Die Gartenlaube (1859)/Heft 27
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No. 27. | 1859. |
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Im Zwielichte des Abends mitten in einer Heide, in wildfremder Gegend sich verirren, nicht wissen, ob man, um wieder auf den rechten Weg, um wieder zu Menschen zu kommen, rechts oder links, vorwärts oder rückwärts gehen muß, Niemanden sehen, der Einem das sagen kann – es ist für einen Reisenden eben keine angenehme Lage.
Ich war in der Lage. Schon seit einer halben Stunde war ich in der Heide gefahren, und noch war das Ende der kahlen Fläche nicht zu sehen, auf der nur Heidekraut und nur hin und wieder eine kleine verkrüppelte Fichte stand. Desto mehr Wege waren zu sehen; aber eine befahrene Landstraße war nicht darunter. Es gab freilich überhaupt in der Gegend keine Landstraße, in der ich hätte weiter fahren können oder müssen. Nur Wege, die kreuz und quer durch die Heide liefen, auf denen die an diese grenzenden Bauern des Jahres ein paar Mal Torf oder Plaggen oder Holz von drüben holten, lagen vor, neben und hinter mir.
„Hole der Teufel eine solche Heide, Herr!“ fluchte mein Kutscher unwillig.
„Kommen wir damit weiter, Kutscher?“
„Und heute Morgen sind wir gar nicht hierher gekommen.“
Ich hatte eine amtliche Geschäftsreise gemacht und war auf dem Rückwege nach Hause. Der Rückweg sollte derselbe Weg sein, den wir am Morgen gekommen waren. Wir waren auch diesen Morgen durch die Heide gefahren, aber in dieser hatten wir uns jetzt verirrt.
„Nein, Kutscher; heute Morgen fuhren wir einen ganz anderen Weg.“
„Und keine einzige verd– Christenseele ist in der Nähe, die uns wieder auf den rechten Weg zeigen könnte.“
„Nicht einmal ein unschuldiger Gnom, Kutscher.“
„Gnom, Herr? Hier in der Gegend wohnen nur Bauern.“
„Oder Erdmännchen denn; in Litthauen nennt man sie Barstucken.“ Ich hatte früher mehrere Jahre in Litthauen als Beamter gestanden; daher die Erinnerung.
Bei dem Worte Erdmännchen hatte der Kutscher aufgehorcht. Bei dem fremden Worte Barstucken mochte es ihn gar etwas durchschauern. Es fing an zu dunkeln, und wir waren mitten in der unabsehbaren Heide. Er sah sich scheu um, in dem Heidekraute, das in dem Abendwinde raschelte, nach einer Reihe jener kleinen, verkrüppelten, grauen Fichten, die nicht weit von uns standen und durch die man einzelne Windstöße schwirren hörte.
„Herr, sprechen Sie hier nicht von Gespenstern.“
„Wißt Ihr gewiß, Kutscher, daß die Erdmännchen Gespenster sind?“
„Alle Welt weiß es.“
„So wollen wir lieber von dem langen Heidemanne sprechen, der Siebenmeilenstiefeln trägt –“
„Herr, Herr – ich bitte Sie –“
„Und der also in diesem Augenblicke noch volle sieben Meilen von uns ist und im nächsten Momente, ehe man sich nur umsehen kann –“
„Herr, um Gotteswillen –“
„Einem schon den rechten Weg zeigen kann.“
„Ah, Herr, wie Sie Einen in Angst jagen können!“
„Er kann Einem aber auch eben so geschwind den Hals umdrehen.“
„Großer Gott, Herr –“ Er schrie auf, aber mit gedämpfter Stimme.
„Was gibt’s? Ist er schon da?“
„Dort, dort!“
Er zeigte nach der Fichtenreihe, die nicht weit von uns stand, und war leichenblaß geworden. Ich sah hin nach der Richtung, wohin er zeigte; aber mir ging das Herz vor Freude auf.
„Vortrefflich! Da sind wir auf einmal aus aller Noth; der kann uns den rechten Weg zeigen.“
„Sie wollen doch nicht hin, Herr?“
„Warum nicht?“
„Der Mensch war so auf einmal da, hier mitten in der Heide; wir hatten vorher nichts von ihm gesehen. Und wie sieht dieser Mensch aus!“
„Er sieht aus, wie andere ehrliche Menschen. Und daß er ein ganz ehrlicher Mensch ist, habe ich heute erfahren.“
„Sie kennen ihn?“
„Ich habe heute Amtsgeschäfte mit ihm gehabt.“
Der Kutscher athmete wieder auf. Ich wollte zu dem Manne gehen, den ich zwischen den Fichten gesehen hatte; aber auf einmal stutzte ich.
„Was Teufel ist denn das?“
Der Kutscher war wieder blaß geworden. „Es war doch ein Geist, Herr.“
„Aber ich hatte den Menschen erkannt.“
„Die bösen Geister können alle Gestalten annehmen.“
Ich hatte ganz deutlich einen Menschen gesehen, einen kleinen, alten Mann in grauem Rock und grauer Pelzmütze, und in ihm [378] einen Bauer wiedererkannt, mit dem ich bis vor anderthalb oder zwei Stunden noch amtlich verhandelt hatte; so glaubte ich wenigstens. Aber als ich jetzt zu dem Manne hingehen wollte, war er plötzlich verschwunden, eben so plötzlich, wie er wenige Augenblicke vorher mitten in der Heide aufgetaucht war. Und so sonderbar war er verschwunden. Die Fichten standen so vereinzelt und waren so klein und so dünn, daß auch der kleinste und dünnste Mensch sich nicht hinter ihnen verbergen konnte, und doch war keine Spur von ihm zu sehen. Dem Kutscher, der an kleine Erdmännchen und lange Heidemänner mit Siebenmeilenstiefeln glaubte, hätte wohl ängstlich werden können.
„Ich muß doch wissen, was das war,“ sagte ich.
Ich wollte meinen Weg zu den Fichten fortsetzen, aber der Kutscher warf sich mir entgegen und hielt mich zurück. „Machen Sie kein Unglück, Herr.“
„Es war doch ein Mensch.“
.„Es war ein Heidegespenst.“
„Es war Jemand, und wir müssen wieder auf den rechten Weg.“
„Sie haben den rechten Weg verloren?“ fragte eine fremde Stimme hinter mir.
Was war das wieder? War denn wirklich in dieser kahlen Heide der Teufel mit seinen Gespenstern los, um schon bei dem anbrechenden Abende ihr höllisches Spiel zu treiben? Der Kutscher war fast zehn Schritt zurückgeflogen. Ich drehte mich überrascht um. Ein großer, fremder Mann stand vor mir; er trug die gewöhnliche Bauerntracht der Gegend und konnte in der Mitte der dreißiger Jahre sein, vielleicht auch ein angehender Vierziger. Es war ein hübscher, beinahe schöner Mann. Aber in oder über jedem Zuge des schönen Gesichtes lag etwas, das unwillkürlich zurückschreckte. Was es war, konnte ich mir nicht sagen. Der Mann kam mir nur so entsetzlich finster und unheimlich vor. That es die Ueberraschung? Die plötzliche Begegnung in der einsamen Heide, in dem zweifelhaften Zwielichte?
„Wir haben uns verirrt,“ antwortete ich ihm.
„Woher kommen Sie?“
Ich nannte ihm den Ort. Es war ein Dorf, in dem ich meine Amtsgeschäfte gehabt hatte.
„Und wohin wollen Sie?“
Ich nannte ihm auch den Ort. Es war die Stadt, in welcher das Criminalgericht, dem ich vorstand, seinen Sitz hatte.
Einen Augenblick kam es mir vor, als wenn etwas in ihm aufzuckte. Doch er fuhr kalt und ruhig fort: „Sie müssen diesen Weg nehmen. Da hinten an jenem Haufen hoher Eichen kommen Sie aus der Heide.“
Er zeigte auf einen der sich vor uns kreuzenden Wege, dann nach einer Gruppe hoher Bäume, die in der Ferne in dem letzten Schimmer des westlichen Horizontes noch schwach zu erkennen waren.
„Sie können nicht fehlen, wenn Sie die Bäume im Auge behalten,“ sagte er noch.
Indem er das sagte, machte er Kehrt in die Heide hinein. Ich rief ihm meinen Dank nach. Er lüftete seine Mütze, ohne sich umzusehen, und ging weiter.
„Gott sei Dank!“ athmete der Kutscher auf.
Auch mir war es wie leichter auf der Brust geworden. Der Fremde war zuvorkommend gewesen; er hatte mich aus einer großen Verlegenheit befreit. Er hatte, wenn gleich kurz, doch mit einer gewissen Höflichkeit gesprochen. Aber jener finstere Geist, der aus seinen Zügen sprach, hatte mich nun einmal wie ein unheimlicher Dämon gepackt, und dann mußte ich daran zurückdenken, daß es plötzlich in seinem Gesichte zuckte, als ich ihm den Ort nannte, wohin ich wollte, und ich meinte, er habe mich seitdem verstohlen und mit so sonderbar lauernden und verdächtigen Blicken angesehen. Indessen, wir wußten jetzt den rechten Weg.
„Voran, Kutscher.“
„Den Weg, den uns der Mensch gezeigt hat?“
„Warum nicht?“
„Ach, Herr, der Mensch, wenn er kein Heidegespenst war, gehört sicher zu der gefährlichen Bande, die gerade hier in der Gegend ihr Handwerk treibt.“
„Wer weiß hier von einer solchen Bande?“
„O, Herr, das wissen Sie besser, als ich.“
Er hatte Recht, vielleicht auch Unrecht. Aber wir mußten nun einmal fort.
„Wißt Ihr einen bessern Weg, Kutscher?“
„Ich weiß leider Gottes gar keinen mehr.“
„Also voran, in der Heide können wir nicht bleiben; jedenfalls wird der Weg uns zu Menschen führen.“
„Aber zu was für Menschen, Herr? Wenn sie aussehen, wie dieser!“
„Dieser sah ganz reputirlich aus.“
„Gott sei bei uns! Mir ging es bis in die Knochen, wenn ich ihn nur ansah.“
Er mußte voran fahren. Ich war vorhin, als wir den verlorenen Weg suchten, ausgestiegen. Ich stieg wieder ein.
Unser Weg führte uns an jenen Fichten vorbei, an denen so plötzlich der kleine Mensch verschwunden war, den wir so plötzlich dort hatten auftauchen sehen. Ich bog mich aus dem Wagen, um mich, jetzt in der Nähe, nach ihm umzuschauen. Und auf einmal war er wieder da, unmittelbar neben dem Wagen. Plötzlich war er hinter einer kleinen Fichte hervorgekommen, wie aus der Erde. War der Mann kein Gespenst der Heide, so mußte eine Grube dort in der Heide sein.
„Guten Abend, Herr,“ sagte er freundlich.
Mein Kutscher wäre vor Schreck beinahe vom Bocke gefallen. Er hörte die Stimme, und hatte den Mann nicht gesehen.
„Ah, guten Abend.“
Es war wirklich das kleine, alte Bäuerchen, das ich vorhin schon glaubte erkannt zu haben, mit dem ich heute Amtsgeschäfte gehabt hatte.
„Bin ich auf dem rechten Wege nach Hause?“ war meine erste Frage an ihn.
„Ja, Herr. Den rechten Weg hat er dem Herrn gezeigt.“
Er sagte das in so eigentümlichem Tone.
„Was meint Ihr damit?“ fragte ich ihn.
Er antwortete nicht und lachte leise für sich. Dann sagte er:
„Der Herr hat die Reise heute auch umsonst gemacht.“
„So ziemlich vergebens,“ sagte ich.
„Ja, ja – Wenn der da nicht gewesen wäre – Hat der Herr sich den Menschen wohl genau angesehen?“
„Welchen Menschen?“
„Der ihm da eben den Weg zeigte.“
„Ihr kennt ihn?“
„Wer kennt den nicht?“
„Und wer war es?“
Er lachte wieder.
„Nun, wer war es?“
Er besann sich.
„Wäre der Herr wohl so gut, ein Weilchen auszusteigen?“ sagte er dann. „Ich hätte doch ein paar Worte mit ihm allein zu sprechen. Wir gehen hinter dem Wagen her.“
Ich stieg aus. Der Wagen fuhr langsam weiter. Ich ging mit dem Bäuerlein hinterher.
Aber hier muß ich zuvor erzählen, was für ein Amtsgeschäft ich gehabt hatte.
An das Criminalgericht, dem ich vorstand, war ich erst vor kurzer Zeit aus einer andern, entfernten Provinz des Staats versetzt. Ich fand gerade bei meiner Ankunft das Gericht in einer gewissen Aufregung. Der Gerichtsbezirk stieß an die Landesgrenze ganz hinten, mit seinem äußersten Ende. Es war dort eine abgelegene, einsame, verkehrlose Gegend, einer jener verborgenen Erdwinkel, in den ein Fremder nie hineinkommt, aus dem die Bewohner selten herauskommen. Der Boden war ungleich: fruchtbares Ackerland, Waldung, wüstes Heideland. Die Bewohner waren dort wohlhabend, hier arm. Ueberall wurden sie als gutmüthig geschildert. Freilich sollten sie gegen die neuere Cultur rings umher zurückgeblieben sein. Doch vielleicht eben daher rührte ihre Gutmüthigkeit. Gewiß war es ein Grund, daß man seit Menschengedenken von Verbrechen nicht gehört hatte, die in den wenigen Gemeinden, die jener Erdwinkel beherbergte, vorgefallen seien.
Dies war seit Kurzem auf einmal anders geworden. Seit einem halben Jahre ungefähr waren plötzlich häufige Diebstähle vorgekommen. Bald hier, bald dort; bald bedeutende, bald geringfügige; bald mit einer unglaublichen Verwegenheit, bald mit außerordentlicher List und Schlauheit ausgeführt; aber niemals war eine Spur des oder der Thäter entdeckt worden. Der oder die Diebe waren recht eigentlich in der Nacht gekommen, aber auch wieder verschwunden. Ja, man wußte nicht einmal, war es ein einzelner [379] Dieb, oder waren es ihrer mehrere, die alle diese Verbrechen verübten. Noch weniger wußte man, wo man sie zu suchen hatte.
Die ganze Gegend war natürlich in großer Unruhe. Zu der Unsicherheit des Eigenthums trat das geheimnißvolle und unheimliche Dunkel des Verbrechens und des Verbrechers hinzu. Die Diebstähle dauerten nach meiner Ankunft fort. Ich mußte ihnen näher auf die Spur kommen. Zu diesem Zwecke war ich selbst nach jener Gegend hingereist, und ich hatte die Ortsvorstände, die Pfarrer der einzelnen Dörfer, die Bestohlenen und einige zuverlässige Personen des Bezirkes zu einer Versammlung eingeladen, um ein Gesammtbild des Geschehenen zu erhalten, und dadurch zugleich Anstalten zu wirksamerer Vorbeugung neuer Verbrechen, sowie zur Ermittelung und Habhaftwerdung der Verbrecher einleiten zu können.
Leider war die Zusammenkunft abgelaufen, wie die meisten ähnlichen Versammlungen. Es war viel gesprochen und wenig geschehen. Ermittelt war fast nichts Neues; es wurde nur festgestellt, wer die Thäter nicht sein könnten. Meinen Vorschlägen zu gemeinsamem Wirken, zur Bildung von Wach- und Sicherheitsvereinen, wurde entgegengesetzt, man könne sein eigenes Eigenthum nicht Preis geben, um das Anderer zu beschützen; man habe ja Polizei und Gensd’armen im Lande. Ja, Polizei, Gensd’armen und – Egoismus, sie bedingen einander!
Ich hatte unverrichteter Sache die Versammlung auflösen müssen und befand mich nun auf dem Rückwege nach Hause, den ich noch am späten Nachmittage angetreten, weil ich am nächsten Tage auf dem Gerichte mancherlei Geschäfte hatte.
Zu den eingeladenen Bestohlenen hatte der alte, kleine Bauersmann gehört, den ich in der Heide wieder traf. Er hatte in der Versammlung eben so wenig etwas gewußt, wie die Andern. Jetzt schien er etwas zu wissen. Er that wenigstens geheimnißvoll genug dazu.
„Wer war der Mann?“ fragte ich ihn.
Er hatte vorher für sich gelacht, jetzt sah er mich mit einer gewissen ängstlichen Besorgniß an.
„Könnte ich mich darauf verlassen, daß der Herr mich nicht verrathen wird?“
„Ei, Mann, ich bin ja Beamter, und die erste Pflicht des Beamten ist die Amtsverschwiegenheit.“
„Der Herr muß mir nicht übel nehmen, wenn ich etwas ängstlich, bin. Jeder ist sich der Nächste, und es gibt viel schlechtes Volk in der Welt, das man zu fürchten hat. Daß der Herr da in der Versammlung nichts herausbekommen würde, das hätte ich ihm vorhersagen wollen. Wer wollte vor allen den Leuten sagen, was er wußte?“
Da hatte ich auch ein Stück Lebensweisheit und so recht mitten aus dem Volke. Ich habe sie und das alte Bäuerlein, von dem ich sie erhielt, nicht wieder vergessen.
