse des Hirmend. Diese wichtige Stadt bestand schon zu Zeiten Alexanders des Großen und zählte 1809 100,000 Einwohner. Das Wort „Afghan“ bedeutet Bergbewohner, was beweist, daß diese Völker ursprünglich Persien, Hindostan und Baktriana bewohnten.

Der Krieg um Herat ist dem äußeren Anscheine nach um die Frage, wer nun dort regieren soll, Dost Mahomed, Persien oder ein erobernder Held der englischen Armee oder Aristokratie, d. h. in der That um das Schicksal Indiens und ganz Centralasiens, wovon die Schicksale Englands und Europa’s wesentlich mit abhängen. So fern also auch der neue Kriegsschauplatz von uns liegt, werden dessen Siege und Niederlagen (oder Vertuschungen und Verschiebungen der Krisis) uns doch in unsern eigenen öffentlichen Angelegenheiten mit der Zeit sehr nahe kommen.




Skizzen aus dem Hamburger Volksleben.
Von Ernst Willkomm.
1. Am Hafen.

Auf dem hohen Uferrande der Norder-Elbe, im Westen Hamburgs, hat man an einigen Punkten überraschend schöne Ausblicke auf Strom und Landschaft. Früh am Morgen, wenn das Wasser dampft und nur langsam der Luftbewegung oder dem Einfluß der Sonnenstrahlen weicht, am sonnig hellen Mittage und Abends, immer ist der Anblick des großen bewegten Strombildes gleich ergreifend und fesselnd. Nie aber macht es einen gewaltigeren Eindruck auf den Beschauer, als bei fliegendem Gewölk, wenn glühend heiße Sonnenblitze es zerreißen, und die smaragdenen Inseln im vielgetheilten Strome bald mit weißlich blendenden, bald mit dunkel goldgelben Lichtoasen bedecken. Will es dann ein glücklicher Zufall, daß eine frische Brise aus Westen weht, die Zeit der Hochflut den Strom weit über die grünen Inselborde aufrauschen läßt, und eine Flotte segelbedeckter Kauffahrer, vom Purpurbrand der Abendsonne umglüht, dem Hafen zuführt, so wird ein solches Schauspiel Jedem, der es mit Muße zu betrachten Gelegenheit hat, unvergeßlich bleiben.

Wir nahmen in so günstigem Augenblicke unter der Veranda des neuerbauten Hotel Wietzel Platz, um ungestört das lebensvolle Bild betrachten zu können, das sich vor uns entrollt. Da erstreckt sich zur Linken, von rothbraunem Dunst halb verhüllt, die mächtige Handelsstadt mit ihren Thürmen, deren Spitzen allein über die schwere Dunstatmosphäre emporragen. Zu unsern Füßen rollt die Elbe ihre falben Wogen in einem, hier mehrere tausend Fuß breitem Bett, das etwa zum vierten Theile von den vor Anker liegenden Seeschiffen erfüllt ist. In Zeiten großen Verkehrs kann man die Zahl derselben auf wenigstens 800 anschlagen. Der Mastenwald mit seinem buntfarbigen Flaggen- und Wimpelschmuck ist dann nicht zu übersehen. Zwischen den Reihen dieser Schiffe und im freien Strome kreuzen sich Hunderte von kleinen Fahrzeugen, diese, um Güter vom Bord an’s Land oder umgekehrt vom Land an Bord zu bringen, jene, von gewandten Ruderern geführt, um die Kommunikation zwischen dem Festland und den Inseln aufrecht zu erhalten, oder Schiffseigner, Kaufleute, Makler, Kapitaine etc. an irgend einen Punkt im lebenerfüllten Hafen zu tragen. In kürzeren oder längeren Zwischenräumen wühlen die Schaufelräder eines Dampfbootes die schimmernden Wellen stärker auf, denn nicht nur das am linken Elbufer gelegene Harburg, auch die stark bevölkerten und vielbesuchten Orte zu beiden Seiten der Niederelbe werden durch eine geregelte Dampfschiffsverbindung in den engsten Verkehr mit Hamburg gesetzt. Gewöhnlich sind diese Schiffe mit zahlreichen nicht selten mit Hunderten von Menschen erfüllt, die eine Lustfahrt nach Teufelsbrück, Nienstätten, Blankenese, Harburg, Stade oder Cuxhaven machen, und dann fehlt selten ein Musikkorps auf dem Fahrzeuge, das heitere Melodien aus beliebten Opern oder einen munteren Lanner’schen oder Strauß’schen Walzer erklingen läßt.

