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Die Gartenlaube (1859)/Heft 34

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1859
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 34. 1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Lord Felix.
Eine Lebensskizze von Ernst Fritze.
(Schluß.)

Der Doctor sah ihn immer verwunderter an. Er begriff, daß im alten Papa Mettling mehr Verstand zurückgeblieben war, als man anzunehmen sich bewogen gefühlt hatte. Gespannt hing sein prüfender, scharfer Blick immerfort an den Augen und an dem Mienenspiele des alten Herrn.

„Zuerst eine Frage. Was halten Sie von der Person, die jetzt hier im Hause ist?“

„Von Lenchen?“ fragte der Doctor ahnungsvoll.

Der alte Mann lächelte wieder. „Ja, von der Helene!“ sprach er bedeutungsvoll.

Blitzschnell durchfuhr den jungen Mann der Gedanke, daß das Frauenzimmer den alten Herrn auch gekirrt habe, und zwar dem Anscheine nach mit äußerst günstigem Erfolge.

„Ein vortreffliches Mädchen!“ erklärte er diplomatisch verfahrend. „Wie ich höre, sind Sie sehr zufrieden mit ihr!“

„Wer hat Ihnen das gesagt? Felix etwa?“

„Mit Felix habe ich darüber zufällig noch nicht gesprochen. Ihr Bedienter sagte es mir.“

„Der Dummkopf!“ murmelte Herr Mettling. „Fräulein Helene – die ich beiläufig in Holzpantoffeln und zerrissenen Strümpfen sehr gut gekannt habe – scheint meinem Sohne mehr zu gefallen, als mir. Es hat heute beim Sonnenaufgänge darüber ein Unwetter gesetzt, und ich werde mich in Folge dessen von Felix trennen, weil er mir erklärt hat, meinem verrückten Eigensinne nicht die Behaglichkeit seines häuslichen Lebens opfern zu wollen.“

„O, Papachen – das hat er so böse nicht gemeint!“ warf der Doctor beschwichtigend ein.

Wieder flog das helle Lächeln eines ungetrübten Erkenntnißvermögens über die würdevollen Züge des alten Herrn.

„Ich meine es auch nicht böse mit ihm, liebster Doctor. Er ist ja mein einziges Kind! Aber ich weiß nicht, Doctor, ob Sie schon einmal im Leben mitten in einem dumpfen Dasein einen Lichtstrahl erblickt haben –“

Der Doctor erröthete und dachte an Adeline von Dahlhorst.

„Wo von diesem Lichtstrahle ein weiches Wohlgefühl, eine warme Freude am übrig gebliebenen Leben in Sie hineinströmte.“

Der Doctor lächelte resignirt.

„Ja? Haben Sie so etwas erlebt?“ fragte der alte Kaufherr lebhaft. „Nun, so wissen Sie, wie mir neulich zu Muthe wurde, als ein junges, schönes Mädchen mit liebreicher Herablassung, weil sie mich, wie alle meine Bekannten, kindisch glaubte, meine Unterhaltung suchte und mich liebevoll anzuregen strebte. Natürlich fand sie bald, daß ihre Bemühungen anerkannt wurden und daß sie es keineswegs mit einem geistesschwach gewordenen, sondern nur mit einem verdrießlichen und vernachlässigten Greise zu thun hatte. Sie goß Balsam in mein Herz, Doctor! Sie gab mir andere Medicamente, wie Ihr. Sie erkannte, daß Essen und Trinken nicht allein hinreichten, meine allerdings schwächer gewordene Geisteskraft zu befriedigen. Das lebhafte Plaudern dieses lieben, schönen Wesens tönte noch tagelang in meinem Kopfe nach, und ich bauete einen Plan auf die froh verlebte Stunde. Felix sollte dies Mädchen zur Gattin wählen! Ich ging zaghaft daran, seine Meinung über sie zu erforschen. Siehe da! Er war nichts weniger, als gleichgültig gegen diese Dame. Weiter dehnte ich meine Operationen nicht aus, denn sein Widerspruchsgeist darf nie geweckt werden.“

Der Doctor nickte bestätigend mit dem Kopfe. Er war ganz Ohr bei der zusammenhängenden Darstellung Mettling’s, dem er wahrhaftig solche Fassungskraft auch nicht zugetraut hätte. Aber hier hatten belebende Elemente gewaltet und den Nebel verscheucht, der sich successiv um einen sonst sehr hellen Verstand zu legen Miene machte. Wer mochte das schöne Mädchen sein, welches so erfrischend auf ihn gewirkt hatte?

Der Doctor hätte gern gefragt, allein er wollte aus Gründen den Ideenfluß des alten Herrn nickt unterbrechen. Tiefer fuhr fort:

„Bis vor vierzehn Tagen ging Alles vortrefflich, liebster Doctor. Da engagirte Felix, auf ihr dringendes Bitten, die Person, die jetzt im Hause regiert, und mein Traum zerfloß. Gut! Ich habe ihm meine Meinung gesagt. Will er in die Reihe mit einem „Sellner“, einem „Gutenburg“, einem „Ballhorn“ u. s. w. treten, lauter Männer, wie Sie wissen, die Weiber genommen haben, deren Dasein in ihren wohlgeordneten Häuslichkeiten ein ewiger Schandfleck bleibt, welcher edle Naturen daraus fern hält und sie vor sich selbst erniedrigt – gut, will Felix sich zu solchen erbärmlichen Cirkeln gesellen, so mag er es thun. Ich habe ihm freie Hand gelassen. Aber ich werde nie in dem Hause des Sohnes leben, wo eine Schwiegertochter waltet, die mit gemeiner Koketterie den Platz einer Hausfrau erobert hat. Wir trennen uns!“

„Aber, bester Papa – sind Sie nicht zu voreilig?“ fiel der Doctor wieder begütigend ein. „Sie schütten das Kind mit dem Bade aus!“