„Es hätte also wohl Mancher in der Versammlung etwas erzählen können?“
„Wenn er nur gewollt hätte.“
„Und auch Ihr wohl?“
Er erschrak doch noch, der mißtrauische, vorsichtige Mann.
„Ich habe nichts gesagt, Herr.“
„Aber Ihr wolltet etwas sagen.“
„Wollte ich?“
„Von dem Manne, mit dem ich vorhin sprach.“
„Ja, ja, aber ich kann mich doch auf den Herrn verlassen?“
„Wie auf das Evangelium.“
Endlich hatte er seine Angst überwunden.
„Herr, dem Menschen da ist nicht zu trauen.“
„Auch wegen der Diebstähle nicht?“
„Eben das meinte ich.“
„Ihr wißt also Näheres über ihn?“
„Vor ungefähr einem Jahre kam er hier auf einmal in der Gegend an. In dem ersten halben Jahre blieb er ruhig; er mußte die Leute sicher machen. Dann ging es los.“
„Wie kam er hierher?“
„Da hinten an der Grenze war ein Bauerhof zu verkäufen, ein hübsches Gut. Den kaufte er, und darauf wohnt er seitdem.“
„Ich finde darin nichts Verdächtiges.“
„Er bezahlte den Hof und Inventarium und Alles sogleich baar.“
„Der Mann erscheint um so weniger verdächtig.“
„So, Herr? Er brachte viel Geld mit. Er ist ein simpler Bauersmann. Wie war der zu so vielem Gelde gekommen? Und wenn er es ehrlich erworben hatte, warum blieb er nicht, wo er war, und warum kaufte er sich denn gerade hier in diesem Winkel an, in den kein Mensch kommt?“
Darin lag schon mehr Logik. „Und so nahe an der Grenze,“ hätte der kleine Bauer hinzusetzen können.
„Woher kam er?“ fragte ich.
„Das weiß eben kein Mensch, Herr.“
„Er muß sich doch legitimirt haben, namentlich bei der Polizei.“
„Er hat die besten Papiere. Er nennt sich Heimann aus Amerika. Dort will er auch geboren sein; sein Vater sei dort schon eingewandert, der sei aus dem südlichen Deutschland gewesen. Gerade so soll es auch mit seiner Frau sein.“
„Er ist verheirathet?“
„Er brachte eine Frau mit einem kleinen Kinde mit. Ein zweites hat sie hier geboren, vor ungefähr einem halben Jahre. Mit der Frau ist es auch eine eigene Geschichte.“
„Wie so? Hält er die Frau nicht gut?“
„O, im Gegentheil, Herr. Er selbst scheut sich vor keiner Arbeit, aber die Frau darf keinen Finger rühren, das leidet er nicht. Er trägt sie auf den Händen, als wenn sie ein Engel wäre. Nun, eine schöne, junge Frau ist sie.“
„Und die Frau, wie benimmt sie sich gegen den Mann?“
„Sie möchte ihn ganz so halten, wie er sie. Sie sind Ein Herz und Eine Seele, das muß die ganze Gemeinde anerkennen. Es soll das Alles auch so besonders unter ihnen sein.“
„Wie besonders?“
„Ich kann das nicht sagen, Herr. Die Leute, die sie beisamen gesehen haben, meinen, die Beiden seien so ganz eigen, so still freundlich zu einander, daß es Einem ordentlich traurig um das Herz werde, wenn man es ansehe.“
Das waren allerdings Mittheilungen, die Interesse erregten. Die Frau jung und schön. Auch er war ein schöner Mann. Und dieses eigenthümlich zärtliche, wehmüthig zärtliche Verhältniß! Die Liebe der schönen, jungen Frau zu dem finsteren, unheimlichen Manne, der auch sie so innig liebte!
Allein der Criminalrichter hatte Anderes, als Liebesgeschichten, zu verfolgen.
„Warum traut Ihr dem Menschen nicht?“ fragte ich weiter.
„Niemand traut ihm, Herr.“
„Aber aus welchem Grunde nicht?“
„Man weiß eben nichts von ihm.“
„Um so weniger könnte man Schlechtes von ihm behaupten.“
„So, Herr? Hat man, ehe er da war, ein Wort von Diebstählen hier in der Gegend gehört?“
„Auch das ist kein Grund.“
„Wer sollte sie denn begangen haben, wenn nicht er? Wir Andern kennen uns unter einander von Kindesbeinen an.“
„Es könnte dennoch ein heimlicher Verbrecher unter Euch sein. Und habt Ihr nicht die Grenze in der Nähe?“
Er schüttelte den Kopf.
„Nein, nein, Herr. Und dann – ich habe den Herrn schon vorhin gefragt. Hat der Herr dem Manne recht in’s Gesicht gesehen?“
„Ich sah ein hübsches Gesicht.“
„Ja, Herr. Aber in der Bibel steht von einem Kainszeichen. Ein solches Kainszeichen hat er in seinem Gesichte.“
„Ich habe nichts Besonderes bemerkt.“
„Das echte Kainszeichen, Herr, ist eben nichts Besonderes. Gott der Herr hat es dem Menschen in das ganze Gesicht gelegt. Das sieht man, aber weiter kann man nichts davon sehen und nichts davon sagen.“
Auch darin hatte das alte Bäuerlein wieder Recht. Hatte ich nicht selbst so das Kainszeichen an dem Fremden erkannt, daß der Anblick mich beinahe durchschauert hatte? Hatte nicht der Kutscher sich vor ihm entsetzt?
„Wenn der Mensch,“ fuhr der Bauer fort, „kein Verbrechen auf der Seele hat, so gibt es keine Verbrecher in der Welt mehr.“
„Und doch,“ mußte ich ihm erwidern, „habt Ihr mir bis jetzt noch kein Wort sagen können, das einen Beweis dafür abgäbe.“
Er wurde eifriger und in seinem Eifer brachte er nun noch einen Umstand vor, der, wenn er auch einen Verdacht für ein Verbrechen [380] nicht geradezu enthielt, den Fremden doch noch immer mehr räthselhaft und geheimnißvoll mußte erscheinen lassen.
„Warum,“ rief er, „nimmt der Mensch auf seinen Hof keine Leute hier aus der Gegend? Alle seine Knechte und Mägde sind von drüben, von jenseit der Grenze her.“
Das war es nicht, was meine Aufmerksamkeit besonders erregen konnte, obwohl es etwas auffallend war.
Aber noch eifriger fuhr er fort: „Und warum spricht er mit seiner Frau in einer fremden Sprache, die kein anderer Mensch versteht? Und warum sprechen sie nur dann so, wenn sie meinen, daß kein anderer Mensch es höre? Und warum reden sie in der fremden Sprache nicht einmal mit ihren kleinen Kindern?“
In den paar Bemerkungen lag so viel Wahrheit, daß ich unwillkürlich stutzte.
„Niemand kennt die Sprache?“ fragte ich.
„Kein Mensch, Herr, und es wohnen in der Gegend Leute, die die Feldzüge mitgemacht haben und in Frankreich, Holland und Belgien gewesen sind und mit Franzosen, Engländern und selbst mit Spaniern verkehrt haben. Aber sie haben kein Wort gehört, das der Sprache gliche, die der Fremde mit seiner Frau redet.“
Ich fragte ihn, ob er mir nicht ein oder ein paar Worte aus dieser fremden Sprache wiederholen könne. Er war dazu nicht im Stande. Daß der Fremde das Deutsche gut und geläufig, wie seine Muttersprache, redete, hatte ich selbst gehört.
„Wie spricht die Frau das Deutsche?“ fragte ich noch.
„Als wenn sie es immer geredet hätte.“
Das waren auffallende Nachrichten. Beide Eheleute sprachen das Deutsche, wie ihre Muttersprache, und redeten dennoch unter sich in einer fremden Sprache. Das ließ schließen, daß diese und nicht jene ihre Muttersprache war. Sie redeten sie aber nicht, wenn ein Dritter dabei war. Sie hatten also Grund, ihre eigene Muttersprache zu verleugnen. Ja, sie redeten sie nicht einmal zu den Kindern. Nur in den Lauten, die sie selbst, die Mutter, als Kind von ihrer Mutter zuerst vernommen und verstanden hat, auch wieder zu ihren Kindern zu reden, drängt es jede Mutter; sie kann in der fremden Sprache das Kind nicht recht herzen und nicht voll lieben, es ist, als wenn etwas Fremdes zwischen ihnen stände. Diese Mutter konnte, mußte das Alles verleugnen, mußte in den süßesten Augenblicken der Mutterliebe ängstlich auf ihrer Hut sein, um keinen Laut hervorzubringen, der in dem Kindergedächtnisse haften bleiben und gegen sie zum Verräther werden konnte. Welcher Grund lag vor, der ein solches Verbergen forderte? Welche eigenthümlichen, rätselhaften Verhältnisse? – Das alte Bäuerlein mußte sich von mir trennen; wir waren an einen Seitenweg gekommen, den er einschlug. Noch einmal mußte ich ihm unverbrüchliches Stillschweigen versprechen.
„Dem Menschen käme es auf einen Mord nicht an, wenn er erführe, daß ich nur mit dem Herrn gesprochen habe. Er durfte nicht einmal sehen, daß ich hier in der Heide in der Nähe des Herrn war; drum verbarg ich mich vorhin. Der Herr mag sagen, was er will, der Mensch trägt einmal das Kainszeichen im Gesichte, und alles Volk hält ihn für den Dieb, und was das Volk sagt, das ist so. Volkesstimme ist Gottesstimme.“ Damit ging er. Ich setzte mich wieder in meinen Wagen und fuhr weiter.
Die Mittheilungen des kleinen, alten Mannes hatten mich in eine sonderbare Unruhe versetzt. War ich wirklich auf der Spur des so viel gesuchten gefährlichen, verwegenen und listigen Diebes? Das Aussehen des Menschen war verdächtig genug. Auch die Mittheilungen des alten Bauers konnten manchen Verdacht erwecken. Am meisten beschäftigte mich die fremde, unbekannte Sprache und das sorgfältige, ängstliche Verbergen derselben.
Ich war mehrere Jahre vorher längere Zeit in der Provinz Litthauen gewesen, und auch dort Criminalrichter. Die litthauische Sprache ist eine ganz eigenthümliche; mit keiner anderen lebenden Sprache ist sie verwandt. Von allen Sprachen, die noch bestehen, ist sie die, die am nächsten aus dem Sanskrit stammt. Nur ein kleiner Volksstamm redet sie. Dieser Volksstamm wohnt in dem Theile Preußens und in einer der verkehrlosesten Provinzen Rußlands. Fremde, die in diese Provinzen kommen, lernen die Sprache selten; außerhalb der Provinzen kennt man sie gar nicht. Sie ist selbst in ihren Namen eigenthümlich. Ich dachte jener Zeit, die ich dort in dem Lande mit der sonderbaren Sprache verlebt, und in meiner Erinnerung tauchten eine Masse Bilder auf, die ich längst schon vergessen glaubte.
Wenn aber die Gedanken des Menschen in die Ferne schweifen, zu dem was ihnen so nahe liegt, dann gewahren die Sinne des Menschen nicht, was ihnen nahe ist.
„Himmeldonnerwetter!“ fluchte der Kutscher auf dem Bocke. Oder vielmehr, er fluchte es nicht mehr auf dem Bocke. Bei der letzten Sylbe seines Fluches lag er schon darunter, und ich neben ihm.
Der Wagen war mit den Rädern der einen Seite auf einen Erdwall gekommen, der den Weg von einem breiten Wassergraben schied. Der Kutscher hatte es nicht bemerkt; er mußte geschlafen haben, obwohl er nachher es ableugnete.
Ich hatte nicht darauf geachtet, weil ich meinen Gedanken in die Ferne gefolgt war, obwohl ich nachher nicht leugnen konnte, daß ich es wohl bemerkt, aber eben aus dem angegebenen Grunde nicht darauf geachtet halte. Der Wall war zu hoch geworden, der Wagen war umgeschlagen.
„Es ist ein Glück, Herr,“ sagte der Kutscher nachher, „daß er in den Weg schlug und nicht in den Wassergraben.“
„Hole der Teufel das Glück!“
Er hatte ein Bein verstaucht, ich einen Arm. An dem Wagen war ein Rad gebrochen. Und um uns her war dunkle, kahle Heide.
Wir reisten mit dem „Fürsten Metternich“, aber nicht mit dem alten berühmten Diplomaten und Besitzer des edelsten Weines, sondern in dem prächtigen Dampfboote der Donau-Compagnie, das seinen Namen trägt. Die Gesellschaft, welche sich in der blendenden, geräumigen Cajüte zusammengefunden hatte, war nicht groß, aber desto besser; aus aller Herren Länder waren Repräsentanten darunter. Dort ein Merchant’s-Clerk aus Manchester, Missionär für Calico und Jaconnet unter den Heiden des Ostens; hier ein fideler Weinreisender aus Marseille, welcher mit unnachahmlicher Suada la belle France und ihre moussirenden Producte pries; dort ein Hamburger Commis, der natürlich „Behrens“ hieß und männiglich im Vertrauen fragte, ob er glaube, daß es in Odessa „gutes Bier“ gäbe; hier ein griechischer Dandy aus Constantinopel, mit Ungeduld die Stunde erwartend, wo er wieder seine lackirten Stiefel auf der Promenade zeigen könne; ein Woll-wollender Speculant aus Basel begann seinen Einzug in die Cajüte gleich mit einem heftigen Zornergusse über den italienischen Steward, der es in irgend etwas gegen den gestrengen Herrn verfehlt hatte; umsonst suchte ein handfester westphälischer Ingenieur den Streit zu beschwichtigen, es bedurfte der Dazwischenkunft des Capitains, um einen Faustkampf zu verhindern; dem Schweizer aber gerieth seine Autoritätsucht nicht zum Besten, denn von nun an fügte es der Zufall, daß bei Tafel stets die Schüssel an ihn zuletzt kam. Da war noch ein Bankier aus Wien, ein feiner Mann, der wohlgefällig seinen ungeheueren Reichthum an Weißzeug umpackte – er führte nicht weniger als hundert Dutzend Hemden mit sich, alle zu eigenem Gebrauch, denn „Wer kann es mir wehren?“ sagte er; ferner ein junger Kaufmann aus Odessa, der von seiner großen Tour in „Europa“ zurückkehrte; eine kleine Sammlung junger Engländerinnen unter dem Schutze einer resoluten Gouvernante aus Neufchatel, im Begriff, sich nach Feodosia zu begeben; endlich ein paar schlanke, sehr gewählt gekleidete Damen aus Prag, junge Mädchen, deren treffliches, Clavierspiel uns manche langweilige Stunde verkürzte, aber leider doch nicht trefflich genug war, ihnen
[381] [382] später die geträumten goldenen Berge im Lande der Verheißung Rußland zu erobern.
Rasch waren wir eingerichtet, die geringe Zahl der Passagiere erlaubte es, Jedem eine Doppelkoje für sich einzuräumen, die er sonst hätte theilen müssen, und das war gut. Die Dampfschiffe der Donaugesellschaft sind alle vortrefflich und elegant, wenn sie auch in letzterer Hinsicht nicht mit denen des österreichischen Lloyd concurriren können; aber auf dem Meere bedarf man größeren Comforts, wie auf dem Strome, der alle Augenblicke zu landen erlaubt; freilich ist hier auf Terra firma blitzwenig von diesem zu gewahren und zu holen. Die Ufer der unteren Donau sind aller Reize baar. In endlosen Ebenen, soweit das Auge reicht, erstreckt sich links und rechts das sumpfige Schilfmeer, das hier viele Hunderte von Quadratmeilen einnimmt; weit und breit kein Baum, kein Strauch, keine menschliche Wohnung. Nur hier und da erhebt sich auf der linken, moldavanischen Stromseite in regelmäßigen Intervallen eine armselige Breterhütte, bestimmt für die türkische Douanenwache. So oft nun das Boot eine derartige Station passirte, sprangen rasch die paar Mann der Besatzung hervor, stellten sich in’s Glied, so gut es ging, und präsentirten ernsthaft das Gewehr. Ich sah mich unter der Gesellschaft der Cajüte um, im Glauben, es befinde sich vielleicht ein hoher Würdenträger incognito darunter, dem dies gelte; aber der Wiener, welcher die Reise schon mehr als einmal gemacht hatte, belehrte mich: „Die Burschen wollen durch diese Huldigung nur darthun, daß sie die unendliche Höhe unserer Nationalität über der ihrigen anerkennen!“ Gewiß ist noch niemals auf der unteren Donau so homerisch gelacht worden, wie im Laufe dieses Nachmittags auf unserem Deck. Als wir wiederum einmal eines jener Wachtlocale passirten, exercirte vor demselben ein türkischer Harambasse vier Mann Rekruten ein. Aber dieselben schienen schwer von Begriffen, denn laut und zornig scholl sein strenger Commandoton über das Wasser, er stand dabei nicht vor, sondern etwa zwanzig Schritte hinter seinen Mannen. Diese waren lange, robuste Schlingel im blauen Waffenrock und Fes, natürlich dabei barfüßig, der Unterofficier aber ein ganz kleiner schmächtiger Kerl, so daß es aussah, als sei er der Page der mit mühsamer, oft unterbrochener Fühlung voranmarschirenden Rekruten. Plötzlich aber schien Einer von diesen das Maß der Geduld des Befehlenden doch allzuheftig erschöpft zu haben, denn wie ein kleiner Tiger sprang er vorwärts und versetzte dem Strafbaren einen so wackeren Fußtritt auf das Ende der Rückenwirbel, daß er sofort überkollerte; dann aber fiel er mit einem Prügel, den er in der Hand trug, über ihn her und bläuete ihn auf das Jämmerlichste ab. Die anderen Rekruten marschirten gravitätisch weiter, ohne sich umzublicken, und ließen eine Lücke für den gezüchtigten Cameraden, welche dieser, nachdem er sich aufgerafft, im Doublirschritt wieder zu gewinnen trachtete. Aber unser lautes Gelächter war dem armen Teufel verderblich, denn es weckte wahrscheinlich die Bosheit des Harambassen und er fiel sofort auf’s Neue über sein geduldiges Opfer her, so daß sich die – für die Zuschauer – spaßhafte Scene noch mehrmals wiederholte, bis die Station dem Gesichtskreise entrückt war. Da hatten wir denn ein Pröbchen bekommen von dem Geiste des türkischen Kriegsheeres – an Subordination schien es zum mindesten nicht zu fehlen.
