Die Gartenlaube (1859)/Heft 33
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No. 33. | 1859. |
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.
Kaiser und Patriot.
Kaiser Karl, der Herr der Franken,
Sucht Italiens Gewinn;
Nicht der Alpen Felsenschranken
Hemmen seinen Heldensinn.
In der heißen Sachsenschlacht,
Führt auf ihren Wolkenstiegen
Seines Heeres junge Macht.
In dem blüh’nden Ländergarten,
Wo der edlen Longobarden
Ritterliche Tugend haust,
Schlägt er mit den Löwenbranken
Seinen Gegner in den Staub,
Fallen Land und Volk zum Raub.
Der besiegten Longobarden
König Desiderius
Trägt mit stillem Schmerz des harten
Tiefer wird die große Seele
Seines Kanzlers doch betrübt,
Daß der Freiheit Sonne fehle
Seinem Volke, das er liebt.
Stets seiner Brust gewacht!
Hat mit Jünglingsgluth geschrieben,
Was das Heldenvolk vollbracht!
Wie Homer einst in Gedichte,
Seinen alten Stamms Geschichte
In ein hochbegeistert Lied.
Als den Besten nennt ihn Jeder,
Dessen reichbegabter Geist
Seiner Ahnen Größe preis’t,
Ihren Ruhm der Welt zu lehren
Als ihr ebenbürt’ger Sohn.
Also steht in hohen Ehren
An der Väter großen Tagen
Hängt sein schwärmerischer Blick,
Darum kann er nicht ertragen
Seines Volkes Mißgeschick.
Stiftet kühn, geheimen Bund,
Und von hehrem Muthe zeuget
Herrlich sein beredter Mund.
Wenn er so begeist’rungtrunken
Wirft er seines Zornes Funken
In der Hörer Angesicht.
Wie der Knechtschaft Schmach zu rächen,
Gibt er klug erdachten Rath,
Drängt er heiß zur Waffenthat.
Aber ach, der Longobarden
Alter Heldenmuth verschied.
Auf Verrath nicht lange warten
Ihn verdammt zu Kerkerwänden
Streng das fränkische Gericht,
Aber Karls Befehle senden
Ihn zur düstern Buße nicht.
Als erlauscht der Richter Ohr,
Daß mit seinen Stammgenossen
Warnefried sich neu verschwor.
„Den Verbrecher werft in Bande!“
Aber von der Ketten Schande
Hält der große Karl ihn frei.
Warnefried wirkt ohne Wanken,
Daß der Brüder Muth er weckt,
Auch zum dritten Mal entdeckt.
Und er steht vor dem Gerichte
Unerschrocken, stolzen Blicks:
„Nimmer meinen Sinn zu nichte
Da zu ungezähmten Grimmes
Flammen wächst der Richter Wuth,
Und es lechzt ihr furchtbar schlimmes
Unheil nach des Dichters Blut.
Spricht ihm ab ihr Rachewort,
Und so leb’ er bis zum Ende
Lichtlos und verstümmelt fort!
Lächelnd und mit milden Zügen
„Laßt euch an dem Spruch genügen,
Doch vollzogen wird er nicht.
O wo nähm’ ich andre Augen,
Die so klar die Dinge sehn,
Zu beschreiben sie so schön?“
L. Storch.
Der Anfall[WS 1] von Schwäche war soeben überwunden, und Frau
von Dahlhorst richtete lebensfrisch und hoffnungsreich ihr Gesicht
wieder empor, als Herr Felix in rasch veränderter Toilette eintrat.
Lenchen verschwand nun aus dem Zimmer.
„Wie komme ich zu dieser unverhofften Ehre, gnädigste Frau?“ rief der junge Mann der Dame entgegen, und er bediente sich auch jetzt mit Geflissentlichkeit eines Jargons, der bieder und aufrichtig, aber fern von aller Hofartigkeit sein sollte.
Frau von Dahlhorst legte kein Gewicht auf diese Manier, welche nicht dem feinen Ton gleichkam, den sie gewohnt war. Ihr Geist war mit zu abstracten Dingen beschäftigt, um den Gehalt gewöhnlicher Artigkeitsfloskeln controliren zu können.
„Mich führt eine Bitte in geschäftlicher Beziehung zu Ihnen,“ entgegnete sie mit der liebenswürdigen Freundlichkeit, die ihr ganzes Wesen immer durchdrang. „Ich war in Ihrem Comptoir, und man sagte mir, daß Sie schwerlich vor morgen dort erscheinen würden. Mein Gesuch leidet aber keinen Aufschub.“
Der junge Mann schaute mit Verwunderung auf die zarte Gestalt, die gegen seinen athletischen Wuchs winzig klein erschien, ohne es zu sein. Er konnte durchaus nicht errathen, was für Gesuche eine Beziehung zwischen ihm und dieser Dame, um die er vor Jahren etwas Schmerz, Verdruß und Aerger getragen hatte, herbeizuführen vermöchten.
„Wollen und können Sie mir auf der Stelle eine Summe von zwölfhundertzweiundsechzig Thalern verschaffen, Herr Mettling?“ fügte Frau von Dahlhorst entschlossen hinzu.
„Ich? Ihnen? Zwölfhundertzweiundsechzig Thaler?“ wiederholte Herr Felix mit unverstelltem Erstaunen. „Wie käme ich dazu? Sie scherzen wohl nur?“
„Das wäre ein Scherz mit blutendem Herzen,“ versetzte Frau von Dahlhorst, und ihr Lächeln erstarb für einen Augenblick auf ihren Lippen.
„Aber warum wendeten Sie sich mit dieser Bitte gerade an mich, Gnädigste?“
„Weil ich Vertrauen zu Ihnen habe –“
„Das haben Sie mir vor sechs Jahren eben nicht bewiesen, als Sie meine Bewerbung rundweg ablehnten,“ fiel der junge Mann etwas brüsk ein.
„Damals war nicht von Vertrauen, sondern von Liebe die Rede,“ war ihre schnelle Antwort, die sie mit einem schönen, innig zufriedenen Lächeln begleitete, das jedenfalls der Rückerinnerung galt. „Außer dem Vertrauen, das ich zu Ihnen habe, leitete mich auch der Umstand, mein Herr, daß Sie meine Familienverhältnisse am besten kennen, daß ich nicht nöthig haben würde, hier im Orte von Dingen zu reden und Verlegenheiten zu erörtern, die nur ganz vorübergehend sein werden. Sie wissen, daß ich die einzige Erbin meiner Großmutter bin, und daß deren Nachlaß hinreichen wird, meine Schuld bei Ihnen vollständig zu decken –“
„Gnädige Frau, auf solche faule Speculationen lasse ich mich nicht ein,“ unterbrach der Kaufherr sie lachend.
Verletzt von einer heitern Laune, die ihrem stockenden Athem die letzte Kraft raubte, sah die junge Dame unsäglich betrübt zu dem jungen Manne empor. Felix fühlte sich nicht aufgelegt, diesen Blick zu beachten.
„Ueberdies sollten Sie sich nicht um Angelegenheiten bemühen, die Ihr Herr Gemahl so weit –“
„Mein Mann ist krank,“ fiel sie hastig dazwischen.
„Ja – ja. Will krank sein – muß krank sein –“ sprach Herr Mettling mit hohnvoller Geringschätzung.
„Nein, er ist krank!“ erklärte die Dame fest?
„Nun, so hat er es glücklicher Weise dahin gebracht, krank zu sein,“ behauptete hartnäckig Herr Mettling.
Eine Pause folgte diesem Ausspruche. Frau von Dahlhorst erhob sich, Herr Felix blieb sitzen. Sein Auge musterte das bleiche, verfallene Gesicht mit dem tiefen, kummervollen Schatten um Augen und Mund – sechs Jahre waren verflossen, seit er dies Gesicht nicht in der Nähe betrachtet hatte – sechs Jahre, ein langer Zeitraum, und dann in der Stunde, wo die breit ausgedehnte Vergangenheit zusammenfällt, ein so kurzer Abschnitt des Menschenlebens! Sechs Jahre! Er hatte sie ruhig in schwelgerischem Treiben verbracht – sie war von Sorgen, Schmerzen und Entbehrungen heimgesucht worden; sie hatte zwei Kinder begraben lassen müssen – o, was sie aber jetzt zu begraben begann, das griff härter an ihr Leben, das erschütterte das Mark ihres Herzens.
Aber sie verlor ihr liebliches, zufriedenes Lächeln nicht. „Sie haben also nicht Lust, mir zu helfen?“ fragte sie engelsmilde. „Sie tragen Bedenken, meiner Ehrlichkeit diese Summe anzuvertrauen? Die Sicherheit meines Wortes genügt Ihnen nicht?“
„Thut mir leid, Gnädigste!“ rief Herr Felix in munterem Tone. „Thut mir leid, – Ich zweifle nicht an Ihrer Ehrlichkeit und würde mir die Sicherheit Ihres Wortes wohl genug sein lassen, allein wer steht mir denn dafür, daß Sie nicht eher sterben, als Ihre sehr gut conservirte Großmama? Dann ist mein Anspruch „futsch!“
Frau von Dahlhorst sah ihn höchst betroffen an.
„Daran habe ich freilich nicht gedacht –“ stammelte sie. „Es wäre Unrecht, wollte ich Sie ferner mit meinen Bitten belästigen!“
„Es ist mir äußerst angenehm, daß Sie dies selbst einsehen, Gnädige,“ meinte der Herr sich erhebend. „Ihr Herr Gemahl ist als kinderloser Vater ausgeschlossen von der Erbschaft Ihrer Großmama, und wenn er auch erbte, so würde er mich dennoch nie bezahlen – das ist seine Mode nicht!“
Frau von Dahlhorst verbeugte sich abschiednehmend – Herr Felix that desgleichen und war dann schnell allein.
Frohlockend die Hände reibend, ging er zwei Mal hastig in dem kleinen Salon hin und her; frohlockend über die Niederlage, die er einer Dame bereitet, welche ihm ein Stein des Anstoßes in seinem Lebenswege gewesen war. Nicht, daß er sich einstmals so sehr um sie gegrämt hätte, oder daß er überhaupt noch irgend ein Gefühl für sie in der Brust gehegt, sondern lediglich frohlockend in dem schön menschlichen Vergnügen, sich rächen zu können. Er glaubte eine Heldenthat verrichtet zu haben, indem er den Zufall benutzte, der ihm die einzige Person in der ganzen weiten Welt bittend entgegenführte, welche ihn seiner rohen Außenseite wegen verworfen hatte. Zwar liebte sie damals schon den jungen Gerichtsassessor von Dahlhorst, der aristokratisch fein in allen Manieren, auch aristokratisch fein in andern Rücksichten sie blendete, aber für Lord Felix blieb es eine Blamage, daß das Publicum seine Bewerbung um diese reizende Adeline gesehen und daß es aus der Verlobung mit dem Assessor von Dahlhorst den zartgeflochtenen Korb für ihn errathen hatte.
Frohlockend schritt er also zwei Mal hin und her – er hätte tanzen mögen – da tönte es, wie eine Stimme in ihm und wie eine Stimme außer ihm: „Pfui, Felix – pfui! pfui!“ Er stand still. Sein starker Nacken beugte sich ein wenig. Seine großen blauen Augen glänzten nicht mehr. Wie Nebel zog es über seine breite Stirn. Er stand still. Sein guter Geist rauschte durch das Gemach.
„Was würde Elisabeth sagen?“ murmelte er, wie aus einem Traume erwachend.
Da hüpfte Lenchen herein, im neuen Putze, mit komischer Eleganz geschmückt, und fragte ihn nach Bestellungen, da sie wegen häuslicher Bedürfnisse nach der Stadt müsse. Zerstreut nickte er, und strich über ihre sammetweichen Wangen, die sie ihm geflissentlich nahe brachte.
„Das Wetter ist so mißlich,“ plauderte das hübsche Mädchen, „Wenn ich doch den Wagen nehmen dürfte –!“
„Warum nicht?“ erwiderte Lord Felix im gütigsten Tone. „Lassen Sie anspannen.“ –
„Befehlen Sie es dem alten Friedrich,“ bat Lenchen kluger Weise. „Von mir klänge es für jetzt noch unbescheiden. Ich bin zu kurze Zeit –“
„Pah! Friedrich muß Ihnen wie mir gehorchen,“ fiel Felix ein, als sie den Satz zu vollenden zögerte.
Der Befehl wurde gegeben, und Fräulein Lenchen machte in der Stille einen sehr zufriedenstellenden Vergleich zwischen sich und der gnädigen Frau von Dahlhorst, die im strömenden Regen zu Fuß gekommen war.
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Mittlerweile hatte sich Doctor Strodtmann der Mettling’schen Villa in Wolfenberg so weit genähert, daß er von dem Felsenabhange, an dessen Rande der Fußweg entlang lief, abwärts steigen mußte, um das Thal zu gewinnen.
Bekannt mit allen Schleichwegen im Gehölz wählte der junge, rüstige Mann den schmalsten und dabei steilsten Pfad, der kaum bemerkbar im Moosgrunde, endlich an dem gewöhnlichen breiten Fußsteige unweit des Waldbaches ausmündete.
Schon im Begriffe aus dem Dickicht in die freiere Lichtung zu treten, stutzte der Doctor plötzlich beim Anblicke einer weiblichen Gestalt, die sich dicht an dem Bache, der hier eine Cascade bildete und, vom Regen angeschwollen, mit betäubendem Rauschen über Steingeröll hinwegbrausete, auf einen bemoosten Stein niedergelassen und den Stamm eines jungen Tannenbaumes, wie des Haltes bedürftig, fest umschlungen hatte.
Es war Adeline von Dahlhorst, die arme, unglückliche junge Frau, die, unter einem fürchterlichen Kampfe mit ihren Gefühlen, hier allein mit Gott, dem sie sich gläubig und vertrauend unterwarf, „die Achtung für ihren Gatten begrub“.
Was ahnungsschwer seit kurzer Zeit in ihr aufgetaucht war, was, von dem Siegel eines unbedingten Zutrauens gelöst, schleichend in ihre Träume verpflanzt und von dort vernichtend in die Wirklichkeit gedrungen war, das hatte Bestätigung in der schonungslosen Behandlung durch den jungen Kaufherrn Mettling erlangt. Ja – das Leben und Dasein ihres Gatten war Lug und Trug! Sie erkannte es und sie fühlte, daß es eine Wohlthat sei, mit seinen unverschuldeten Leiden, mit seinen Demüthigungen, mit seinen Kränkungen und mit dem ganzen Trübsal eines verfehlten Lebens zu dem höchsten Wesen fliehen zu können, dem man Alles in vollster Hingebung klagen konnte.
Sie begrub in diesem schweren Momente das ganze Glück ihres Daseins, aber ihr Blick suchte dennoch nicht in grimmiger Verzweiflung, gefüllt von bittern, anklagenden Thränen, den Himmel, von dem sie Trost und Beruhigung erwartete, sondern mit jener geduldigen Trauer, die stets der Gewohnheit einen Scepter in die Hand drückt und sich freiwillig den Gesetzen der Nothwendigkeit beugt.
Sie wußte jetzt, daß ihr Lebensschiff nicht blos leck sei, sondern daß es an der Inconsequenz ihres Mannes gescheitert war. Zahlungen, die restirten, Wechsel, die fällig waren, wurden bis dahin leichtfertig von ihm gehandhabt – ein dunkles Schicksal war schon vor Jahresfrist drohend an sie herangetreten, aber seine fix fertigen Lügen, seine abweichenden Antworten, die sich bis zu heftigen Befehlen verstiegen hatten, scheuchten das Gespenst der Cassation, wie sie die plötzliche Verabschiedung ihres Gatten nennen zu müssen glaubte, wieder in den Winkel zurück, woraus es entstanden war. Die Besorgniß ihres Gemüthes stieg immer wieder von Neuem auf, als er, fast zu hastig für eine gewöhnliche Abreise, den Ort zu verlassen eilte, wo er bis dahin gelebt. Allein von der ganzen tiefen Verkettung seiner Schuld mit einem bösen Verhängnisse hatte sie keinen Begriff, weil Niemand auf der weiten Welt lebte, der es für angemessen fand, den Schleier zu lüften, welchen ihre Unerfahrenheit um sie wob.
Sie begrub die „Achtung“ vor dem Manne, den sie geliebt hatte, den sie trotz seiner Mängel noch liebte. Als sie gegangen war, eine Summe aufzunehmen, die als Wechselschuld seine Freiheit gefährdete, da hatte sie seiner Versicherung geglaubt, daß es eine zufällige Schuld sei, weder durch Leichtsinn verschuldet, noch einen Schatten auf ihn werfend.
Sie hatte geglaubt, was er betheuerte, daß nur dieses Geld nöthig sei, um ihn ganz zu retten. Jetzt wußte sie, daß er dennoch verloren war. Die Verurtheilung der Welt war zu ihr gedrungen in den wenigen Worten Mettling’s: „so würde er mich dennoch nie bezahlen, denn das ist seine Mode nicht!“
Sie unterschrieb mit vollem Bewußtsein dies Urtheil, aber die Liebe zu ihm senkte trotzdem die Flügel nicht. Ein himmlisches Lächeln verscheuchte nach und nach den Schatten des Grames, der auf ihrem zarten Gesichte lagerte – sie faltete ihre Finger in einander und hob mit der Kraft der Ergebung ihr Herz zu dem Lenker ihres Geschickes auf. Der Weg, den sie zu betreten beschloß, führte ab von dem, welchen sie bis dahin an der Seite ihres Gatten gewandelt hatte. Selbstständig erwerben und selbstständig bestehen, hieß die Losung ihrer Zukunft, und sie wußte schon, was zu thun sei, um dies in’s Werk zu setzen.