Plötzlich steigt über den rosig schimmernden Segelschwingen der stromaufwärts gleitenden Schiffe eine hohe schwarze Rauchsäule auf, die sich, in krauses Gewölk zerflatternd, seitwärts nach Finkenwärder zieht, und einen grauen Schatten auf die grüne Landschaft wirft. Bald darauf wird der schwarze Rumpf eines überseeischen Dampfers zwischen den Segelschiffen sichtbar, und wenige Minutcn später rauscht einer jener cyklopischen Leviathane langsam dem Lande zu, die eine Erfindung unseres Jahrhunderts sind und dem internationalen Verkehr andere, fast an’s Wunderbare streifende Bahnen angewiesen haben. Sofort mehrt sich die Zahl Derer, welche zu jeder Tagesstunde an dem eisernen Geländer der Quai-Einfassung

[29]

Der Hafen von Hamburg.

[30] vor dem Hafenthore lehnen. An der Landungsbrücke drängen sich Männer, Frauen, Kinder ohne Unterschied des Ranges. Stämmige Packträger in blaugestreiften Blousenjacken eilen nach dem Schiffe, aus dessen Sicherheitsventil jetzt in weißen Säulen mit pfeifendem Gezisch die bewegende Kraft des Dampfes fährt. Die wohlgenährten Droschkenkutscher beeilen sich ebenfalls, der Landungsbrücke möglichst nahe zu kommen, um Passagiere aufzunehmen, kurz, das bunte Durcheinander der Hülfbereiter und Neugierigen, das bei keiner Landung fehlt, bietet dem ferner stehenden Zuschauer ein erheiterndes Bild rührigster Thätigkeit und gesündesten Volkslebens.

Bald aber wird Ohr und Auge auf einen andern, noch viel anziehenderen Gegenstand hingeleitet. Mitten im geordneten Knäuel der vor Anker liegenden Schiffe, wo bisher nur ein Zusammentreffen vieler Jollen und schwer beladener Boote bemerkbar war, hört man laute, weithin vernehmbare, wenn auch nicht immer verständliche Rufe einer festen männlichen Stimme. Gleich darauf erfüllt einförmiges Johlen singender Stimmen die Luft, das zwar nicht melodisch, doch aber eigenthümlich klingt, Ketten klirren, das knackende Geräusch gezahnter Eisenräder kreischt dazwischen. Ein Boot, von zwei oder drei Ruderern getrieben, schießt zwischen den Ducs d’alben[5] in den freien Strom heraus, und schleppt hinter sich ein Tau. Wir sehen die Jolle nur einige Augenblicke, dann verschwindet sie wieder, wird nochmals sichtbar, und bald darauf zittert das Tau in der Luft und schlingt sich um einen der Hafenpfähle, von kräftigen Matrosen geschickt und unter talkartigem „Hoi-ho!“ gehandhabt. In dem Schiffsgewirr macht sich eine Bewegung bemerkbar. Die Masten eines Vollschiffes gleiten langsam an den sie umgebenden Raaen anderer Schiffe vorüber, und der Ruf einiger Zuschauer am Quai: „Nun legt es aus!“ sagt uns, daß ein zur Abfahrt bereites Fahrzeug so eben Anstalt trifft, den Hafen zu verlassen.

Es ist ein Packetschiff, das einige Hundert Auswanderer an Bord hat – und mit eintretender Ebbe stromabwärts segeln will. Kopf an Kopf gedrängt, stehen die Heimathmüden auf dem Deck des Fahrzeuges, mit erstaunten Mienen bald das Gewühl im Hafen, bald die arbeitenden Matrosen betrachtend, die des Kapitains Kommandoruf auf die Raaen beordert hat, um hier die Segel zu entfalten und den einige Striche südlich gelaufenen Wind zu benutzen. Unwillkürlich duckt sich mancher Aengstliche, wenn er die gelenken Menschen mit katzenartiger Geschwindigkeit die Wanten[6] hinanlaufen, sich in das Takelwerk schwingen und hier, oft nur mit einem Fuße auf scheinbar dünnem Seile sich haltend, die schwersten Arbeiten rasch und sicher vollbringen sieht. Andere winken mit Hüten und Tüchern Verwandten oder Bekannten am Strande zu, wo zwischen den Zuschauern auf Kisten und Kasten, mit blanken Blechgeschirren behangen, ein Trupp anderer Auswanderer sitzt, und regungslos auf den bewegten Strom und das langsam fortziehende Schiff hinausblickt. Noch Anderen, die mit schwerem Herzen vom alten Vaterlande scheiden, zittert eine Thräne im kummerschweren Auge. Das alte Elend liegt vielleicht hinter ihnen, aber die Sorge, die mit ihnen grau geworden, haben sie nicht zurücklassen können. Ein Häuflein Kinder, noch unzurechnungsfähig und darum leicht befriedigt, hockt auf den zum Strome hinabführenden Treppen, sie halten sich fest umschlungen, und geben ihre Verwunderung über die neue Welt, die ihnen entgegentritt, durch laute Ausrufe zu erkennen. Aber Niemand achtet auf diese rührende Kindergruppe. Man hat keine Zeit, die Flut läuft ab, die Sonne sinkt, weit unter Altona, wo der Strom sich fast zur Bucht ausweitet, thürmen sich Wolken auf und verheißen zur Nacht windiges Wetter. „An Bord, an Bord!“ mahnt dringend die harte Stimme des Bootführers, die Kinder werden seitwärts gedrängt, die Mutter drückt sie seufzend an sich, und bald ist die Familie zwischen ihren aufgeschichteten Habseligkeiten neben andern Schicksalsgenossen im schaukelnden Boote untergebracht.