Mittlerweile war der Strom immer schmäler und schmäler geworden. War das noch die gewaltige Donau? Oft nur kaum hundert Fuß breit wand sich ein stiller Wasserspiegel dahin, unbewegt, wie ein stagnirender Sumpfcanal; wir waren in den eigentlichen Sulina-Arm eingelaufen, und die Fahrt in demselben erinnerte mich auffallend an diejenige mit dem Dampfboote von Oldenburg nach Elsfleth. Die mäandrischen Windungen aber, welche der im Morast seiner Delta’s halb verkommene Fluß hier macht, zu beschreiben, ist kaum möglich. In Texas gibt es, wie Gerstäcker irgendwo erzählt, einen River, in welchem keine Fische gedeihen, weil denselben seiner vielen Krümmungen wegen alsbald das Rückgrat verrenkt wird – von dem Donaucanale der Sulina dürfte man getrost das Gleiche berichten. Es lag gerade eine zahllose Menge von Getreideschiffen, nach Tuldscha, Galatz und Ibraila bestimmt, und auf günstigen Wind zum Aufwärtssegeln wartend – denn von einem Leinpfad ist hier nicht mehr die Rede – ruhig im Fluß vor Anker, hauptsächlich türkische, griechische, ionische, aber auch französische Fahrzeuge. Schon von Weitem erblickte man die Masten derselben, aber alle Augenblicke veränderten sie ihre Stellung: Schiffe, welche hinter uns zu liegen schienen, waren noch zu passiren, und die, an denen wir schon vorübergekommen, erschienen plötzlich wiederum vor uns oder zur Seite. Ueberall aber im ganzen Kreise des Horizontes erhoben sich die schlanken Masten, so daß man sich auf dem schrankenlosen Meere zu befinden wähnen konnte, wäre nicht das grüne Schilf dazwischen gewesen statt der grünen Wogen. Unser Dampfer fuhr dabei ganz langsam, augenscheinlich mit großer Vorsicht; die Passagiere waren gebeten worden, den Raum vor dem Steuerrade nicht zu betreten. Daß dies seinen guten Grund hatte, bewiesen hier und da die schwarzen Wracks, die entweder halb am Strande lagen oder deren morsche Spieren über dem Wasserspiegel hervorragten. Nur Schiffe von geringem Tiefgange können die Sulina ohne Gefahr mit Ladung passiren. Abwärts wird in Tuldscha oder Prislav, aufwärts in Sulina ein Lootse an Bord genommen. Aber damit ist keineswegs jede Gefahr beseitigt, denn die Lootsen der Donaumündungen sind nicht die vorzüglichen, zuverlässigen Führer norddeutscher Häfen, sondern größtentheils griechisches Gesindel ohne Treue und Verlaß, dem es nur darum zu thun ist, die Capitaine nach Kräften zu prellen, was ihnen gewöhnlich gelingt, da kein Tarif existirt und die Preise je nach Jahreszeit und Frequenz sehr wechseln. Zur Fahrt stromaufwärts bedienen sich die Getreideschiffe am besten der österreichischen Schleppdampfer; thun sie das nicht, so bringen sie oft von Sulina bis Galatz, eine Entfernung von nur sechzehn geographischen Meilen, einen Monat zu und noch länger, und wie sich in diesem langen Zeitraume das Geschäft verändern kann, braucht nicht auseinandergesetzt zu werden. Es gibt dies aber einen hinreichenden Beleg für die Gefährlichkeit und die Noth der Schifffahrt in der Sulina. Wir in unserem prächtigen Steamer, unter der Obhut eines fast nur zu sorglichen Capitains, in der Klarheit eines wundervollen Junitages, hatten freilich nichts zu fürchten und dachten so wenig an die Tücke des stillen schmalen Stromes, daß wir geneigt waren, die Wracks, welchen wir begegneten, für Opfer unverzeihlicher Fahrlässigkeit zu halten.
Um sechs Uhr Abends kam der Leuchtthurm von Sulina in Sicht, und eine halbe Stunde später lag der Metternich vor Anker auf dem linken Ufer des nach der Mündung zu sich wieder verbreiternden Stromes, gegenüber der Stadt und dem Mastenwald des Hafens. Vor uns aber rollten, mit weißen Schaumkronen geschmückt, die langen Wogen des schwarzen Meeres. Ein unvergeßlicher Anblick!
Mehrere Stunden Rast waren uns hier vergönnt, denn erst mit dem Beginn der Ebbe sollte die Barre passirt werden; dies war erst um Mitternacht zu erwarten. Also rasch an’s Land! Eine Menge von Booten umdrängte schon unser Schiff; mit eindringlichen Gebehrden und in allen möglichen Sprachen luden die sonnverbrannten, wild aussehenden Führer derselben ein, uns ihrer zum Landen zu bedienen. Wir wählten den hübschesten darunter zur Ueberfahrt aus – die Stimme der Damen entschied – einen schlanken, braunen Griechen, dem der überhängende Fes der Inseln gar malerisch auf den pechschwarzen Locken saß, und dessen blitzende Augen, tadellose Nase und weißen Zähne in jedem Salon Aufsehen gemacht haben würden. Gewandt und kräftig schob er sein breitbauchiges Kielboot zwischen den Rivalen hindurch bis zur Treppe, und nach wenigen Ruderschlägen betraten wir auf einem morschen Landungsgerüst das rechte Donauufer und die an seinem äußersten Ende erbaute Stadt Sulina.
Wer hat noch nicht von den Städten in Amerika gelesen, die wie Pilze über Nacht aus der Erde schießen, von San Francisco in Californien, dessen Einwohnerzahl sich von Tag zu Tag um Tausende vermehrte, von der fabelhaften Schnelligkeit, mit welcher die australischen Golddistricte eine zahllose Bevölkerung an sich zogen? Aber man braucht nicht den Ocean zu messen und in fremden Welttheilen zu suchen, was man in Europa ebenso überraschend finden kann, ja noch viel erstaunenswerther, weil eben in der Nähe, wenigstens im Bereich der abendländischen Civilisation. Noch im Jahr 1850 stand auf dem rechten Ufer der Sulinamündung blos der Leuchtthurm und eine Lootsenhütte, heute erhebt sich hier eine Stadt, deren wechselnde Population manchmal fünfundzwanzigtausend Seelen und mehr beträgt, die man aber in geographischen Handbüchern und Conversationslexicis vergeblich aufsuchen wird. Und was für eine Stadt ist es, die hier aus der Erde, nein, aus dem Sumpfe wuchs! Wer sie betritt, der fühlt sich augenblicklich in eine fremde, neue Welt versetzt; hat er nicht überflüssigen Muth, so befällt ihn vielleicht ein gelindes Frösteln; ist er in [383] der Literatur bewandert, so kommt ihm jene Stelle aus dem Dante: „Dies ist die Stadt der Qualen und Verdammniß“ in den Sinn, und über jeder Thüre der zusammengeschichteten Häuser glaubt er zu lesen: „Laßt alle Hoffnung hinter Euch!“ Diese Häuser! Aus allem Material der Welt sind sie zusammengebaut, aber die wenigsten aus wirklichem Baumaterial und die seltensten gebaut. Cigarrenkistendeckel sind verhältnißmäßig noch ein höchst solider Stoff für die Verkleidung der Wände, häufig sieht man dazu blos Kattun benutzt, und zwar nach der Straße heraus; Schilf vertritt, in starke Bündel zusammengebunden, die Stelle der Balken, und ist das allgemeine Deckmittel. Nur einige Hauptgebäude sind theilweise aus gebrannten Steinen errichtet, die von fern her eingeführt werden mußten; selbst die Moschee ist zur größeren Hälfte aus weiß übertünchten Bretern zusammengeschlagen. Schiffstrümmer bilden einen Hauptbestandtheil der Bauten, und manches merkwürdige Gallionbild schaut aus ganz ungewöhnlicher Ecke in das tolle Treiben ringsum. Die Hauptstraße besteht nur aus zwei langen Reihen solcher Baracken, aber dieselben sind gefüllt mit Menschen bis in die entlegensten Winkel, und ein unbeschreibliches Gewühl, ein ohrvernichtendes Schreien, Singen, Lachen, Pfeifen, Rufen, Musiciren betäubt zugleich mit der sonderbar parfümirten Atmosphäre den Fremdling. Jedes Haus ist zugleich ein Laden und eine Schenke und eine Spielhölle.
Handwerker, friedliche Bürger, Familien gibt es hier nicht, aber alle rohen Genüsse des Lebens werden dem Einwohner geboten. Allein dieser will auch um Alles in der Welt nicht dauernd hier bleiben, ihn fesselt nur die Erwerbgier oder die Noth, welche gewöhnlich gleichbedeutend ist mit dem Arme der Gerechtigkeit. Hier ist der Auswurf von ganz Europa zusammengeflossen: entflohene Matrosen, gejagte Seeräuber, entsprungene Galeerensträflinge, Mörder, die sich vor dem Gesetz oder der Blutrache verbergen, Spieler, welche allüberall anderswo zu sehr gekannt sind, Deserteure, Gauner jeder Art und Kategorie – sie finden Alle hier ein sicheres Asyl unter türkischer Oberhoheit. Denn man braucht Menschen, und diese verdienen ein fabelhaftes Geld.
Seitdem der Getreidehandel der unteren Donauländer sich regelmäßig organisirt hat, ist die Menge der Schiffe, welche in die Sulina einlaufen, ungemein groß; sie zählt nach Tausenden. Die meisten davon müssen mehrere Tage, wenn nicht Wochen, vor der neuen Stadt liegen bleiben; der Matrose findet hier die erste Gelegenheit, sein Geld los zu werden. Kommen die Fahrzeuge von Ibraila, Galatz, Tuldscha mit Getreide beladen zurück, dann können sie gewöhnlich, weil sie für das Meer, nämlich mit scharfem Kiel und Tiefgang gebaut sind, die gefährliche Barre der Sulina nicht passiren, welche meistens nur 7–8 Fuß Wasser hat und blos Schiffen von höchstens 300 Tonnen und mit platten Böden die Passage erlaubt. Die Capitaine sind daher gezwungen, ihre Ladung zu löschen und sie mittelst Leichtern über die Barre hinaus zu befördern. Da finden denn genug Hände Arbeit und hohen Verdienst. Unter einem Ducaten täglich ist selten ein Kornträger zu haben; in Perioden des Arbeitermangels oder der Anhäufung von Schiffen, die nach Beförderung drängen, steigt aber manchmal der Taglohn auf 6 Ducaten und mehr. Und wer heute die sechs Ducaten in der Tasche hat, der rührt gewiß nicht eher einen Getreidesack an, bis sie rein alle geworden sind, was freilich häufig in einer kurzen Stunde der Fall zu sein pflegt. Dazu kommt neuerdings der Zusammenfluß von Menschen durch die Etablirung der Donaucommission, den Beginn der Stromregulirung, die Station türkischer, englischer und französischer Kriegsschiffe, und die Rast der Dampfboote der österreichischen, russischen und französischen Gesellschaften – lauter Elemente, aus welchen ein wogendes Leben und Treiben ununterbrochener Aufregung zusammenschießt.
Alle Nationalitäten sind hier vertreten[WS 1]. Türken von jedem Kaliber und in jeder Tracht, besonders viele Bulgaren und Albanesen; Inselgriechen und Ionier, Malteser, Egypter, Neger, Armenier, Serben, Moldavaner, Wlachen, Russen treiben sich in dichtem Gewühl durcheinander; dazwischen geht breitspurig, Arm in Arm, eine Kette englischer Matrosen, mit fabelhaft übergelegten, blauen, weiß besetzten Hemdkragen, kurzen Jacken und Wachstuchhüten, die so weit als möglich im Nacken sitzen; dort eine Gruppe französischer Seeleute, welche mit Bewunderung den Künsten eines tanzenden Affen zusehen, den ein kleiner Tunese in fast paradiesischer Tracht umherführt; hier die gesetzten, ernsten illyrischen Matrosen der Donaudampfer vor dem lockenden Tisch des Polentakochs; dann ein Trupp türkischer Linie von der Fanalwache; geschäftige Kleinhändler mit angehängten Kästen voll unnützen Tandes, orientalischer Abkunft, wie überall in der Welt; halbnackte Bessarabier mit Körben trefflicher Kirschen; zerlumpte Zigeuner und zahllose abenteuerliche Gestalten, von welchen auch der geübteste Kenner nicht zu behaupten vermag, weß Landes, leicht aber, weß Geistes Kinder sie sind. Alle Sprachen schwirren durcheinander, aber die allgemeine Sprache des Handels und der Conversation ist die italienische, die Lingua franca, wie im ganzen Orient; ein Ueberbleibsel der Herrschaft der Republiken Genua und Venedig über das Mittelmeer und seine Grenzländer. Ein ohrbetäubendes Geräusch durchschwirrt die ganze Stadt. In die heiseren Töne der Ausrufer aller möglichen Comestibilien mischen sich die eintönigen Klänge der Guzla, in die wilden Gesänge berauschter Seeleute das „Guarda“ der Lastträger, wenn sie Jemandem einen Balken auf die Brust gestoßen haben; ein melancholischer Drehorgelmann ergeht sich halb schlafend in seinem Melodienzauber, der leider alle Augenblicke einmal abschnappt, Folge einiger geplatzter Pfeifen seines Kastens, welchen nichts desto weniger die griechischen Schiffsjungen umstehen, wie das achte Weltwunder; von der Landung erschallt das „Hoi, hüahoi“ der Matrosen an der Schiffswinde; Teller klappern, Gläser klingen, die schmutzigen Marqueure schreien wie Besessene, Flüche der Spieler, Gekreisch von Papageien, Rollen von Billardbällen und Kegelkugeln, Heulen zahlloser Hunde, manchmal ein Schuß aus der Pistole eines Uebermüthigen – Alles das vereinigt sich zu einem unbeschreibbaren Ganzen.