„Die Sache ist zwischen mir und Felix abgemacht!“ erklärte der alte Herr. „Ich werde, im Falle Sie mir ein Gesundheitsattest nicht versagen, meine Verfügungen treffen und mich anders situiren. Dazu sollen Sie mir die Hand bieten.“

[482] „Mit Freuden, wenn wirklich meine sonstigen Rathschläge zu spät kommen sollten.“

„Es fragt sich jetzt nur vor allen Dingen, ob ich das gute, liebe Mädchen, das mir neue Lebenslust eingehaucht hat, dahin zu überreden vermöchte, bei mir zu leben, bis ich entweder sterbe oder sie sich verheirathet. Sie soll keine Last von mir haben, guter Doctor,“ fügte er mit wehmüthiger Herzlichkeit hinzu. „Sie braucht nur in dem gütigen Tone, worin ihr ganzes Herz liegt, von Zeit zu Zeit mit mir zu plaudern. Sie soll sich nicht anstrengen. Ich verstehe sie besser, als alle andern Menschen. Ihr klangvolles, metallreiches Organ dringt hell in mein Ohr, auch wenn sie nicht sehr laut spricht. Gestatten Sie es immerhin, lieber Doctor, daß sie die paar Jahre, die ich noch zu leben habe, mein ödes Dasein verschönt. Sie thut es mit Freuden, das weiß ich schon, bevor ich sie gefragt habe –“

„Mein Gott, was ich dazu thun kann, soll geschehen,“ fiel der junge Mann etwas neugierig und dadurch ungeduldig ein. „Wer ist die Dame?“

Der alte Herr sah ihn groß an. „Ach – ich habe sie Ihnen noch nicht genannt?“ fragte er. „Ihre Schwester Elisabeth –“

Der Doctor fuhr zurück. „Liebster Papa Mettling –“ stammelte er, denn die königlich stolze Schwester mit der sehr wenig demüthigen Miene schien ihm doch nicht geeignet zur Gesellschafterin eines alten, geistig zerrütteten Mannes.

„Sie wollen es nicht?“ sprach der Kaufherr traurig. „Ich kann es wohl begreifen und mag es Ihnen nicht verargen, obwohl Elisabeth eigentlich allein darüber zu entscheiden hätte.“

„O, ich will es gern zugeben, bester Herr,“ entgegnete der junge Mann gefaßter. „Aber meine Schwester selbst könnte Einwendungen erheben.“

„Sie kommt zu mir – glauben Sie meinem Worte,“ rief Mettling entschieden.

„Meine Schwester ist sehr verwöhnt, lieber Herr! – Sie ist „eine Dame“ in dem ausgedehntesten Sinne des Wortes.“

„Und sie wird als meine Pflegetochter im Stande sein „eine Fürstin“ zu spielen!“

„Ihr Charakter ist gut, ihr Herz weich, aber opferbereit ist sie nicht.“

„Das soll sie auch nicht sein!“ rief der Kaufherr lebhaft. „Sie wird in dem Cirkel glänzen, der mein Haus nach wie vor beleben soll – sie wird die prachtvollen Räume meines Hauses von Gästen überfüllt sehen, und sie wird dennoch ein leises Wort der Ermuthigung für den armen, alten Besitzer desselben haben, der jetzt mit Speise und Trank versehen in einen Winkel gerollt wird, wo er Niemand im Wege ist.“

„Sie thun Felix Unrecht,“ rief der Doctor vorwurfsvoll.

„Meine Beschuldigung soll Felix nicht treffen, denn einem Manne fehlen die feinen Gemüthsregungen; sie spricht nur das aus, was mir bevorstehen wird bei einer herzlosen Schwiegertochter.“

„Mein Gott – und gerade meiner Schwester, die den Ruf der stolzesten Kälte hat, schenken Sie in dieser Hinsicht ein so unbedingtes Vertrauen?“

„Ich habe Ihre Schwester erkannt, lieber junger Freund. Handeln Sie jetzt in meinem Interesse und Sie werden sehen, daß sich mein Herz nicht getäuscht hat.“

„Was wird aber Felix dazu sagen?“

„Er ist einig mit mir! Aber wer meine Gesellschafterin, die dame d’honneur sein wird, das freilich weiß er nicht, und ich bitte, es ihm für jetzt vorzuenthalten.“

Kopfschüttelnd verließ der junge Doctor seinen Patienten, der fernerhin nicht mehr den beliebten Senfteig gebrauchen zu wollen schien, sondern in der Güte und Milde eines Mädchenherzens den Balsam zu gewinnen trachtete, der seinem armen Leben eine neue Quelle des Heiles zu werden verhieß.

Kopfschüttelnd verließ er sogleich die Villa, als er Felix nicht im Salon vorfand. Die Sache war ihm außer dem Spaße! Dazu also sollte Elisabeth von Gott so unendlich reich begabt sein, um einen alten, gelähmten Mann zu erfreuen? Dazu von Gott mit einem wunderbar schönen Organe ausgestattet sein, um einem alten, halbtauben Manne verständlich zu werden?

Nein, diese Selbstverleugnung würde an eine Erhabenheit gegrenzt haben, welche in der Wirklichkeit nahe der Lächerlichkeit verwandt gewesen wäre.

Der Doctor belächelte die kindische Sicherheit, womit der alte Kaufherr auf die Herzensgüte seiner Schwester baute, und es bangte ihm einigermaßen vor dem Eindrucke, den die abschlägliche Antwort Elisabeths auf den neubelebten, exaltirten Kranken machen mußte. Eilig ging er seines Weges, um nur so bald als möglich den Druck von seiner Seele los zu werden, der ihm, bei dem geringsten Anscheine einer Möglichkeit, eine totale Beklemmung verursachte.