Inzwischen hat das seewärtssegelnde Auswandererschiff die zu Berg kommende Flotte erreicht. Ihre Segel bedecken fast die ganze Breite des Stromes, dessen Wogen jetzt wie geschmolzenes Erz im Abendsonnenlicht funkeln. Und so weit das Auge reicht, es gewahrt immer mehr Segel, diese wie dunkle Flecken in der Luft sich abzeichnend, jene blendend weiß, andere wieder purpurfarbig, je nachdem ein greller Sonnenstrahl oder der Schatten einer vorüberziehenden Wolke sie streift. Ueber dem Borde des in See gehenden Schiffes wirbelt weißlicher Rauch auf, der Schuß einer Schiffskanone hallt dumpf wieder an dem geräuschvollen Ufergelände, ihm folgt ein zweiter und dritter, die aufkommenden Schiffe flaggen, und einem zerrinnenden Schatten gleich zerfließt das Fahrzeug in den sonnig feuchten Nebeln, die der Abend über den schwelgenden Strom breitet.

Diese rasch wechselnden Bilder entrollt der Hafen Hamburgs vor unsern Blicken fast jeden Tag, wenn wir Zeit haben, einige Stunden seiner Beschauung zu widmen. Der Abend läßt diese Welt bunt wechselnder Bilder nicht untergehen, er ändert sie nur. Das Lichtbild verwandelt sich in den schattigen Abdruck einer Laterna magiea, wird aber vielleicht, gerade weil die Alles beleuchtende Sonne jetzt mangelt, nur um so interessanter und anziehender sich gestalten.

Von der Insel Steinwärder, wo die schwarzen Rauchkegel hoch ragender Schornsteine und die schmutzig-rothe Dampfschicht, welche über einem flammenden Schlackenfelde sich bald hebt, bald senkt, die große Thätigkeit viel beschäftigter Fabrikanlagen uns verräth, kehren Schaaren von Arbeitern um diese Zeit zur Stadt zurück. Feiert in jenen Werkstätten des Materialismus auch nicht die Arbeit, so treten für die Nacht doch Andere ein. Moderne Fabriken, die mit Dampf arbeiten, geben dem Menschen keine Ruhe, weder Tag noch Nacht. Wie der Bergmann im lichtlosen Schacht den Unterschied von Tag und Nacht aufhob, weil es ihm gleich war, ob er bei Sternenschein vor Ort das Fäustel schwingt, oder im Licht der allbeleuchtenden Sonne, so thut es in unserer erwerbsüchtigen, zeitgeizigen Gegenwart auch der Fabrikherr, weil er sonst nicht Schritt halten kann mit dem Raffinement der aus kluger Zeitbenutzung geldmachenden Konkurrenz.

Gleichzeitig verstummt das Gelärm auf den Werften, die schrillende Säge, welche Holz zu Schiffsplanken schneidet, schweigt, die letzten Dampfschiffe legen an. Alles bereitet sich vor, das Tagewerk zu beendigen und auszuruhen von den Lasten, unter denen man geseufzt. Von den aufsegelnden Schiffen erreicht eins nach dem andern den schützenden Hafen, und bald verläßt ein Theil der Equipage die schwimmenden Gebäude, um vielleicht nach Monate langer, gefahrvoller Reise endlich wieder den schwankenden Fuß auf die ernährende Mutter Erde zu setzen.

Nun taucht die Sonne, noch einmal einen langen heißen Abschiedskuß der Welt zuwerfend, hinter dem rollenden Wasserspiegel unter, hüben und drüben, bald fern bald nah, bald trüb’ bald hell, blitzt ein Licht, ein Flämmchen, ein Gasfunken auf, und ein neues Leben, das Leben der Nacht, das in großen Seestädten sich ganz eigenthümlich gestaltet, beginnt innerhalb und außerhalb der Thore. Ehe wir aber diese nächtliche Seite Hamburgs näher in’s Auge fassen, wenden wir uns einer Klasse Menschen zu, die man im Binnenlande auch nur dem Namen nach kennt, die aber ohne Frage unter allen modernen Menschen wenigstens Europa’s noch immer die meiste Ursprünglichkeit sich bewahrt hat, wenn schon zugegeben werden muß, daß diese Ursprünglichkeit sich auf Kosten menschlicher und sittlicher Bildung nur zu oft mehr als billig in die Brust zu werfen pflegt, wir meinen die Matrosen, diese wilden Sprößlinge der Natur, die ungezogenen Kinder einer harten Wirklichkeit, die unerschrockenen, kaltblütigen Jünger Neptun’s und Aeolus’, die trotz ihrer sturmvollen Weltfahrten doch bis auf den heutigen Tag die Kultur noch nicht dergestalt beleckte, daß sie ihr innerstes Wesen umzugestalten vermochte.