Die Gewitterwolken an ihrem Lebenshimmel verzogen sich vor ihren innern Blicken, Eine Seelenfreudigkeit neuer Art beherrschte sie plötzlich. Sie blickte in die leise bewegten Wipfel der Bäume, blickte auf das schäumend dahinfließende Wasser, lehnte ihr Haupt gegen den wankenden Stamm des jungen, zarten Bäumchens und stand dann rasch und muthig auf. Ehe sie fortging, tauchte sie, wie in einer schwärmerischen Eingebung, den Zipfel ihres Taschentuches in’s Wasser und netzte sich nach katholischem Ritus die Stirn damit. Dann mochte sie fühlen, wie erschöpft und durstig sie sei. Graziös kniete sie am Bache nieder, schöpfte mit der kleinen Hand das klare Wasser und trank es.
In allen bissen Bewegungen lag eine so bezaubernde Anmuth, daß dem unberufenen Lauscher das Herz immer mächtiger schlug und er endlich froh war, sie verschwinden zu sehen.
Es war wohl nur Zufall, daß der Doctor Strodtmann plötzlich eine gewaltige Müdigkeit verspürte und ganz genau denselben Stamm zum Ruheorte wählte, der dieser lieblichen Frau dazu gedient hatte. Er ließ sich nieder, lehnte sein schweres Haupt ebenfalls an den schlankgewachsenen Tannenbaum, der sich unwillig gegen diese neue Last zu bäumen begann, und träumte eine volle Minute einen hübschen Traum, der aber, das sah er beim jähen Erwachen sogleich ein, niemals im Leben in Erfüllung gehen konnte.
Gleich darauf sprang Herr Doctor Matthias Strodtmann auf und kam dann noch gerade zur rechten Zeit, um „seiner Mama Hausmamsell“ mit stolzer Würde in die schaukelnde Equipage steigen zu sehen.
Laut lachend eilte er in die Veranda, wo Lord Felix in behaglicher Stellung höchst unbehagliche Rückerinnerungen pflegte, und rief in ungebundener Laune:
„Bei Ihnen fährt das Frauenzimmer, das bei mir zu „repräsentiren“ sich anmaßen wollte, sogar schon im Triumphwagen? – das ist doch eine köstliche Personnage –!“
Felix, der nichts so tief haßte, als lächerlich zu erscheinen, fuhr wie von einem Natterbisse getroffen in die Höhe. Er zwang sich auch zum Lachen, weil es dem Doctor beliebte fortzulachen, und fragte dann abweichend, ob er naß geworden sei.
So leichten Kaufes gedachte ihn aber der Doctor nicht loszulassen. Er setzte sich vielmehr ganz ordentlich zurecht und erzählte ihm von den Antecedentien des albernen sich weit überschätzenden Lenchens das, was ihm zu wissen sehr noth that, allein vollkommen mit dem Anscheine, als begegne er auf dem Wege seiner bittern Persiflage nur Lenchen und Niemand anders, der sich damit betheiligt haben könne.
Er säete seine Saat ganz gehörig. Ob sie auf guten Boden fiel, konnte er nicht wissen, und ob sie zum Glücke der Menschen im Allgemeinen aufgehen würde, mußte abgewartet werden.
Der Doctor wußte jedoch ganz genau, wie viel spröder Stoff in der Natur des jungen Kaufherrn lag, und er berechnete, daß der Trotz, welcher biegen oder brechen liebte, nicht geweckt werden durfte. „Lenchen ist übrigens ein außerordentlich hübsches Mädchen,“ fügte er deshalb sehr freundlich und anerkennend hinzu, als er genug persiflirt hatte.
„Passabel – Doctor – passabel,“ kritisirte Felix etwas gleichgültiger, als er vor einer Stunde gethan haben würde.
„Und dabei brauchbar,“ fuhr der Doctor mit schlauen Seitenblicken fort. „Meine Schwester lobt sogar ihre Herzensgüte und meint, daß der alte Herr Mettling eine prächtige Pflegerin an ihr gewonnen haben würde.“
Das helle Roth, das bei diesen Worten den jungen Kaufherrn überstürzte, wußte er sich nicht recht zu deuten. Deshalb übersah er es und griff nach dem Glase Wein, welches ihm gerade vom alten Friedrich servirt wurde.
In natürlicher Gedankenverbindung flogen die Minuten, welche er lauschend am Bache verlebt hatte, jetzt an seiner Seele vorüber, als er seine durstigen Lippen in das köstlich duftende Naß des Rheinweinglases senkte. „Wenn sie doch einen Tropfen davon gehabt hätte, als ihr diese Stärkung so nöthig zu sein schien –“ dachte er. Dieser Gedanke löschte die Heiterkeit von seinen Mienen und machte, daß er tiefsinnig in die goldreine Flüssigkeit hineinschauete.
„Was haben Sie, Doctor?“ fragte Felix. „Ist der Wein nicht klar?“
Strodtmann schüttelte wehmüthig den Kopf. „Klar, wie Gold, Felix – aber ich dachte darüber nach, daß von diesem wunderbaren [468] Labsal, welches die Natur dem Menschen beut, so wenig dem wirklichen Bedürfnisse geopfert wird. Wie viele gesunkene Kräfte könnte dies verschwenderisch von mir verbrauchte Glas Wein erheben!“
„Philanthropische Träumereien eines dreißigjährigen Arztes bei einem Glase Rüdersheimer!“ rief Felix mit Humor und hielt ihm sein Glas zum Anstoßen entgegen. Die Gläser klangen wunderbar hell und harmonisch zusammen. Ganz verwundert sahen sich beide junge Männer an.
„Was sind das für Gläser?“ fragte der Doctor, das seinige prüfend emporhebend.
„Die alten, schon oft von uns zusammengestoßenen,“ erklärte Felix.
„Es war wie ein Geisterhauch, wie ein Engelston dazwischen –“ meinte der Doctor nachdenklich.
„Vielleicht daß der Engel der Philanthropie seine Fittiche regte,“ spottete Felix gutmüthig.
Der Doctor lächelte und trank. „Hätten Sie, wie ich, eine Frau belauscht, die zu Gott betete und dann den Durst mit einigen klaren Tropfen Gebirgswasser löschte, so würden Sie mich besser verstehen.“
„Eine Frau?“ wiederholte Felix betroffen, sein Glas niedersetzend. „Vielleicht eine Dame?“
„Ja, eine Dame, die wahrscheinlich erschöpfter vom harten Leben war, als wir Schwelger.“
„Doch nicht Frau von Dahlhorst?“ forschte Felix fast schüchtern. Als der Doctor bejahte, fuhr er flüsternd fort: „Und sie betete? Und sie dürstete? Bei Gott, Doctor, daran habe ich nicht gedacht – denken Sie nicht, daß ich ganz unmenschlich bin?“
„Wie so?“ fuhr Strodtmann ahnungsvoll auf. „War sie hier gewesen?“
„Ja,“ beichtete Felix ehrlich, und sein ganzes Bereuen leuchtete in seinen großen blauen Augen. „Sie war hier und wollte zwölfhundert zwei und sechszig Thaler von mir borgen, um den Wechsel zu decken, der morgen Abend ihren Mann in’s Schuldgefängniß liefert.“
„Natürlich weigerte sich der reiche Kaufherr Felix Mettling, der Lord unserer Residenz, dies Lumpengeld zu borgen?“ fragte Strodtmann bitter dazwischen.
„Ja,“ gab Felix kleinlaut zu. „Aber es war auch sonderbar von ihr – Sie hat mir nämlich vor sechs Jahren, als ich als Volontair in ihrer Vaterstadt mich aufhielt, ihres Mannes wegen einen Korb gegeben –“
„Und deswegen mußten Sie, natürlich ihres Mannes wegen, der Dame die Bitte abschlagen?“
„Der Kerl ist es nicht werth –“ entschuldigte sich Felix.
„Ist es die Dame werth?“ warf der Doctor ein.
„O, sehr werth! Adeline war immer das freundlichste und reizendste Wesen – sie war immer der Blitzableiter aller Stürme im Leben ihrer Angehörigen, Ich könnte Ihnen Geschichten von dieser engelhaften Frau erzählen –“
„Und dennoch konnten Sie es über’s Herz bringen, sie zu kränken?“ fuhr der Doctor auf.
„Der Mann soll gestraft werden. Er hat sich stets der Haft durch Lügen von Krankheit entzogen, und dann wird es auch für Adelinen gut sein, daß ihr die Augen geöffnet werden. Sehen Sie, Doctor,“ setzte er muthiger hinzu, „die kleine Lehre kann ihr und ihm nicht schaden. Nachher will ich helfen, so wahr Gott lebt.“
„Hülfe zu rechter Zeit ist wahre Christenbarmherzigkeit,“ murmelte Strodtmann vor sich hin. „Die Thränen zu trocknen, die vor dem Herzensjammer fließen, das Herz zu beruhigen, bevor Verzweiflung es bricht –“
Felix rückte unruhig hin und her auf seinem weichen Sessel.
„Sie betete, aber sie weinte nicht – geduldig netzte sie ihre trockenen Lippen mit dem Wasser, das sie mit der Hand erreichen konnte,“ phantasirte der junge Arzt in seltsamer Aufregung weiter.
„Mein Wort darauf, Doctor, daß ich ihr helfen will! Aber morgen soll und muß der Schuft, den sie Mann nennt, in’s Schuldgefängniß, und wenn er sich todkrank stellt.“
„Er ist wirklich krank!“ betheuerte der Doctor.
„Ja, ja! Wir wissen recht gut wovon. Er nimmt etwas ein, um krank zu scheinen – wir sind unterrichtet, wie er es dort in seiner Heimath gemacht –“
Der Doctor sah starr und erschrocken zu Felix auf.
„Was nimmt er ein?“ fragte er ängstlich.
„Irgend ein Gift, sagt man.“
„Allmächtiger Gott – der unsinnige Mensch!“
„Sind Sie sein Doctor?“ fragte Felix jetzt aufmerksam.
„Man hat mich vorgestern rufen lassen.“
„Damit Sie ein Krankenattest liefern sollen?“
„Ich habe versprochen, heute ein solches auszustellen.“
„Sehen Sie –“ triumphirte Felix.
„Und die Frau weiß von diesen widernatürlichen Experimenten?“ fragte der Doctor entrüstet,
„Die Frau? Du lieber Gott! Sie soll ihren kranken Mann in Baumwolle wickeln. Sie würde niemals gestatten, daß er seine Gesundheit auf’s Spiel setzte. Ich habe ihr einen Wink gegeben.“
„Sagen Sie nicht: seine Gesundheit, sondern: sein Leben auf’s Spiel setzt,“ sprach der Doctor mit tiefem, traurigem Ernste. „Ich muß fort – ich muß zu ihm! Lassen Sie mich jetzt schnell Ihren Vater sehen. Was war es mit ihm?“
Wieder flog ein unnatürlich scharfes Roth über des jungen Kaufherrn Gesicht.
„Er ist eigentlich mehr unwirsch, als krank,“ entgegnete er zögernd. „Ich wollte nicht zu Ihnen schicken, weil ich glaubte, mit der Entfernung des aufregenden Gegenstandes würde sich das Uebel beseitigen, aber der alte Papa verlangte bestimmt nach Ihnen.“
Der Doctor erhob sich und ging schnell, von Empfindungen zur Eile getrieben, die ein Gemisch von Angst, Zorn und Sorge waren, nach dem Zimmer des alten Herrn hinüber, der sich bei seinem Eintritte mit jugendlicher Elasticität erhob und ihm klar in’s Auge blickte. Der alte Herr Mettling war ein großer, schöner alter Mann, dem selbst die Krankheit nichts von seiner imponirenden Stattlichkeit geraubt hatte. So lange er saß, präsentirte er sich königlich, wenn er aber aufstand, so fiel die ganze Hülflosigkeit seines Körpers schmerzlich in’s Auge. Sein Sohn Felix war ihm sehr ähnlich, nur verlieh dem alten Herrn die Ruhe seines Innern eine Würde, die dem jungen Manne zur Zeit noch sehr mangelte. Aber alle diese Vorzüge wurden seit mehrern Monaten von einem Uebel beeinträchtigt, das ihm zeitweise das Aussehen eines Irren gab. Eine rastlose Unruhe, worin er sich vergeblich anstrengte, seine Lähmung der Füße zu bewältigen, und ein geistiges Abspringen von einem Gegenstande zum andern, verbunden mit Verwechselungen der Begriffe sowohl, als der Zeitperioden, ließ befürchten, daß wirklich sein Verstand ebenfalls bei dem Nervenschlage gelitten haben möge. Solche Unfälle gingen aber nach leichten Beruhigungsmitteln vorüber, und wenn auch danach im Allgemeinen eine gewisse Lethargie eintrat, die den alten Herrn an specieller Theilnahme bei geselligen Zusammenkünften verhinderte, so verrieth doch ein gewisses Behagen, daß er nicht ohne Genuß dabei sei. Es war noch Niemand eingefallen, eine Hebung dieses letztern Zustandes dadurch zu versuchen, daß man ihn sanft und freundlich anregte. Man begnügte sich damit, ihn mit dem zu versehen, was ihn erquicken und erfreuen konnte, und überließ ihn dann mit aller Freudigkeit Gott und seiner Natur.
Der Doctor erstaunte nicht wenig, als ihm jetzt der alte Herr mit den Kennzeichen geistiger und leiblicher Veränderung entgegenschaute und in allem Ernste Anstalten traf, sich allein aus seinem Schlafsessel zu erheben.
„Ho – ho!“ scherzte er mit der gewinnenden Jovialität, die ihn seinen Patienten so sehr angenehm machte. „Wenn der Kranke mit solchem Wesen seinem Arzte entgegenstrebt, so kann der Doctor wegbleiben. Wie geht’s, alter Herr? Vortrefflich, wie ich sehe! Und ich habe ein halb Pfund Senfteig und ein Dutzend Blutegel im Sacke! Was heißt denn das? Warum mußte ich denn heraus kommen? Etwa um Ihnen zu gratuliren zur Genesung?“
Herr Mettling lächelte und reichte ihm beide Hände. Der Doctor setzte ihn dann in eine bequeme Stellung und sah mit ärztlicher Aufmerksamkeit in die Augen, die gewöhnlich lebhaft zu rollen begannen, wenn Unruhe in ihm herrschte. Die Augen aber sahen so mild und so gütig aus, wie Gottes Augen. Er richtete sie ganz ruhig in die Höhe, als er gutmüthig entgegnete: „Sie sollen mir vor allen Dingen ein Attest der Zurechnungsfähigkeit ausstellen, bester Doctor!“
„Das thue ich sogleich in bester, vollgültigster Form!“ rief Strodtmann hastig und sehr munter.
„Dann aber sollen Sie mir Rath geben, und dann sollen Sie mir eine Bitte erfüllen oder vielmehr einen Wunsch meines Herzens erfüllen helfen!“
Am 28. Mai wurden die Oesterreicher von dem Freischaarencorps von Camerlata bis nahe gegen Monza zurückgeworfen, und Garibaldi zog an der Spitze seiner siegesfreudigen Schaaren um zehn Uhr Abends in Como ein, wo ihn, wie in Varese, ungeheurer Jubel erwartete. Dreifarbige Fahnen wehten aus den glänzend erleuchteten Fenstern und von den Balconen; die Straßen waren mit Teppichen belegt und mit Blumen besäet; Mädchen und Weiber umdrängten, herzten und küßten die frisch einherziehenden Gesellen, und umschwärmten vor Allem den kühnen Führer, welcher hoch zu Roß mit freundlich lächelndem Blicke die Menge musterte, und auf die zahllosen Evvivas mit ruhiger, doch fester und heller Stimme sein gewöhnliches Losungswort erwiderte: „Alle arme, Lombardi, per la libertà d’Italia“ (Auf, zu den Waffen, Lombarden, für die Freiheit Italiens)! – Ohne sich die mindeste Rast zu gönnen, entsandte er sogleich einige Compagnien nach Lecco und anderen Uferorten des Comersees, um die daselbst stationirten Dampfschiffe und Barken in Beschlag zu nehmen; er selbst dagegen mit dem Kerne seiner Truppen verschwand, um sich, wie man bald erfuhr, gegen Laveno[2] zurückzuwenden, welches er mit einigen Hundert seiner Alpenjäger durch Ueberfall wegzunehmen hoffte.
Die österreichische Besatzung Laveno’s, schon seit einiger Zeit ohne Nachricht, gleichsam von der Außenwelt abgeschnitten, hielt sich mittelst sorgfältigen Wach- und Patrouillendienstes sehr auf ihrer Hut, und setzte dabei eifrig ihre Forschungen zu Wasser, nämlich die Kreuz- und Querzüge ihres Geschwaders auf dem See, fort. Hierbei bombardirten die beiden Dampfer, der „Radetzky“ und der „Benedek“, das bereits mit Feldschanzen und Geschütz versehene Canobbio, zogen jedoch ab, als der Benedek eine Stückkugel in den Rumpf und einige Verwundete auf dem Verdeck erhielt. Auch waren schon den 27. und 28. Nachts feindliche Versuche bemerkt worden, mit Hülfe von Ueberläufern in die vereinzelten Forts einzudringen; jedoch war es nicht zum eigentlichen Gefecht gekommen, und einige Plänklerschüsse hatten hingereicht, die nicht sehr zahlreichen Angreifer, welche mehr nur durch Verrath zu wirken suchten, in die Flucht zu schlagen.