Felix wurde von dem unerwartet schnellen Verschwinden des Doctors auch in eine Stimmung versetzt, die eben nicht beneidenswerth war.

Ein Zufall hatte ihn gerade in dem Augenblicke entfernt gehalten, als Strodtmann das Zimmer seines Vaters verließ und ohne Zögern seinen Aufbruch bewerkstelligte. Was für Gründe hatte dieser Mann, den er innig hochschätzte, dazu gehabt? Was hatte er gehört von seinem Vater? Was dachte er über das kleine Zerwürfniß im Hause, dem er bei weitem nicht die ernste Bedeutung beilegte, wie sein Vater?

Lord Felix wurde ein Raub der peinvollsten Ungewißheit. Dazu kamen die Vorwürfe seines Gewissens in Bezug auf Frau von Dahlhorst.

Was in dieser Zusammenkunft Uebles geschehen war, konnte freilich wieder gut gemacht werden, aber löschte sich dadurch der Flecken, den seine Inhumanität auf ihn warf? Sein rechtlicher Sinn war bereit, zu bekennen und zu bereuen, sein gutes Herz war entschlossen, den Irrthum zu vergüten, worein Uebereilung und Naturell ihn gestürzt, aber konnte dies die Schamröthe auf seiner Wange löschen, einem reinen, forschenden Blicke gegenüber, den er als ein Gottesgericht fürchtete?

Lord Felix befand sich also keineswegs in der besten Laune, als Lenchen hoffährtig in seiner Equipage wieder vorfuhr und mit gesteigerter Liebenswürdigkeit von der Verwunderung erzählte, womit man sie in dem Wagen betrachtet habe.

Armes Lenchen! Dein Zauber war gebrochen – Deine Naivetät hatte ihre Anziehungskraft verloren!

„Lassen Sie nicht ausspannen!“ herrschte der junge Herr sie an. „Ich will noch zur Stadt!“ Und sie ging demüthig, seine Befehle auszuführen. Sie dachte aber durchaus nicht daran, daß sie an einem gefährlichen Scheidewege angelangt sei, welcher von der Fülle ihrer Macht abwärts zu gehen drohete. Für jetzt rettete sie ihre angeborene Furcht vor der Herrschergewalt eines Hausherrn. Sie schwieg und weckte seinen Widerspruchsgeist nicht! Kam er erheitert aus der Residenz zurück, so hatte sie gewonnen Spiel.



IV.

Elisabeth hatte ihren Platz noch nicht verlassen, als ihr Bruder, athemlos von Hast und Aufregung, wieder zu Hause anlangte und sie ganz unvorbereitet mit der Frage überraschte, ob sie geneigt sein würde, die Stelle einer Gesellschafterin beim alten Herrn Mettling zu übernehmen, im Falle Felix sich mit Lenchen, der Mama Hausmamsell, verheirathe.

„Warum nicht?“ erwiderte die junge Dame mit einer Gelassenheit, die das Resultat der einsam verlebten Stunde in ihres Bruders Zimmer war. „Hat er einen Wunsch geäußert, der auf diese Offerte hindeutete?“

„Er hat mich geradezu beauftragt!“ rief der Doctor in sichtlicher Empörung und erzählte, wie er den alten Herrn gefunden habe. „Mich überrascht diese Mitteilung nicht,“ meinte Elisabeth. „Ich habe längst die Beobachtung gemacht, daß die Belebung seines geistigen Organismus möglich ist. Um so mehr schmerzte mich die Aussicht auf seine Abhängigkeit von Lenchens unverständiger Pflege.“

„Aber, Elfi – diese Belebung des Geistes kann momentan sein!“ rief Strodtmann.

„Schon der Versuch bringt Freude –“ antwortete sie kurz.

„Du bist ehrenhalber dann gezwungen, bei einem Halbverrückten auszuharren!“

„Wahngedanken bei einem alten und schwachen Manne sind leichter zu ertragen, als wahnsinnige Handlungen eines jungen und gesunden Menschen.“

„Es liegt ein närrischer Widerspruch in Deinem Stolze und diesem Entschlusse, denn Du betrittst hier ein Schlachtfeld des Lebens ohne Hoffnung auf den mindesten Sieg.“

„Rechnest Du den Segen, welchen zwei brechende Augen uns [483] spenden, nicht für eine glorreiche Anerkennung?“ fragte das junge Mädchen freundlich zu ihm aufsehend.

„Ja wohl! Ja wohl!“ spottete der Doctor gutmüthig. „Ich empfinde hinlängliche Ehrfurcht vor Deinem guten Willen, die Augen eines verlassenen Vaters zuzudrücken. Aber Elfi – im Stillen halte ich diesen guten Willen für eine verstellte Sympathie. Du hast Felix lieb!“

Elisabeth neigte ihren Kopf ein klein wenig, um ihre Bewegung zu verbergen.

„Das wäre kein Grund zu meinem Entschlusse,“ flüsterte sie. „Ich wünsche meinem Leben eine Bedeutung durch die Uebernahme einer Verpflichtung zu geben, und ich halte die gegenseitige Anziehung zwischen mir und dem guten alten Herrn für einen Fingerzeig, mich in ein Verhältniß zu verflechten, dem zwar der sonnige Farbenschmelz des Glückes fehlen wird, das aber immerhin einen Reiz in sich schließt, welcher mich hinlänglich beschäftigen wird. Das Diakonissenthum ist ja überdies Mode,“ fügte sie lächelnd hinzu.

„Du hast Felix lieb!“ antwortete der Doctor mit derselben Ruhe und Bestimmtheit, wie vorhin.

„Schon Jahre lang,“ erklärte sie nun mit wehmüthiger Verlegenheit.