2. Matrosen am Lande.

Im Jahre 1855 besuchten den Hamburger Hafen 4593 Seeschiffe mit einer Bemannung von im Ganzen 40,102 Köpfen. Da nun in der lebhaftesten Verkehrszeit durchschnittlich die Zahl der vor Anker liegenden Schiffe auf 500 bis 600 veranschlagt werden darf, so läßt sich immer annehmen, daß fast ununterbrochen zwischen 3000 bis 4000 Seeleute sich in Hamburg aufhalten. Diese ansehnliche Menge fremder, größtentheils sehr junger oder doch in dem kräftigsten Lebensalter stehender Menschen gibt dieser Stadt einen physiognomischen Ausdruck, von welchem der Binnenländer sich schwer eine Vorstellung machen kann. Weil aber ohne diese wichtige Menschenrasse aller Seehandel, alle Schifffahrt undenkbar [31] wäre, die Matrosen mithin ein unentbehrliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft sind und an dem Bestehen, Blühen und Wachsen bedeutender Seestädte mittelbar einen unberechenbar großen Antheil haben, will ich versuchen, ihr Thun und Treiben in der Zeit zu schildern, wo sie ausruhen von den Strapatzen langer Seereisen und wo sie sich am Lande zu neuen Mühen, zu neuen Kämpfen mit den empörten Elementen stärken.

Der Matrose germanischen Stammes, von welchem hier vorzugsweise die Rede ist, stellt ein ganz eigen geartetes Doppelwesen dar. Er ist ein Anderer am Bord seines Schiffes, ein Anderer am Lande. Dort hat er keinen eigenen Willen, er ist Unterthan der absoluten Herrschergewalt des Kapitains, welchem die Führung des Fahrzeuges anvertraut wurde. Mechanisch, schnell, mit aller ihm zu Gebote stehenden Kraft und Gewandtheit vollzieht er den Befehl des Kapitains. Er denkt nicht nach über das, was ihm geheißen wird und thut er es wirklich, so kleidet er seine Gedanken wenigstens nicht in Worte; denn blind muß der Gehorsam sein, soll ein Schiff glücklich die Weltmeere befahren, und Ordnung und Sitte aufrecht erhalten werden. In der ganzen Welt herrscht daher kein größerer Absolutismus, als auf einem in Fahrt gesetzten Schiffe, nirgend werden republikanische Tendenzen und die Weisheit der Vielregierungskunst lauter verlacht, als auf solch’ einem schwimmenden Holzbau. Leider artet der Absolutismus dieses Schiffsregimentes oft in Despotismus aus, was weder geschehen sollte, noch, wenn bekannt, gebilligt wird, immer aber dürfte der allerschlimmste Despotismus noch mehr zu empfehlen oder wenigstens mehr zu loben sein, als nachgiebiges, lässiges Regiment. Ein Kapitain, der auf seinem Fahrzeuge nicht unumschränkter Gebieter, nicht Selbstherrscher im weitesten Sinne des Wortes ist, also nur sich und seinem Gewissen Rechenschaft abzulegen hat über sein Thun, der würde eine höchst traurige, in den meisten Fällen sogar eine verächtliche Rolle spielen. Darum gehören Talente, gründliche Kenntnisse, ungewöhnliche Willenskraft, unerschrockenes Wesen und Geistesgegenwart, endlich größte Selbstbeherrschung verbunden mit angeborener oder anerzogener Humanität zu den vorzüglichsten und im Grunde unerläßlichen Eigenschaften eines guten, zuverlässigen, seiner wichtigen Stellung vollkommen genügenden Kapitains. Der Matrose weiß dies, und sollte er anfangs Zweifel hegen, so werden ihm diese schon während der ersten Seereise benommen. Das Leben auf See lehrt ihm, daß es nicht anders sein kann und darf, und diese Ueberzeugung allein läßt ihn oft sogar die härteste Behandlung schweigend ertragen. Er weiß, daß jede Widersetzlichkeit unnachsichtig geahndet wird. Darum gehorcht er blindlings und harrt, selbst unter den größten Entbehrungen, unter rauher Behandlung geduldig aus.