Wer Nationen und Charaktere studiren will, der wende sich hierher. Welcher Unterschied! Dort die ernsten, stillen Türken, mit gekreuzten Beinen unbeweglich auf der niedrigen Pritsche sitzend, welche den Divan vorstellt, nur von Zeit zu Zeit thun sie einen tiefen Zug aus dem Nargileh, behalten den Rauch minutenlang in sich und lassen ihn dann mächtig hervorquellen, selten den trockenen Gaumen erfrischend mit dem köstlichen, dicksatzigen Trank der Levante aus den winzig kleinen Obertassen; hier eine Gruppe italienischer Marinari, die im leidenschaftlichsten Moraspiel die Hände durcheinanderwerfen, als gehörten sie ihnen nicht; ein zerlumpter bulgarischer Bettler, welcher mit tausend Bücklingen und Händekreuzen vor der Brust eine Gabe erfleht; dort ein berauschter Aethiope, der, von wildem Beifall angefeuert, mit schäumendem Mund und hervorgequollenen Augen sich in seinem Grotesktanze dreht, bis er niederbricht; ein griechischer Pope mit langem Bart, der den hohen Rohrstock mit regelmäßiger Bedächtigkeit vor sich niedersetzt und escortirt wird von einem Gefolge strenggläubiger Schiffer, welche seine staubige Soutane küssen, und ihm gegenüber ein halbnackter Derwisch, fußlange Stahlnadeln durch die mit Eisenplatten bedeckten Brustwarzen gebohrt. Wie in einem verzauberten Land aus Tausend und Einer Nacht wähnt man zu wandeln, der Kopf schwindelt, fieberisch kocht das Blut, als sei die allgemeine Aufregung ansteckend. Hier sieht man die ganze Welt, wie sie der Kalif im Krystall erblickte; nur zwei ihrer wichtigsten Insassen fehlen – Polizei und Weiber! Aber in einem solchen Flibustierlager ist kein Platz für Beide. In der ganzen Stadt Sulina mögen keine zwanzig Frauen existiren, und die da sind, gingen des Namens längst verlustig. Einige alte Vetteln unsauberster Art sieht man an den Schenktischen hantieren, hier und da, aber sehr selten, auch ein jüngeres Wesen, das der Kleidung nach dem weiblichen Geschlechte anzugehören scheint; ein Bild von diesen Töchtern der Sünde zu geben, dazu fehlen alle Farben. Während wir die lange Hüttenzeile der Stadt durchschritten, konnten wir nur zu deutlich gewahren, wie hier das Weib betrachtet wird. Die Damen unserer Gesellschaft waren das Ziel der allgemeinen Aufmerksamkeit, es bildete sich förmlich eine Gasse, um solch’ eine ungewohnte Erscheinung zu begaffen; wenn wir auch die sich kreuzenden Rufe und Bemerkungen nicht verstanden, so doch wohl die brennenden Blicke, die unzüchtigen Gebehrden. Umkehren durften wir nicht, denn Mutlosigkeit solchem Gesindel gegenüber ist der Anfang zum Verderben; aber manche Hand griff doch fester nach der verborgenen Waffe, und zitternd, nicht wagend, die Blicke vom Boden zu erheben, eilten die uns anvertrauten Reisegefährtinnen dahin in unserer möglichst dicht geschlossenen Mitte.
[384]
Am Morgen des 21. Mai waren wir im Lager, ungefähr zwei Büchsenschüsse vor Voghera, rund um einen geräumigen Feldkessel sitzend, in welchem, zum Frühstück bestimmt, einige langgeschnittene Streifen Speck unter sehr viel Wasser lustig aufzuzischen begannen, als plötzlich ein ziemlich lebhaftes Geknatter von anbrechendem Flintenfeuer aus der Richtung der Anhöhen von Casteggio zu uns herüberschallte. Wir erhoben uns sofort mit großer Schnelligkeit, sprangen zu den Waffen und hielten uns in Bereitschaft. Während zehn Minuten bemerkten wir indeß weiter nichts. Dann begann das Gewehrfeuer von Neuem, und bald gewahrten wir eine starke Bewegung bei unseren Feldwachen.
Wir waren, nur zwei Compagnieen stark, als Unterstützung hierher cominandirt und also nicht zahlreich genug, einem ernsthaften Angriffe zu widerstehen. Unser Hauptmann ging ab und zu; die Schüsse kamen immer näher und schienen blos von Feldwachen herzurühren; – nichts von Voghera.
Lautlos horchten wir, mit der Hand den Lauf unseres Gewehres krampfhaft gepackt. Plötzlich ertönte der Ruf: „Halt! Wer da?“ von den äußersten Schildwachen; die ausgestellten Aufnahmsposten und Feldwachen wiederholten diesen Anruf. Da, im nächsten Augenblicke, raste ein Reiter in gestrecktem Laufe, entblößten Hauptes und mit Schmutz und Blut bedeckt, an uns vorüber; er trug die Officiers-Uniform der sardinischen Cavallerie. Vorgelegt auf die Mähne seines schnaubenden Rosses, zerfleischte er ihm mit den Sporen die blutenden Seiten, sein gezogener Säbel hing an der rechten Faust. „Zu den Waffen – die Oesterreicher!“ rief er im Vorbeijagen, und verschwand dann an der Wendung des Weges.
Wie mit einem Blitzschlage waren wir in Bewegung und Einige von uns bereits ungestüm vorangeeilt. Mit einem Sprunge in die Mitte der Straße stellte sich aber unser Hauptmann den Hitzigen mit der Drohung entgegen, daß er dem Ersten, der sich ohne Befehl vom Flecke rühre, den Degen durch den Leib bohren würde. Wir wußten, daß er es gethan hätte, und die Ordnung ward wieder hergestellt. Kaum waren fünf Minuten verflossen, seit der sardinische Officier vorübergesprengt, so erklang schmetternder Hörnerklang; fast in demselben Augenblicke erschien General Forey mit drei Adjutanten, jagte an uns vorüber und dem Feuer zu; ihm auf dem Fuße folgte das 17. Jägerregiment, welches uns aufnahm, und eine Viertelstunde darauf zerstreuten wir uns als dichtgeformte Plänklerkette längs der Ufer eines kleinen Flüßchens, dessen Name mir entfallen.
Unsere Aufgabe war, die Aufstellung einer Batterie zu schützen, welche die sichtbar gewordenen österreichischen Colonnenspitzen auf’s Korn nehmen und niederschmettern sollte. Entsprechend der Weisung des Lieutenants, begab ich mich in schnellem Laufe mit meinen zwölf Mann hinter einen kleinen Erdabschnitt, außerordentlich bequem, unser eigenes Feuer schützend zu bergen und uns selbst beinahe vollständig zu decken.
Kaum mit dem Bauche im Schmutze gelagert, eröffnete ein Häufchen tyroler Jäger, versteckt hinter den Baumgruppen zu unserer Linken, ein heftiges und wohlgezieltes Feuer gegen unsere viel weniger geschützten Cameraden. In einigen Minuten waren fünfzehn der Unsrigen zu Boden gestreckt. Dies brachte uns in fieberhafte Aufregung; meine Leute und ich – ohne uns zu berathen oder auch nur ein Wort zu sprechen – sprangen in’s Wasser und rannten mit dem Bajonnet gegen die dreißig oder vierzig feindlichen Jäger, welche uns sichtbar waren, hinter welchen wir aber sogleich wieder Andere erblickten. Unserem Beispiele folgten drei Compagnieen und bald darauf ein ganzes Bataillon vom 74. Regiment.
Dieser Heldenmuth bekam uns aber übel; empfangen durch ein ununterbrochenes Heckenfeuer, mußten wir wieder umkehren. Wir hatten allerdings nur einen kurzen Raum zu durchlaufen, jetzt aber waren es auch nicht mehr blos einige hundert Tyroler, welche längs des Eisenbahndammes in Schlachtordnung gegen uns vorrückten, sondern eine ungeheuere Colonne von wenigstens sechstausend Mann. Außerdem hinderten wir auch noch unsere eigene Artillerie am Schießen, und Commandant Lacretelle ließ deshalb zum Rückzuge blasen. Wir gehorchten, aber zitternd und schäumend vor Zorn. Glücklicherweise wichen wir noch nicht zurück; man postirte uns nahe an der Cassina-Nova, mit dem Befehle, ein möglichst lebhaftes Rottenfeuer zu unterhalten.
In dieser Stellung blieben wir nun volle zwei Stunden, abwechselnd aufrechtstehend, knieend, versteckt und bloßgestellt, bald rechts und bald links laufend, bald wieder unbeweglich. Die ersten unserer Patronen hatten wir schon verschossen und waren jetzt höchstens noch 250 Schritte vom Feinde entfernt. Die Officiere hielten uns zurück, denn wir waren nicht zahlreich genug, um an „die Gabel“ (das Bajonnet) zu laufen; es war dies auch das Klügste. Unser Feuer wüthete jetzt tüchtig unter den Oesterreichern, während das ihrige uns nur wenig Schaden zufügte. Die Spitzkugeln von unserer Seite schlugen tief in ihre dichtgedrängten Reihen ein, die ihrigen dagegen Pfiffen an unseren Ohren vorüber, und ließen uns ruhig in mehr oder minder sicherer Stellung.
Es war dies das erste Mal, daß ich in’s Feuer kam, und ich war nicht der Einzige, dem es so ging. Nun wohl, ich war mit mir zufrieden. Allerdings, ich bückte mich vor den ersten Kugeln, das ist wahr; aber Heinrich der Vierte, sagt man, that dasselbe am Anfange jeder Schlacht. Außerdem ist dies ja auch nur eine körperliche Wirkung und unabhängig von der Willenskraft.
Sobald aber dieser Tribut der Natur bezahlt ist, solltet Ihr sehen, wie jeder neue Knall den Körper und Geist aufschnellt. Es ist wie ein jäher, spitzer Stachel in den Weichen eines edlen, kampflustigen Renners. Die Kugeln sausen vorüber, Hohlgeschosse wühlen den Boden ringsum auf, tödten die Einen, verwunden die Anderen; doch kaum gibt man darauf Acht. Der Pulverdampf berauscht, er packt an der Gurgel und steigt auf zum Gehirn. Das Auge wird blutunterlaufen, der Blick starr, wild auf den Feind gerichtet; alle Leidenschaften des Menschen vereinen sich in dieser fürchterlichen Wuth, welche den Soldaten beim Anblick des Blutes und im Getöse des Kampfes erfaßt.
Wie ich schon früher gesagt, hatte unsere Compagnie durch diesen stundenlangen Uebungskampf im „Scheibenschießen“ nicht viel zu leiden. Mein Unterlieutenant war in dem Augenblicke verwundet worden, als er einen Oesterreicher mit dem Kolben des Gewehres, welches er unserem von zwei Kugeln, die eine im Kopfe, die andere im Halse, getroffenen Sergeant-Major entrissen, niederstreckte.
Während dieser Zeit hatte unsere Artillerie Wunder gewirkt; ihre Kugeln lichteten zusehends die Reihen der Feinde, welche übrigens, aufrichtig gesagt, das donnernde Zwiegespräch in höchst anständiger Weise erwiderten.
Alles dies endete, wo es hätte anfangen sollen. Oberst Dumesnil stürzte verwundet vom Pferde, man umringte ihn, man rief „zum Bajonnet!“ und wir stürzten uns wie rasend auf die Kroaten. Sie empfingen uns festen Fußes; dies verdoppelte unsere Wuth; unser Lieutenant rief: „Cameraden, mit dem Kolben!“ und alle Kolben flogen in die Höhe. Der Feind wehrte sich verzweifelt gut, doch kam Unordnung in seine Reihen. Wir griffen wieder zur „Spicknadel“ (Bajonnet), und trieben ihn lustig bis Montebello zurück. Da wurde aber die Sache wieder ernster; der Feind verschanzte sich in den Häusern, schoß aus allen Fenstern auf uns, [385] und wir mußten wie die Katzen Einer über den Andern klettern, um nur wieder handgemein mit ihm zu werden.
Hier habe ich den General Beuret gesehen, furchtlos, sich vervielfältigend, den Kugeln trotzend, mit dem Säbel in der Faust. Gelassen folgte er dem Gassengefecht, rechts und links Befehle ertheilend, thätig und doch ruhig; ich habe ihn noch vor Augen. An der Ecke eines Hauses erblickten wir einen Capitain, umzingelt von vierzehn Büchsenschützen; in diesem Augenblick ward er getroffen und sank zusammen. General Beuret eilte herzu, man hob den Getroffenen auf, er stürzte wieder. „Er ist todt,“ sagte unser General. – Jetzt erschien General Forey, zwei Trompeter zur Seite, hinter sich einen Officier des Generalstabes.
Unser General wendete sich ihm entgegen; sie drückten sich die Hände, wechselten einige Worte und sagten: „Alles geht gut.“ Sie ritten ungefähr zehn Schritte, fünf verfolgte Tyroler flohen vor ihnen her; plötzlich wandten sich dieselben um und schossen; General Beuret läßt die Zügel fahren, wankt und, gestützt von einigen Soldaten, hauchte er den letzten Seufzer aus.
Da warf man sich auf die Tyroler, die sich wie ehrliche Soldaten sehr tapfer wehrten, und hieb sie in Stücke; das 84. Regiment, in seiner Wuth, gab keinen Pardon mehr, der Feind, erschüttert, begann sich zurückzuziehen. Er opferte 300 der Seinigen, welche den Rückzug durch ein furchtbares Feuer aus ihren Verschanzungen beschützten, die sie aus dem Stegreif an dem Kirchhofe angebracht. Viele der Unsrigen fanden hier ihren Tod.
Ich war nicht mehr beim Angriff auf diesem Posten, dem mörderischsten des ganzen Tages; wir waren zur Verfolgung des Feindes abgeschickt, welchen wir bis Casteggio drängten. Ich muß gestehen, die Oesterreicher fechten ausgezeichnet.
Man sagte mir, daß sich, die Sarden ganz tüchtig geschlagen hätten; ich glaube es, denn ihre Todten bedeckten den Boden, durchlöchert von Wunden, verstümmelt durch die österreichischen Bajonnete.
Ich war so glücklich, meine Hand auf einen blutjungen Unterlieutenant von höchstens achtzehn Jahren zu legen, welcher aber, obwohl umringt, sich schlug wie ein kleiner Löwe. Mein Corporal wollte ihm mit seinem Bajonnete eben die Weichen spicken; ich schlug das Gewehr mit dem Kolben in die Höhe und packte den guten Kerl beim Kragen, um ihm andere Unannehmlichkeiten zu ersparen.
„Ergib Dich, Bursche!“ rief ich ihm deutsch zu.
Er wandte sich um und reichte mir kalt den Degen. Es ist ein Herrenkind, blond, schmächtig, hochmüthig; ich habe ihm das Leben gerettet, und er hat mir nicht einmal dafür gedankt.
Gott sei Dank, ich habe nicht einen Ritzer. Mit Ausnahme meiner silbernen Taschenuhr, welche ich im Gewühle verloren, aber diesen Morgen durch den goldenen Chronometer eines feindlichen Oberofficiers zu ersetzen Gelegenheit fand, fehlt nicht ein Haar an meinem Kopfe.
Was mich am meisten kränkt, ist, daß meine Büchse, meine Pantalons und meine Pfeife vollkommen unbrauchbar geworden; dafür sind wir aber noch denselben Abend nach Montebello in’s Nachtquartier zurückgekommen, und ich habe daselbst in einer Scheune auf weichem Stroh geschlafen wie ein Gottbegnadigter.
Der Kaiser ist gekommen, das Schlachtfeld und die Verwundeten zu besuchen; er hat den General Forey und den Oberst Cambriels lebhaft umarmt und ihnen im Namen der ganzen Armee gedankt. Damit Gott befohlen für heute!
Vor elf Jahren drang von den fernen Gestaden der Südsee die Kunde nach Europa, daß in Californien unerschöpflich reiche Goldlager entdeckt worden seien. Und bevor man noch geprüft hatte, ob dieselben sich nachhaltig zeigten, strömten Hunderttausende von Menschen aus allen Himmelsgegenden nach dem neuen Eldorado; Jeder wollte allen Uebrigen den Rang ablaufen und vor ihnen an Ort und Stelle sein. Einige machten die weite und lange Fahrt um das Cap Horn, umschifften also die ganze Südspitze Amerika’s; Andere zogen den kürzern Weg über die Landenge von Panama vor, und wieder Andere wählten die beschwerliche Straße über die weiten Wiesenflächen, welche sich nach Westen hin vom Missisippi bis zu den Felsengebirgen ausdehnen. Diese überstiegen sie mit verhältnißmäßig geringen Beschwerden, weil der Südpaß, dessen Höhe nicht viel über siebentausend Fuß beträgt, auch für Fuhrwerke zu passiren ist. Aber die Weiterreise durch das zum großen Theil wüste Land der Mormonen und das Uebersteigen der californischen Seealpen, der Sierra Nevada, war mit großen Schwierigkeiten verbunden, und wer endlich den Westabhang dieses Hochgebirges erreicht hatte und das sonnige Stromthal des San Sacramento vor sich liegen sah, war matt und müde. Unzählige Menschen sind auf der tausend Wegstunden langen Strecke verdorben und gestorben; der Pfad, welchen die Auswanderer zogen, war mit den Gerippen verendeter Thiere und mit Grabhügeln oder auch mit Leichen seiner Länge nach gleichsam besäumt, und man bedurfte keines andern Wegweisers[WS 2], als dieser tausend und abertausend Memento mori. Von denen aber, welche so glücklich waren, in das Goldland zu gelangen, und, nachdem sie sich erholt, an die Arbeit gehen konnten, fanden sich Viele belohnt. Californien ist ein blühender Staat geworden, und liefert seitdem Jahr aus Jahr ein durchschnittlich einhundert Millionen Thaler Gold in den Verkehr.
Kaum hatte die Welt sich von dem Erstaunen über eine ungeheuere und ungeahnte Fülle edeln Metalles einigermaßen erholt, als abermals aus der fernen Südsee, aus der Region unserer Gegenfüßler, die Kunde erscholl, in den englischen Colonien Australiens seien Goldlager gefunden worden, deren Reichthum mit jenen Californiens sich messen könne. Und wieder begann eine Völkerwanderung nach dem großen Inselcontinente, der im Süden des Erdgleichers liegt; Tausende von Schiffen brachten Hunderttausende von Auswanderern nach Sidney und Melbourne; die Gruben am Alexanderberge und von Ballarat waren fast noch ergibiger als die californischen, und Australien versendet nun auch jährlich für nahe an hundert Millionen Thaler Gold.