„Sonderbares Mädchenherz! Er und Du – so heterogen in jeder Beziehung!“

„Glaub’ das nicht! Wir haben viel Gleiches, sprechen es aber mit verschiedener Zunge aus.“

„Du selbstständig, fest und ruhig wie Eis –“

Elisabeth unterbrach ihn: „Unter dem Eise wogt das Wasser so schnell und sprudelnd, wie im wärmsten Sommertage.“

„Er ein Chamäleon, ohne Halt, aufrauschend und dahin lebend, jedem Eindrucke preisgegeben!“

„Weit gefehlt! Felix ist so selbstständig, daß er sein eigener König ist. Er hat mich lieb, das weiß ich, aber –“

„Nun? Du stockst? Weshalb sollte er seine Neigung nicht offenbaren?“’

Elisabeth schlug ihre Augen tief nieder, als sie antwortete: „Ich bin ihm zu vestalisch – er will erobert sein! Dazu aber kann ich mich nicht entschließen!“

Der Doctor schwieg betroffen still. Er wunderte sich selbst über seine Unbefangenheit, womit er neben diesen beiden Leuten gelebt, ohne Argwohn zu fassen, da doch eigentlich die Sache so nahe lag.

Elisabeth schien eine Wiederanknüpfung des Gespräches nicht zu wünschen, denn sie sagte schnell, wie sich besinnend: „Frau von Dahlhorst sprach vorhin einen Augenblick bei mir vor. Sie wünscht ein Krankheitsattest für ihren Gemahl. – Matthias – ich habe ihr versprochen, daß Du dies Attest ausstellen würdest,“ fügte sie mit bittendem Tone hinzu.

„Herr von Dahlhorst befindet sich aber doch bester?“ fragte der Doctor aus seinem Sinnen auffahrend.

„So viel ich weiß, ja! Die junge Frau fürchtete, daß Du anstehen möchtest, das Attest zu geben, weil ihr Mann weit wohler sei, und sie verrieth mir unwillkürlich, daß es vielleicht nur einiger Tage bedürfe, um das Attest entbehren zu können. Daraus entnahm ich, daß es sich um einen Personalarrest handele. Wenn wir doch der armen Dame helfen könnten, Matthias!“

Der junge Mann zuckte bedauernd die Achseln.

„Es handelt sich allerdings um eine Wechselschuld von zwölfhundert Thalern etwa,“ antwortete er kleinlaut. „Das Attest kann ich unbedingt ausstellen, denn Dahlhorst ist krank. Was ich von Felix über die Art seiner Krankheit vernommen habe, macht mich sehr besorgt, und es liegt mir die Verantwortung über diesen Zustand ob. Ich will deshalb noch heute zu ihm gehen. Könnte ich über zwölfhundert zwei und sechszig Thaler disponiren, so wäre dies das beste Medicament für ihn – ein vortreffliches Gegengift –!“

Elisabeth richtete sich schnell in die Höhe. „Steht es so mit ihnen?“ fragte sie ängstlich. „Mein Gott, so hat die Darlegung ihrer Verhältnisse, worin sie als Garantie eine Erbschaft von ihrer Großmutter aufstellte, wohl ein Versuch sein sollen, von uns dies Geld zu borgen? Man hält uns für reich, weil wir brillant wohnen –“

„Ja wohl –“ unterbrach der Doctor sie ironisch. „Das verdanken wir dem Reinlichkeitsgenie unserer Mama.“

Elisabeth machte eine ungeduldige, abwehrende Bewegung.

„Matthias – Matthias –“ Sie stockte und brachte nichts weiter über ihre Lippen, sondern verließ eiligst das Zimmer.

Ehe sich Matthias von seiner Verwunderung über das Gebühren seiner sonst so sehr ruhigen Schwester erholen konnte, war sie wieder da. Hochroth im Gesichte, als schäme sie sich, zitternd, als begehe sie eine Sünde, verlegen, als übe sie einen kindischen Streich aus, hielt sie ihm ein Packetchen entgegen.

„Matthias – ich habe ja Geld – hinreichend so viel, wie Frau von Dahlhorst gebraucht. Es sind Actien, die Jeder kauft –“

Der Doctor sah sie starr an. Diese Samaritergüte überstieg seinen Horizont.

„Das willst Du opfern, Elfi?“ fragte er stark und laut.

„Sie gibt mir’s wieder!“ betheuerte sie mit gläubigem Vertrauen. „Sie ist stark, praktisch und energisch – sie will eine Pension für junge Mädchen errichten – sie gibt mir’s wahrhaftig wieder.“

„Also hat Dich der Himmel dazu die paar hundert Thaler in der Lotterie gewinnen lassen, um ihr zu helfen und mir zu zeigen, was für eine Schwester ich besitze!“ sprach Strodtmann mit tiefer Bewegung und zog das bebende Mädchen an seine Brust.

„Aber nun eile, lieber Matthias,“ begann Elisabeth nach einer Pause voll heiliger Rührung. Sie wendete sich von ihm und trat an’s Fenster, um ihre Fassung wieder herzustellen.

Der Abend war unterdessen näher gerückt, und der Regen hatte ganz aufgehört. Von der untergehenden Sonne glänzend umsäumt, schwammen mächtig große, weiße Wolken am klaren Himmelszelte. Vom Regenschleier befreiet, segelten sie mit ihrem goldig röthlichen Schmucke in fröhlicher Eile dem Horizonte zu.

Elisabeth erhob den Blick und verfolgte, von der Heiterkeit eines guten Gewissens belebt, ihren Lauf. Gedanken aller Arten erwachten dabei in ihrem Innern. Aber auch von ihrem Gemüthe waren die Trauerschleier, die seit mehreren Stunden es belästigt hatten, verschwunden, und was sie jetzt bewegte und beschäftigte, das schmerzte sie nicht.

Während sie abgewendet am Fenster stand, ordnete der Doctor mit freudebebender Hast und Eile die Papiere. Es war genug, um der Frau von Dahlhorst zu helfen. Dabei legte sich jedoch bleischwer die Frage auf sein Herz: war es auch genug, um ihre Lage auf immer zu verbessern?