Schon diese Andeutungen werden genügen, unsern Lesern zu sagen, daß die Stellung eines Matrosen keineswegs eine beneidenswerthe genannt werden kann. Mancher glaubt, ein Matrose führe das freieste, interessanteste und lustigste Leben von der Welt, mache die lehrreichsten Reisen, ohne einen Kreuzer dafür ausgeben zu dürfen, und kehre alsbald mit Schätzen beladen zurück, um am heimischen Strande auszuruhen und in behaglichen Erinnerungen an das Vergangene sein Leben zu genießen. Die Wirklichkeit mischt diesem sonnig schönen Phantasiegemälde sehr viele harte Schlagschatten bei, eins nur bleibt auch dem entstelltesten solcher Bilder unverkürzt: die vielen Erfahrungen, das nie ermattende Interesse, eine Menge wunderbarer, angenehmer und unangenehmer, heiterer und grauenvoller Abenteuer.

Dies Abhängigkeitsverhältniß, das wohl zuweilen in eine drückende Sklaverei ausarten mag – wenigstens wollen dies Manche behaupten – hört auf, sobald das Schiff seinen Bestimmungsort erreicht hat und der Anker in den Grund rollt. Daher das laute Jauchzen aller Matrosen beim Erblicken des Hafens, der Jedem eine Heimath zu sein dünkt, daher das Grüßen und Jubeln, wenn das schwer beladene Fahrzeug in den Hafen legt und ungezählte Genüsse dem nach Leben und Freiheit, nach willkürlicher Bewegung und ausgelassenem Thun lüsternen Matrosen vom nahen Strande entgegenwinken. Er hat sich Wochen, Monden, vielleicht Jahr und Tag beherrschen, alle Leidenschaften in sich ertödten, jeder freien Willensregung sich begeben müssen, und es drängt ihn jetzt mit der ganzen Ursprünglichkeit eines an Geist und Körper gesunden Menschen, den so lange gefesselten Leidenschaften und Gelüsten den Zügel schießen zu lassen. Sehnsuchtsvoll aber schweigend harrt er des Augenblicks, wo der Kapitain das Zauberwort ausspricht, das ihn frei und unabhängig macht. Das Fallreep verschmäht er, um die Jolle zu erreichen, an einem Tauende läßt er sich herab vom Klüverbaum, um schon im Niederschweben ein paar Luftsprünge zu machen vor Lust und Freude. Dann legt er die Riemen ein, holt weit aus und treibt den schaukelnden Nachen mit langen Ruderschlägen dem Lande zu.

Da steht er nun, ein freier zwar, aber auch ein etwas herabgekommener Mann. Seine Kleidung empfiehlt ihn nicht. Sie sieht schäbig aus und trägt die Spuren vieler böser Tage. Die Zahl der Theerflecke auf den prall anliegenden Beinkleidern von ehedem weiß gewesenem englischen Leder ist nicht zu berechnen, die Mütze zeigt verschiedene Löcher auf, das grobe Hemd verdient nicht mehr die Wohlthat einer Wäsche. Auch mit dem Schuhwerk sieht es mißlich aus; denn von Sidney in Australien ist bis Hamburg, besonders wenn man unterwegs noch Shangai einen Besuch abstattet und auf der Rückreise ein paar fliegende Stürme zu überstehen hat, ein weiter Weg. Sturzseen über Deck sind böse Gäste, und wenn der Matrose Tag und Nacht derartigen Salzwasserbädern ausgesetzt war, muß zuletzt auch der sauberste Junge ein übles Aussehen bekommen.

Diesem Uebelstande weiß indeß ein Matrose echten Schlages sehr bald abzuhelfen. Kaum hat er den Fuß an’s Land gesetzt, so wird mit einigen Kameraden zuerst ein Schlafbaas aufgesucht, entweder ein Bekannter oder, ist der Matrose noch fremd, ein ihm empfohlener Mann. Der Schlafbaas ist aller Matrosen, die sich ihm anvertrauen, sorgender Vater und Vorsehung. Auf ihn verläßt sich der Sohn der Meere, ihm schenkt er unbedingtes Vertrauen. Heikel und schwer zu behandeln ist der Glückliche überhaupt nicht, den der Kiel des Schiffes mit heiler Haut in den Hafen bringt. Er trägt also, falls der umsichtige Baas dies nicht ohne Worte schon errathen sollte, diesem seine Wünsche vor, nennt ihm seine Bedürfnisse und drängt nebenbei zu größter Eile. Denn Zeit mag er nicht verlieren, um nur ja recht lustig und möglichst rasch leben zu können. Dazu bedarf er aber vor Allem schmucker Kleider, und diese dem gutherzigen Jungen zu verschaffen, der in kaum einem Jahre zwei Mal die Linie passirt ist, trifft der Baas sofort schleunige Anstalt.

(Schluß folgt.)




S’ is anderscht.

Du moanst wol, di Liab last si zwinga,
Du glaubst wol, i war so a Bua,
Du denkst wol, mi wikelst um d’ Finga,
Du moanst wol, i lach nur dazua?
Do glaub ma: s’ is anderscht, valaß di nur drauf;
Zatritst wo a Bleamle, steht ’s nimmermer auf.