Im Anfange des vorigen Jahres packte das Goldfieber zum dritten Male eine große Menge unternehmender Leute. An der westlichen Küste Amerika’s, im Norden des Washingtongebietes, dehnt sich ein kaltes, unwirthliches Land, Neu-Caledonien aus, in welchem bisher nur Pelzjäger und Indianer umhergestreift, waren. Dort entdeckte man am Fraserstrom und an einem Zuflusse desselben, dem Thompson, Gold in beträchtlicher Menge. Bevor einige Monate vergangen waren, hatten sich zwanzigtausend Abenteurer aus Oregon, Californien, ja selbst aus den canadischen Landen und vom obern Missisippi auf den Weg gemacht, um die neuen Fundgruben auszubeuten. Aber man ist am Fraser auf größere Schwierigkeiten gestoßen, als am San Sacramento, Tausende sind in ihren Erwartungen getäuscht worden und, aller Habe entblößt, in die Heimath zurückgegangen. Es erleidet keinen Zweifel, daß in jenem Lande, welches jetzt als Britisch-Columbia eine Colonie der englischen Krone bildet, viel Gold vorhanden ist; die Ausbeute hat jedoch bis jetzt noch nicht zwei Millionen Thaler betragen.
Während im vergangenen Sommer einzelne Züge von Auswanderern nach dem kalten Lande am großen westlichen Ocean aufgebrochen waren, und sich mühsam über die nördlichen Büffelprairien an beiden Armen des Saskatschawanstromes einen Weg bahnten, um den Athabaskapaß in den Felsengebirgen zu erreichen, welcher zum Thompsonflusse hinabführt, verbreitete sich plötzlich zu St. Louis im Staate Missouri das Gerücht, an den westlichen Grenzen der Gebiete Kansas und Nebraska sei Gold in Hülle und Fülle vorhanden. Da, wo die Felsengebirge nach den weiten Grassteppen gen Osten hin abfallen, und wo ein gewaltiger Spitzberg, der Pikes Peak, sich erhebt, streiften Pelzjäger, sogenannte Trappers umher und stellten in den vielen Bächen, deren klares Wasser durch anmuthige Thäler den Ebenen zuströmt, ihre Fallen aus, um Biber zu fangen. An einem Flüßchen, dessen Ufer mit einer Art wilder Kirschen bestanden sind, und den man deshalb den Cherry Creek, d. h. Kirschenbach, nennt, fanden sie zu ihrer nicht geringen Ueberraschung Goldblättchen und Körnchen im Uferschlamme. Sofort „prospecteten“ sie auch an andern Bächen, in den vielen Schluchten, welche von den Rocky Mountains gebildet werden; und [386] als an mehr als zwanzig verschiedenen Stellen edeles Metall, wenn auch nur in geringer Menge, zum Vorschein kam, hegten sie übertriebene Hoffnungen und zweifelten nicht mehr daran, daß ein neues Californien von ihnen entdeckt worden sei.
Diese Kunde durchlief rasch die Staaten Missouri und Iowa; eine Nachricht jagte die andere; man wollte wissen, daß der ganze Ostabhang des Gebirges zwischen dem Ostarme des Platteflusses und dem Arkansas eine unberechenbare Menge von Gold in sich schließe, und daß man nur dorthin zu gehen brauche, um reiche Schätze zu gewinnen. Nun liegt im Charakter des englisch redenden Nordamerikaners, ein so nüchterner, kalt berechnender, „calculirender“ Mensch er auch im Allgemeinen ist, etwas Abenteuerliches und Waghalsiges, und wo es den Anschein hat, als ob ein großes Vermögen rasch sich erwerben lasse, ist er sehr leicht den Täuschungen zugängig. Dann läßt er sich in einer für uns schwer begreiflichen Weise geradezu am Narrenseile führen, und wird ein Opfer des Betruges, jenes glänzend ausgeputzten und ausgepufften Schwindels, für welchen er selbst den Namen Humbug erfunden hat.
Der Nordamerikaner hat nicht jene Anhänglichkeit an Haus, Hof und Heimath, welche den Deutschen kennzeichnet; er trägt etwas Zigeunerartiges in sich, wandert aus einem Staate in den andern, wechselt seinen Aufenhalt im nächsten Jahre wieder, hat einen Drang in die Weite und zieht dem Gelde mehr nach, als irgend ein anderes Menschenkind. Es gibt viele Nordamerikaner, die im vierzigsten Lebensjahre schon in sechs bis neun verschiedenen Staaten als Ackerbauer ansässig gewesen sind, und ihre Farmen wieder verkauft oder auch ohne Weiteres verlassen haben. Bei einer solchen im Blute liegenden Neigung wird es erklärlich, daß die neuen Staaten und Gebiete so rasch sich bevölkern; wo „Busineß“, ein Geschäft, zu machen ist, dorthin strömen die Yankees zu Tausenden. Und schon im vorigen Herbst waren Tausende nach dem Pikes Peak und dem Kirschenbache geeilt, um Gold zu graben. Sie legten Städte an, die zwar hochtönende Namen, wie Auraria (Goldstadt), trugen, aber freilich nur aus wenigen Hütten bestanden, die man in aller Eile zusammengenagelt hatte. Sofort bemächtigte sich die schamlose Speculation des Goldfiebers in einem Umfange und in einer Weise, die selbst in Nordamerika, auf dem klassischen Boden des Schwindels, niemals übertroffen worden ist. Gold ist in jenen Gegenden allerdings vorhanden, aber noch heute weiß Niemand, ob die Ausbeute lohnen werde. Allein darauf kam es den Speculanten nicht an; ihr Zweck war kein anderer, als so viele Einwanderer als irgend möglich in die neue Goldregion herbeizulocken. Dabei verfuhren sie mit einer Gewandtheit, die nur von ihrer Gewissenlosigkeit übertroffen wird. Wir wollen zeigen, wie sie dabei zu Werke gingen.
Als im vorigen Jahre die Kunde von den Goldentdeckungen nach St. Joseph, einer Grenzstadt in Missouri, gelangte, bildete sich dort die sogenannte Lawrence-Compagnie, eine aus fünfundvierzig Männern bestehende Gesellschaft von Abenteurern, unter denen sich einige alte Californier befanden; auch waren gewissenlose Männer unter ihnen, welche mit der Feder umzugehen wußten. Im Herbst trafen Berichte von ihnen ein: man wollte Gold in Fülle gegraben haben, für durchschnittlich acht Dollars an jedem Arbeitstage. Diese Angaben wurden durch die Zeitungen verbreitet und regten die Gemüther auf. Auraria und Denver City, die neuen „Städte“, wurden in pomphafter Weise geschildert; man stellte für sie eine so rasche Blüthe in Aussicht, wie für Chicago und San Francisco. Einige Mitglieder des Vereins kamen zu Anfang des Winters – ohne Gold – zurück, verbreiteten aber Flugschriften und Zeitungsartikel, und zogen die Handelsleute und Gastwirthe in den Grenzstädten in ihr Interesse. Dort mußten ja viele Auswanderer sich mit mancherlei Sachen ausrüsten und versorgen, um die dritthalbhundert Stunden weite Strecke vom Missouri bis zum Pikes Peak und Cherry Creek zu durchwandern, und für die ersten Monate im Goldlande am Nothwendigen keinen Mangel zu leiden. Von edlem Metall war freilich noch nichts nach Osten gelangt; es kamen Fälle vor, daß Goldstaub, der angeblich aus Nebraska gekommen war, als kalifornisches Erzeugniß nachgewiesen wurde. Solche Thatsachen wurden durch die Zeitungen veröffentlicht, auch warnte man vielfach; nichtsdestoweniger griff das Goldfieber, namentlich in den Staaten Iowa, Illinois und Indiana, bald auch in Ohio, Missouri und Kentucky, dermaßen um sich, daß schon im Februar der Zug der Auswanderer nach Westen hin begann.
Die Grenzorte in Missouri, Kansas und Nebraska füllten sich mit „Pikes Peakern“, die für klingende Thaler ihren Reisebedarf einkauften. Lebensmittel, Maulthiere, Jochochsen, Pferde, Wagen, Karren, Lederzeug, Schaufeln, Sägen, Beile, Nägel und hundert andere Gegenstände gingen bei so starker Nachfrage im Preise außerordentlich hoch; die Handelsleute machten große Profite und schilderten die Aussichten im Goldlande in glänzender Weise.
So zogen die Auswanderer in die nassen Prairien hinaus, dem kalten Wind entgegen, ohne festes Obdach, in Schnee- und Regenwetter, unter großen Mühseligkeiten, aber erfüllt von Hoffnung auf raschen Erwerb großen Reichthums. Vom Februar bis in die ersten Wochen des Maimonates drängte ein Zug den andern. Die Wohlhabenden und Vorsichtigen hatten sich auf neun Monate mit Lebensmitteln versehen; sie führten beladene Wagen, vor die sie zwei, vier oder wohl auch sechs Joch Ochsen spannten; aber das Futter auf der Prairie war karg und manche Thiere fielen, alle magerten ab. Wie groß der Andrang war, ergibt sich aus der Thatsache, daß ein Fährmann an einem einzigen Tage nicht weniger als einhundertundachtundsiebzig Wagen über den Missouri setzte; und bei der Stadt St. Joseph gibt es nicht weniger als drei solcher Fähren, die seit dem Februar in ununterbrochener Thätigkeit waren. Das Goldfieber hat nicht weniger als hunderttausend Menschen auf die Prairien gelockt, und viele von ihnen sind nur mit Handkarren und einer Büchse ausgezogen, ohne Wagen oder Zelte. Binnen zehn Tagen wurden 1600 Wagen, 12800 Menschen und 9600 Ochsen an einer einzigen Stelle über den Missouri befördert. Weiber und Kinder sind zu Tausenden mitgegangen!
So war die Fluth, und sie ging hoch; aber bald schlug ihr eine gewaltige Ebbe entgegen. Die Goldjäger wurden von einem furchtbaren Unglück heimgesucht und viele von ihnen haben mitten auf der unwirthlichen Steppe ihr Grab gefunden. Der Rausch ist verflogen, an die Stelle hochgeschraubter Erwartungen und maßlosen Hoffens ist eine tiefe Entmuthigung oder eine wilde Verzweiflung getreten. Wir finden in den neuesten amerikanischen Blättern eine ganze Reihenfolge von Briefen aus verschiedenen Städten in Nebraska, Kansas und Missouri, die ein anschauliches Bild von dem Jammer geben, welcher über die Prairiewanderer hereingebrochen ist. Einige Auszüge lassen wir folgen.
Aus Omaha City in Nebraska wird unterm 13. Mai Folgendes gemeldet: „Ganze Schaaren von Goldjägern kehren in wilder Verzweiflung zurück. Sie sind wüthend gegen die Speculanten und Handelsleute, von denen sie sich gehumbugt glauben, und drohen mit Mord und Brand. Selbst die Fährleute sind vor ihnen nicht sicher, und manche derselben mußten flüchten, um ihr Leben zu retten. Sechzig englische Meilen westlich von hier haben einige hundert Enttäuschte, die leider mit Branntwein reichlich versehen sind, mehreren Menschen den Tod geschworen und für diese schon Gräber gegraben. Zu diesen gehört Samuel Curtis, der lügenhafte Correspondenzen in viele Blätter geliefert; wenn die gegen ihn ausgesandten Streifschaaren ihn fangen, so ist er unrettbar ein Kind des Todes. Auf der ganzen Strecke nach der Goldgegend hin herrscht ein schrecklicher Zustand. Während viele Tausende auf der Umkehr begriffen sind, begegnen ihnen andere Tausende, welche sich auf dem Hinwege befinden. Es fehlt nicht an Mord und Todtschlag, und der Himmel weiß, was das Ende sein wird. Eine Buchdruckerpresse, auf welcher man eine Zeitung, die „Neuigkeiten aus den Felsengebirgen“, drucken wollte, ist unterwegs angehalten und von den Wüthenden in den Plattefluß geworfen worden, damit nicht neue Lügen Verbreitung finden möchten. Ein Herr Allen, welcher günstige Berichte über das Goldland geschrieben, wurde deshalb beim Fort Kearney am Nebraskaflusse gelyncht. Außer manchen rechtschaffenen Leuten, die sich enttäuscht glaubten, sind auch Banden abenteuernder Taugenichtse auf dem Heimwege; diese halten alle Auswanderer an, erzählen fürchterliche Geschichten, lügen und übertreiben, und nehmen mit Güte oder Gewalt, was ihnen ansteht. Sie treiben es wie Räuber. Die Ortschaften Auraria und Denver City sollen ausgeplündert worden sein. Als gewiß glaube ich versichern zu dürfen, daß an einigen Stellen fleißige Goldgräber täglich für drei bis vier Dollars Goldstaub gewinnen können; an anderen Stellen bringt aber die Arbeit kaum drei Cents, während in den Gebirgsschluchten Lebensmittel selten und natürlich sehr theuer sind.“
Ein zurückgekehrter Goldjäger berichtet unterm 20. Mai aus [387] St. Louis in Missouri: „Ich erreichte Denver City im Anfange des April, wo ich sogleich von Speculanten umlagert wurde, die mir Baustellen zum Verkauf anboten. Als ich darauf nicht einging, sondern erklärte, daß ich Gold graben wollte, erboten sie sich, mir sehr ergibige Diggings, Fundstätten, wo das Graben lohne, zeigen zu wollen. Ich versprach zehn Dollars für eine solche Nachweisung, es fand sich aber Niemand, der mir Diggings hätte zeigen können. So machte ich mich allein an’s Werk, besuchte eine Menge Stellen, fand überall Gold, aber in so winziger Menge, daß eine angestrengte Tagesarbeit einen Ertrag von höchstens einem Fünfteldollar lieferte. Die vielgepriesenen Städte Auraria und Denver City fand ich als elende Nester, deren rohe Blockhütten nicht als Häuser bezeichnet werden können. Ich sah, wie der nichtswürdige Postmeister Basset begraben wurde. Er hatte eine Menge falscher untergeschobener Briefe nach den östlichen Städten geschrieben und war dabei in folgender Weise zu Werke gegangen. Er erbrach die Briefe, welche ihm zur Beförderung übergeben wurden, und schrieb seinerseits an die Adressaten, aber in ganz entgegengesetztem Sinne; statt der Warnungen gab er übertriebenes Lob, und um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, fügte er gewöhnlich hinzu, der Briefsteller habe sich gestern die Hand verstaucht und müsse sein Schreiben einem Anderen in die Feder dictiren. Dieser Mann hat viel Unheil angerichtet. Zwei Brüder begegneten einander auf der Prairie; der eine kam aus der Goldgegend, der andere wollte dorthin. – „Weshalb kommst Du, und weshalb folgtest Du meiner Abmahnung nicht?“ – „Wie? Hast Du mir nicht geschrieben, ich möchte in aller Eile kommen, da Tag für Tag eine Ausbeute von acht Dollars gewiß sei? Hier ist der von Dir dictirte Brief.“ Er war vom Postmeister Basset verfaßt worden.
„Zu dem Hunger und der Verzweiflung sind auch Krankheiten gekommen. An einer Stelle am nördlichen Arme des Platteflusses, dem Nebraska, lagen die Gerippe von mehr als sechzig Ochsen, die im Laufe eines einzigen Tages dort gefallen waren. Mitten in der Prairie stand ich auf einem Hügel und zählte binnen drei Stunden nicht weniger als einundfünfzig Wagen; und so war es auf einer Strecke von etlichen hundert Meilen; man verlor die Züge gar nicht aus dem Gesichte, einer folgte dem andern. Nachdem die Speculanten von der Hinwanderung großen Vortheil gezogen haben, profitiren sie nun auch von der Rückwanderung, indem sie unterwegs den Goldsuchern bange machen und sie zur Umkehr bewegen. Die geängstigten Menschen verkaufen ihnen dann alle Habe, die doch nun überflüssig wäre, für ein Spottgeld und beeilen sich, wieder an den Missouri zu gelangen. Für ein Joch Ochsen, das vor vier Wochen mit hundert Dollars bezahlt worden ist, geben sie höchstens dreißig, für den Centner Mehl anderthalb Dollars und so fort.