Mit seinem Hauptmann in einem außerhalb des Castells gelegenen Hause wohnend, hatte unser berichterstattender österreichischer Unterofficier in der dunklen Nacht vom 30. auf den 31. Mai den Auftrag erhalten, auf Kundschaft auszugehen. Von dem etwas hochliegenden Castell sachte gegen die Stadt zurückkehrend, hörte er plötzlich [470] um sich lispeln, und stieß gleichzeitig mit dem Ellenbogen leicht an einen Gegenstand, welcher ihn leise fragte:
„Siete pronti?“ (Sind Sie bereit?). Rasch besonnen, erwiderte derselbe:
„Si, Signore“ (Ja, mein Herr), warf sich aber schnell seitwärts unbemerkt zu Boden und gewahrte so endlich, in der stockfinsteren Nacht seine äußerste Sehkraft anstrengend, ringsum dunkle Gestalten lautlos und mit fast unhörbaren Schritten an sich vorüberhuschen; was, wie man später wahrnahm, daher kam, daß dieselben, um bei Erklimmung des Felsens weniger Geräusch zu verursachen, bereits im Voraus ihre Schuhe ausgezogen hatten.
Kaum glaubte er die Letzten vorüber, so raffte sich unser jugendlicher, sich in dieser unverhofften Gesellschaft nicht ganz wohl fühlender Kriegsheld rasch auf, jagte vollen Laufes in sein nicht mehr weit entferntes Quartier und weckte daselbst den Hauptmann und einige schlafende Leute der Infanteriemannschaft, welche eben von der Patrouille zurückgekommen, ohne Etwas entdeckt zu haben. Nach einigen schnell ertheilten Weisungen ging es nun rasch, aber zerstreut und vorsichtig den Felsen hinan, und bald befanden sie sich wieder mitten unter den Anklimmenden, welche sie aber, wahrscheinlich nach schon früher angenommenem Gebrauche, der über das Riemenzeug verbergend zugeknöpften dunklen Mäntel wegen für Freunde hielten, um so mehr, als sich bereits schon Deserteure der Garnison unter ihnen befanden, und sie daher nur durch leisen Zuruf „Avanti, Signori“ (Vorwärts, ihr Herren) zu vermehrter Eile anzuspornen suchten.
An einem nur der patrouillirenden Infanteriemannschaft bekannten engen Felsenpfade angelangt, bogen sie hastig links ab und eilten der vorliegenden Ausfallsthüre zu, wo sie nach kurzem Anrufe und gewechseltem Feldgeschrei die gesuchte Aufnahme fanden. Kaum sind sie aber eingetreten, so fällt schon vom Walle ein Schuß, dann ein zweiter und endlich Geknatter aus der ganzen Umfangslinie mit Begleitung von auf’s Ungefähr hinausgesendetem Kugel- und Kartätschenhagel. Gleichzeitig schlagen auch Kolben- und Axthiebe an die erwähnte Ausfallsthüre, mit italienisch-deutsch hereingerufener Aufforderung, sich zu ergeben oder überzugehen; auf die verneinende Antwort zwängt sich ein langes, starkes Brecheisen unter der Thüre herein, um dieselbe aus ihren Angeln zu heben, was aber ein nahe stehender Officier benutzte, um durch die entstehende Spalte den vordersten Heber mit seinem Pistol schnell zu Boden zu strecken.
Eiligst entfernten sich hierauf die Angreifer, um so mehr, als sie selbst überrascht und auf allen Seiten zuvorkommend kräftigst empfangen, überall von einem wahren Flintenkugel- und Kartätschenregen umsaust, den beabsichtigten Ueberfall verunglückt sahen, und ohne Geschütz, noch dazu mit wahrscheinlich ungenügender Mannschaft versehen, den eigentlichen Gewaltangriff nicht fortsetzen konnten. Beim schnellen, aber natürlich unter diesen Verhältnissen unverfolgten Rückzuge vermochten sie ihre Todten und Verwundeten mit sich zu nehmen, doch fanden die bei Tagesanbruch ausgesandten Patrouillen noch zahlreiche und lange Blutspuren, die von reichlichem Verluste zeugten. Glaubwürdige italienische Berichte sagen im Vertrauen, daß von der zufällig in gekreuztes Kartätschenfeuer gekommenen Compagnie des tapferen Hauptmanns Cosenz alle Officiere und fast die ganze Mannschaft getödtet oder verwundet wurden. Ein Alpenjägerofficier sagte uns, daß sie in dieser Nacht funfzehn Officiere mit mehr als 200 Mann verloren, und als Trophäe blieben den Oesterreichern ein von seinem eigenen Hauptmann durch die Hand geschossener feindlicher Lieutenant und drei gefangene Soldaten in den Händen.
Der Verlust der Besatzung bestand aus einem todten Soldaten, ferner aus einem bereits wiederhergestellten verwundeten Officier und zwei Mann mit leichten Stichwunden, da die Garibaldisten, ohne Schuß anstürmend, nach ihrer Gewohnheit nur mit Bajonnet und Messer zu arbeiten versuchten, hiermit aber in Folge bekannter Fechtlage nichts Besonderes ausrichten konnten. Als eigenthümliches komisches Intermezzo können wir hier anführen, daß in der Hitze des Gefechtes ein vom Castell verirrtes Schrapnell (Kartätsch-Granatkugel) in die Fenster eines vom Militair oft besuchten Kaffeehauses der Stadt einschlug und daselbst an Spiegeln, Leuchtern, Gläsern, Tassen, etc. gräulichen klirrenden Schaden anrichtete, welcher aber der jammernden Besitzerin durch die Großmuth der Garnison schnell und reichlich ersetzt wurde, was sie selbst dankend wieder erzählt.
Nach dem verunglückten Sturme auf Laveno wandte sich Garibaldi wieder nach Varese, wo er vom General Urban eine Schlappe erhielt und bis hart an die Schweizergrenze zurückgedrängt wurde, so daß man ihn allgemein bereits für verloren hielt. Die Besatzung von Laveno aber pflegte ihre und die feindlichen gefangenen Verwundeten mit gleicher Sorgfalt, wie dies eine von denselben später aus Mailand veröffentlichte Dankadresse beweist, und verhielt sich einstweilen ganz ruhig.
Fast gleichzeitig jedoch verbreiteten sich die Nachrichten von dem Vordringen der Alliirten über die Sesia und den Ticino, von der verlorenen Schlacht bei Magenta, von der Besetzung Sesto-Calende’s durch die etwa 10–12,000 Mann starke und hinreichend mit Geschütz versehene Division des zur Unterstützung der Freiwilligen-Legion herbeigeeilten Generallieutenants Cialdini, ferner von dem erneuerten Vordringen Garibaldi’s und entschiedenem Zurückweichen des Feldmarschalllieutenants Urban, welcher sich nach einem blutigen Gefecht bei Canonica bereits im vollen Rückzuge gegen die Adda befand; so daß die kleine Besatzung von Laveno nichts mehr vor Augen haben konnte, als im Falle eines ernsthaften Angriffes von der Landseite her nutzlose Aufopferung oder, im besten Falle, zwecklos herbeigeführte Gefangenschaft.
Nebenbei hatten die beständig auf Spähung hin und her fahrenden Dampfer die sichere Nachricht gebracht, daß die Piemontesen an den Ufern des Sees Batterien aufzuwerfen begönnen, um den sich gegen die nördliche Schweizerseite rasch verengenden Lago für die Schifffahrt ganz abzusperren. Auch waren bereits mehr oder minder hinterlistig feindliche Versuche gemacht worden, sich der Barken und selbst der größeren Schiffe durch Verrath zu bemächtigen, dieses Vorhaben aber durch die Wachsamkeit der Schiffsmannschaft vereitelt worden, obgleich sich unter derselben auch einige lombardisch-venetianische ganz unzuverlässige Elemente befanden, wie wir dies etwas später sehen werden.
Nach abgehaltenem Kriegsrathe wurde daher der Abzug der Mannschaft und der Schiffe unter dem Befehle des als Rangsältesten commandirenden Hauptmannes vom Flottillencorps angeordnet. Die Positionsgeschütze wurden zur Vernagelung vorgerichtet, alle brauch- und fortschaffbaren Waffen-, Munitions- und sonstigen Vorräthe auf die Schiffe gebracht, die übrigen zurückgelassen und dabei auch der verwundeten, bisher im Garnisonsspital gepflegten Gefangenen nicht vergessen, sondern dieselben guter italienischer Fürsorge anvertraut und so Alles zum raschen, stillen Abmarsche vorbereitet.
Bereits den 8. Juni Abends war der Dampfer Ticino bis Luino und Maccagno hart an die Schweizergewässer auf Recognoscirung vorgefahren, hatte dadurch die ganze Uferbevölkerung in höchste Aufregung gebracht und gleichzeitig die Ueberzeugung mitgebracht, daß auch dieser einzige Rettungsweg nicht mehr lange brauchbar oder vielmehr offen bleiben werde. In derselben Nacht also um 12½ Uhr, im finstersten, gewitterstürmenden Dunkel, setzte sich die bereitgehaltene Escadre in Bewegung; die Dampfer, den Radetzky an der Spitze, voran und mit mehreren schwer beladenen Barken im Schlepptau. Die Mannschaft in Waffen auf dem Verdeck, die Artilleristen mit brennenden Lunten an den scharfgeladenen Geschützen und die Schiffsmannschaft an ihren angewiesenen Plätzen, somit Alles gleichmäßig zum Kampfe gegen die tobenden Elemente, wie gegen Menschenkraft bereit, glitten die Schiffe trotz des heftigen Sturmes still, lautlos und langsam dahin. Bei Tagesanbruch in den schweizerischen Gewässern angelangt, hielten sie vor Gero-Gamborogno an und erwarteten die Herankunft der schweizerischen Besatzungsbehörden, welchen das Eintreffen der erwarteten österreichischen Flottille bereits durch ihre eigene, längs dem Seegestade vorgeschobene Vorpostenkette angezeigt war.
welche durch die jüngstverflossenen Kriegsereignisse eine gewisse vorübergehende Bedeutung erlangten.
Von drei Compagnien des österreichischen Infanterie-Regiments Erzherzog Karl nebst einer Abtheilung des Flottencorps (Schiffsmannschaft), zusammen beiläufig 650 Mann, besetzt und mit 28 Geschützen verschiedenen Kalibers ausgerüstet, beherrschen diese Festungswerke, nämlich zwei unbedeutende Forts und eine kleine, „Il Castello“ genannte Citadelle die Stadt und den Hafen, welch letzterer nunmehr den sowohl für den Personen- und Waarentransport als auch für den Kriegsgebrauch ausgerüsteten österreichischen Schiffen als improvisirter Kriegshafen Schutz und Deckung gewährte.
Drei Dampfer und mehrere Barken bildeten die Flottille der Oesterreicher, wovon die Schiffe der „Benedek“ und der „Ticino“, jedes mit zwei Achtzehnpfündern bewaffnet, ganz gewöhnliche Dampfschiffe vorstellten, wie wir sie auf unseren Seen und Flüssen finden, während der „Radetzky“ von 100 Pferdekraft, mit Platz für 500 Mann Besatzung und mit sechs Geschützen schweren Kalibers ausgestattet, als prächtiges Kriegsfahrzeug stolz die Wogen des Langensees durchfurchte, und die unbewaffneten sardinischen Schiffe gleich aufgescheuchten Eulen vor sich hertrieb.[471] Bald legten die mit den noch hochgehenden Wogen kämpfenden eidgenössischen Boote an, und der an Bord gestiegene graubündtnerische Major Latour, ein entfernter Verwandter des ehemaligen österreichischen Kriegsministers Graf Latour, übernahm das Commando, wofür er auch, wie billig, später in seinem Heimathkanton und unter den schweizerischen Besatzungstruppen selbst den scherzhaften Beinamen „der Flottenadmiral“ erhielt. Die Waffen der Oesterreicher wurden in’s Wasser ausgeschossen, was vielen Fischen Leides gethan haben soll, sodann in ordentlichen Haufen auf das Verdeck niedergelegt; Vorder- und Hinterdeck jedes Schiffes waren bereits mit einem Piquet urwüchsiger Hinterwäldner Infanteristen besetzt, welche sich sehr wunderten und freuten, so plötzlich auch zum Flottendienst berufen zu sein. Hierauf wieder gegen Magadino zu in Bewegung gesetzt, wurde der ganze Zug von dem daselbst stationirten Brigadecommando freundlich empfangen und einem Theile der zwar ganz gut aussehenden und ganz wohlbefindlichen, aber doch durch das Ungewohnte und jedem[WS 2] Soldaten selbst Peinliche der Lage etwas niedergedrückten Mannschaft die Ausschiffung gestattet, diese Erlaubniß aber schnell wieder zurückgenommen, als zwei Italiener der Schiffsmannschaft, wahrscheinlich durch die umherstehenden Tessiner angeeifert, im Nu entsprungen waren.
Sehr herzlich, theilnehmend und selbst freundschaftlich war das Benehmen der größtentheils deutschschweizerischen, eidgenössischen Officiere und Soldaten gegen die Quasi-Gefangenen; sie unterhielten sich freundlich mit ihnen, lobten ihre gute Haltung und waren bald im besten Einvernehmen, wenigstens in so weit sie sich wechselseitig verständlich machen konnten, da ein Theil der Schiffsmannschaft aus Lombarden und die Infanterie größtentheils aus slavisch sprechenden Mähren bestand; doch halfen wohlwollende Händedrücke, gutmüthig ausdrucksvolle Gebehrden auch hier hinlänglich ergänzend nach. Auffallend roh und feindlich dagegen zeigten sich die zum ungewohnten Schauspiele aus allen Kantonstheilen herbeigeströmten Italianissimi oder echten Ticinesen; hämische Schadenfreude blitzte aus ihren stechenden Augen, spitze Bemerkungen in ihrem echten Kauderwelsch flogen hin und her, natürlich nur halblaut, da sie sich vor der ernsten, strengen Haltung der aufgestellten eidgenössischen Truppen scheuten. Man sah jedoch so recht deutlich den Ausdruck dieses tückisch-welschen Charakters, welcher sich herzinnig freut, wenn er am wehrlosen Feinde, an den er sich früher nicht getraute, nun so ganz gefahrlos sein Müthchen kühlen kann; welche Freude ihnen nun freilich hier die braven „Confederati“ (Eidgenossen) selbst verdarben, wofür sie später aber auch „maledetti Austro-Svizzeri“ (verd… Oesterreichische-Schweizer) geschimpft wurden.
Um 2 Uhr Nachmittags war die Uebergabe der mitgebrachten Geschütze, bestehend aus zehn schönen achtzehnpfündigen Kanonen und zwei vierundzwanzigpfündigen langen Haubitzen, nebst mehreren Raketengestellen, sodann der Handwaffen, zusammen 530 schöne, neuartige Bajonnetflinten und 440 Säbel, nebst der dazu gehörigen Ausrüstung und endlich der Schiffe selbst geschehen. Hieraus begann in militairischer Ordnung die Ausschiffung der Truppen mit 2 Hauptleuten, 10 Lieutenants, 5 Chirurgen, 3 Maschinisten nebst 636 Infanterie- und Flottillensoldaten, im Ganzen 656 Mann stark, welche unter den Augen des eigens hierzu hergekommenen eidgenössischen Truppen-Divisionscommandanten an’s Land stiegen und sich daselbst in Reih und Glied formirten; die Mannschaft in Marschadjustirung mit Czackos, blauen Pantalons und Mantel, nebst aufgeschnalltem Tornister, Feldflasche und an der Seite herabhängendem Brodsack, die Officiere gleich adjustirt, jedoch mit ihren Seitengewehren (Säbel in Stahlscheide) bewaffnet.
Sogleich nach beendeter Inspection begann der Abmarsch unter Begleitung eines halben Bataillons (3 Compagnien) Urner-Infanterie in ihrer schmucken Felduniform, nämlich schwarzen, niedrigen Filzczackos mit weißrothen Pompons, blauer Tuchtunika (Waffenrock) und Pantalons, braunem Kalbfelltornister mit aufgerolltem Mantel, ferner auf der Brust gekreuztem weißem Riemenzeug und einer Feldflasche; die Officiere trugen silberne Franzenepauletten und Säbel in Lederscheide an der unter der Tunika um den Leib geschnallten Hängekuppel; die Hälfte, nämlich 1½ Compagnien, ging an der Spitze und die andere Hälfte am Schlusse der Colonne. Hierbei ward als erste Marschstation Bellinzona bestimmt, wo bereits im Voraus die Quartiere gemacht waren oder vielmehr – hätten gemacht sein sollen.
Einen eigenthümlichen Eindruck machte es, als sich beim Abzuge die Blicke dieser tapferen Soldaten, gleichsam unwillkürlich und zum stummen Lebewohl, nach ihren verlassenen Schiffen wandten, auf deren Verdeck nunmehr die schweizerischen Schildwachen ganz gemüthlich hin und her spazierten. Ruhig neben ihnen und in gleicher Weise bewacht, lagen die fünf sardinischen Dampfer; gestern erbitterte Todfeinde, heute auf neutralem Gebiete zu friedlicher Vereinigung, zu schweigendem Aneinanderliegen gezwungen, zeigten sie so recht das Bild der Vergänglichkeit irdischer Macht und die Nichtigkeit menschlicher Blutkämpfe zu wechselseitiger Vernichtung. Lustig flaggten übrigens noch auf den kaiserlichen Schiffen die österreichischen Marinefarben, während die kahlen Maste der Piemontesen traurig in die Luft starrten, was auch sogleich zu Reklamationen der sardinischen Schiffscapitaine und selbst der Bevölkerung Anlaß gab; daher wurden die verhaßten „Disegni Croati“ (kroatische Flaggen) später auch herabgenommen und so das Gleichgewicht Europa’s an der Nordspitze des Lago maggiore wiederhergestellt. Auf wie lange, können wir freilich nicht vorhersagen.