Er zweifelte nach Felix’s Mitteilungen daran, allein das machte ihn nicht irre, sondern weckte nur den Gedanken, seine Schwester als Schutzgeist für diese Frau zu erwählen, um dadurch in den Stand gesetzt zu werden, sie behüten zu können.

Wie tief sein Interesse für sie war, übersah er dabei. Er wünschte nichts, als ihre blassen Wangen zu verscheuchen und ihrem prächtigen Naturell zu Hülfe zu kommen, das wie ein Sonnenstrahl überall durchbrach, auch wenn die drohendsten Wetterwolken ihren Lebenshimmel umhingen.

Ein Wagen rollte die Straße entlang. Zuerst beachtete Elisabeth dies gar nicht, dann aber meinte sie zu bemerken, daß dieser Wagen in einem Galopp fuhr, dir eigentlich in der Residenz nicht Mode war. Neugierig horchte sie auf und neugierig sah sie dem schnell näher kommenden Fuhrwerke entgegen.

Der Wagen brauste mit der Schnelligkeit einer Locomotive heran – er hielt, und ehe sie sich besinnen konnte, stürmte Lord Felix in ihres Bruders Zimmer. Sein bleiches Gesicht und der Ton seiner zitternden Stimme trug Spuren einer fürchterlichen Verstörung.

„Um Gottes Willen, Doctor! schnell! schnell! schnell! Er ist des Todes! Er stirbt!“ schrie er. „Um Gottes Willen, nehmen Sie meinen Wagen! Eilen Sie! Er stirbt, und sie ist ganz allein mit ihm!“

Strodtmann hatte bei dem ersten Laute dieser Stimme schon ganz mechanisch nach der Büchse mit dem beliebten Senfteige gegriffen und sein chirurgisches Besteck in die Tasche geschoben. Sein Blick suchte dabei das Auge seiner Schwester, und in diesem Blicke stand die Erklärung: „Mir hat es geahnt, daß diese Belebung des Geistes nur momentan sein könne!“ Der verschmähete und in Ruhestand versetzte Senfteig kam schnell wieder in Cours, und zwar früher noch, als er es berechnet hatte.

„Hat er Alteration gehabt?“ fragte der Doctor dabei, indem er den jungen Kaufherrn, welcher wie ein aufgescheuchter Löwe in einem Käfige umherlief, stellte und ihn zwang, seinen Lauf zu unterbrechen.

„Ich weiß es nicht! Doch wahrscheinlich!“ antwortete dieser mit dumpfem Tone.

[484] „Sein Zustand war merkwürdig hell!“ meinte der Arzt nachdenkend. „Man findet dies zuweilen vor einem nahen Ende –“

Felix schritt schrecklich aufgeregt wieder weiter.

„Sie haben nichts mit ihm vorgehabt? Mit Ihnen ist nichts vorgefallen, Felix?“ forschte der Doctor teilnehmend, während er seinen Rock zuknöpfte und nach dem Hute griff.

„Mit mir? Direct nicht! – Nein! Direct mit mir nicht!“ stöhnte der junge Mann. „Aber –“

„Aber mit Lenchen, nicht wahr? Es ist keine Indiscretion, die mich fragen läßt, Felix.“

„Mit Lenchen?“ fragte der junge Mann sehr gezogen, als müsse er sich erinnern, wer dies Lenchen sein könne.

„Mit Helene, wie Sie das Mädchen nennen!“ fiel Strodtmann nachhelfend ein.

„Was denken Sie denn, Doctor?“ fragte Felix frappirt. Ein helles Roth schlug über sein Gesicht, und sein Auge suchte verwirrt die stille Gestalt am Fenster, die voller Theilnahme jedem Worte folgte.

„Nun – daß Ihr Vater von Neuem heimgesucht ist. Nicht? Wer denn sonst? Zu wem soll ich denn kommen?“ fragte der junge Arzt ungeduldig.

„Zu Dahlhorst!“ rief Felix. „Zu dem unglücklichen Dahlhorst! Sie wissen ja –“

„Allmächtiger Gott!“ flüsterte der Doctor mit schnellem Verständnisse des Zusammenhanges.

„Sie wissen, wie abscheulich ich gehandelt –“ sprach Felix in voller Ueberwältigung fort. „Um es gut zu machen, fuhr ich zu ihm. Ich fand ihn in einem gräßlichen Zustande – Krämpfe entstellten ihn – o, welch ein fürchterliches Elend erträgt die zarte Frau – welch ein herzzerreißendes Elend!“

Strodtmann hörte die letzten Worte nicht mehr. Er warf sich in den Wagen und verschwand so rasch, wie Felix gekommen war.

Wie lange Lord Felix und Fräulein Elisabeth im Zimmer beisammen gewesen sind, ohne ein Wort mit einander zu wechseln, ist nicht genau zu bestimmen. Sie stand betäubt, die Stirn gegen die Hand gelehnt, am Fenster, und er ging in regelmäßiger Wildheit im Zimmer hin und her.

Endlich stand er still, und zwar in möglichster Entfernung von ihr, am Ofen.

„Hätte ich zur rechten Zeit geholfen!“ sprach er mit ganz verändertem, sehr festem Tone. Lord Felix war eine Natur, worin Sentimentalität nicht wuchert. Er sprach der Romantik aller Romanschreiber Hohn, die ihre Helden Stunden lang in leidenschaftlich bewegten Stimmungen agiren lassen. Lord Felix konnte sehr ergriffen werden, aber ihn incommodirte dies Gefühl, deshalb warf er es ab. Er konnte sehr ärgerlich werden, allein wenn er einige Proben seines Zornes von sich gegeben, so fand er es langweilig, darin zu verharren. Er besaß eine ziemliche Portion Egoismus und hielt stets für zweckdienlich, sein eigenes Wohlbehagen, das unter allen Gemüthsaufregungen litt, mehr zu berücksichtigen, als schöne, erhabene, rührende und aufgestörte Gefühle.