„Viele Wanderer sind erfroren, viele elendiglich verhungert. Welche Auftritte habe ich erlebt! Leichtsinnige, die sich mit etwas Mehl und Schinken auf die Wanderung begeben hatten, mußten furchtbare Noth leiden. Der geringe Vorrath war bald erschöpft, und ohne Wurzeln und wilde Zwiebeln, die man aus der Erde hervorgrub, hätten Manche nicht einmal ihr elendes Leben fristen können. Aber diese waren noch glücklich zu nennen, in Vergleich mit jenen, die weit vom Wege abgekommen waren, weil sie rascher, in kürzerer Linie nach den Goldfeldern kommen wollten. Als der Postwagen in der Nähe des Smoky Hill vorbeifuhr, gab ein Arrapaho-Indianer dem Schaffner ein Zeichen, daß er anhalten möge. Es geschah. Da kam der braune Mann näher und schleppte einen völlig abgemagerten Weißen herbei, welcher dem Verhungern nahe war. Nachdem man ihn mit Speise und Trank erquickt, erzählte der Unglückliche: „Ich heiße Blue und bin aus Whiteside County in Illinois. Unser drei Brüder wollten wir nach dem Pikes Peak so schnell als möglich und kamen vom großen Wege ab. Die Lebensmittel gingen uns aus. Mein einer Bruder starb; wir beiden anderen waren auch dem Hungertode nahe und verzehrten seine Leiche. Es kam uns schwer an, aber wir thaten es; wir wären sonst verhungert. Auch mein zweiter Bruder ist Hungers gestorben und ich habe von seinem abgemagerten Körper mich hingehalten. Dort liegen die Knochen. Der Arrapaho hat mich bis hierher geschleppt.“ Der Postschaffner hat jenen Knochen ein ehrliches Begräbniß gegeben und den unglücklichen Kannibalen bis zur nächsten Station mitgenommen.“
Am 20. Mai brachte ein Missouridampfer mehr als fünfhundert enttäuschte Goldgräber nach der Stadt St. Joseph. „Kansas City, Lawrence, Leavenworth, Atchison, Omaha, kurz alle Raubnester an der Grenze wollen wir in Brand stecken und, dem Boden gleich machen. Dort hat man uns verlockt und bethört!“ So lauteten die Drohungen dieser erbitterten Menschen. Selbst in St. Joseph, einer Stadt mit zehntausend Einwohnern, war man vor ihnen in Angst. Der Bürgermeister erließ einen Aufruf, dem zufolge nach Mitternacht Niemand mehr auf der Straße sein darf, und die Bürger sind allesammt als Polizeileute eingeschrieben worden. In anderen Städten traf man ähnliche Vorkehrungen.
Durch das Alles hat sich nun freilich das Goldfieber abgekühlt. Aber die, welche starben und verdarben, werden bald vergessen sein; wer seine ganze Habe verloren hat, muß wieder von vorne anfangen und wieder zu erwerben trachten. Für jene seither fernab gelegenen Strecken an den Felsengebirgen wird zuletzt das Goldfieber wohlthätig wirken, denn Manche, die einmal dorthin gezogen sind, bleiben an Ort und Stelle, und wenn sie wenig von edelem Metalle finden, so gewinnen sie doch dem Boden Schätze ab, wenn auch keine glänzenden. Denn an vielen Stellen ist das Erdreich fruchtbar und zum Ackerbau geeignet; das Vieh findet auf den Weiden der Wiesenflächen und auf den Alpenmatten reichliches, saftiges Futter. Die Ansiedler können allmählich zu Wohlstand gelangen; eine Kette von Niederlassungen wird aus Missouri bis in die Thäler jener Felsengebirge reichen, die noch vor zwölf Jahren gleichsam in nebelgrauer, vereinsamter Ferne lagen und nur von Pelzjägern durchstreift wurden. Nun sind auch jene Regionen von den Wellenschlägen der Yankeecivilisation erreicht worden, und so wird das große Festland in seiner ganzen Breite bevölkert.
Wenn ein Fluß in der Nähe des Feindes mit Hülfe einer Kriegsbrücke übergangen werden soll, so kommt es vor allen Dingen darauf an, jenen über den Punkt zu täuschen, wo man übergehen will. Allarmirungen und Demonstrationen an der ganzen oder einem Theile der Flußlinie, wie es auch die Oesterreicher vor ihrem Einmarsche in Piemont und bei ihrem weiteren Vorgehen machten, sowie Anstalten zum Brückenbau an Stellen, wo man nicht überzugehen gedenkt, die so getroffen werden, daß sie der Feind bemerken muß, sind hierzu die besten Mittel.
Wenn der Feldherr im Allgemeinen den Ort bezeichnet, wo er übergehen will, dann haben die Officiere des Generalstabes und die der Pontoniere auf das Genaueste den Fluß und seine Ufer da zu untersuchen, um den Punkt des Ueberganges selbst zu bestimmen. Eine nach der Seite des Flusses hingehende Biegung, von der man auf das andere Ufer übergehen will, wo zugleich das diesseitige Ufer das jenseitige, feindliche überragt, ist hierzu am günstigsten, damit man theils Batterieen daselbst auffahren kann, theils aber auch den übergegangenen Truppen Gelegenheit gibt, ihre beiden Flügel an den Fluß anzulehnen. Die Pontonierofficiere untersuchen die Stromschnelle, Tiefe, Breite und den Grund des Flusses, sowie die Ufer, ob dieselben fest oder sumpfig sind, und bestimmen, wo die Haquets (Pontonwagen) ausgeladen werden sollen. Wir können hier nicht auf die verschiedenen Arten des Schlagens von Kriegsbrücken eingehen, sondern wollen nur davon sprechen, wie dies gegenwärtig durch die Oesterreicher in Italien geschieht.
Eine genaue Recognoscirung muß ergeben, daß der Feind den [388] wahren Uebergangspunkt nicht kennt. Dorthin wird nunmehr der Brückentrain gezogen und möglichst verdeckt aufgestellt, die einzelnen Pontontheile, deren drei ein vollständiges Ganze bilden, jeder Theil aber auch als Kahn benutzt werden kann, vom Wagen genommen und bei einbrechender Dunkelheit von den Pontonieren unmittelbar an das Ufer getragen. Eine Abtheilung Jäger wird in diesen sofort an das gegenüberliegende Ufer geschafft, sie haben dieses auf das Sorgfältigste abzupatrouilliren, zu erforschen, wo der Feind steht, dabei aber zu vermeiden, von diesem gesehen zu werden oder sich gar mit ihm in ein Gefecht einzulassen; einzelne leichte Reiter, welche den Fluß durchschwommen haben, unterstützen sie bei diesem Bestreben, So rasch als möglich muß nun zurückgemeldet werden, wo der Feind steht, – ist er sehr schwach, oder zu entfernt, um etwas vom Brückenbau bemerken zu können, so wird zu diesem geschritten.
Zweierlei Arten von Brücken sind es, deren man sich im Felde wesentlich als Kriegsbrücken bedient, die Bock- und Pontonbrücken. Beide zu vereinigen, gelang dem österreichischen General Pirago in höchst überraschender, glücklicher Weise, und die „Pirago’schen Brückentrains“ sind in der kaiserlich-königlichen Armee allgemein eingeführt. Faß-, Faschinen-, Schanzkorb- und Wagenbrücken können nur als Mittel in der Noth, keineswegs aber als „regelmäßige Kriegsbrücken“ bezeichnet werden, wenn man sich auch derselben mitunter bedient.
In der Finsterniß der Nacht beginnen gewöhnlich die Pontoniere möglichst geräuschlos ihr Werk. Wagen an Wagen, mit Böcken und Handwerkszeug beladen, fahren nach dem Ufer und werden der Reihe nach abgeladen, die Pontons näher an das Wasser, theilweise in dasselbe gebracht, um theils mehr Infanterie überzuschaffen, die am jenseitigen Ufer Posto faßt und den vorangegangenen Jägern als Unterstützung dient, theils um beim Brückenbau so lange zu helfen, bis sie selbst zu demselben verwendet werden. Nun wird der erste Bock zusammengestellt und in das Wasser eingesetzt. Seine Füße werden durch die Tragebalken getrieben und in hölzerne, mit Eisen beschlagene Schuhe eingepaßt, welche das zu tiefe Einsinken in den weichen Boden des Flusses verhindern. Mit dem Lande steht er durch Streckbalken in Verbindung, welche, mit Belegdielen überdeckt, die Abfahrt zur Brücke bilden, sie sind es auch, die ihn festhalten, denn jeder Bock hat nur zwei Beine. Bock nach Bock wird eingesetzt und durch eben solche Balken mit den bereits stehenden verbunden, der so entstehende Brückenpfad aber auch sofort gedielt. Wird die Tiefe des Flusses zu beträchtlich, um ferner die Böcke einsetzen zu können, so müssen die Pontons ihre Stelle ersetzen. In gleicher Höhe und Linie werden sie mit dem bereits stehenden Stücke der Brücke entweder einzeln oder maschinenweise in Verbindung gebracht und gegen Wind und Strom verankert. Das Letztere ist das Bessere, denn es beschleunigt den Bau der Brücke, indem nahe am Ufer, während die Böcke eingesetzt werden, zwei bis vier Pontons mit Streckbalken zu einem Ganzen, „Maschine“ genannt, verbunden und dann mit einem Male nach der Brücke gefahren und an sie angesetzt werden. Bald nimmt die Tiefe des Wassers und mit ihr die Tragfähigkeit desselben wieder ab; man nähert sich dem jenseitigen Ufer und baut nunmehr mit Böcken, wie die oben beschriebenen, weiter. Das geht jetzt rasch, denn schon ist der ganze bis jetzt stehende Theil der Brücke gedielt, und mit Leichtigkeit können die Pontoniere die Böcke auf ihr vortragen und einsetzen.
So gelangt man nach und nach an das andere Ufer. Schon graut der Morgen, und nicht lange mehr kann dem aufmerksamen Feinde der Bau verborgen bleiben, denn mit Anbruch des Tages sendet er seine Patrouillen aus, – bereits fallen einzelne Schüsse, und es gilt, sich zu beeilen, die Brücke zu vollenden. In den meisten Fällen haben die in Kähnen übergesetzten Pioniere bereits eine Auffahrt gegraben, um, ohne Schwierigkeiten von der Brücke auf den Rand des jenseitigen Ufers gelangen zu können, vielleicht auch zum Schutze derselben eine leichte Brustwehr für Infanterie aufgeworfen; mehr wird bei der Kürze der Zeit in den meisten Fällen nicht möglich sein.
Jetzt ist die Brücke fertig. Einzelne Schüsse der von uns ausgeschickten Patrouillen zeigen an, daß sie vom Feinde bemerkt worden sind, daß er sie angreift und sie sich zurückziehen müssen; zu gleicher Zeit hört man aber auch das Rasseln der Geschütze auf den Wegen, welche von unserer Seite nach der Brücke führen. Bei dem Scheine der Morgensonne sieht man die Batterieen rechts und links auf den Höhen hinter der Brücke auffahren, während sich Infanterie und Reiterei in Colonnen neben und hinter derselben aufstellen. – Der Weg selbst muß frei bleiben, damit die Truppen in der bestimmten Reihenfolge ungehindert auf die Brücke gelangen können. Da erscheint der Feldherr mit seinem Stabe und besichtigt die Brücke. Die Infanterie beginnt den Uebergang, ohne Schritt zu halten, denn der Gleichtritt erschüttert das leichte Bauwerk mehr, als selbst das Passiren von schwerem Geschütz. Die Infanterie besetzt die Schulterwehr und die vorliegenden Terrainabschnitte, welche die Pioniere möglichst verstärken, damit dem angreifenden Feinde Widerstand geleistet werden kann, und eine Abtheilung Reiterei hat die Punkte, wo der Feind mit Vortheil Batterieen auffahren könnte, um die Brücke zu beschießen, so lange zu besetzen, bis es möglich ist, selbst dorthin Batterieen zu dirigiren. Das kann aber nicht eher geschehen, als bis man am jenseitigen Ufer stark genug ist, diese auch zu schützen.
Die Pontoniere stehen während des Ueberganges an den Brückenböcken und in den Pontons, um jeden Schaden, der entstehen sollte, rasch wieder auszubessern. Strömung, Wind und das Passiren der Truppen selbst können hierzu leicht die Veranlassung geben.
Hat der Feind die Brücke entdeckt, so wird er alles Mögliche thun, um nicht nur den Uebergang der Truppen zu hindern, sondern auch die Brücke selbst zu zerstören. Es entspinnt sich meist ein harter Kampf, den in der Regel das feindliche Artilleriefeuer beginnt. Die diesseitigen, auf den Höhen hinter der Brücke stehenden Batterieen haben dasselbe in schärfster Weise zu erwidern, theils um die feindlichen Geschütze zu demontiren, theils aber auch, um den Feind vom Zugange zur Brücke möglichst fern zu halten. Hier nun bewährt es sich, welchen Vortheil uns der nach unserer Seite einspringende Winkel des Flusses mit seinem dominirenden Ufer gewährt. Dringt der Gegner nach der Brücke vor, so kommt er in das Kreuzfeuer jener Batterieen, und je weiter er vorgeht, desto weniger Kräfte kann er entwickeln, da sich das nach der Brücke zulaufende Terrain verengt und der Fluß eine Ausbreitung nicht gestattet. Indessen würde das Alles den angreifenden Feind nicht abhalten, und deshalb muß der Uebergang möglichst rasch erfolgen. Wir sagen möglichst rasch, und doch geschieht es den gespannten Erwartungen immer viel zu langsam, denn nur im Schritt kann eine derartige Brücke passirt werden. Die Reiter, sowie die Fahrer der Artillerie müssen absitzen, auch darf ein Geschütz nicht dicht hinter dem andern fahren, sondern in größern Distanzen, um die Schwankung und die Belastung der Brücke zu vermeiden. Die bereits am anderen Ufer angelangten Truppen sind beordert, dem mit Uebermacht andrängenden Feinde sofort einen energischen Widerstand zu leisten und wo möglich die Punkte streitig zu machen, wo Batterieen zur Beschießung der Brücke errichtet werden könnten. Denn in diesem gefährlichen Falle würde das Uebergehen der Truppen nicht blos gehemmt werden, indem Verwirrung und Stockungen herbeigeführt würden, sondern die Brücke würde durch das feindliche Feuer auch beschädigt, bald ein Bock, bald ein Ponton getroffen werden, und das dadurch nothwendig werdende Einsetzen neuer Stücke eine Pause im Uebergange der Truppen selbst verursachen.
Alle Truppen, welche die Brücke überschritten haben, haben sich sofort und mit möglichster Eile in Gefechtstellung zu setzen, und langsam, aber unaufhaltsam vorzudringen, um den nachrückenden Regimentern Platz zu verschaffen. Während dieses Gefechtes erheischt aber die Erhaltung der Brücke noch andere Vorsichtsmaßregeln, denn ein intelligenter Feind wird sie auf jede Weise zu zerstören suchen, wenn er keine Aussicht mehr hat, sie zu nehmen. Gelingt ihm dies nicht durch Geschützfeuer, so wird er seine Absicht durch Bäume, Flöße, Brander oder Höllenmaschinen zu erreichen suchen, welche er stromabwärts gegen die Brücke treiben läßt. Deshalb sind Beobachtungsposten aufzustellen, um dies zeitig genug zu entdecken, Pontoniere in Kähnen müssen oberhalb der Brücke dergleichen Gegenstände aufzuhalten und unschädlich zu machen suchen, denn nur so ist die schwankende Straße, welche zwei Ufer verbindet und von deren Erhaltung oft die ganzer Armeecorps abhängt, im brauchbaren Stande zu erhalten.
Erlaubt es das vorhandene Material und sein Verhältniß zur Breite des zu überschreitenden Flusses, so errichtet man in der Regel eine zweite Brücke, um einestheils rascher übergehen zu können, anderntheils mit dem Unbrauchbarwerden einer Brücke nicht seine ganze Verbindung unterbrochen zu sehen.
Sowohl bei dem Vormarsche nach Piemont, als auch bei dem
[389][390] gegenwärtigen Rückzüge kamen die Oesterreicher oft in die Lage, Flüsse auf Pirago’schen Kriegsbrücken zu überschreiten, wie wir sie eben schilderten, und immer bewährten sich diese als höchst praktisch. In diesem Heere hat man dem für Kriegsoperationen so wichtigen Brückenbau die größte Aufmerksamkeit zugewendet, ebenso was die Zahl, als was die Construction der Brücken betrifft, denn es hat 36 bespannte Brückentrains nach jenem so vorzüglichen Systeme zur Verfügung.
Aus dem Gesagten mag hervorgehen, wie schwierig es ist, erstens dem Feinde den wahren Uebergangspunkt zu verbergen und alle Vorbereitungen so zu treffen, daß man die Brücke möglichst rasch schlagen kann; zweitens den Uebergang zu erzwingen wenn der Feind nur irgend wachsam und auf seiner Hut ist und Widerstand leistet; drittens aber auch die große Unwahrscheinlichkeit des Gelingens, wenn der Feind während des Baues selbst die Brücke angreifen und beschießen kann.
Wir erwähnten, daß gleichzeitig mit dem Brückenbau auch eine Verschanzung am gegenüberliegenden Ufer zum Schutze der Brücke angelegt werden müsse; gewinnt diese eine größere Ausdehnung, so nennt man sie Brückenkopf. Von seiner tapferen Vertheidigung hängt bei einem Flußübergange unendlich viel ab, und die Schlacht von Magenta hätte wohl einen andern, als den so betrübenden Ausgang genommen, hätten die Oesterreicher nicht den Tag vorher den Brückenkopf daselbst als „unhaltbar“ aufgegeben.