So weit unser gemüthlicher österreichischer Unterofficier, den ich in Bellinzona zum letzten Male sprach. Die ferneren Schicksale der österreichischen Colonne sind bekannt. Vielfach geschmäht von den Bellinzonesen, die dafür von den wackern begleitenden Schweizertruppen mit Kolbenstößen reichlich tractirt wurden, zogen die Oesterreicher durch die schauerlich schöne Via Mala nach dem freundlichen Chur, von wo ab eine Abtheilung nach Zürich, eine zweite nach St. Johann in Toggenburg und eine dritte Abtheilung nach Schloß Lenzburg, ganz in der Nähe der alten kaiserlichen Habsburg, einquartiert wurden. Ueberall liebreich und freundlich aufgenommen, haben Officiere und Gemeine dort schöne Tage verlebt, die ihnen unvergeßlich bleiben werden.
Z. B.: weil ein Sonntagsjäger beim Ausmarsche zuerst einer alten Frau begegnete, darum schoß er auf der Jagd stets fehl. – Weil ein Soldat ein Amulet auf der Brust trug, darum wurde er in der Schlacht nicht verwundet. – Weil ein Gichtbrüchiger seit einiger Zeit stets einen Kalbsknochen in der rechten Hosentasche bei sich hatte, darum wurde er während dieser Zeit nicht vom Zipperlein befallen. – Weil Einer sein Testament gemacht hat oder weil er in einer Gesellschaft als Dreizehnter unter oder vor dem Spiegel saß, darum starb er bald nachher. – Weil man einer Mutter wegen der Gesundheit ihres Kindes gratulirte und dabei nicht dreimal ausspuckte und „Gott behüte es“ sagte, darum wurde das Kind krank.
Nichts zeugt so deutlich für den Unverstand, die Denkfaulheit und Unwissenheit der jetzigen Menschheit in Bezug auf Alles, was die Natur und vorzugsweise den menschlichen Körper betrifft, als die Beurtheilung des Verhältnisses einer Ursache zu ihrer Wirkung. Die Meisten, sogar sogenannte Gebildete, sind so abergläubisch und haben so gar kein Verständniß von der Art der Wirksamkeit einer Ursache, daß sie sehr häufig, allen bestehenden Naturgesetzen und dem gesunden Menschenverstande zuwider, Erscheinungen und Ereignisse solchen Ursachen zuschreiben, die in gar keinem Zusammenhange damit stehen können. Oder wo wäre da Verstand, wenn man dem Beisichtragen eines Kalbsknochens das Wegbleiben der Gicht, einem Amulete die Unverwundbarkeit, dem Begegnen einer alten Frau eine unglückliche Jagd, und gar dem Testamentmachen oder dem Dreizehntersein den Tod zuschreibt?
Es versteht sich wohl von selbst, daß die meisten Ereignisse wirklich in einem ursächlichen Zusammenhange mit einander stehen, darum werden wir auch in den meisten Fällen eine stets gleichbleibenbe Aufeinanderfolge von bestimmten Ereignissen wahrnehmen und Folgen gewisser Ursachen genau voraus bestimmen können. Wo aber durch eines der Naturgesetze der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung nicht aufzuklären ist, da müssen Tausende von Experimenten [472] und Erfahrungen die Nothwendigkeit dieses Zusammenhanges klar und deutlich nachgewiesen haben, ehe man an dieselbe glauben darf. Ja, wenn die meisten Gichtbrüchigen durch einen Kalbsknochen von der Gicht befreit blieben, wenn viele der beschrieenen Kinder wirklich immer krank würden u. s. f., dann wäre allerdings Grund vorhanden, diese Folgen jenen Ursachen zuzuschreiben. Aber ob ein gewisser Folgezustand nur eine Zufälligkeit oder wirklich eine durch das Vorhergegangene bestimmte Nothwendigkeit ist, darnach fragt die aber- und leichtgläubige dumme Menschheit nicht; je unwahrscheinlicher, unnatürlicher, unvernünftiger Etwas ist, desto lieber glaubt sie daran, wie man recht deutlich in der Heilkunst, zumal an der Homöopathie sieht.
Es ist eine Versündigung an dem Menschenverstande, daß der Glaube an die Kraft der Amulete noch bis auf den heutigen Tag fortbesteht. Und warum? Blos deshalb, weil Einige, die solchen Hokuspokus an sich hatten, zufälliger Weise nicht krank, verwundet, erstochen oder erschossen wurden. Selbst die sonst so aufgeklärten, intelligenten und oft als freigeisterisch verschrieenen Franzosen stehen in diesem Punkte mit den abergläubischsten Türken und Beduinen auf ganz gleicher Stufe, denn fast jeder französische Soldat trägt gegen Tod und Lebensgefahr ein Amulet, und fallen Tausende von Trägern eines Amulets in der Schlacht dem Tode anheim, so bleiben die wenigen Lebengebliebenen dennoch ihrem Glauben an die Wirksamkeit der Amulete treu und behaupten, die Amulete der Gebliebenen seien nicht echte gewesen. Aber nicht blos gemeine Soldaten sind von diesem Aberglauben befallen, sogar Stabsofficiere tragen Amulete, selbst General Canrobert ist mit einem solchen versehen; General Bosquet und Forey sollen Splitter vom heiligen Kreuz an sich tragen, und vom Prinz Napoleon wird behauptet, daß er im Besitz eines vor Hieb und Stich bewahrenden Amuletes sei. In der Krim fanden die Aerzte bei manchem Todten oft christliche und türkische, ja sogar jüdische Amulete zugleich vor. – Amulete gegen Krankheiten kann man heut zu Tage noch bei sonst ganz gebildeten Leuten, sogar bei Männern, finden, und wie viele Mütter ihre Kinder mit unsinnigem Hokuspokus behängen, damit diese leichter zahnen oder vom bösen Halse, von krummen Beinen oder andern Gebrechen frei bleiben, wird Jedem bekannt sein.
Von dem Jäger-Aberglauben wollen wir ganz schweigen, denn dabei begreift man wahrlich nicht, wie ein erwachsener verständiger Mensch, und noch dazu männlichen Geschlechts, alles Ernstes und gegen seine bessere Einsicht mit Hartnäckigkeit daran fest halten kann. Was soll man z. B. von einem Manne denken, der, weil ihm beim Ausmarsche auf die Jagd eine „glückliche Jagd“ gewünscht wird, oder weil er etwas vergessen hat, gleich von der Jagd absteht, umkehrt und wieder nach Hause geht? – Gegen den Aberglauben und das „Post hoc, ergo propter hoc“ der Frauen, da kämpfen natürlich Götter selbst vergebens. Weil eine Ehe Freitags geschlossen wurde, darum ist sie eine unglückliche (nicht aber etwa darum, weil die Frau eine gefall-, mode-, putz-, vergnügungs-, herrsch-, zank-, rach- und eifersüchtige, alberne Person ist); – weil Fahrenden Schweine entgegenkamen, darum stürzte der Wagen um (nicht aber darum, weil der Kutscher betrunken war); – weil nicht Salz, Brod und ein neuer Besen zuerst in eine neue Wohnung geschafft wurden, darum erlebten die Bewohner derselben Unglück über Unglück darin; – weil Eine mit dem unrechten Beine das Bett zuerst verließ, darum hatte sie den ganzen Tag üble Laune; – weil eine Mutter ihrem Kindchen die Nägel das erste Mal nicht abbiß, sondern abschnitt, darum lernte dieses Kind später stehlen; – weil ein Mädchen vor beendigtem ersten Lebensjahre in den Spiegel schaute, darum wurde es stolz, und weil es im ersten Jahre rothe Schuhe trug, darum konnte es in der Folge kein Blut sehen. – Eine Menge Weiber halten ferner fest an folgendem Aberglauben: wenn man sich Freitag Morgens die Nägel abschneidet, so bekommt man kein Zahnweh; am besten ist es, wenn man am Charfreitage damit beginnt. – Vor der Trauung binde sich die Braut nicht die Strumpfbänder, damit sie leicht gebären kann; während der Copulation habe die Braut Geld in den Schuhen, so fehlt es ihr nie daran; sie trete dicht an den Bräutigam heran, daß sie nicht von ihm geschieden werde; sie trete ihn auf den Fuß, daß sie das Hausregiment erhalte. – Wenn eine Magd anzieht, so fahre sie sogleich in’s Ofenloch, damit sie sich bald an den Ort gewöhne. – Ein Frauenzimmer lasse sich Niemanden an ihre Schürze abtrocknen, er wird ihr sonst gram. – Bleibt eine schwangere Frau vor dem Brodschranke stehen, so bekommt das Kind die Mitesser. Entwöhnt eine Mutter ihr Kind in der Baumblüthe, so bekommt es bald graue Haare. - Der Bräutigam schenke der Braut kein Buch, sonst wird die Liebe verblättert; gibt er ihr eine Scheere oder ein Messer, so wird die Liebe zerschnitten. Gegen unfreiwillige Liebe hilft folgende Sympathie: man ziehe neue Schuhe an und laufe schnell, bis die Füße schwitzen, dann ziehe man den rechten Schuh aus, gieße Bier oder Wein darein und trinke, so wird man der Person von Stund an gram. – Wessen Excremente in’s Feuer geworfen werden, dessen Gesäß bekommt einen Ausschlag. – Doch genug des Blödsinns; noch gibt es Tausende von unsinnigen, auf den lächerlichsten Aberglauben gegründeten Regeln und Gebräuche, welche zur Zeit noch sehr oft, selbst von sonst vernünftigen Frauen in Anwendung gebracht werden. – Daß Frauen an Träume glauben, ist bei ihrer großen Disposition zum Aberglauben und bei ihrem kleinen Denkvermögen ganz natürlich.
Der schimpflichste aller Aberglauben, welcher Menschen zu den unmenschlichsten und entwürdigendsten Grausamkeiten getrieben hat und welcher zunächst ebenfalls auf krasser Unwissenheit und falscher Beurtheilung von Ursache und Wirkung beruht, ist der Hexenglaube. Weil eine alte unsaubere Frau mit rothen Augen in einen Stall sah, darum gaben die Kühe darin keine Milch mehr, einige Sauen starben, und Knecht und Magd wurden krank. Dafür mußte die arme Frau aber auch eine Hexe sein, gefoltert und schließlich verbrannt werden. – Die letzte gesetzliche Hinrichtung einer Hexe auf deutscher Erde fand 1783 in Glarus statt; und im Jahre 1793 wurden in Polen an der südpreußischen Grenze noch zwei Hexen verbrannt. Wie viel Hexen früher auf gesetzlichem Wege durch Rösten, Sengen und Brennen gemordet wurden, mögen einige wenige Thatsachen beweisen: in Braunschweig wurden zwischen 1590 und 1600 so viele Hexen verbrannt, oft an einem Tage 10–12, daß die Richtstätte wie ein Waldbrand anzusehen war; in dem Fürstenthum Neiße sind von 1640 bis 1652 an 1000 Hexen verurtheilt worden, und es waren Kinder von 1 bis 6 Jahren darunter; in Osnabrück starben 1640 über 80 Hexen den Feuertod; in der Grafschaft Werdenfels wurden in 7 Tagen 46 Hexen eingeäschert; in Quedlinburg starben 1589 an einem Tage 133 Hexen den Feuertod. In unserm Jahrhundert sind nun zwar die Hexenprocesse, nachdem Wissenschaft und Humanität fortgeschritten sind, eingestellt worden, allein die untersten ungebildetsten Classen halten doch noch in Etwas an dem alten Aberglauben fest. Noch im Jahre 1832 wurde in der Gegend von Danzig eine Unglückliche als Hexe in das Meer hinausgefahren und auf grausame Weise ertränkt; ja sogar 1854 wurde in einem schlesischen Dorfe einer alten Frau, die als Hexe galt, deshalb die Leichenbegleitung versagt. An einen bösen Blick eines Menschen glauben zur Zeit selbst gebildete Kartenspieler noch.
Gegen Krankheiten sind seit Alters her bis auf die allerneueste Zeit die unsinnigsten und lächerlichsten Dinge angewendet worden, und dies ist allenfalls, wenigstens bei Laien, deshalb zu entschuldigen, weil man nach der Anwendung dieser Dinge (post hoc) fast stets Aenderungen in den Krankheitserscheinungen eintreten und die Krankheit sehr oft zum Guten verlaufen sah. Diese Aenderungen traten nun aber nicht etwa in Folge dieser Anwendung (ergo propter hoc) ein, sondern trotz derselben und zwar deshalb, weil innerhalb unseres Körpers von der Natur solche Einrichtungen getroffen sind, daß krankhafte Veränderungen in diesem oder jenem Organe Processe nach ziehen, durch welche zuvörderst die Krankheit in ihren Erscheinungen abgeändert wird und dann jene krankhaften Veränderungen entweder vollständig oder nur theilweise, bald schneller, bald langsamer entfernt werden (d. s. die Naturheilungsprocesse). Sie sind es auch, welchen der Patient in den allermeisten Fällen, trotz Arzt und Arzeneien, seine Heilung zu verdanken hat. – Wenn nun aber auch bei der Behandlung von Krankheiten dem Laien eine falsche Beurtheilung des Post hoc, ergo propter hoc verziehen werden kann, so sollte bei einem vernünftigen Menschen doch immer die Unwissenheit und Leichtgläubigkeit nicht so weit gehen, um die unnatürlichsten Dinge als wirkliche Heilmittel anzusehen. An sympathetische Curen (durch Schäfer, Hufschmiede, alte Weiber u. s. f.), sowie an Heilung einer Krankheit durch homöopathische Nichtse zu glauben, dazu gehört wahrlich ein Grad von Urtheilslosigkeit, der dem menschlichen Geiste die größte Schande macht. Trotz dem gibt es noch eine Menge Menschen, die auf das Versprechen des Blutes und der Rose, das Abschreiben des kalten Fiebers, die verschiedenartigen sympathetischen Heilungen der Warzen, Muttermäler und Geschwülste, das Binden [473] kranker Theile etc. Stein und Bein schwören. Noch in neuester Zeit wurde im vollen Ernste das Anhalten eines gerupften Taubensteißes an den nackten Hintern eines in Krämpfen liegenden Kindes als ein sicheres Mittel gegen die Krämpfe (die sich auf die Taube übertragen und diese dadurch tödten sollten) empfohlen. Und wie viel Dümmlinge glauben nicht jetzt noch an die Wunderheilmacht des Herrn Arthur Lutze in Cöthen, der mit seinem Lebensmagnetismus und seinen magnetisirten homöopathischen Hochpotenzen geradezu Alles zu heilen verspricht, wenn er nämlich „nicht schwach im Glauben oder Willen gewesen, oder empfunden hat, daß er in diesem Falle nicht helfen durfte“ (s. Gartenl. 1856, Nr. 12). Man begreift wirklich nicht, daß so viele Kranke, aber doch noch zurechnungsfähige Menschen, sich nicht schämen, bei jenem cöthenschen Heilkünstler Hülfe zu suchen, der die Frechheit hat, öffentlich bekannt zu machen, daß er einen Mann, der sich auf der Straße eben den Fuß verrenkt hatte und nicht gehen konnte, durch bloßen Zuruf geheilt habe, daß er einem Geistlichen, der an Taubheit litt, bei 40 Meilen Entfernung in der Stunde das Gehör wiedergab, als er die Kraft seines Willens dahin sandte, und daß er einen 41jährigen Webermeister, welcher noch nie im Stande gewesen war, die Farben zu unterscheiden, sofort befähigte, die Farbenpracht der vor dem Hause blühenden Georginen zu erkennen, nachdem er demselben in beide Augen gehaucht hatte. – Meinem gichtbrüchigen Freunde, den sein kalbsknöchernes Taschen-Amulet vor der Gicht nicht zu schützen vermochte, empfiehlt eine gichternde Freundin folgendes Sympathie-Mittel: er gehe 3 Tage hintereinander des Morgens vor Sonnenaufgang zu einem Fliederbaume, fasse ihn an und spreche: „Flieder! ich habe die Gicht und Du hast sie nicht, nimm mir sie ab, so hab’ ich sie auch nicht.“ Eine andere Dame rühmt dagegen: drei Freitage hintereinander nach Sonnenuntergang unter einen Tannenbaum zu gehen und zu sagen: „Tannenbaum, ich klage Dir, die Gicht plagt mich schier; die Tanne muß dörren, die Gicht aufhören.“
Wie nun die Köpfe des gebildeten und ungebildeten Volkes von Aberglauben vollgestopft sind, der zum größten Theile auf ganz unüberlegter Annahme von Wirkungen auf gewisse Ursachen beruht, ebenso hat das Post hoc, ergo propter hoc in der Heilkunst, aller Wissenschaft zum Hohne, zur Wundersucht und Charlatanerie geführt, und es wird wahrlich Zeit, daß sich diese endlich einmal von jedem Aberglauben und jeglicher Gaukelei reinige. Suchen wir in Etwas zu dieser Reinigung durch Aufklärung der Laien beizutragen.
Erst heute kann ich wieder zum Schreiben kommen, um Ihnen den weiteren Verlauf unseres Schützenfestes zu schildern.