Du moanst wol, i wurd di vagessn,
Du glaubst wol, dös gang a so leicht,
Du denkst wol, s’ is, wia mit an Bes’n
Ma d’ Vögerln vom Bam wekascheicht?
Do glaub ma: s’ is anderscht, di Liab baut si ir Nest
Und dukt si und bukt sie und hokerlt schön fest.

Du moanst wol, i wurd mi scho gwöna,
Und sagst wol, du warst nit aloan,
Und glaubst wol, s’ gibt Dirndeln, vil schöna,
Und denkst wol, i suchat mar ran?
Do glaub ma: s’ is anderscht, mei Liab hat an B’stand,
Laßt nit si wegwasch’n wie in Bacherl da Sand.



[32]

Briefwechsel.

K. L. in W. Ihre Frage gehört nicht in das Territorium der Gartenlaube und kann deshalb auch nicht in der gewünschten Weise beantwortet werden. Jedenfalls sind Sie in Ihrem Urtheile über jene „leichtsinnigen Kinder der Pariser Dachstuben“ zu streng. Es liegt mir durchaus fern als Vertheidiger des Grisettenlebens aufzutreten und ich möchte dies am allerwenigsten in unserm Familienblatte, das für solche Dinge keinen Raum hat, wo aber Erziehung und Sitte so sehr und fast entschuldigend mitsprechen, sollte man den Stein nicht auf jene Wesen werfen, die kaum ihre Schuld kennen. In den Geld- und aristokratischen Kreisen Frankreichs und leider auch Deutschlands ist mehr Sittenlosigkeit zu finden als dort. Und in den meisten Fällen lieben diese „Kinder des Tages“ doch mit einer Wahrheit und Innigkeit, die an das Rührende grenzt. Ein französischer Schriftsteller erzählt uns ein reizendes Geschichtchen von einer Grisette, die mit einem Blumentopfe zu einem Künstler kommt und ihn zu lieben und bei ihm zu bleiben verspricht, so lange bis die Blume welke. Die Kleine aber liebt den Künstler mehr als sie selber glaubt, oder sie lernt ihn vermehrt lieben, denn der Letztere bemerkt, wie sie Nachts sich verstohlen vom Lager erhebt und ungesehen die Blume begießt, um sie vor dem Verwelken zu schützen. Und als die Blume endlich doch anfängt zu welken und die Blätter zu senken, da bittet sie den Künstler mit Thränen im Auge und faltet die Hände so bittend schön, er möge ihr die Blume ihres Glückes malen in voller Schönheit und Blüthe, damit sie ihn immer und mit jedem Tage wieder lieben und an ihn denken könne, auch wenn er sie lange vergessen, daß der Künstler das „leichtsinnige Kind“ gerührt an sein Herz zieht und ihr die Blume malt, glänzend und schön wie am ersten Tage ihrer Liebe. Im Boudoir einer glücklichen Gattin aber hängt jetzt noch die gemalte Blume der Liebe, und mit jedem Morgen schmückt das glückliche Weib in immer neuerwachender Liebe die todte Blume mit den lebenden ihres Gartens – ein Bild des reinsten innigsten Eheglückes! Und es war doch eben auch nur „eine Grisette.“

W–s in H–d. Bitte wiederholt darauf zu achten, daß die Gartenlaube von aller Polemik in religiösen und kirchlichen Dingen durchaus absieht. Wir haben das von vornherein erklärt und sind diesem Princip während der verflossenen 4 Jahre auch stets treu nachgekommen. Uebrigens können wir der, in Ihrer Zuschrift ausgesprochenen Meinung nicht beistimmen. So lange die Kanonen Guttenberg’s nicht wieder eingeschmolzen werden, ist an die Verwirklichung Ihrer Befürchtungen nicht zu denken; am allerwenigsten hat der Mysticismus in Deutschland eine Zukunft.

Mtz. in Bremen. Wir sind Ihnen sehr dankbar für Ihre Theilnahme und Rathschläge, bitten aber diese in Zukunft frankirt mitzutheilen. Wenn Sie die Gartenlaube besitzen, so verstehen wir übrigens nicht, wozu ein nochmaliger Abdruck der Erzählungen nützen soll.

R. in W. Biographien und Charakteristiken von Feldherren dieser Art liegen außer der Tendenz der Gartenlaube, die eine Ausnahme nur dann gestatten kann, wenn die Zeitereignisse, deren Chronik ein Journal mehr oder weniger sein soll, eine solche nothwendig machen. Schlachtengrößen vergangener Zeit, zumal solche, denen das Vaterland keinen Dank schuldet, haben für das Lesepublikum der Gartenlaube – so dürfen wir hoffen – kein Interesse. Die Thaten unserer Väter, welche für ihr Vaterland verbluteten, werden für uns stets heilig und unvergeßlich bleiben; das Bild eines Eroberers, der auf Ordre seines Herrn Schlachten schlägt und gewinnt, ist für die Humanität und Civilisation der Menschheit gleichgültig. Die Thiere zittern und fliehen vor ihren Würgern, und nur die Menschen machen Götter aus ihnen.