Vortrefflich verstanden es die Oesterreicher, den Feind über ihren wahren Uebergangspunkt zu täuschen; das zeigt ihr Uebergang über den Po, den Tessin und die Sesia und die fortwährenden Allarmirungen, um den Feind unsicher zu machen. Ihre Kriegsbrücken sind, wie wir sagten, gut, dauerhaft und leicht zu handhaben; das zeigt die Raschheit, mit welcher sie dieselben schlugen. Nebenbei sind sie auch sehr sicher; das beweist, daß bei deren Benutzung auch nicht ein Unfall von einiger Bedeutung vorkam.
Oesterreich hat aber auch in seinen Truppen ganz vorzügliche Elemente, um derartige Unternehmen auszuführen: einmal sind es die Jäger und Husaren, die in beinahe unübertroffener Weise den leichten Dienst versehen und jenen Vorhang bilden, hinter welchen der Feind nicht blicken kann, um zu sehen, was vorgeht, anderntheils sind die Pontoniere aus den Küstenländern und von den Ufern der Donau kräftige, starke, sehr gut in ihrem Dienste geübte Soldaten, welche mit dem Wasser vertraut sind, denn sonst wäre es kaum möglich gewesen, obengenannte Flüsse, welche durch den schmelzenden Schnee der Alpen und die fortwährenden Regengüsse angeschwollen waren, mit solcher Sicherheit zu überbrücken und die Brücken zu erhalten. Denn abgesehen von der vermehrten Strömung, kommt der Fall nur zu leicht vor, daß Schiffbrücken durch ein rasches Sinken oder bedeutendes Steigen des Wassers sehr gefährdet, ja gesprengt werden.
Wenn auch kein heiliger, gießt sich doch ein freudiger Geist zu Pfingsten über die Menschen aus. Die Schützenfeste, die Würfelbuden, neue Kleider, lachende Wiesen, grüne Bäume, blauer, warmer Himmel, gewöhnlich mit einem Donnerwetter dazwischen fahrend, Pfingstbiere, neue Liebe, reifende Hochzeiten – alle diese alten Gerechtigkeiten der Pfingstwoche werden sich wohl auch diesmal gegen Kriegsbereitschaft und Mobilmachung im lieben Deutschland geltend gemacht und heitere Genüsse und Erinnerungen auf den dunkeln Grund der Gegenwart gedruckt haben.
Wir Deutschen in London feierten auch ein recht heiteres und echt deutsches Pfingstfest mit deutschen Musikanten, weithin leuchtender, flatternder schwarz-roth-goldner Fahne, deutschen Reden, Gesängen und Tänzen auf grünem Rasen unter lichtgrünen Eichen, mit deutschen Würsten, Schwarzbroden, Schwänken, Bier, Kuchen, Kaffee, Frauen und Kindern und der weithin unter die Engländer schmetternden, noch immer nicht beantworteten Frage: „Was ist des Deutschen Vaterland?“
Und in welch’ einem großartigen Rahmen! Auch London hat seinen Pfingstmontag, wo die Zahl der zu Fuß und zu Pferd, zu Wasser und zu Lande Ausfliegenden nach Hunderttausenden berechnet und zur Million wird, wenn man nur ein Drittel als von dem allgemeinen Ausfliegefieber getrieben annimmt. Zehn riesige Eisenbahnhöfe (zum Theil doppelte und dreifache für verschiedene Richtungen und Compagnieen) und mehr als hundert noch in das Bereich Londons fallende Stationen füllen sich an diesem Pfingstmontage fortwährend mit drängenden, schwitzenden Schaaren von Menschen, Proviantkörben, Flaschen, Fahnen, Pfeifen, Trompeten und donnern fast ununterbrochen in viertelmeilenlangen Zügen davon über Häuser und Straßen, durch Tunnels und Tiefen, über Höhen und Thäler, durch Vorstädte, Wälder und Wiesen, sich unten und oben in den verworrensten Schienennetzen kreuzend, aneinander verbeisausend und sich mit vollster Lungenkraft, mit Mützen und Hüten, Tüchern und Fahnen gegenseitig in aller Eile zutelegraphirend, daß man kreuzfidel sei heute und dem vorbeisausenden Zuge ein Gleiches wünsche.
So zerstreuen sie sich mit der Zeit über einen achtzig- bis hundertmeiligen Umkreis von London und lagern sich zwischen Blumen und Wiesen, schilfig-seiden säuselnden Weizenfeldern, unter den üppigen Baumkronen der Wälder und Parks und leeren ihre Proviantkörbe und unglaubliche Massen von zinnernen Bierkrügen und tanzen, jagen, necken und spielen den ganzen Weg in derber, herzhafter Weise. Hier werden Kokosnüsse von Stangen geworfen, dort mit Kindern und Damen Spazierritte auf überall bereitstehenden Mietheseln unternommen. Ueberall, überall in der Nähe und Ferne fröhliche, bunte Menschengruppen, verschönt durch Freude, geröthet durch Schwelgen in frischer Luft und aus allen möglichen Flaschen, wie durch den grünen Wiederschein des saftigsten englischen Grün’s, das stets grüner ist, als jedes andere Laub und Gras in Europa.
Was die Eisenbahnen nicht leisten konnten, versuchen unten auf der Themse Hunderte von Dampfschiffen, die, stets zum Sinken überladen, bunt, musicirend, flaggend, wimpelnd und jauchzend hin- und herschießen, weit hinauf in idyllische, weit hinunter in meeresbenachbarte Gegenden. Aber auch die Dampfschiffe reichen nicht hin. Unzählige Privat-Omnibusse, alle Arten von Wagen und Karren müssen sich überfüllen lassen und zwischen Wagenburgen sich jubelnd hinausdrängen. Auch die vielen Canäle, die London mit der Umgegend nach verschiedenen Richtungen verbinden, bedecken sich mit langen, menschenüberladenen Kähnen, die von Pferden in langen, jauchzenden Reihen hinaus in Luft und Lust, in Jauchzen und Jubel gezogen werden.
In einem solchen Rahmen mit Tausenden von Genrebildern des englischen Volkslebens bewegte sich auch der schwarz-roth-goldene Zug deutscher Männer, Frauen und Kinder aus allen Gegenden der Heimath und den verschiedensten Ständen mit klingendem, schmetterndem Spiel nach einem östlichen Eisenbahnhofe Londons. Die Führer und Vorsteher trugen breite, schwarz-roth-goldene Schärpen, die Ehrengäste freiflatternde schwarz-roth-goldene Bänder vor der Brust. Die Eisenbahn führte sie hinaus in einen eichenreichen Theil des beinahe zwölf Meilen langen Epping-Forstes im Osten von London, genannt Snaresbrook. Sie zogen von der Station in die vorher ausgesuchte Waldesstelle, wo sich schon Proviantwagen mit Bier, Brod, Kuchen, deutschen Würsten und Schinken eingefunden hatten. Diese weisen Vorsichtsmaßregeln und die ganze Formation des Festes war von dem Verein „Bund deutscher Männer“ ausgegangen.
Nachdem sie mit Musik und der deutschen Fahne den Ort des Festes erreicht, bildeten sie einen Kreis und weihten den Tag durch entsprechende Reden und deutschen vierstimmigen Männergesang, der manche liebe Erinnerung an die Gymnasien- und Studentenzeit der Heimath schmerzlich wohlig wachrief und liebe Freunde, die längst dahingegangen, rothwangig und hoffnungsvoll – aber freilich nur im Geiste – in unsere Mitte zauberte.
Nach dieser Eröffnung zerstreute man sich zwischen Thälern und Höhen und gruppirte sich zu kleinen Lagern und Kränzchen, um zu frühstücken, Natur, Luft, Licht und Sonne zu genießen, liebe Freunde und Freundinnen und sich selbst zu amüsiren. Mit der Zeit kam’s zu Spielen und Tänzen auf grünen, sonnigen Plätzen, doch erst, als drei Uhr Nachmittags die erwarteten [391] Ehrengäste angekommen waren, und speciell nach feierlicher Einholung des Professor Gottfried Kinkel und Bewillkommnung desselben mit Reden und Vivats, erreichten die Feierlichkeiten und Freuden ihre volle Blüthe. Der schönste Duft derselben war die Bewillkommnung Kinkel’s und seine Rede. Ein Communisten-Verein, der jetzt ein Wochenblatt herausgibt, hat es sich zur speciellen Aufgabe gemacht, nicht allein die Zeitung Kinkel’s, sondern auch diesen persönlich auf die frechste Weise zu verunglimpfen, wobei sie die handgreiflichsten Lügen nicht scheuen. Ein begründeter Angriff von einem ehrenhaften Gegner kann den Angreifer und den Angegriffenen ehren, aber Lüge und absichtliche Verleumdung der Person, deren bürgerliche Ehrenhaftigkeit auch der bitterste politische Feind nicht mit Grund antasten kann, ist absolut niederträchtig. Der Bund deutscher Männer wollte das Fest benutzen, dem Professor Kinkel zu zeigen, wie ihn die Deutschen aller Stände und Berufe in London ehren und lieben. Das sah und fühlte Jeder den ganzen Tag über. Auch Kinkel war davon sichtlich ergriffen. Und so gab es ein unvergeßlich schönes Bild, das allen Deutschen, wo und in welcher politischen Situation sie auch leben mögen, Freude machen wird, als er aus dem bunten Kreise deutscher Männer, Frauen und Kinder unter einer hellgrünen, lichtdurchzitterten Eiche mit entblößtem Haupte in die Mitte trat, beschattet und umflattert von der schwarz-roth-goldenen Fahne, und unter derselben in der Mitte deutscher Männer über die Pflicht und die Mittel sprach, sich als Deutscher im Auslande den sittlichen Zusammenhang mit dem Vaterlande und deutsches Leben, Thun und Denken zu wahren.
„So Du Zion vergissest, soll Deiner vergessen werden.“ Diese furchtbar wahr gewordene Prophezeiung war sein Hauptthema. Er begann seine Rede mit einem Griff in die flatternde Fahne hinauf und erinnerte an die Zeit, als sie frei und hoffnungsvoll von einem Ende Deutschlands zum andern wehte. Doch auch nicht die leiseste Spur von bitterer Bemerkung entschlüpfte ihm. Die Rührung, diese Fahne wieder zum ersten Male in einem fremden Lande in einem Kreise deutscher Männer und Familien zu sehen, gab ihm ergreifende Worte, welche manches Auge feuchteten oder unverhohlen, unbewußt mit Thränen füllten. Aber bald ging es in den Ton der Ermuthigung und des Trostes über. Er bewies, daß die Deutschen im Auslande eine schöne, welthistorische Bestimmung übernommen hätten und sie überall, wenn auch größtentheils noch unbewußt, erfüllten: sie tragen die deutsche Cultur persönlich und praktisch durch Beibehaltung und Entwickelung deutschen Wesens mit allem seinem reichen Inhalte in alle Welt und machen es oft unter freieren und besseren Verhältnissen, als zu Hause, in England, in Amerika, wie in dem sibirischen Paradiese am Amur (in dessen Hauptstadt Nikolajewsk sich auch bereits ein deutscher Verein gebildet hat) geltend, bringen es zu Anerkennung und Ehre, wodurch die Deutschen mit der Zeit zu dem bindenden, versöhnenden Elemente unter den Völkern der Erde werden mögen, die Pioniere des praktischen Kosmopolitismus. Dies ist nur möglich durch Cultur des deutschen Wesens im Auslande, durch Erhaltung lebendiger Theilnahme an den Schicksalen und Leiden unseres gemeinschaftlichen Vaterlandes, welches der Bund deutscher Männer mit seiner schwarz-roth-goldenen Fahne, seinen heiter und herzlich vereinten Mitgliedern aus allen möglichen „engeren Vaterländern“ und Ständen an diesem Tage schön und erquickend in seiner Freiheit und Einheit, wenn auch nur im Kleinen, darstelle und genieße.
Nach dieser Rede begannen die heiteren und humoristischen Seiten des Festes sich üppig zu entwickeln. Es wurde herzhaft getanzt auf dem grünen Rasen, geschmaußt und getrunken, gespielt und gescherzt in vollster Freiheit, Vertraulichkeit und Gemächlichkeit. Dann und wann traten die Männer zu einem vierstimmigen deutschen Gesänge zusammen. Umzüge mit der Fahne, mit Musik und Gesang. Echte Zigeunerinnen, die im Epping-Forste nisten, drängten sich gelbbraun unter die weißen, rothgetanzten Damen, um für wenig Kupfer die schönsten Dinge zu wahrsagen. Auch dem wohlig im Grase lagernden Professor Kinkel naht sich ein überaus schmutziges und doch sehr schönes Zigeunerkind, kauert sich neben ihm nieder und liest aus seinen Handlinien die wunderbarsten Ereignisse der Zukunft. Welch’ ein malerisches Genrebild!
Hier wird deutsche Wurst, die nicht verzehrt war, verauctionirt. Der Fahnenträger fungirt als Capellmeister bei einem Trinklieds und dirigirt mit dem Propfenzieher auf dem vorgehaltenen Hute. Ein hoch am Eichenaste schwebender Krug Bier muß ausgetrunken werden, ohne ihn anders als mit den Lippen zu berühren. Auch gilt es, aus einem noch höher gehangenen Brodkorbe blos mit den Lippen zu essen. Diese und unzählige andere Schwänke steigerten die freie deutsche Einigkeit und Heiterkeit nicht selten zum unauslöschlichen Göttergelächter.
Spät Abends zieht die glückliche Gesellschaft mit klingendem Spiel und der schwarz-roth-goldenen Fahne vor andächtig Platz machenden Policemen und hutschwenkenden, jauchzenden Engländern vorbei nach dem Eisenbahnhofe, nach Hause mit der bleibenden Erinnerung, im Kleinen, aber in schönster Wirklichkeit ein einiges, freies Deutschland repräsentirt und genossen zu haben.
Zur Erinnerung an den Major v. Schill. Einer der populärsten Helden aus den großen Kämpfen, die zu Anfang dieses Jahrhunderts stattfanden, ist unstreitig der Major von Schill. Noch heutzutage lebt sein Andenken im deutschen Volke fort, und überall singt man noch mit derselben Begeisterung, wie ehemals: „Es zog aus Berlin ein tapferer Held“. Was Schill im großen Ganzen gethan und wie er geendet, wissen Tausende; aber einzelne Episoden aus seinem Leben dürften dem größeren Publicum denn doch unbekannt sein. Eine derselben will ich hier, so wie ich sie aus dem Munde eines ehemaligen Schill’schen Jägers, des in Marienwerder lebenden Förstern Spalding, gehört habe, mittheilen.
„Ich war,“ so erzählte der Förster, „in dem für Preußen so unglücklichen Jahre 1806 Forstgehülfe bei einem Oberförster in der Mark. Mitte October des genannten Jahres verbreitete sich das Gerücht, die Preußen seien geschlagen und die Franzosen befänden sich im Anzuge. Ein panicher Schreck kam über sämmtliche Bewohner der Oberförsterei; selbst mein Principal wurde davon befallen. Einige Tage hindurch ging er mit blassem, verstörtem Antlitz umher; dann aber, als man ihm mittheilte, daß sich bereits einige feindliche Reiter im benachbarten Dorfe gezeigt hätten, ließ er am nächsten Morgen einen Wagen packen und fuhr mit seiner Gemahlin auf und davon. Bald darauf zerstreute sich auch das Dienstpersonal, und nur ich und eine alte Magd blieben allein zurück. Tags darauf erschienen etwa fünfzig französische Chasseurs und plünderten die Oberförsterei gründlich aus. Im ziemlich reich gefüllten Weinkeller blieb auch nicht eine einzige Flasche; denn was die Reiter nicht leerten, wurde den Pferden vorgesetzt, die den Rebensaft mit Behagen einschlürften. Nach einem mehrstündigen Aufenthalte machten sich die Franzosen wieder auf den Weg. Kaum konnten sie aber tausend Schritt weit im Walde sein, so folgten ihnen etwa vierzig preußische Husaren. Als ich dem Officier, einem jungen Lieutenant, erzählte, wie eben etwa fünfzig Chasseurs hier gewesen, bat er mich, ihn schnell dem Feinde nachzuführen. Ich schlug die Richtung nach einem Hohlwege ein, den die Franzosen, als wir anlangten, noch nicht passirt hatten. Kaum war von dem jungen Lieutenant der Ueberfall geordnet, da erschienen, keine Gefahr ahnend, die feindlichen Chasseurs. Im Nu stürzten die Preußen von beiden Seiten über sie her, und nach einem kurzen Kampfe waren die meisten Franzosen getödtet und die übrigen in Gefangenschaft gerathen.