Aber werde ich es auch können? Um des Stoffes willen gewiß. Aber ich fürchte, die rechte Stimmung ist mir verloren gegangen. Da kam zuerst der Waffenstillstand in das Fest hinein, dann dieser faule Friede. Ich hatte ihn vorhergesagt, noch bevor der unglückliche Krieg begann. „Soll man das Gute nicht nehmen, weil es vom Teufel kommt?“ hatte ich von so Manchem hören müssen, die an eine Befreiung Italiens durch einen Louis Napoleon glaubten. „Der Teufel kann nur nichts Gutes bringen, darum ist er eben der Teufel!“ hatte ich ihnen geantwortet. Sie hatten mir nicht geglaubt. Nun kann auch dem blödesten Auge der egoistische Zweck dieses Krieges nicht mehr entgehen; aber auch nicht, was weiter daraus folgen wird für unser deutsches Vaterland. Wird? Was folgen soll, ist wohl gewiß. Aber wird es auch? Wenn es nicht besser im deutschen Lande, nicht einiger, nicht – ach, man darf das Wort nicht einmal aussprechen, und die Wirklichkeit sollte kommen? Und ohne diese Wirklichkeit, ohne ein einiges und freies Deutschland, ist Deutschland – verloren.
Ich kann Ihnen nicht sagen, mein lieber Keil, wie schwer es mir auf dem Herzen ist. – Aber ich muß beschreiben. –
Ich zeige Ihnen zunächst den Platz, auf dem das Schützenfest gefeiert wird. Er ist von der eigentlichen Stadt Zürich etwa zehn Minuten entfernt, in der Gemeinde Rießbach. Sie wissen, die Stadt Zürich ist von allen Seiten von einer Art von Vorstädten oder Vordörfern umgeben, die unmittelbar an der Stadt beginnen, so mit dieser fast ein einziges, großes Ganze bilden, aber jede als selbstständige Gemeinde für sich bestehen. Solch ein selbstständiges, freies, wenn auch mitunter kleines Gemeindeleben ist außerordentlich viel werth für ein freies Volksleben. Das politische Leben jedes Einzelnen erhält sich immer wach darin, und der Bureaukratismus, diese Wiege und zugleich Stütze des Absolutismus, kann nicht darin aufkommen.
Eine solche kleine Vorstadt Zürichs bildet die Gemeinde Rießbach. Eine lange, schnurgerade Straße, unmittelbar an der Stadt Zürich beginnend, zieht sich mitten durch sie. Sie gehört zu den schönsten Straßen um und bei Zürich. Schöne Häuser und Gärten fassen sie zu beiden Seiten ein, unter den Gebäuden die niedlichsten reizendsten Landhäuser der mit reizenden Landhäusern besäeten Gegend. Sie heißt die „Seefeldstraße“; sie erstreckt sich in ihrer ganzen Länge an dem See hinauf, an den man unmittelbar aus den Gärten hinter den Häusern ihrer rechten Seite gelangt. Fast an ihrem Ende ist ein weiter, freier, von der Straße bis an den See reichender Wiesen-Platz. Hier war das Schützenfest.
Zuerst tritt man von der Straße in die Festhalle oder „Festhütte“. Sie ist ein von Holz aufgeführtes Gebäude, mit ungeheuren, aber in Länge, Breite und Höhe einander entsprechenden Dimensionen, nach zwei Seiten hin offen. Ein breiter Kreuzgang durchschneidet sie in der Mitte; schmälere Gänge laufen nebenhin und nebenher. In der Mitte befindet sich ein großer künstlicher Springbrunnen. Alle andern Räume sind mit langen Tischen und Bänken von weißem Tannenholz besetzt. Sechstausend Menschen haben da bequemen Platz zum Essen und Trinken. Auch zum Zuhören, ob freilich Alle zum Verstehen, ist eine andere Frage. In der Mitte der Länge des Gebäudes ist, nach Art einer Kanzel, eine mit den eidgenössischen Farben geschmückte Rednerbühne errichtet, und manches Wort aus kräftiger Lunge ist seit dem Dritten dieses Monats dort erschallt. Aber sechstausend essenden und trinkenden fröhlichen Schützen sich verständlich zu machen, dazu möchten selbst die gewaltigen homerischen Heldenstimmen nicht immer ausgereicht haben.
Hinter der Rednerbühne ist auf einem Empor der Platz für die Festmusik. Gewaltige Chöre haben dort während des Festes gespielt; aber auch ihre Töne konnten nur die Näheren vernehmen. Nur wenn die Marseillaise gespielt wurde, und sie mußten sie täglich zum öftern spielen, an manchem Abende zwei-, dreimal unmittelbar hintereinander, nur dann wurde jeder Ton von jedem Menschen in der weiten Halle und noch weit hinaus über Straße und Feld gehört. Dem wirren und lauten Geräusche, dem ungestümen Verlangen nach Wiederholung der Melodie machte dann auf einmal, sowie der erste Ton erklungen war, ein fast feierliches, stilles, gespanntes Zuhören Platz, bis bei der letzten Strophe Tausende von menschlichen Stimmen die Töne der Instrumente begleiteten.
Mitten vor der Front der Festhalle steht der hübsche Gabentempel, den ich Ihnen schon früher beschrieben habe. Auf seinen reichen und glänzenden Inhalt komme ich gleich. Ich muß Sie vorher weiter zu den Schießständen führen. Sie befinden sich zu Ende der Festhalle. Man tritt dort in ein langes, nicht zu schmales offenes Gebäude, ähnlich wie die Festhütte von Holz aufgeführt. Sechsundneunzig Schießstände sind darin, Stand an Stand nebeneinander. Sie führen zu sechsundneunzig Scheiben. Vor jedem Stande ist ein Raum zum Laden der Gewehre. Nebenan liegen kleinere Gebäude zum sofortigen Repariren, wenn Gewehr oder Ladezeug beschädigt werden sollten.
Hier lassen Sie mich zugleich erwähnen, wie auch für Hülfe bei etwaiger Verletzung oder Erkrankung von Menschen gesorgt war. Ein besonderer Raum war da für einen Arzt und eine Feldapotheke. Ich glaube sogar, zwei Aerzte waren Tag und Nacht anwesend. Die Aerzte Zürichs hatten sich freiwillig zu diesem menschenfreundlichen Dienste erboten. Sie wechselten täglich ab. An einem meiner Freunde war zweimal während des Festes die Reihe.
Die Scheiben sind nach dem See hin errichtet, so, daß eine [474] Verletzung durch die Kugeln zu den Unmöglichkeiten zu zählen ist. Häuserhohe Schichten von Brennholz sind zu langen, dichten Mauern hinter ihnen und zu ihren beiden Seiten aufgethürmt. Außerdem darf bis zu einer bestimmten Entfernung in jener Gegend Niemand den See befahren. Ein Unglück kann in solcher Weise nur in den Schießständen geschehen oder einen unvorsichtigen Zeiger treffen. Es haben sich auch, so viel bekannt geworden, nur zwei Unglücksfälle ereignet: ein Schütze hat sich beim Schießen einen Finger verletzt, und ein Zeiger hat durch einen abgesprungenen Splitter ein Auge verloren.
Bei den Scheiben und dem Schießen muß ich noch verweilen. Ueber dreißigtausend Schützen haben geschossen, zehn Tage lang, von Morgens acht Uhr bis des Abends acht Uhr. Sie waren nicht Alle die ganze Zeit über und zu gleicher Zeit da. Aber zehntausend schossen täglich gewiß. Wie viel ist da geschossen! An einem Tage, am 7. Juli, waren über vierundsiebzigtausend Schüsse gethan, und am 11., also am vorletzten Tage der Festes, als die Meisten schon fort waren, noch über einundsechzigtausend.
Die Scheiben sind von verschiedener Art, ebenso auch die Stutzen, mit denen geschossen wird. Die Schweizer haben „Feld-“ und „Standstutzen“. Der Feldstutzen ist das militairische Gewehr des schweizerischen Scharfschützen, mit dem er in das Feld rückt. Der Standstutzen ist schwerer. Mit beiden wird aus freier Hand geschossen. Nach den Stutzen zunächst sind auch die Scheiben verschieden. Die Feldscheiben stehen etwas über 1000 Fuß entfernt (ich meine 1008), die Standscheiben 580 Fuß. Außerdem werden im Stand, wie im Feld, „Stich-“ und „Kehrscheiben“ unterschieden. Die Kehrscheiben werden mit fortlaufenden Buchstaben des Alphabets bezeichnet; die Stichscheiben haben jede ihren besonderen Namen; im Stand: Vaterland, Industrie, Titlis, Pilatus, Rigi, Gotthard, Jungfrau, Splügen; im Feld: Säntis, Glärnisch. In jede Stichscheibe darf jeder Schütze wahrend des ganzen Festes nur einen Schuß thun, blos in die Scheibe Vaterland zwei. Nach den Kehrscheiben kann Jeder so viel schießen, wie er will und – bezahlt!
Der Name Kehrscheibe rührt daher: Damit bei dem großen Andrange der Schützen zu ihnen das Schießen keine Unterbrechung erleide, war früher die Scheibe eine doppelte, so daß sie nach jedem Schusse rasch umgedreht wurde. Jetzt hat man andere Vorrichtungen. Jeder Schuß muß bezahlt werden; für die Kehrscheiben kostet der Schuß dreißig Centimes; für die Stichscheiben ist er theurer. Man kann eine Marke für alle neun (zulässige) Schüsse in die Stichscheiben nehmen, d. h. „einen Doppel lösen.“ Außerdem kauft man „Stich-“ oder „Kehrmarken“.
Die Gewinne sind vielfach verschieden. Für die verschiedenen Stichscheiben sind die reichsten Gaben bestimmt, theils schon von den Gebern, theils vom Comité. Den besten Preis hat die Scheibe Vaterland. Er war diesmal 2500 Franken baar in einer großen, schönen silbernen Schale. Die Schweizer in Paris hatten sie für die Scheibe Vaterland geschenkt. Der geringste Gewinn besteht in fünf Franken. Gewinnen kann immer nur der, wer das Centrum trifft. Dieses ist dreifach verschieden. In den Standstichscheiben hat es 10 Zoll, in den Standkehrscheiben 2½ Zoll, in den Feldkehrscheiben sechs Zoll im Durchmesser. Die Feldstichscheiben haben Numnmerneintheilungen. Verschieden ist auch wieder die Art des Gewinnens. Den ersten Preis einer jeden Stichscheibe gewinnt nur, wer den besten Schuß in die Scheibe gethan hat. Für die Kehrscheiben ist Höhe und Werth des Preises vielfach verschieden: die Geldprämie von fünf Franken erhält schon, wer (und so oft er) sechs Mal das Centrum getroffen hat, dazu einen silbernen Schützenbecher oder eine Uhr (nach seiner Wahl), wer fünfundzwanzig Mal, und wieder hundert Franken, wer fünfzig Mal dasselbe getroffen hat. Eine besondere Prämie ist wieder bestimmt für die meisten Treffer des Tages, für den ersten und den letzten Treffer des Tages, für die meisten Treffer während des ganzen Festes. Ich glaube, es sind noch mehr Unterscheidungen.
Die gewonnenen Tagesprämien kann jeder Gewinner sofort realisiren. Die anderen Preise werden erst zu Ende des Festes und zwar öffentlich vertheilt.
Ich führe Sie, mein Freund, jetzt zu dem Gabentempel zurück, und zwar zu den Gaben selbst.
Der ganze hübsche Tempel hat keine Wände, sondern nur Fenster; durch diese sieht man alle jene reichen Preise und Prämien für die gewinnenden Schützen aufgehäuft, Alles Gaben aus allen Theilen der Schweiz, von Regierungen, Gemeinden und Privaten, aus allen Theilen der Erde, wo Schweizer des patriotischen Festes gedacht haben, – und wo ihrer sind, da haben sie seiner gedacht.
Die Gaben bestehen in Geld und in allerlei Werthsachen. Sehr schöne neue schweizerische Fünffrankenthaler hat die Eidgenossenschaft expreß dazu prägen lassen. Anstatt der Helvetia steht ein Schütze darauf. Unter den Werthsachen, die sehr viele kostbare, selbst Kunstgegenstände zählen, zeichnen sich besonders zwei aus, die denn auch vom Anfang bis zum Ende des Festes fortwährend die allgemeine Bewunderung auf sich zogen. Die Bewunderer konnten nicht einig darüber werden, welcher von den beiden herrlichen Gaben in Werth, Glanz und Geschmack sie den Preis zuerkennen sollten; ich weiß es auch nicht. Eines muß ich indeß zuerst nennen, und da sei es denn die Gabe Ihrer Landsleute, mein lieber Keil.
Drei Leipziger, die Herren Gebrüder Felix, S. G. Schletter, Gontard Nachfolger, hatten ein großes, prachtvoll gearbeitetes Trinkhorn von massivem Silber übersandt. Es war der zweite Preis der ersten Scheibe „Vaterland“. Der erste Preis waren die oben schon genannten 2500 Franken in silberner Schale von den Schweizern in Paris.
Die Leipziger Geber hatten das schöne Geschenk mit folgendem, sie hoch ehrenden Schreiben begleitet:
„Das eidgenössische Freischießen wird dieses Jahr im Canton Zürich abgehalten.
„Seit langen Zeiten in regem geschäftlichen Verkehr mit demselben, und dadurch mit der Bevölkerung dieser durch Handel und Industrie so hervorragenden Gegend vielfach befreundet, haben wir in ihr den Stamm des gesammten Schweizervolkes achten und lieben gelernt; so daß wir nur einem Drang aufrichtiger Gefühle folgen, wenn wir unsere Theilnahme an diesem nationalen Feste bethätigen.
„Wir überreichen Ihnen daher beifolgende Festgabe, deren Verwendung wir dem geehrten Comité überlassen. Möge dieselbe freundlich aufgenommen werden und zur Verherrlichung des schönen Festes beitragen, wo freie Männer, aus allen Theilen des schönen Schweizerlandes herbeigeeilt, sich brüderlich die Hände reichen und in der Ausbildung ihrer Geschicklichkeit und Kraft die Gewähr ihrer Unabhängigkeit finden.
„Möge Ihr Fest ein heiteres und glückliches sein und, wie dasselbe Einigkeit und Tüchtigkeit in Ihrem Lande nährt, auch Raum lassen für unsere Glückwünsche aus der Ferne. Mit herzlichem Gruße“ u.s. w.
Die Bremer Schützen hatten als Ehrengabe zwölf Römer, gleichfalls von massivem Silber und inwendig vergoldet, mitgebracht. Das war eine wundervoll zierliche, schöne, kostbare Arbeit. Weintrinker oder Nichttrinker, Keiner konnte den Blick von den zwölf feinen Rheinweinbechern abwenden. Wie muß das edle Gewächs in dem Golde golden funkeln!
Und doch war diese Gabe der Bremer ihre geringste. Sie hatten auch von dem edlen Weine aus ihrem Rathskeller selbst mitgebracht. Der wurde freilich schon während des Festes vertrunken. Der Präsident Dubs weihete die Rednerbühne mit dem ersten Trunke von diesem 1684er Rüdesheimer ein, und als er es gethan hatte, konnte er sagen, er habe einen Trunk gethan, der unter Brüdern seine sechstausend Franken Werth sei.
Die zwölf Römer der Bremer waren der erste Preis des Feldkehrs.
Was sonst noch an kostbaren und geschmackvollen Gaben da war, beschreibe ich Ihnen nicht; ich würde kein Ende finden. Lassen Sie mich dagegen erwähnen, daß namentlich viele Hunderte von silbernen Pokalen und Bechern und goldenen und silbernen Taschenuhren da waren.
Und nun, mein Freund, begleiten Sie mich auf dem Wege zu dem Platze, den ich Ihnen mit seiner Festhalle, seinen Schießständen und Scheiben, seinem Gabentempel und seinen Gaben, freilich nothdürftig genug, beschrieben habe. Ich führe Sie dann auch mitten in sein buntes, oft wirres und oft wunderbares, aber stets frisches, freies und fröhliches Leben hinein.
Wir gehen über den schönen, breiten Limmatquai, um die Stadt Zürich zu verlassen. Wir haben rechts vor uns den See. Viele Hunderte von buntbedeckten und buntbeflaggten Gondeln fahren auf ihm auf und nieder; Gesang tönt aus mancher von ihnen über die tiefblaue klare Spiegelfläche zu uns herüber. Links gehen wir an buntbeflaggten, grüngeschmückten Häusern vorüber. Kein einziges Haus in ganz Zürich hat während der Festtage auch nur ein Fähnlein oder einen Zweig seines Schmuckes abgelegt; manches erneuerte [475] fast täglich seine Blumen und sein Laubgewinde. An Haufen festlich fröhlicher Menschen kommen wir auf allen Seiten vorüber.
Wir gehen an dem Ufer des Sees hinauf, wir verlassen den Quai, die Stadt. Wir sind an der Grenze der Gemeinde Rießbach, am Eingange jener schnurgeraden, anmuthigen Seefeldstraße. Ein großes, für das Fest gebautes Triumphthor empfängt uns hier. Es hat Aehnlichkeit mit dem Brandenburger Thor in Berlin. Hoch oben auf ihm steht die kolossale Statue Tells. Sie ist sehr gut gearbeitet, aus Gyps. Sie stellt den mythischen Helden in dem Augenblicke dar, wie er den Apfel von dem Haupte des Kindes geschossen hat, und drohend den Pfeil dem kaiserlichen Landvogt entgegenhält. Ob die Geschichte wahr oder nicht wahr ist, kümmert uns in diesem Augenblicke am wenigsten, und wahrhaftig auch alle die tausend Schützen und tausend und abermals tausend anderen Leuten nicht, die täglich und stündlich unter ihm her durch das Thor hin und her gehen. Sie haben bei seinem Anblick Alle nur einen Gedanken, und den rufen Tausende beim Vorübergehen in lautem, begeistertem Gruße ihm zu: „Hurrah, Schützenvater Tell! Noch heute ist der Schweizer Schütze muthig und daher auch frei wie Du!“
Ja, Mythe oder nicht Mythe, ein Mann des Volkes ist der Tell nun einmal, und wohl dem Volke, das einen Tell hat und ein dankbares Gedächtniß für ihn bewahrt!