S. R. in D. Sie fordern unsern Rath in einer Angelegenheit, in der wir nicht competent sind. Sie wollen nach Amerika auswandern und glauben in einer gediegenen Universitätsbildung die Basis zu besitzen, auf der Sie Ihr Glück unter den Yankee’s aufbauen können. „Mit einem reichen Schatz klassischer Bildung ausgestattet, – schreiben Sie, – mit den vorzüglichsten Zeugnissen dreier Universitäten versehen, und vor Allem mit Kraft und Willen zu arbeiten, denke ich einer sichern, vielleicht reichen Zukunft dort entgegen zu gehen.“ – Erlauben Sie mir Ihnen eine kurze Geschichte zu erzählen.

Es war ein naßkalter regnerischer Novembermorgen des vergangenen Jahres, als ein Mann in meine Arbeitsstube trat, dessen Anblick mich fast erschreckte. Bleich, abgehärmt, ein Bild des Jammers und des Elends, die Haare verwirrt um den Kopf hängend und mit einem Rock bekleidet, der augenscheinlich nicht auf seinen Leib gemacht war, trat er, mit einem Knüttel bewaffnet, in das Zimmer. Kein Gruß, aber auch kein Wort der Entschuldigung über seine Störung kam über seine Lippen, stumm wie er eingetreten, schritt er bis hart an mein Pult, wo ich stand und schrieb und sah mich stieren Auges an. Ich wußte nicht, was ich aus der Erscheinung machen sollte. „Herr,“ frug er dann leise und aus dem schmerzlichen Tone, mit dem er die wenigen Worte sprach, klang’s fast wie ein Vorwurf heraus, „Herr – kennen Sie mich nicht mehr?“ –

Bei dem ersten Tone seiner Stimme erfaßte mich die Erinnerung: „Reinhardt, um Gottes Willen, Sie sind’s – wo kommen Sie her?“

„Aus Amerika“ sagte er leise.

„Und als was – aber wie?“ fuhr ich heraus und unwillkürlich trat ich zurück, denn sein Auge stierte mich noch immer an, wie das eines Wahnsinnigen.

„Als Bettler“ antwortete er eben so leise.

Wie der Mann das so einfach sagte, packte mich die ganze Gewalt seines riesengroßen Unglücks. Es waren kaum zehn Jahre her, daß ich Reinhardt zum letzten Male gesehen. Damals war er die Zierde der Gesellschaft, einer der intelligentesten Geschäftsleute, dessen Bildung weit über die gewöhnliche hinaus ragte, geschätzt und geachtet von allen Leuten der Wissenschaft, die seine umfassenden Kenntnisse nicht genug zu rühmen wußten.

Er war dabei ein praktischer Kopf, sprach vier Sprachen, war trotz eines guten Einkommens in seinen Bedürfnissen einfach und als thätig und arbeitsam allgemein bekannt. Nur ein grenzenloser Haß gegen Alles, was Geld- und Standesaristokratie hieß, beherrschte ihn und riß ihn oft zu Aeußerungen hin, die seinem sonst ruhigen und gesetzten Wesen ganz widersprachen. Dieser Haß führte ihn auch nach Amerika.

Ich will Ihnen nicht die Leidensgeschichte in ihrer ganzen Ausführlichkeit erzählen, die ich jetzt anhören mußte. Nur ein Mann, wie Reinhardt, eine Natur voll Kraft und Energie konnte das Alles ertragen, ohne den Muth zum Fortleben zu verlieren. Seine Existenz in Amerika war eine Kette von Enttäuschungen und Brutalitäten, die einen Menschen von strengen Ehrbegriffen, wie sie Reinhardt hatte, moralisch niederdrücken mußte. Sein Glauben an die Menschheit ging verloren.

„Ich habe,“ schloß er seinen Bericht, „gearbeitet wie ein Lastthier. Als ich meine Kenntnisse nirgend mehr verwenden konnte, habe ich Steine geklopft, habe Schienen auf die Eisenbahnen gelegt, Rouleaux in einer Fabrik gemalt, Karten gedruckt und schließlich die – Presse gedreht. Das Letztere mochte wohl für meine Brust zu viel sein, denn eines Tages warf mich mitten in der Arbeit ein Blutsturz zu Boden und in’s Hospital, wo ich Monate lang lag, krank und elend. Gute Freunde streckten mir nach meiner Entlassung aus dem Krankenhause eine kleine Summe vor, ich begann damit einen Cigarrenhandel und ging – hausiren, so schlecht und gut das eben mit einer todtkranken Brust gehen wollte. Aber ich hatte doch eine Existenz, ich nährte mich ehrlich und athmete wieder freier. Freilich nur kurze Zeit! Als ich eines Abends spät in meine Wohnung trat, matt und müde zum Umsinken, fand ich mein Kämmerchen erbrochen und meine Vorräthe und geringe Baarschaft gestohlen.“

Reinhardt schwieg hier einige Augenblicke und die Erinnerung an jene Tage mochte wohl eine sehr trübe und unvergeßliche sein, denn ich sah, wie er die Lippen zusammenkniff, um seinen Schmerz zu verbeißen. Dann sprach er weiter.