„Als ich in die Försterei zurückkehrte, war die alte Magd auch bereits davongegangen, und ich befand mich ganz allein in dem großen Gebäude. Diese Einsamkeit behagte mir aber durchaus nicht, und schon des anderen Tages warf ich die Jagdtasche über die Schulter, nahm die Büchse zur Hand und wanderte fort. Ich hatte die Absicht, mich nach Pommern zu begeben und dort unter die preußischen Jäger zu treten. Als ich in Stettin anlangte, fand ich Alles in der größten Aufregung und Unordnung, und so setzte ich denn meinen Marsch weiter östlich fort. Hinter dem Städtchen Damm stieß ich auf eine interessante, aus etwa acht bis zehn Köpfen bestehende Gruppe. Es waren theils preußische Cavalleristen, ohne Pferde, theils Infanteristen; einige trugen Waffen, mehrere dagegen waren nur mit einem derben Knüttel versehen. In der Mitte dieses merkwürdigen Trupps schritt, einen Arm in der Binde tragend, eine kräftige, frische Männergestalt – es war Schill, damals Husarenlieutenant. Als er meiner ansichtig wurde, kam er auf mich zu und fragte:
„Wohin, guter Freund?“
„Ich blickte dem Fragenden in die blitzenden Augen und erwiderte:
„Ich will mich bei den Preußen anwerben lassen.“
„Das trifft sich schön!“ entgegnete Schill. „Ich bilde ein Freicorps und sammele Alles, was versprengt ist, nehme aber auch gern junge Jäger auf, wenn sie mit einer Büchse bewaffnet sind. Also, guter Freund, will Er bei uns bleiben?“
„Die Zutrauen erweckende Sprache Schill’s und sein einnehmendes Wesen bestimmten mich, „Ja“ zu sagen, und so ward ich denn der erste Schill’sche Jäger. Auf dem Marsche stießen noch einige Cavalleristen mit Karabinern und einige mit Gewehren versehene Infanteristen zu uns, so daß sich unsere Zahl auf etwa zwanzig Mann belief. Vorsichtig setzten wir unsern Marsch fort; das Ziel war die Festung Colberg.
„Eines Abends in der Dunkelheit erreichten wir das Städtchen Gollnow. Schon waren wir im Begriff, durch das Thor zu schreiten, als uns ein Bürger zurief: „Das sind ja Preußen! Um Gotteswillen, kehrt um, [392] denn auf der anderen Seite der Stadt liegen wenigstens zweihundert Chasseurs im Bivouac.“
„Sie werden uns nicht gleich aufessen,“ meinte Schill und ließ sich dann von dem Manne das feindliche Lager genauer beschreiben. Als Schill vernahm, daß ein Wald in der Nähe des Bivouacs sei, blitzte sein Auge heller. „Wir sind,“ sagte er, „gegen Zwanzig Mann und haben zehn Gewehre und sechs Karabiner. Da können wir schon etwas unternehmen.“
„Halb mit Güte, halb mit Gewalt mußte uns der Bürger in die Nähe des feindlichen Bivouacs führen, das wir auch bald an den brennenden Wachtfeuern erkannten. In der Nähe derselben waren Pflöcke eingeschlagen und an diesen die Pferde befestigt. Schill hielt jetzt mit einem alten Unterofficier Kriegsrath; dann trat er zu uns und sagte: „Wir müssen den Franzosen Pulver zu riechen geben; denn es wäre eine Schande, wenn wir uns wie Diebe davonschleichen würden.“
„Darauf vertheilte er uns in einer langen Linie und befahl dann, daß eine allgemeine Salve auf die Pferde erfolgen solle, sobald der Signalschuß aus meiner Büchse gefallen sei. Wir stellten uns hinter Gebüschen und Bäumen auf, und als Alles geordnet war, kam Schill zu mir, klopfte mir auf die Schulter und sagte: „Nun gut gezielt!“
„Ich legte an, und bald blitzte meine Büchse. Der Schuß mußte gut getroffen haben, denn ich sah, wie sich ein Pferd bäumte und dann überschlug. In demselben Augenblicke aber knatterten die anderen Schüsse, und richteten Unordnung und Bestürzung im feindlichen Bivouac an. Die Pferde rissen sich größtentheils von den Pflöcken los und rannten davon; Hornsignale, Commandowörter und derbe Flüche tönten vom feindlichen Lager deutlich genug zu uns herüber. Auf der langen Linie, die wir besetzt hatten, fiel bald rechts, bald links ein Schuß, so daß der Feind nicht wußte, von welchem Punkte aus ihm die meiste Gefahr drohe und wie groß dieselbe überhaupt sei. Eine Weile war er unschlüssig, was er thun solle; dann aber bemerkten wir, wie die dunkle Reitermasse kehrt machte und im Galopp in die Stadt sprengte. Es wäre Tollkühnheit gewesen, wenn wir eine Verfolgung gewagt hätten; daher sammelten wir uns, bei welcher Gelegenheit einige Pferde von uns aufgefangen wurden – darunter auch ein braunes Thier, das Schill zu seinem Reitpferde machte – und setzten unsern Marsch ungehindert fort. Schill war über den erwünschten Ausgang dieses nächtlichen Ueberfalls sehr erfreut und sagte, auf seinen Braunen deutend: „Die Franzosen werden uns nicht nur Pferde mit Sattel und Zaum geben müssen, sondern auch Kanonen und den Napoleon dazu.“ Soweit der Förster.
Schill hat damals ein prophetisches Wort gesprochen; leider wurde ihm aber nicht das Glück zu Theil, mit eigenen Augen die frische Morgenröthe, welche nach langer schwarzer Nacht für Deutschland anbrach, zu schauen. Das dankbare Vaterland bewahrt das Andeuten an ihn desto treuer und fester, davon zeugt nicht nur ein Denkmal, das ihm und seinen todesmuthigen Officieren nach errungener Freiheit in Braunschweig gesetzt wurde, sondern auch die innige Begeisterung, mit welcher man immer noch von ihm und seinen tapfern Streitern spricht.
Neben dem erwähnten Denkmal Schill’s und seiner Getreuen ist ein kleines Thürmchen, Schill’s Capelle genannt, errichtet. In demselben befinden sich die Wappen sämmtlicher Schill’schen Officiere, Schill’s rother Husarendolman, sein Degen, ein mit Blut getränkter Kragen seines Hemdes und auch die Brieftasche, welche ihm die Königin Louise schenkte. Wehmüthig haftet der Blick auf allen diesen Gegenständen. Einen Anblick sollte man indeß dem Besucher der Schill’schen Capelle doch ersparen; es ist der Anblick des großen Glases, in welchem der Kopf des unglücklichen Helden eine Zeit lang in Spiritus aufbewahrt wurde. Fast kommt es einem vor, als steige aus dem Glase ein häßliches Skelett und verwische mit seinen dürren Knochenfingern alle heiligen Schauer, die sonst an dieser Stätte das Herz jedes Deutschen durchwehen. Wäre es nicht besser, das Gefäß in einen verschlossenen Raum zu stellen, und es nur auf Verlangen vorzuzeigen? Der gegenwärtige Castellan der Capelle, ein ehemaliger Schill’scher Husar, theilte mir sichtlich gerührt mit, daß Schill’s Haupt endlich unter dem Denkmal neben der Capelle Ruhe gefunden habe.
Am 31. Mai d. J. sind fünfzig Jahre verflossen, seitdem Schill seine Heldenseele aushauchte.
Der „Leviathan“ oder, wie er jetzt allgemein heißt, „Great Eastern“ ist seit den Pfingstfeiertagen wieder für Geld zu sehen, und gar merkwürdig sind die Fortschritte, die seine Ausrüstung gemacht hat, seitdem in Folge der neugebildeten Actiengesellschaft die erforderlichen Capitalien angeschafft sind. Die schwierigsten Partieen, wie Maschinen u. dergl., sind fertig und im September geht aller Wahrscheinlichkeit nach das Ungeheuer aus der Themse in die offene See hinaus. Die hohen Schornsteine sind alle eingesetzt, drei von den Masten vollständig aufgetakelt, die beiden Radkasten fertig, die Maschinen fast ganz zusammengestellt, die Verdecke complet, und ein Heer von Arbeitern ist mit der Ausrüstung beschäftigt. Am 4. April hatte der Bauunternehmer, Mr. Scott Russel, mit der neuen Gesellschaft einen Contract abgeschlossen, in dem er sich verpflichtete, die Ausrüstung für 120,000 Pfd. Sterl. bis zum 4. September dieses Jahres zu vollenden. Wird sie früher vollendet, erhält er für jede gewonnene Woche eine Prämie von 1000 Pfd. Sterl., dagegen muß er wöchentlich 10,000 Pfd. Strafe zahlen, wenn er den bezeichneten Termin nicht einhalten kann. In diesem Uebereinkommen ist die Herstellung der Masten, Segel, Boote, Kabel, Dampfkessel, Maschinen, nebst der Takelage und allem Holz- und Eisenwerk und der geziemenden inneren Cabineneinrichtung für fünfhundert Passagiere erster und vierhundert zweiter Classe mit eingeschlossen. Natürlich hat Mr. Russel seinerseits wieder mit Einzelfirmen Lieferungscontracte abgeschlossen.
Die Segel an diesem Ungeheuer nehmen allein 12,000 Quadrat-Yards Segeltuch in Anspruch. Außer den beiden Hülfsdampfern aus Eisen, deren jeder 100 Fuß lang wird und eine Maschine von 40 Pferdekraft führt, erhält das Schiff 20 mit Segel und Masten vollständig ausgerüstete Hülfsboote, 16 Anker von 20 bis 140 Centner Gewicht, 1000 Klafter der allerdicksten Ankerketten u. s. w. Noch ist darauf Rücksicht genommen, daß sich das kolossale Schiff vielleicht einmal im Kriege werde verwenden lassen, und deshalb wurde der ganze andere Theil des Kiels bis auf 120 Fuß nach rückwärts mit dreifachen massiven Eisenplatten beschlagen. Dadurch bildete sich ein nach Vorne scharf abgekantetes massives, in drei Stockwerke getheiltes eisernes Gehäuse, groß genug, um die ganze drei- bis vierhundert Köpfe starke Schiffsmannschaft zu beherbergen, und dabei so stark, daß das Schiff, mit voller Dampfkraft anfahrend, zuverlässig das allergrößte Linienschiff mitten entzwei brechen würde. Ueber die Dimensionen der Einzeltheile ist seiner Zeit das Wichtigste gemeldet worden. Darum heute nur noch so viel zur Ergänzung, daß zum Anstrich der inneren Eisentheile 120, zum Anstrich der äußeren Schiffswände, insoweit diese aus dem Wasser hervorragen, 160 Centner Oelfarbe von Nöthen waren, und doch reichten diese Massen nur zum einmaligen Anstrich hin. Als ein Wunder wird von Sachkennern der große Mittelmast angestaunt. Er ist in einem Stück in einer Höhe von 130 Fuß aus einer canadischen Fichte gezimmert. Noch sind zwei kleinere Masten aus Holz, die anderen jedoch aus Eisen gearbeitet.
Garibaldi. Ein englischer Reisender, der mit einigen Damen Garibaldi aufsuchte, gibt folgende Schilderung: „Er sah ganz anders aus, als wir erwartet hatten. Nach seinen Abbildungen und kriegerischen Thaten hatte ich mir in ihm einen sehr großen Mann mit fahler Gesichtsfarbe, langem schwarzem Haar und Bart und etwas von dem romantischen Wesen jener spanischen Guerrillaführer vorgestellt, die ihre eigenen Lieder zur Guitarre sangen, und die Leute mit eben so viel Vergnügen todtschlugen. Was ich sah, war das gerade Gegentheil. Ich konnte kaum glauben, daß der eintretende und sich zu uns setzende, ruhige, einfach natürliche, einem Gentleman ähnlich sehende Mann Garibaldi sei. Er ist ein kräftig, aber durchaus nicht schwerfällig gebauter breitschultriger Mann mit gewölbter Brust und von mittlerer Größe. Er hat eine gesunde, englische Gesichtsfarbe, hellbraunes Haar und Bart von der gleichen Farbe, Beides leicht mit Grau gemischt und sehr kurz geschnitten. Die Kopfbildung ist sowohl in intellectueller wie moralischer Beziehung sehr schön entwickelt und sein Gesicht gut, obgleich für den gewöhnlichen Beobachter nicht gerade bedeutend. Nichts verräth den Mann, welcher im Stande war, Pläne, wie den Rückzug aus Rom oder die Einnahme von Como, zu entwerfen und auszuführen. Wenn er aber von den Leiden seines Vaterlandes und dem auf ihm lastenden Druck sprach, so konnte man in Auge und Lippe das lange tief unterdrückte Gefühl und den festen, verwegenen Charakter des Mannes lesen. Ein Kind würde sich nicht scheuen, auf der Straße stehen zu bleiben und ihn zu fragen, wie viel Uhr es ist. Demjenigen aber, über den er das Urtheil gesprochen, daß er in einer halben Stunde erschossen werden soll, wird es, nachdem er einen Blick auf dieses ruhige, entschlossene Gesicht geworfen, nicht einfallen, seine Zeit damit zu vergeuden, daß er um Gnade bittet. Ich hatte mir vorgestellt, seine Operationen seien mehr das Werk einer plötzlichen Eingebung als militärischer Berechnung gewesen; aber so stark seine natürlichen Triebe auch sein mögen, offenbar weiß er sie vollständig zu beherrschen. Kühn und unternehmend bis zur scheinbaren Tollkühnheit ist er ohne Zweifel, aber er ist auch kaltblütig und berechnend, und als ich ihn beobachtete, wie er mir gegenüber am Tische saß, und den Damen von seinen Reisen nach China und zu den Antipoden so unterbaltend und gemüthlich erzählte, als ob er sich in einem Londoner Salon befände, während er jeden Augenblick von dem Feuer einer auf der Eisenbahn bei seinen Vorposten angekommenen überlegenen österreichischen Streitmacht unterbrochen werden konnte, fühlte ich keinen Zweifel daran, daß er auch für den allerschlimmsten Fall Alles genau angeordnet haben und diesen Anordnungen gemäß handeln würde. Was mir jedoch am meisten imponirte, war das geistige Kaliber des Mannes. Ehe ich ihn sah, hielt ich ihn für wenig mehr, als einen tapferen volksthümlichen Haudegen. Ich schied von ihm in der Ueberzeugung, daß seine kriegerische Laufbahn eine bloße Episode in seiner Geschichte ist, und daß seine wahre Größe sich in der politischen Wiedergeburt und in der Regierung seines Vaterlandes zeigen wird. – Da die Leute Garibaldi’s so oft als eine wilde Räuberbande geschildert worden sind, so beobachtete ich sie sorgfältig. Ihr Benehmen war überall ruhig und ordentlich. Es befindet sich eine große Zahl von Männern aus den gebildeten Ständen darunter. Jedenfalls ist Garibaldi als Mensch achtungswerther und als Feldherr um Vieles bedeutender, als sein Bundesgenosse, der Kaiser L. Napoleon.“
mit seinen komischen Illustrationen und Zeitbildern, die drüben über dem Rheine wahrscheinlich nicht an Spiegel gesteckt werden, empfiehlt sich der alten Kundschaft heute wieder für 10 Ngr. vierteljährlich.
Alle Buchhandlungen und Postämter nehmen Bestellungen an.
Leipzig.Die Verlagshandlung.
- ↑ Um einen Einblick in das tiefe innere Getriebe des Krieges zu gewinnen, ist es nothwendig und für den Laien sicher auch anziehend, die bald blutig rohen, bald rührenden und mitunter komischen Episoden, wir möchten sagen, die „häuslichen“ Scenen dieses bewegten Treibens im Spiegelbilde ummittelbarer Anschauungen näher zu betrachten. Durch die Strenge des österreichischen Generalcommando’s ist es unsern zwei Correspondenten, die sich im Interesse unserer und dreier anderen Zeitschriften in’s österreichische Lager begeben halten, fast eine Unmöglichkeit geworden, dergleichen Bilder aus unmittelbarer Anschauung zu liefern, und wir sind deshalb unserm Schweizer Correspondenten sehr dankbar, daß er uns durch Uebersendung der obigen Skizze in den Stand setzt, unserm Versprechen nachzukommen. Die obenstehende Mittheilung ist dem Briefe eines Schweizers an seine Angehörigen in Tessin entnommen, der augenblicklich als Unterofficier in der französischen Armee dient. Wir hoffen schon in der nächsten Zeit auch aus dem österreichischen Lager ähnliche Bilder liefern zu können. D. Redact.
- ↑ Wir glauben, durch Mittheilung des obigen Artikels, der von einem unserer bekanntesten militairischen Schriftsteller herrührt, den Dank unserer Leser zu verdienen. Bei der demnächst auf dem Kriegsschauplatze in den Vordergrund tretenden Mincio-Linie werden Flußübergänge in Menge versucht, ausgeführt und abgeschlagen werden, und es dürfte deshalb von Interesse sein, die Manipulationen eines solchen militairischen Actes kennen zu lernen. D. Redact.