Wir durchschreiten das Thor, und treten in die Seefeldsstraße ein. Der Schmuck der Flaggen, der Fahnen, der Blumen und des Laubes überbietet hier fast den in der Stadt. Er erhöht doppelt den Reiz aller der anmuthigen Landhäuser und Gärten zu beiden Seiten der Straße. Unter ihm reihet vor Gärten und Häusern sich Bude an Bude an einander, von dem einen Ende der langen Straße bis zu dem anderen. Man ist wie auf der lebendigsten Kirchmesse, die nur je in Westphalen oder am Rheine gefeiert worden ist. In anderen Gegenden Deutschlands haben sie Jahrmärkte, aber die sind nichts gegen unsere großen Kirchmessen.
Auch Seiltänzerbuden sind da und „Arenen“ und ein Circus, und Puppentheater und Caroussels und ungeheure Zelte mit wilden Thieren, und Geschrei der Menschen, die Einen in die Buden und Zelte hereinrufen wollen, und Musik und Trommeln und Gekreisch der fremden Raben und Papageien, und Geheul der Bären, Tiger und Löwen. Und ein Gewühl von Menschen und Wagen, daß man, trotz der größten Ordnung, die man in einem solchen Gewühl sich nur zu denken vermag, nur mit Mühe vorwärts kommt. So gelangen wir zur Festhütte. Gleichviel, zu welcher Tageszeit. Sie ist immer gefüllt, von acht Uhr Morgens an bis lange nach Mitternacht hin. Und wie die Hütte, sind es alle Räume um sie her. Nur auf dem Schießstande hört des Abends mit dem Glockenschlage acht das Leben auf. Ein einzelner Kanonenschuß verkündet das Ende des Schießens, wie er am Morgen um acht den Anfang anzeigt.
Aber ich muß Ihnen doch wenigstens mit einigen Zügen das Leben eines ganzen Tages auf diesem Festplatze beschreiben.
Um acht Uhr Morgens, wie gesagt, beginnt es.
Zeiger und Warner sind schon auf ihren Plätzen bei Scheibe und Schießstand. Mitglieder der verschiedenen Comité’s finden sich mehr und mehr ein, um zu wahren, daß Alles in Ordnung sei. Die ungeduldigen Schützen waren schon lange da, harrend des Signalschusses. Zuschauer strömen von allen Seiten herbei. Der Signalschuß ertönt. Im Augenblick nachher knattern sechsundneunzig Büchsen in der langen Reihe der Schießstände, Schuß auf Schuß, und Schlag auf Schlag schlagen da hinten die Kugeln in die Scheiben hinein. Und wie das einmal angefangen hat, hört es keine Minute auf, bis um zwölf Uhr ein Kanonenschuß zum Mittagessen in die Festhütte ruft. Gegen zehn Uhr, oft noch früher, entsteht unterdeß anderes Leben. Die ersten Dampfschiffe, die ersten Züge der Eisenbahnen sind in der Stadt eingetroffen. Sie haben neue Gäste gebracht, Schützenvereine aus allen Theilen und Gegenden, aus allen Bergen und Thälern der Schweiz. Sie haben am Landungsplatze oder auf dem Bahnhof sich geordnet. Jede „mit flatternder Fahne anrückende Schützengesellschaft“ wird mit drei Kanonenschüssen salutirt, von Festführern des Comités abgeholt und zu dem Schützenplatze geleitet. Musik begleitet sie durch die Stadt bis dahin. Dort werden sie an den Gabentempel geführt. Das ganze Empfangscomité ist da schon versammelt; Mitglieder anderer Comités, Schützen in Menge, andere Zuschauer noch mehr haben sich angeschlossen. Die Ankommenden führen sich mit einer Begrüßungsrede ihres Anführers ein. Ein Mitglied des Empfangscomités beantwortet die Rede. Dann wird den Ankommenden „der Ehrenwein kredenzt“. Dabei wird die mitgebrachte Fahne übergeben und den Fahnen, die schon von dem Thurme des Gabentempels herabwehen, hinzugefügt.
Ueber hundert solcher Fahnen hingen während des Festes von dem Thurme herunter, in allen Farben der verschiedenen Schweizerkantone; von deutschen Fahnen waren namentlich die der Bremer und später der Stuttgarter darunter. Diese war von einer königlichen, oder gar kaiserlichen Prinzessin geschenkt, der Kronprinzessin Olga von Württemberg. Die eidgenössische Schützenfahne flatterte dennoch als die Königin von Allen da oben auf dem Thurme.
Dem Empfang der ankommenden Schützengesellschaften ist auch die Entlassung der abziehenden gleich. Die Fahne wird ihnen mit einigen kurzen Worten zurückgegeben; der Abschiedstrunk wird ihnen gereicht; dann werden sie mit Musik zurückbegleitet.
Die Schützengesellschaften waren aus zweiundzwanzig Kantonen da. Wie viele aus jedem! Zwar kamen sehr viele, die meisten, jedesmal kantonsweise an, und so verabschiedeten sie sich auch wieder. Dennoch war während des ganzen Festes den ganzen Tag über Zu- und Abgang, in den ersten Tagen jener, in den letzteren dieser vorherrschend. Namentlich die Ankommenden hielten dabei manchmal lange Reden; die Antwort durfte dann nicht immer eine kurze sein. Die Mitglieder des Empfangscomités hatten saure Redetage.
Die Ersten, die ankamen, waren die Neuenburger; sie wurden mit dem lebhaftesten Enthusiasmus begrüßt. Die Ersten, die abgingen, waren unsere Bremer Landsleute; sie verließen am Mittwoch, 6. Juli, das Fest. Ihr Abschied war ein rührender, ergreifender. Der Präsident Dubs sprach zu ihnen: „Eure Fahne geben wir nur ungern heraus, denn wir hatten gewünscht, daß Ihr Alle bis an das Ende des Festes geblieben. Wir sind einander im Herzen nahe gekommen; die Liebe macht nicht viele Worte, aber Ihr habt es gespürt, daß Ihr uns Allen unvergeßlich theuer seid. – Ihr verseht die Wache an der Nordsee, wie wir an den Alpen; möge unsere Verbrüderung in Freundschaft und Freiheit ewig bestehen!“ Am Tage vorher hatte man ihnen noch „den Zürichersee gezeigt“. Das soll eine wundervolle Fahrt gewesen sein, an den beiden Ufern des Sees entlang, an allen den schönsten, reizendsten Landungsplätzen der Welt, unter der freudigsten Begrüßung aller der Uferbewohner.
Einer der Glanzpunkte des Festes war der Empfang der Schützen-Vereine der Vierwaldstätte, Luzern, Schwyz, Uri und Unterwalden. Sie langten ebenfalls am 6. an, noch vor dem Abgange der Bremer. Es waren ihrer an siebenhundert Schützen. Ihnen voran schritten vier „Kernmannen“, gekleidet in die alte Landestracht nach ihren Landesfarben; sie trugen die alten „Harsthörner“, die schon vor einem halben Tausend von Jahren ihre Väter in die Schlacht gerufen hatten. Die alten Schlachtbanner folgten. Der Zug der stattlichen Urschweizer, alle Kernmannen, schloß sich an. So zogen sie durch die Stadt, die Seefeldstraße entlang, zu dem Schießplatze. Halb Zürich geleitete sie; ein ungeheurer Jubel umwogte sie. Er wollte schon nicht enden, als sie an der Ehrenpforte am Eingange der Seefeldstraße hoch oben ihren Schützenvater Tell erblickten. Dieser Zug und der Empfang, den sie auf dem Festplatze erhielten, verdiente eine besondere Beschreibung.
Wir kehren zu dem Festplatze zurück. Es ist Mittag geworden. Ein Kanonenschuß verkündet den Beginn des Mittagsessens. Das Knattern der Büchsen hört auf. Die Schützen eilen von den Schießständen und allen anderen Seiten her in die Festhütte. Ich glaube, es sind an anderthalbhundert lange Tische, die dort gedeckt sind. Sechstausend Menschen haben Platz daran. Wer keinen Platz mehr findet, muß weiter wandern zu den zahlreichen Restaurationen in der Nachbarschaft, zu den Gasthöfen und Speisehäusern in der Stadt. An Einem Tage mußten an viertausend Menschen vor den Tischen der Festhütte umkehren.
Wie die Zahl der Gäste, so sind Hunger und besonders in der Hitze Durst groß. Die Wirthschaft des Festes hat dennoch vom Anfang bis zu Ende nur Anerkennung und Lob eingeerntet. Schon am vierten Tage waren zwar die ursprünglich für das ganze Fest berechneten Trinkvorräthe aufgezehrt, so wurde – getrunken. Aber der Mangel war ersetzt, bevor die Trinker ihn gewahr werden konnten. Aber wie groß Hunger und Durst sind, der Begeisterung des Festes können sie keinen Eintrag thun. Jedes Mittagsmahl wird von Toasten belebt. Persönliche Toaste sind ein- für alle- mal ausgeschlossen. Nur des Vaterlandes, der einzelnen verbundenen [476] Nationalitäten und Kantone, der gemeinsamen Interessen, der auch für die Schweiz ernsten Lage der Zeit, großer geschichtlicher Ereignisse, der durch sie errungenen Freiheit des Volkes und Landes, der darin liegenden Kraft und Stärke des Landes und der dadurch gegebenen großen Bürgschaft für die Zukunft, nur solcher Dinge und aller solcher großen Dinge wird gedacht, mit beredten Worten und in allen jenen drei Sprachen, die hier eidgenössisch verbunden sind, in der deutschen, französischen, italienischen, bunt durcheinander, und doch so einig durcheinander.
So sitzen die drei Landsmannschaften auch an der Tafel durcheinander. Für jeden Kanton stehen in der weiten Halle die Tische beisammen. Tafeln an weißen Stangen enthalten die Namen. Da sitzt Waadt bei Zürich, Freiburg bei Solothurn, Genf bei Basel, Wallis bei Zug, Tessin bei Bern, Chur bei Luzern, und so weiter. Alle unterhalten sich lustig und fröhlich in den drei verschiedenen Zungen. In der Mitte der Halle, an den Tischen der Comités und der Ehrengäste, sitzen sie erst recht bunt und dicht durcheinander.
Mit dem Glockenschlage Eins beginnt wieder das Schießen.
Die Toaste dauern unterdeß noch lange fort, das Geknatter der Büchsen nebenan hindert sie nicht.
Das Schießen dauert bis acht Uhr Abends, Dann beginnt in der Halle das bunteste Leben des Zechens und Trinkens und Jubelns, unter den sechshundert hellen Gasflammen, hinter Tausenden von Flaschen vaterländischen und fremden Weins. Die Mitternacht vermag noch nicht, es zur Ruhe zu bringen. Und um acht Uhr des andern Morgens ist das fröhliche Schützenleben schon wieder da. – Es hatte auch Episoden, dieses Leben.
Am zweiten Festtage tagten die Schützen, um ernst ihre Vereinsangelegenheiten zu besprechen.
Am Sonntage, den 10. Juli, wurde auf dem weiten Platze ein feierlicher, erhebender Gottesdienst gehalten.
An einem Tage kamen die gerade in Bern tagenden Ständeräthe, am andern die Nationalräthe zu dem Feste herüber. An einem andern Tage war eine verbannte – Fürstin mit ihren Kindern da, die Herzogin von Parma, die sich in dem benachbarten Pappenschwyl aufhält. Sie war sogar zweimal da. Das zweite Mal nahm sie an dem Schützenessen in der Hütte Theil, und sie und ihre Prinzen saßen auf den harten hölzernen Bänken nicht besser und nicht schlechter, wie alle die Schweizer Bürger und Bauern und Hirten um sie her. Und mit welchen Gefühlen? „Ach,“ sagte sie unter Thränen, „die Schweizer wissen nicht, wie glücklich sie sind!“
Auch die Fürsten – Doch sie ist eine unglückliche Frau, kein Wort weiter.
Eine andere Episode dafür. Ein schönes Gedicht von Georg Herwegh, gedichtet für das Fest, mit Enthusiasmus verbreitet in Tausenden von Exemplaren, von Hand zu Hand, von Mund zu Mund wandernd:
Wetterumzogen brausen die Wogen;
Aber die Sterne, sie sind Dir gewogen!
Steure, Du Schweizer, im Völkerorkan
Ruhig, wie Tell ihn gesteuert, den Kahn.
Tapfere Schützen werden sie schützen;
Kräftige Stutzen werden sie stützen,
Sichere Hand und sicherer Blick
Werden behüten die Republik.
Einstens vor Schergen tief in den Bergen
Kam sie die heilige Quelle zu bergen,
Trüben sie draußen die Rhone, den Rhein –
Quelle, bleib’ helle! der Strom wird rein,
Quelle, bleib’ helle! schneeschimmernde Wälle,
Sendet herunter die läuternde Welle!
Sendet, an ewigem Glanz so reich,
Klarheit hinaus ins verworrene Reich!
Fort mit den kranken, den Todesgedanken!
Heiter den Himmlischen wollen wir danken:
Säulen der Freiheit, ihr steht noch fest!
Sonne der Freiheit, verkläre dies Fest!
Liebend umschlossen alle die Sprossen
Halte am Stamme der Eidesgenossen!
Segne sie alle, die Männer in Wehr,
Die von den Alpen und die vom Meer!
Segne, die ringen und muthig sich schwingen!
Ringende Geister und Herzen mit Schwingen!
Segne das Spiel und den friedlichen Schuß,
Blitzende Sonne des Julius!
Doch wenn die alten, die finstern Gewalten
Kommen, hier oben im Lichte zu walten –
Treffer im Himmel, zu unserm Heil
Lenke die Kugel, wie einst den Pfeil!
Am Dienstag den 12. Abends mit dem Glockenschlag acht fiel der letzte Schuß des diesjährigen eidgenössischen Schützenfestes.
Am folgenden Tage wurden die Preise vertheilt. Die Feierlichkeit fand am Gabentempel statt, Der Präsident Dubs eröffnete sie: „Wir sind zum Schlußacte gelangt, und schreiten zur Vertheilung der Ehrengaben an die besten Schützen, die sowohl ihre Kunst wie das Glück begünstigt hat. Wir haben eine Menge liebe Erinnerungen an dieser Stätte, wir befinden uns jetzt gleichsam wie im Kreis der Familie; aber der Act, der noch folgt, soll doch hoffentlich einem jeden Schützen zum Sporn dienen, die Waffe zu pflegen und zu üben. Ich bin überzeugt, daß alle die Schützen, die die Mitte der Scheibe getroffen, auch die Brust des Feindes treffen werden, wenn Tage der Noth und Gefahr kommen sollten.“ Den ersten Preis, die silberne Schale von Paris mit 2500 Franken, hat ein Fabrikant, Durrer aus Unterwalden, gewonnen; das prachtvolle Trinkhorn von Leipzig ein Landwirth Glogg von Obermeilen am Zürichersee; die zwölf herrlichen Römer von Bremen gemeinschaftlich der Privatdocent Dr. Hug (Mathematiker) an der Universität Zürich und der berühmteste Schweizer Schütze Bär von Männedorf, gleichfalls am Zürichersee. Derselbe Bär hatte auch die meisten Nummern geschossen, 487; nach ihm hatte die meisten Jacob Sturzenocker aus Trogen (in Appenzell-Außerrhoden), nämlich 388. –
Das Fest schloß spät am gestrigen Abend mit einem Ständchen, das Schützen dem Präsidenten des Festes, dem Regierungspräsidenten Dubs, vor seiner einfachen stillen Wohnung brachten. Es war ein herzlicher Dank dem braven Manne. Die Harmonie hatte das Fest eingeleitet, sie hatte es begleitet, sie schloß es. Wie keine Wolke am Himmel das Fest trübte, so trübte es auch kein Exceß, keine Rohheit; man sah aber auch keinen Gensd’armen und keinen Polizeidiener.
Das Fest war vorbei. In der Straße war es still. An dem klaren Nachthimmel glänzten seine Millionen Sterne.
„Es ist Friede!“
Da brüllte – wir standen an einer jener Buden mit den wilden Thieren – da brüllte plötzlich neben uns wild und rauh ein afrikanischer Löwe; ein Tiger antwortete ihm rauher; ein Schakal bellte heiser dazwischen. Sie brüllten und heulten und bellten in die dunkle Nacht und in den neuen Frieden hinein, Alle die wilden, fremden Bestien! –
Oben aber funkelten und glänzten alle die Millionen Sterne am Himmel, und über den Sternen thront der Gott der Völker.
Viele Leser der Gartenlaube haben wohl schon öfters den Namen „Oybin“ nennen hören, sehr Wenige aber ihn selbst besucht. Und doch gehört der „Oybin“ zu einem der interessantesten und amnuthigsten Aussichtspunkte, die unser schönes Vaterland besitzt, und ist mehr als viele anderen lautausposaunten Ruinen und Bergpartien des Besuches werth.
Der Oybin, ein Bergfelsen im südlichsten Theile der sächsischen Oberlausitz, zwei kleine Stündchen von Zittau, ist schon seiner Formation nach ein Naturwunder und wird noch interessanter durch seine prachtvollen Ruinen, die seinen Kegel schmücken. In einem amphitheatralisch von höhern felsigen Bergen eingeschlossenen Thale erhebt sich von drei Seiten ganz freistehend, auf der vierten nur durch einen schmalen Rücken mit dem nahen Gebirge verbunden, dieser Felsen in glockenartiger oder kolbiger Kegelgestalt 1697 Fuß über die Meeresfläche, zusammengethürmt aus ungeheuren Sandsteinmassen, theils zackig, theils abgerundet und mit Nadelholz schattirt. Südwestlich sind die verschiedenen Terrassen durch Treppen in mancherlei Biegungen zugänglich, und von der Gipfelebene, zu welcher zuletzt wieder eine ziemlich hohe Treppe führt, [478] genießt man eine prachtvolle Aussicht in das romantische Thal und über Zittau hinaus in die Gegend von Görlitz.