Genug, Lord Felix sagte so ruhig wie nur möglich: „Hätte ich zur rechten Zeit geholfen!“ – und er verrieth damit der aufhorchenden Elisabeth sein ganzes Vergehen.

„Sagen Sie mir die Wahrheit, Fräulein Elisabeth,“ fügte er fest hinzu, „Sie verdammen mich?“

„Nein!“ antwortete das junge Mädchen und hob traurig ihre Augen empor, um sie ohne alle Verlegenheit auf seine Blicke treffen zu lassen.

„Sie verabscheuen mich? – Ihre Augen sagen dergleichen!“

„Nein!“ antwortete sie ebenso wie vorhin.

„Sie verachten mich?“

„Verrathen meine Augen dergleichen?“ fragte sie sanft. Ihre Stimme klang unendlich mild.

„Was ist’s denn, was Sie fühlen?“ fuhr er auf.

„Mitleid!“ flüsterte sie, indem sie die Augen wieder senkte, aber unwillkürlich ihm näher trat.

„Mitleid? Mitleid? Bedauern muß ich mich lassen? Hassen Sie mich lieber, Elfi – hassen Sie mich! – Elfi! – Elfi! Es ist weit mit mir gekommen, wenn Sie mich bedauern und bemitleiden!“

Noch nie hatte der junge Mann die Benennung gewagt, welche nur im traulichsten und süßesten Momente der Bruderzärtlichkeit über Strodtmann’s Lippen ging. War es ein Wunder, daß das junge Mädchen ihre eisenfeste Haltung etwas verlor und sehr bleich wurde? Felix bemerkte ihre Blässe.

„Im Bedauern liegt Nichtachtung – im Mitleiden geringschätzendes Erbarmen! Weshalb fühlen Sie Mitleid, Elfi? – sprechen Sie die Wahrheit!“

„Weil ich Ihr Glück gefährdet sehe!“ entgegnete Elisabeth ganz ruhig.

„Mein Glück –?“ Die Unterredung des Doctors mit seinem Vater fiel ihm ein.

„Glauben Sie etwa an die Visionen meines irrsinnigen Vaters?“ fragte er hart und schonungslos.

Bevor Elisabeth ihrem hervorbrechenden Unwillen, der sich deutlich in ihrer ganzen Haltung und in dem groß und fest aufgeschlagenen Auge aussprach, Worte geben konnte, setzte der junge Mann hinzu: „Ich leugne nicht, daß mein Vater Ursache zu seinen Träumereien gehabt hat. Ich habe mir mehr mit dem Mädchen zu schaffen gemacht, als nöthig gewesen wäre, mehr, als eigentlich gut ist, aber, Elisabeth – ich kann frei meine Augen zu Ihnen emporschlagen, denn etwas Unrechtes, selbst in strengster Bedeutung des Wortes, geschah nicht. Glauben Sie mir das?“

„Ja!“ antwortete sie mit dem vollen Bewußtsein ihres nun aufblühendes Glückes.

Der Wagen kam zurück, natürlich ohne den Doctor. – Felix wollte fort. Eine unsichtbare Macht schien ihn zu halten, als er Anstalt traf, das Zimmer zu verlassen.

Elisabeth stand ihm ziemlich nahe. Er sah jeden Wechsel ihres Mienenspieles.

„Grüßen Sie Ihren Vater,“ sagte sie mit einem unbeschreiblich sanften Lächeln, das nicht ohne Verlegenheit war, „und sagen Sie ihm, daß ich bereit sei, seinem Anerbieten Folge zu leisten.“

Er blickte sich um. Das volle Verständniß dieser Bestellung legte sich auf seine Seele und rüttelte seinen Zorn wach.

„Ich glaube, Sie heiratheten eher einen alten Mann, ehe Sie sich zu der Herablassung entschlössen, einem jungen Anbeter eine Spur von Zärtlichkeit zu verrathen!“ fuhr er auf.

„Ganz gewiß,“ entgegnete sie, „denn über die reine, selbstlose Zärtlichkeit für jenen könnte sich kein Zweifel erheben.“

Zornig wendete er sich wieder ab und schritt vorwärts. Sie folgte ihm willenlos. Wenn er jetzt sie verließ, ohne das lang bewahrte Wort der Erklärung zu sprechen? Eine unnennbare Angst hob ihre Brust in heftiger Wallung. Beherrscht von ihrer tiefen, streng versteckten Zärtlichkeit stand sie an der Schwelle still. Vor diesem Sturm der Gefühle, der sich so jähe über sie geworfen, daß sie beinahe ihre Selbstherrschaft verlor, schwand die Kälte ihres Stolzes. Sie hatte nie den Wallungen des Herzens eine Stimme gestatten wollen, allein die Uebermacht der Liebe beugte sie.

Er stand abermals still und zögerte, die Thür zu öffnen. Dann wendete er sich blitzschnell, um irgend ein böses oder gutes Wort zu sprechen. Aber er kam nicht dazu. Er sahe nur die leidenschaftliche Bewegung in den Augen Elisabeth’s, und – im Nu hielt er sie in seinen Armen, Augen und Lippen ohne Scheu und ohne Zartsinn mit sehr verrätherischen Küssen bedeckend. Die schroffe Weiblichkeit Elisabeth’s war zur glücklichen Minute überwältigt gewesen, um die Hartnäckigkeit des Mannes zu besiegen.

„Komm – komm zu Deiner Mutter!“ flüsterte er nach dem ersten glücklichen Momente dieser wortarmen Liebeserklärung.