„Der Schreck über die wiederholte Zerstörung meiner Existenz warf mich nieder. Als ich erwachte, sah ich mich von einigen Freunden umringt, die, wenn auch selbst arm und ohne Mittel, doch herzugeeilt waren, nach Kräften zu helfen. Ich weiß nicht, wie es kam, aber eine unendliche mächtige Sehnsucht nach meiner alten Mutter in Deutschland erwachte plölzlich in mir, der Boden Amerika’s brannte unter meinen Füßen und unaufhaltsam trieb es mich hinüber. Von meinen Freunden bettelte ich mir das Ueberfahrtsgeld nach England, dort war ein deutscher Kapitain mitleidig genug, mich ohne Zahlung nach Hamburg mitzunehmen und jetzt bin ich hier, um meine alte Mutter noch einmal zu sehen und dann ruhig zu sterben. Da drinnen,“ schloß er mit zitternder Stimme und zeigte auf seine Brust, „wird’s ja bald genug alle werden!“

Das, lieber Herr, ist meine Geschichte und meine Antwort auf Ihre Aufrage. Was weiter mit Reinhardt geschah – was soll ich’s noch erzählen? Es gehört zu den erschütterndsten Momenten des Lebens, wenn ein Mann, dessen Kenntnisse und Eigenschaften zu den höchsten Erwartungen berechtigen und dessen Stolz sonst ängstlich Alles vermied, was wie Annahme einer Gefälligkeit aussah, wenn ein solcher Mann durch des Lebens Schicksalsschläge so weit gebrochen ist, daß er – demüthig die Hände küßt für eine Gabe, die ihm das Mittel an die Hand gibt, sein altes Mütterchen wieder aufzusuchen. Mit Kenntnissen außergewöhnlicher Art, mit großer Arbeitskraft und dem regsten Willen ging er nach Amerika und mit dem Bettelstab in der Hand kam er zurück, der intelligente, wissenschaftlich gebildete Mann – ein Pressendreher! Ein Beispiel freilich kann nicht maßgebend sein, aber so viel beweist immerhin diese kurze Geschichte, daß Kenntnisse und guter Wille in Amerika allein nicht ausreichen. Und wer gibt Antwort auf die Frage, wie viele deutsche Reinhardt’s da drüben ungekannt und ungenannt in Jammer und Elend untergegangen und noch untergehen?
E. K.


Mit dem 1. Januar begann ein neuer Jahrgang der bei Ernst Keil in Leipzig erscheinenden Zeitschrift:

„Aus der Fremde,“
Wochenschrift für Natur- und Menschenkunde der außereuropäischen Welt,
redigirt von A. Diezmann.
Wöchentlich ein Bogen mit und ohne Illustrationen. Vierteljährlich 16 Ngr.

Unsere Zeitschrift beschäftigt sich mit Land und Leuten weit und breit, auf dem ganzen Erdenrunde. Sie gibt nicht Erdichtetes, sondern Wahrheit, aber, was sie erzählt, bestätigt gar oft den altbewährten Spruch: „Wirklichkeit ist seltsamer als Dichtung.“ Sie gibt nicht trockne Reiseberichte; sie beschreibt vielmehr Erlebnisse in der pikantesten und kleidet ihre Schilderungen in die eleganteste und anmuthigste Form; denn, was gelesen zu werden verdient, soll auch angenehm zu lesen sein. Ihr Feuilleton ist stets reich und neu. – Die große Verbreitung, welche die Fremde seit ihrem kurzen Bestehen gefunden hat, beweist am besten die Gediegenheit des Blattes.

Alle Buchhandlungen und Postämter nehmen Bestellungen an.

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. bonus dies, bona sera.
  2. Wahrscheinlich eine Abzweigung der schwäbischen Kolonien die Friedrich I. zum Schutze seiner Bergpässe nach Italien in den Rheinwald geführt haben soll.
  3. Ein Mittelding zwischen Wiesen und Alpen.
  4. Die Bauern nennen solchen Boden sehr bezeichnend „wassersüchtig.“
  5. Ducs d’alben nennt man die Pfähle, welche, gewöhnlich fünf bis sechs an der Zahl mit starker Kette umgürtet, im Hafen eingerammt sind, um die Schiffe daran befestigen zu können.
  6. Die mit Strickleitern versehenen Seitentaue der Masten.