Von überraschender Wirkung sind die auf dem Haupte des Felsens prangenden malerischen Ruinen des alten Raubschlosses und des Klosters, die mit zu den großartigsten gehören, welche Mittel- und Norddeutschland aufzuweisen haben. Namentlich zeichnen sich die Kloster-Ruinen durch die Herrlichkeit echtdeutscher Architektur, durch Kühnheit in den freigeschwungenen Bogen und durch Schönheit der noch hier und da zu bemerkenden Kreuz- und Rosenverzierungen aus.
Vor dem Jahre 1200 war der Oybin mit seiner ganzen Umgebung ein wüster, wilder Waldberg. Fast 56 Jahre später fand ein Jäger des Chval von Leippa, Oywin, daher der Name des Berges, bei Verfolgung eines Bären, den er jagte, den Felsen und veranlaßte seinen Herrn, dort eine kleine Burg zu erbauen, deren ursprünglicher Zweck wohl kein anderer gewesen ist, als zur Erquickung und Bewirthung der Jäger zu dienen.
Bereits 1280 aber setzten sich die vom Burgberge vor Zittau hier fest und plünderten die Kaufleute, welche auf der damals zwischen den Oybiner und Jonsdorfer Bergen hinlaufenden Straße Handel trieben.
Die Zittauer Bürger, des Unwesens müde, zogen mit gewaffnet Hand aus und zerstörten die Burg, die zweifelsohne damals von Holz war, ohne großen Widerstand. Eine lange Zeit, die Chronik sagt 30 Jahre, stand der Berg leer; 1312 aber bauten die Herrn von Leippa ein neues steinernes Gebäude dahin und fingen das Räuberhandwerk von Neuem an, ärger als früher, so daß Fuhrleute und Reisende durch Bedeckung geleitet werden mußten, bis endlich 1349 Karl IV. das Raubschloß eroberte und zerstörte. Jedenfalls hat er noch vor Gründung des Klosters sich das Schloß auf dem südlichen Gipfel des Berges, dessen Trümmer noch zu sehen sind, erbaut, denn 1360, meldet die Chronik, hatten die Herwigsdorfer Bauern Holzfuhren zu thun, und noch heute bezeichnet die Burgstraße einen Weg zwischen Oybin und Herwigsdorf. Das Cölestiner-Kloster wurde 1369 gestiftet. Seinen Bau leitete des Kaisers Hofbaumeister, Peter Arler von Gemünd, dessen Bild auf der Domgallerie in Prag hängen soll.
Die prächtige Kirche wurde am 6. November 1384 durch den Erzbischof und Reichskanzler Johann von Jenzenstein eingeweiht. Von nun an wuchs die Besitzung des Klosters. Andächtige aus Zittau vermachten oft ihre ganze Habe, so 1394 Margaretha Gresser und Andere.
Im Hussitenkriege wurde das Kloster 1420 und 1429 bedroht, aber nicht erobert, wohl aber sein Besitzthum so arg verwüstet, daß der Wohlstand je mehr und mehr sank, bis die Reformation des Klosters Ende herbeiführte. Karl V. veräußerte 1544 die Kleinodien desselben. Die wenigen Mönche bezogen ein Jahr darauf das früher erkaufte Haus in der Stadt, den Väterhof, und 1574 brachte der Stadtrath den Oybin sammt allen dazu gehörigen Gütern käuflich an sich.
Am 24. März 1577 schlug bei einem entsetzlichen Gewitter der Blitz in die leeren Klostergebäude, die Pulverkammer der Burg fing Feuer, und nach achttägigem Brande war der schöne Bau in eine Ruine verwandelt, an der ein unweit der Kirche 1681 vorgekommener Felseneinsturz noch mehr Verwüstungen anrichtete.
Was die Stätte an Holz, Eisen, Blei, Kupfer noch darbot, ward von den herumstreifenden Horden im 30jährigen Kriege geraubt. Einzelne Bewohner der Stadt besitzen noch Alterthümer, unter denen die Stücke von alten Oefen merkwürdig sind, weil sie die Kleidertracht von 1500 in den Bildnissen aufbewahren.
In dem Kriegsjahre 1813 suchten die Landleute in den Klüften des Oybin Schutz für sich und ihr Eigenthum.
Die Prairien.
Tief gerührt von dem Liede, das ich gesungen, wiederholte Ella leise und ich begleitete:
„Küsset Dir ein Blümelein
Augen oder Hände,
Denke, daß es Grüße sein,
Die ich zu Dir sende!“
„Harry, auch Ihr sollt das denken! Willst Du, Harry?“ sagte sie.
Harry küßte sie auf die Stirn und sagte: „Gewiß, Ella, Du weißt, wie ich Dich liebe!“
„Und nun schlaft aus und bleibt nicht lange!“ setzte sie scherzhaft hinzu. „Seid Ihr erst in den Jagdgründen, vergeßt Ihr leicht das Wiederkehren. Ich sähe selbst gern die Prairie!“
„In die Prairien gehen wir?“ fragte ich erstaunt.
„Nun, wohin denn sonst?“ fragte lachend Ella.
„Ich dachte –“
„Er dachte, wir machten eine kleine Jagdpartie in die Umgebung!“ fiel laut lachend Harry ein. „Das mußt Du den Deutschen nicht übel nehmen,“ fuhr er fort, als Ella ein klein wenig schnippisch mich ansah.
Ich fühlte mich sehr beschämt durch diese Auseinandersetzung. Welche Thränen würde eine solche Reise in Deutschland gekostet haben! Aber hier, wo „drüben“, d. i. in Europa, ein gewöhnliches Wort ist, wo Reisen nach China und Japan nichts Ungewöhnliches sind, kann eine Reise nach dem Westen kaum als etwas Anderes, als eine größere Vergnügungsreise angesehen werden – wenn es überhaupt in Amerika Vergnügungsreisen gibt.
Das sollte ich bald erfahren.
Wir fuhren beide allein ohne irgendwelche Bedienung. Aber welche ausgebreitete Verbindungen Harry unterhielt, davon bekam ich bald eine Idee. Wir fuhren ununterbrochen, aber in jeder bedeutenden Station erwarteten Agenten schon die Ankunft ihres Chefs. Der Telegraph ertheilte Befehle. Bald war unser Coupé ein Berathungszimmer, in dem die weitreichendsten Unternehmungen besprochen wurden, bald verwandelte es sich in ein Cassenlocal, in dem große Rechnungsabnahme war. Es kamen auch verschmitzte Gesichter zum Vorschein, die da glaubten, den jugendlichen Chef hinter das Licht führen zu können. Aber an Harry fanden sie den echten Vollblut-Yankee. Und mit wie wenig Material arbeitete er! Sein kleines Notizbuch im Querformat bildete den ganzen Apparat.
Auch ich mußte einige Geschäfte nach seinen Instructionen ausrichten, und ich sah, daß ich zu brauchen war. Ein Trost für mich! Bei diesen Gelegenheiten machte ich wiederholt die Erfahrung, welchen Einfluß der bloße Name Harry auf die Leute ausübte. Nirgends eine sichtbare Devotion, überall nur ein Rücken des Huts, nur ein Händeschütteln, aber es war mir, als könnte die Locomotive ohne uns nicht fortbrausen, als müßte sie auf uns sogar warten. Die Directoren der Bahn kamen zu uns in das Coupé; es wurde über neue Bahnen verhandelt, der Gewinn der gebauten überschlagen. In meinem Coupé saß eine von den Triebfedern dieser furchtbaren Maschine, Vereinigte Staaten genannt.
Es war eine saure, arbeitsvolle Zeit für mich. Nicht, daß ich zu viel zu thun hatte, aber ich konnte schwer verarbeiten, was ich erlebte. Wir brausten den Mississippi hinab. Auch auf dem Dampfboote dasselbe Spiel. Ja, weil wir nicht nach New-Orleans hinunter wollten, brachte uns fast jedes heraufkommende Dampfschiff andere Geschäftsfreunde.
Harry arbeitete mit einer bewundernswürdigen Leichtigkeit, und ich war ordentlich froh, daß ich einige Aufträge zu seiner Zufriedenheit ausgerichtet hatte. Er kam mir vor wie ein Feldherr, und ich fühlte mich als sein Adjutant.
Endlich langten wir an der Grenze der Civilisation an. Wir waren von Fort Smith in Arkansas nach Fort Gibson befördert, und nun im Gebiete der Indianer – auf den Prairien.
In gerader Linie hatten wir einen Weg von 275 geogr. Meilen oder 1250 engl. Meilen oder 1900 Werste zurückgelegt, ungefähr die Entfernung von Paris nach Petersburg. Erwähnen muß ich noch, daß wir den Sonntag ruheten, und Harry fand bei seiner riesigen Geschäftigkeit dennoch täglich Zeit, in seiner Bibel einige Capitel zu lesen.
[479] In wenigen Tagen war ich an die Grenzen der Civilisation geschleudert, das erkannte ich an Fort Gibson. Diese kleine Festung liegt am Arkansas auf einer kleinen Halbinsel, die auf der andern Seite von einem Zuflusse des Arkansas bespült wird. Sie liegt im Gebiete der Criks, schon im Lande der Indianer. Erdwälle und Pallisaden sind ihre Befestigungen; nur wenige Gebäude im Innern sind von Stein. Ich sah hier die ersten Indianer. Criks, Choctaws, Panis und Osagen waren hier erschienen und hatten ihre gesonderten Lager vor dem Fort aufgeschlagen. Unterhändler der Indian-Company waren im Fort versammelt, und auch eine Anzahl Pioniere hatten die Besatzung des Forts verstärkt. Aber auch diese durften nur unbewaffnet, wie die Indianer, das Fort betreten. Sie hatten nur den Vorzug, daß sie ihr Lager unmittelbar am Thore aufschlagen durften.
Auch in dieser Einöde galt Harry’s Namen, und die Indianer betrachteten uns als zwei große Häuptlinge, als sie sahen, daß die Besatzung des Forts, noch mehr die Agenten der Compagnie, die sie höher schätzten, als den Befehlshaber der Soldaten, und deren Untergebene – das waren die wilden Pioniere – uns mit Respect behandelten. Die stolzen Häuptlinge der Osagen kamen zu uns und luden uns ein, sie zu besuchen.
Es war eine gefährliche Zeit. Die Comanches hatten ihre Streifereien bis über den Red-River ausgedehnt und die Panis überfallen. Der Commandant des Forts wollte die Indianer vereinigen, den gemeinsamen Feind zu bestrafen; er hatte die vorzüglichsten Jäger versammelt, um auch sie zu einem gemeinsamen Handeln zu vermögen. Drohend standen sich aber die Stämme, feindlich ihnen die Pioniere gegenüber. Alle alten Unbilden waren wieder aufgetaucht. Nur darin waren die Indianer einig, daß die Weißen aus ihren Jagdgründen vertrieben werden sollten; nur darin die Jäger, daß sie die Indianer verachteten. Harry nahm die Unterhandlungen in die Hand. Zuerst hörte der schändliche Zwischenhandel der Agenten auf. Diese hatten sich nicht gescheut, ihre Sonderinteressen durch heimliche Spendung des Feuerwassers zu unterstützen, und dadurch alle Leidenschaften entflammt. Diesem Unfuge ward durch Harry gesteuert. Nun ward bestimmt, daß die Panis voran gehen sollten, weil es die Vertheidigung ihres Landes galt, eine Abtheilung der Criks sollte ihnen zur Unterstützung dienen, Choctaws und Osagen wurden auf den rechten und linken Flügel gestellt, und ein Theil der Besatzung mit den Jägern bildete die Mitte. Man hoffte, den Comanches schon am Colorado zu begegnen, d. h. nicht dem texanischen, sondern dem Nebenflusse des Arkansas, der auch Canadian genannt wird.
Was sind die Prairien?
Prairien nennt man die großen Ebenen, die sich vom Red-River bis zu den Höhenzügen in Wisconsin und Iowa erstrecken. Nach den Felsengebirgen zu werden sie durch eine wüste Hochebene begrenzt, das Ozark-Gebirge trennt sie von dem Thale des Missisippi im Osten, während sie im Norden über den Missouri und Mississippi hinausgehen und nur von den unbedeutenden Höhen der Wasserscheide dieser beiden Ströme verhindert sind, sich in dem fernen Norden zu verlieren. Von unzähligen Flüssen und Flüßchen in tiefen Flußbetten durchströmt. hat die Ebene nur an deren Ufern Wald; sonst ist sie eine ungeheure Wiese – die Prairie! Sie läßt sich mit nichts vergleichen. Ueber 200 Meilen lang und an einigen Stellen ebenso breit, mit einem Flächenraume von 50,000 Quadratmeilen, von denen kaum die Hälfte erst zum Anbau in Angriff genommen ist, bietet sie einen Jagdgrund, wie kein zweiter existirt, hat sie eine Zukunft für Viehzucht, wie kein anderes Land auf der Welt. Am Kansas dringt die Civilisation schon in ihr Herz hinein.
Unsere Vorbereitungen waren bald beendet. Schon auf dem Dampfschiffe hatten wir zwei Hunde gekauft und bald an uns gewöhnt. Zwei prächtige Pferde erwarteten uns schon im Fort, und bis an die Zähne bewaffnet, zwei sechsläufige Revolver in den Satteltaschen, die Doppelbüchse auf der Schulter und das Bowiemesser an der Seite, nicht zu vergessen den Lasso am Sattelknopf, so ritten wir an einem trüben und regnerischen Morgen in die Prairie. Ein wettergebräunter Pionier war unser Begleiter. Ihn hatte Harry sich ausgesucht.
Ich hatte seit Jahren auf keinem Pferde gesessen, deshalb hatte ich alle Mühe, mich auf meinem feurigen Fuchs zu erhalten. Harry hatte mich mißtrauisch angesehen. Er selbst saß auf dem Pferde wie angewachsen, eine schöne, ritterliche Gestalt. „Hilf dir selbst!“ ist der amerikanische Wahlspruch; und so hatte er mich auch mir selbst überlassen. Es ging auch bald besser. Auf unseren Weg hatte ich nicht geachtet. Wir hatten schon einen kleinen Fluß durchschwommen, da hielten wir gegen Mittag an einem großen Strome. Die Sonne schien uns entgegen, wenn sie auf Augenblicke die Wolken durchbrach, und ich hätte daraus schließen können, daß wir gen Süden uns gewandt hatten, aber ich war nur immer mit meinem Pferde beschäftigt.
„Wir müssen hinüber!“ sagte Harry zu mir.
„Was? – Hier hinüber?“ rief ich erstaunt.
Harry verstand meinen Schreck und sagte lächelnd: „Nun, Willy, es wird schon gehen!“ Zum ersten Male nannte er mich beim Vornamen. „Wird’s gehen?“ wandte er sich zu dem Jäger.
„Hm, sollt’s meinen,“ erwiderte dieser, „aber so nicht.“ Er sprang vom Pferde; wir thaten dasselbe und banden die Pferde an. Ben, so hieß unser Führer, abgekürzt für Benjamin, ging am Ufer entlang und kam bald mit einem kleinen Kanoe angerudert. Wir legten unseren Pulvervorrath und die Waffen hinein, und ich erbot mich, hinüberzurudern, konnte aber froh sein, daß mein Anerbieten von dem vorsichtigen Ben nicht angenommen wurde, denn diese Art zu rudern wäre mir gewiß nicht gelungen, der ich höchstens einen Kahn über die Elbe oder den Rhein gerudert hatte.
Ben setzte mich an das andere Ufer, dann fuhr er wieder hinüber.
Ein furchtbares Gefühl der Verlassenheit überkam mich, als ich so allein am Ufer stand. Noch fiel der Regen. Ich konnte kaum das andere Ufer sehen – nichts von Harry. Wenn ihnen ein Unglück zustieße – ich konnte ihnen nicht helfen – was sollte aus mir werden? So ganz allein in dieser lautlosen, wilden Einöde – zwar nur auf Minuten, aber die Minuten dehnten sich zu einer halben Stunde, einer Stunde. Ich wollte rufen und konnte nicht – mit meinen Augen suchte ich den Nebelschleier zu durchbohren. Endlich, endlich sah ich einen Pferdekopf – ein leeres Pferd kämpfte mit den Flusse. Mein Gott, was war das? Ich sah nichts, ich hörte nichts, nur das Pferd sah ich ringen und kämpfen, bis es meinen Augen entschwand, Ob ich besinnungslos niedergefallen, weiß ich nicht; aus meiner Betäubung riß mich Harry’s Stimme. Rücksichtslos drang ich durch das Gebüsch auf ihn zu, fiel ihm um den Hals, weinte wie ein Kind und konnte vor Schluchzen nur rufen: „Harry, Harry!“
Er mußte ganz überrascht sein.
„Was ist Dir?“ fragte er deutsch. „Beruhige Dich doch! Was ist Dir begegnet? Sprich, Willy!“
Nun erst fand ich Worte, ihm meine Gefühle zu schildern, die Angst und Sorge um ihn und mich vorher – dieses Gefühl der Einsamkeit, dann der Anblick des kämpfenden Pferdes.