Elisabeth, von seinen Armen umschlungen, folgte willig. Glücklicherweise fanden sie Madam Strodtmann nicht rettungslos in Scheuer- und Putzgedanken versunken. Sie begrüßte das Paar mit unverhehlter Freude.

„Nun zu meinem Papa!“ drängte Felix, der voller Ungeduld schien, die ganze Welt von dem Siege in Kenntniß zu setzen, den er, freilich nur durch Zufall, erfochten hatte. Da stutzte Elisabeth. Sollte sie sich in einem Hause als Braut präsentiren, wo ein Mädchen von untergeordneten Verstandesbegriffen vielleicht in ihren Rechten sich gekränkt glauben konnte? Ihr Stolz steifte sich wieder auf und machte Miene, mit Herrschergebehrden einen Entschluß zu fassen.

„Deine Weigerung würde mir ein Beweis Deines Mißtrauens sein,“ sprach Felix sehr lordmäßig. „Du warst so sehr bereitwillig, meinem allen Papa Freude zu machen. Nun, meinst Du nicht, Elfi, liebe Elfi, daß er Deinen Abendgruß als das glücklichste Ereigniß seines kümmerlich beschränkten Lebens ansehen wird?“ – Elisabeth lächelte und befahl ihren Hut und ihr Tuch.

[485]

Der zurückkehrende Kronsyndicus. Originalzeichnung von W. Wegener.

[486] Sie fuhren dahin im Abendlichte, umspielt von den neckischen Geistern der Luft.

Wie glücklich, o wie glücklich! Felix hatte gar nicht geglaubt, daß den stolzen, kalten Augen der klugen Elisabeth solche Wonne entströmen könnte. Seine Seligkeit wuchs mit jeder Minute, Trotzdem blieb er praktisch. Er beichtete jedes Wort, das am Morgen des Tages über das leidige Verhältniß zu Lenchen zwischen ihm und seinem Vater gefallen war. Als Alles, selbst das kleine Gespräch mit obligaten Liebkosungen des schönen dicken Armes, von ihm ausgeplaudert war, fragte Elisabeth doch etwas ernst: „Und wenn Frau von Dahlhorst nicht Deine Retterin geworden wäre? Wenn Du fortgerissen von –“ Er schloß ihr den Mund mit einem Kusse.

„Schweig, Elfi, schweig!“ rief er heftig. „Wir Männer sind ein ruchloses Volk und verdienen wahrhaftig Eure reine Liebe nicht. Vergib Alles, was geschehen ist, theure liebe Elisabeth – Du wirst nie, nie wieder Gelegenheit finden, die Verzeihende spielen zu müssen!“

Was der alte Herr Mettling für ein Gesicht machte, als ihm sein Sohn die schöne, stolze Braut in die Arme legte? Es ist zu leicht zu errathen, als daß es der Mühe werth wäre, Worte und Beschreibungen daran zu verschwenden.

Das Bemerkenswertheste bei dieser Ueberraschung blieb jedenfalls Lenchens Mienenspiel. Es wechselte ziemlich schnell unter den Wallungen von Erstaunen und Aerger, und sie soll nicht abgeneigt gewesen sein, eine sogenannte „Scene“ zu spielen.

Allein damit kam sie einem Manne wie dem Lord Felix sehr ungelegen. Als sie mit einer deutlichen Verzweiflungspantomime das Zimmer verließ und dabei ahnen ließ, daß sie in der Einsamkeit ihrer Kammer wohl von einer Ohnmacht befallen werden könne, da überließ der junge Herr sie ganz gelassen ihrer Natur, und er täuschte sich nicht, wenn er derselben ganz vortreffliche Heilkräfte zutrauete. Lenchen starb nicht am gebrochenen Herzen, hatte auch im Grunde nicht die mindeste Ursache dazu. Der erschütterndste Augenblick für das schwer getäuschte Mädchen ist aber jedenfalls der gewesen, wo ihr junger Geliebter offen heraus und keineswegs nach einer schicklichen Art suchend ihr erklärte, daß sie im Hause bleiben könne, wenn sie sich sonst vernünftig betragen wolle. Und mit welch grausamem Gleichmuthe machte er diese Offerte! Zuerst flammte sie, die hoffnungsreiche Träumerin, zornig auf und wollte à tout prix das Haus verlassen, wo sie so großartig geträumt hatte; dann aber berechnete sie, bei der beschlossenen Beschleunigung der Hochzeit, die für sie abfallenden pecuniären Vortheile und beschloß, bis nach der Verheirathung des jungen Paares zu bleiben.

Während sich auf diese Weise das Schicksal seiner Schwester Elisabeth auf eine überraschend schnelle Art entwickelte und feststellte, hatte der Doctor Strodtmann eine schwere Sorge um Herrn von Dahlhorst zu bestehen.

Es glückte ihm für den Augenblick, die Lebensgefahr, worin er wirklich schwebte, und in die er sich wahrscheinlich selbst gestürzt hatte, zu beseitigen, allein das Mark seines Lebens war gebrochen. Siech und elend erstand er von seinem Krankenlager und wurde fortan mit himmlischer Geduld von seiner Gattin Adeline gepflegt.

Von allen Sorgen befreit, in Elisabeth’s von Tag zu Tag wachsender Freundschaft Unterstützung findend, gab sich die junge Frau neuen Lebenshoffnungen hin. Ob aber mit der vollen glückseligen Hingebung eines Herzens, das mit Verehrung und Liebe an einen Gatten sich lehnt, kann man nicht wissen. Strodtmann blieb schroff und ernst in den Schranken des Arztes, und nicht ein Blick zeigte seine wachsende Sorge um dies zarte Wesen, das so schwer zu tragen hatte. Er überließ Alles, was zu thun nöthig war, seiner Schwester, und diese handelte mit der Aufmerksamkeit einer Mutter bei ihrer Hilfsleistung. Zwei Tage nach der glänzenden Trauung Elisabeth’s und Felix’s schlief der Herr von Dahlhorst plötzlich und unerwartet ein, um nie wieder zu erwachen.