Harry hörte mich ruhig an und sagte dann milde: „Das ist der erste Gruß der Prairie. Danke ihr, sie hat Dein Herz geöffnet!“
Ich hatte mein Pferd gesehen, das, am Lasso befestigt, zuerst in das Wasser getrieben und instinctmäßig dem Ufer zugeschwommen war. Harry und Ben waren nebeneinander durch den Fluß geschwommen, sich gegenseitig unterstützend. Wir setzten uns wieder zu Pferde und waren bald im hohen Grase. Erst gegen Abend machten wir in einem kleinen Thale Rast. Ich war so angegriffen, daß ich kaum etwas aß, und mich dann in meine Decke wickelte und einschlief.
In der Regel stürzt hier der Regen nur in Strömen herab, oft gepeitscht vom wüthenden Orkan, der sich bis zum Hurikan steigert, dieser furchtbare Sturm, der über die Prairie rast, und vor dessen Toben die Wälder wie Halme zerknicken. Wir kamen an Stellen, wo der Hurikan die Bäume umgeworfen hatte, daß es aussah, als sei ein Weg durch den Wald gehauen. Wir hatten nur einen leichtem sanften Regen auszuhalten, der uns aber doch ganz durchnäßt hatte.
Ich erwachte am Morgen, als schon das Frühstück bereit war. Mir war durchaus nicht behaglich zu Muthe. Wir saßen bald wieder zu Pferde, und als wir die Höhe des Thales erreicht hatten, lag vor uns die Prairie in ihrer ganzen Schöne. Im Thale wogte noch der Nebel; auf der Prairie lag die Gluth der Sonne. Tausend und aber tausend Thautropfen spiegelten uns das Bild der Sonne; der Nebel war hier gefallen, sie waren die Siegeszeichen. Bis an den Bug des Pferdes reichte das Gras und netzte uns bis an die Hüften, als wir im Galopp darüber hinsprengten. In der Ferne sahen wir Pferde weiden, bald darauf zeigte sich auch ein Trupp Büffel. Völker von Prairiehühnern jagten wir auf, [480] Prairiehunde sah ich nicht, obgleich unsere Hunde zuweilen Jagd auf sie machen wollten, doch machte ich mit ihren Wohnungen nähere Bekanntschaft, als ich machen wollte. – Ich saß schon besser zu Pferde, als am ersten Tage, aber doch nicht fest genug. Wir ritten an einer Colonie dieser Hunde vorbei, die sich in Erdlöchern ihre Wohnung sichern; mein Pferd trat durch, und ich lag im Grase. Glücklicherweise hatte weder mein Pferd, noch ich Schaden genommen. Lustig wieherte der Fuchs in die Prairie hinein, wurde aber bald eingefangen, und ich saß wieder im Sattel. Hinter uns her kläfften die Prairiehunde[3]. Ich aber sang: „Küsset Dir ein Blümelein!“
(Fortsetzung folgt.)
- ↑ Ueber diese Episode aus dem italienischen Kriege ist so viel Falsches und absichtlich Uebertriebenes durch die deutschen Zeitungen gelaufen, daß eine authentische Darstellung, wie wir sie in obiger Mittheilung geben, wohl nicht ohne Interesse sein dürfte. Unser Correspondent in Tessin hat sie nach den Berichten eines gebildeten österreichischen Unterofficiers zusammengestellt, der die ganze Affaire mitmachte. D. Redact.
- ↑ „Laveno“, nicht zu verwechseln mit dem am jenseitigen, piemontesischen Ufer des Lago maggiore gelegenen Oertchen Baveno, ist ein kleines, aber ziemlich gewerbreiches italienisches Städtchen am Ostgestade des genannten Sees, den prachtvollen Borromeischen Inseln beinahe gegenüber und selbst in einer bergumschlossenen reizenden Lage, mit einem im Frieden als Landungsplatz der österreichischen Seeschiffe dienenden Hafen und einigen Befestigungswerken,[470] welche durch die jüngstverflossenen Kriegsereignisse eine gewisse vorübergehende Bedeutung erlangten. Von drei Compagnien des österreichischen Infanterie-Regiments Erzherzog Karl nebst einer Abtheilung des Flottencorps (Schiffsmannschaft), zusammen beiläufig 650 Mann, besetzt und mit 28 Geschützen verschiedenen Kalibers ausgerüstet, beherrschen diese Festungswerke, nämlich zwei unbedeutende Forts und eine kleine, „Il Castello“ genannte Citadelle die Stadt und den Hafen, welch letzterer nunmehr den sowohl für den Personen- und Waarentransport als auch für den Kriegsgebrauch ausgerüsteten österreichischen Schiffen als improvisirter Kriegshafen Schutz und Deckung gewährte. Drei Dampfer und mehrere Barken bildeten die Flottille der Oesterreicher, wovon die Schiffe der „Benedek“ und der „Ticino“, jedes mit zwei Achtzehnpfündern bewaffnet, ganz gewöhnliche Dampfschiffe vorstellten, wie wir sie auf unseren Seen und Flüssen finden, während der „Radetzky“ von 100 Pferdekraft, mit Platz für 500 Mann Besatzung und mit sechs Geschützen schweren Kalibers ausgestattet, als prächtiges Kriegsfahrzeug stolz die Wogen des Langensees durchfurchte, und die unbewaffneten sardinischen Schiffe gleich aufgescheuchten Eulen vor sich hertrieb.
- ↑ Der Prairiehund ist ein merkwürdiges Thier. Doppelt so groß als ein Eichhörnchen, aber nur mit einem 3–4 Zoll langen Schwanze, lebt er in Gesellschaft. Ihre Städte bedecken oft den Raum von mehreren Quadratmeilen und sind wegen des unterwühlten Bodens fast unnahbar. Die Coquinto-Eule und die Klapperschlange bürgern sich in ihren Höhlen mit ein als geschworene Feinde.
Blätter und Blüthen.
Der letzte Liebesdienst. Durch einige Lichter auf dem Tische und ein großes, rothes, weit in das Zimmer wärmendes Kohlenfeuer im Kamin, aus welchem oft lustig brennende Stückchen sich lossprengten, hatten zwei Junggesellen, alte Freunde, in London, oben drei Treppen hoch eben einen Kampf gegen die traurige, triefige, dicknebelige Atmosphäre draußen und die schwermüthige, spleenige Dicke und Dunkelheit im Zimmer begonnen, aber Freund „Bob“, der sich als Arzt und Mitglied der wundärztlichen Gesellschaft Robert Evans schrieb, blieb ein Bild der Verzweiflung und des Jammers, welk, wackelig, mager, hager, mumienartig, schlotterig in den Knieen und zitterig in den Händen, ein Stückchen vertrocknete Anatomie, ein geisterhaftes Exemplar aus Schauer-Romanen und „Nachtseiten der Natur“.
Nach seiner Geburt waren erst 45 Jahre verflossen, aber er sah wie ein Fünfundsiebenziger aus. Sein noch vor kurzer Zeit rabenschwarzes Haar erinnerte jetzt an eine weiße Taube in ärgster Mauserung. Auch mit den Zähnen stand es schlecht, mit seinem Appetite, mit dem ganzen Menschen. Er wollte weder essen, noch trinken, noch rauchen. Er lachte über keinen Witz und antwortete nicht einmal auf direct an ihn gerichtete Fragen.
„Ich halt’s nicht mehr aus,“ rief endlich sein Freund. „Du bist entsetzlich, Bob. Gott, wenn ich an Dich denke, wie wir in der Schule und auf der Universität übersprudelten von Kraft, Feuer und Jugendlust, wie Du noch vor wenigen Monaten bis zu Deiner Affaire als Testamentsvollstrecker des Sir Reginald –“
„Georg,“ unterbrach ihn der plötzlich noch geisterhafter erblassende Freund mit hohler Feierlichkeit, „wenn Du mich je lieb hattest, wenn unsere lebenslängliche Freundschaft kein leerer Wahn sein soll, versprich mir beim Himmel und auf die Heiligkeit eines Freundeswortes, mir einmal eine letzte Liebe zu thun.“
„Alter Freund, wohl hundert, wohl tausend Beweise meiner Freundschaft will ich Dir geben,“ rief Georg, ergriffen von dem Elende und dem Seelenleiden des Freundes.
„Meine Bitte wird Dir kindisch erscheinen,“ fuhr dieser dumpf und kurzathmig fort, „kindisch, wie ich schon aus furchtbarer Erfahrung weiß, sodaß Du mir sie trotz Deiner Willigkeit abschlagen wirst; aber wenn ich Dir meine Gründe erzähle, meine entsetzlichen Leiden, die mich rasch dem Grabe zuführen – dem lebendigen – o Gott, es kommt wieder! – Ich ersticke! Luft! Luft! Hülfe! Hülfe! Ich sterbe! Man begrub mich lebendig. O! Luft! Luft!“
In einem Augenblicke hatte Freund Georg das Halstuch des Unglücklichen aufgerissen und ihn mit einem Guß kalten Wassers und Reibung etwas zu sich gebracht.
„Was ist das? Kann ich Dich allein lassen, während ich zu einem Arzt laufe?“
Er winkte mit der Hand leidenschaftlich, sich dies zu verbitten, und haschte eine Zeitlang nach Luft und Worten. „Es ist besser nun,“ sagte er endlich, „und ich will Dir nur Alles erzählen, die Gründe meines raschen Verfalls, meiner unsäglichen Leiden, meiner Bitte. Du weißt, vor einigen Monaten wurde ich zu Sir Reginald Cureton gerufen, um ihn in seiner letzten Krankheit zu behandeln. Erleichterung, kleine Eingriffe in den Proceß des Sterbens, in die Anfälle von abwechselndem Schmerz und Stumpfsinn – das war Alles, was ich thun konnte. Dann und wann fühlte er sich eine Zeitlang frei von Schmerz und konnte klar denken. Dies war aber keine Wohlthat für ihn; sein Gehirn bevölkerte sich mit scheußlichen Unholden seines Lebens, mit mißhandelten, ausgepfändeten, verhungerten Pächtern, ausgebeutetem Schweiße Anderer, mit Lastern und Grausamkeiten aller Art. Doch ich vergesse, daß er endlich todt ist – endlich –“ (er zitterte dabei und schauderte zusammen) „Genug, es war eine furchtbare Aufgabe, an diesem Todtenbette als Arzt zu stehen und zu wachen. Er fürchtete zwar das Leben nach dem Tode nicht, an welches er nie geglaubt, aber desto mehr den Tod, den Augenblick, in welchem sich dieses elende Leben für immer schließen sollte. „„Doctor,““ rief er eines Tages ganz grob und vornehm, wie früher in gesunden Tagen, „„man wird Ihnen nach meinem Tode eine gute Hand voll Banknoten zahlen, mehr, als Sie erwarten, hoff’ ich. Deshalb können Sie mir wohl auch einen Extra-Gefallen thun. Haben Sie von den Geschichten meiner Familie gehört, daß wir Cureton’s nie grade und ruhig zwischen den Bretern liegen geblieben seien?““ Er meinte die Sage, die von den Cureton’s im Umlaufe war, daß man allemal den zuletzt in der Familiengruft beigesetzten Cureton in oder mit dem Sarge umgekehrt und umgestürzt gefunden, wenn man sie wieder für einen Todten geöffnet habe. Das Geschlecht war immer unbeliebt, sodaß man an Bosheit von Feinden hätte denken können, wenn sich jemals eine Spur von gewaltsamem Einbrechen in die Familiengruft gezeigt hätte. Und die Schlüssel waren immer im Besitz des jeweiligen Hauptes der Familie.
„Habe davon gehört,“ sagte ich, „aber wer wird an solche Absurditäten glauben?“
„Es ist wahr, entsetzlich wahr,“ rief der Kranke grimmig gereizt und gequält; „als ich meinen Bruder begraben half, hab’ ich mit eigener Hand den Sarg meines Vaters, der umgestürzt stand, aufgerichtet. Ein alter Mann, der damals noch lebte, hatte dasselbe mit dem Sarge seines Vorfahren gethan. Nun merken Sie, ich habe nicht Lust zu kratzen und zu rumoren in der Nacht des Sarges, bis ich erstickt bin. Wollen Sie deshalb dafür sorgen, daß man mich im Sarge, ehe er geschlossen wird, gehörig mit ungelöschtem Kalk bedecke?“
„Gewöhnt an sonderbare Einfälle Sterbender fühlt’ ich mich nicht überrascht und versprach, natürlich seine Bitte zu erfüllen. Einige Tage nach diesem Gespräch starb Sir Reginald. Ich sprach sofort mit dem Todtengräber und gab ihm eine Fünfpfundnote, mit der Bitte, der Instruction des Verstorbenen hinsichtlich der Einkalkung Folge zu leisten. Mit ihm war die besitzende Familie ausgestorben, aber eine lange Reihe mir gänzlich unbekannter, erwartungsvoller „Seitenlinien“ folgte seinem Sarge. Ich selbst ward am Begräbnißtage zu einem entfernten, gefährlichen Kranken abgeholt, sodaß ich dem Leichenbegängniß nicht beiwohnen konnte, aber schon am Nachmittag kam ich zurück, um mit den Gerichten und Raben, die sich in jedem reichen Todtenhause einfinden, verschiedene Geschäfte zu schlichten und mich dann übermüdet in meinem Zimmer, das dicht neben der Capelle und Familiengruft war, schlafen zu legen. Ich schlief rasch und fest ein. Was konnte mich daher mitten in der Nacht aus meinem tiefen Schlafe geweckt haben? Warum saß ich vor Angstschweiß triefend in meinem Bett? Warum horchte ich grausend mit brausenden Ohren auf ein leises, dumpfes, unterirdisches Geräusch? Eine Ratte in der Holzwand? Es gab keine Ratten in den Hallen der Cureton’s. Und doch hörte ich deutlich Etwas kratzen und rumoren im Finstern, tappen und pochen im Dunkeln, rauschen, poltern unten in der Nacht dumpf, aber entschieden und in furchtbarer Qual. Die Worte des Verstorbenen durchzuckten mich, sobald ich das Geräusch vernahm. Höchstens nach 5 Minuten stürzte ich halb angekleidet zu dem Todtengräber, immer von dem entsetzlichen Gedanken gequält, was jetzt unten in der Gruft geschehen möge. Der Todtengräber, sonst ein derber Mensch, erschrak zur Todtenblässe über mein Aussehen.
„Auf, auf! Lügner, Betrüger!“ schrie ich ihm zu. „Den Augenblick zu dem Sarge des gestern Begrabenen, oder ich schlage Ihnen mit diesen Schlüsseln das Hirn entzwei. Sie haben ihn lebendig begraben.“
„Ich packte ihn beim Hemdkragen und hatte ihn im Augenblicke auf den Beinen. Er fuhr links in den Schlafrock und folgte mir mit klappernden Zähnen und Brecheisen, während ich ihn zog und zerrte. Der Mond schien hell auf das Thor des Grabgewölbes, aber ich brauchte in meiner zitternden Aufregung lange Zeit, den rechten Schlüssel zu finden. Endlich knarrten die schweren, eisernen Flügelthüren in den Angeln und das blasse, bläuliche Mondlicht brach sich in leichenfarbigem Glanze auf den silbernen Platten und Nägeln der Särge. Das kratzende und polternde Geräusch, das mich geweckt, hatte jetzt aufgehört, Alles war todtenstill; aber hinter der Eingangsthüre stand ein dunkeles Etwas, bei dessen Anblick der Todtengräber einen so entsetzlichen Schrei ausstieß, daß sich sofort viele Fenster des Reginald’schen Palastes mit Licht füllten und wir schnell Leute um uns bekamen. Der Sarg Sir Reginald’s stand vor uns ganz aufrecht. Als wir ihn öffneten, fanden wir die Leiche zerkratzt und verrenkt, im Gesicht dunkelblau und erhitzt, keine Spur von dem ungelöschten Kalke, um welchen es ihm im Sterben so ängstlich zu thun war. Ich weiß, was gesunder Menschenverstand und physiologische Kenntniß hier Alles vorbringen mögen. Reden wir nicht weiter von der entsetzlichen Thatsache, die mir seitdem meinen Schlaf, meine Gesundheit, vielleicht den größten Theil meines Lebens gekostet. Ich leide seitdem an Anfällen der Angst und einer Art Wahnsinn, während dessen ich selbst im Dunkeln zu kratzen und zu rascheln scheine, bis ich ersticke. Ich bin ruinirt durch diese häufigen Anfälle, die sich durch die steigende Furcht nicht vor dem Tode, aber wohl vor lebendiger Einsargung und Beerdigung oft bis zum Entsetzlichsten steigern. Bis jetzt hat mir noch Niemand diese letztere Qual abnehmen wollen. Jetzt wend’ ich mich an Deine Freundschaft. Willst Du mir, dem Gestorbenen, eine letzte Liebe erweisen?“
„Ich verspreche es Dir, liebster Freund, wenn ich irgend Etwas zur Erleichterung Deiner Leiden beitragen kann.“
„Nun denn, versprich mir, mir den Kopf abzuhauen, ehe ich beerdigt bin.“
So wie er das Versprechen für diese sonderbare That erhalten hatte, fing er an sich zu bessern. Aufenthalt am Meeresufer, das ihm manche lebendige Bereicherung seiner Aquarien lieferte, und einige Reisen stellten ihn so weit wieder her, daß die wahnsinnigen Erstickungsanfälle hypochondrischer Einbildung verschwanden und er wieder menschlich aussehen lernte. Einige Male hat er schon daran gedacht, ob nicht Alles, was er hier erzählt und was ihn so furchtbar quält, nur ein Schreckbild seiner Phantasie sei, aber er sucht diesen Gedanken selbst niederzudrücken und glaubt dann um so fester an jene furchtbare Nacht. Georg fürchtet aber doch, daß er vor ihm hinübergeht und ihm die letzte Liebe, die er ihm zu thun versprochen, nicht ersparen wird.