Adeline von Dahlhorst verließ sogleich die Residenz und ging zu ihrer Großmutter zurück. Aber Elisabeth veranlaßte sie, von Zeit zu Zeit Besuche bei ihr zu machen und ihren Aufenthalt in ihrer schönen, glücklichen Häuslichkeit auf Wochen auszudehnen. Natürlich fand die junge Wittwe in dem Kreise dieser Familie den Doctor Strodtmann, und dieser ließ nach und nach die Maske der ernsten Zurückhaltung fallen.

Jetzt spricht man von einer nahe bevorstehenden Verlobung des Doctor Matthias Strodtmann und der liebenswürdigen Adeline. Des jungen Mannes Traum am Bache geht also wirklich in Erfüllung. Und Lenchen? Die letzten authentischen Nachrichten über diese lauten:

Nachdem die brillante Hochzeitsfeier des Lord Felix vorüber war, nahm dies modern civilisirte Proletarierkind eine Stelle als Kammerjungfer bei einer jungen Gräfin an, um ihre Particularinteressen weiter zu verfolgen. Und das Glück war ihr merkwürdig günstig. Ihre junge Gebieterin gehörte zum Hofe und siedelte mit demselben nach der Sommerresidenz über. Dort in Ferdinandslust wurde endlich ein Cavalier ersten Ranges, ein Baron Pelz von Bunzlau, von der reizenden Naivetät und holdseligen Unschuld des schönen Lenchens dermaßen bezaubert, daß er diese reine Blume aus dem „Schlamme der Verderbniß“, wie er das Garnisonleben der fürstlichen Gardeofficiere benannte, entführte und sie fern, sehr fern von der Heimath zu einem Pastor brachte, der die klassische Bildung Lenchens vervollständigen und die Kammerjungfergrazie abschleifen sollte.

Dort präsentirte der Herr Baron Pelz von Bunzlau das Mädchen als seine Braut. Ob sie aber jemals die Ehre haben wird, als Baroneß Pelz von Bunzlau in dem Ahnensaale derer Pelz von Bunzlau zu prangen, das ist eine Frage, welche von der Zukunft beantwortet werden muß.

Nach dieser Schicksalswendung hat Lenchen große Ursache, dem Dichter, der ihr Denkvermögen auf den Punkt geleitet hat, wo sie etwas leisten konnte, irgend einen fürstlichen Hausorden zu verschaffen. Es ist zu erwarten, daß sie ihren Einfluß, im Falle sie Einfluß gewinnt, dazu verwenden wird.




Eine Scene aus Gutzkow’s Zauberer von Rom.
(Mit einer Originalzeichnung von W. Wegener in Dresden.)

Ein Reiter sprengt aus einem Waldgrunde daher! Eine lange, markige, wenn auch schon greise Gestalt! Krampfhaft hält die Linke den Zügel, die Sporen drücken in des Pferdes Flanken, um den raschen Lauf desselben noch mehr anzustacheln. Offenbar will der Reiter den düsteren Schatten des Waldgrundes entrinnen und das Schloß erreichen, das ihm so still ernst durch die Bäume entgegenschimmert.

Dennoch scheint er nicht festzusitzen im Sattel. Die Schwenkungen des Rosses drohen ihn herabzuschleudern. Das zusammengezogene, weiß umbuschte Auge auf das Schloß gerichtet, achtet er nicht auf Roß und Weg. Seiner ganzen Haltung sieht man an, daß er trefflich zu reiten versteht; er würde der Kraft und Wildheit des Pferdes spotten, wenn nicht seine Gedanken auf einen andern Gegenstand gerichtet wären, und eine gewaltige innere Aufregung seinen Körper lähmte.

Dieser Reiter ist der Kronsyndicus des ehemaligen Königreichs Westphalen, Freiherr von Wittekind-Neuhof, eine Nachkomme jenes edlen und tapfern Wittekind, der lange Jahre Karl dem Großen die Spitze geboten. Stammhalter eines mächtigen, reichbegüterten Geschlechts, vereint er in sich die letzten Nachklänge seines ersten Hünenstammvaters. Kräftig in seinen Entschlüssen und Handlungen, wild, wenn seine Leidenschaften erregt werden, das Leben in seinen rauschenden Freuden und Genüssen erfassend, nur gewöhnt zu herrschen und seine Befehle ohne Widerspruch ausgeführt zu sehen, ist er Despot, Tyrann in seinem Wirkungskreise. Dennoch liegt in der Kraft und dem Stolze seines Charakters etwas Imponirendes, das selbst seinem Gegner Achtung abgewinnt.

In diesem Augenblicke sitzt die Furie an seinen Fersen. Schon der Blick seines Auges verräth, daß etwas Entsetzliches vorgefallen. Tief unten im Waldgrunde, von woher er kommt, liegt der Deichgraf Klingsohr, des Kronsyndicus früherer langjähriger Freund, der Pächter des größten Theiles seiner Besitzungen, den er in der letzten Zeit haßte, weil er sich durch die von ihm übernommenen Grundablösungsvermessungen in seinem Rechte und seinen Rechtsprincipien gekränkt glaubte, todt in seinem Blute. Den Hirschfänger, [487] der an seiner Seite hängt, hat ihm der Kronsyndicus, hingerissen von seiner unbezähmbaren Leidenschaftlichkeit, in der Heftigkeit des Wortwechsels und des Streites um eine Grenzmarke in den Hals gestoßen. Wohl hat keines Menschen Auge gesehen, wessen Hand den Stahl geführt – wer kann als Zeuge gegen ihn auftreten, gegen ihn, den Kronsyndicus, dessen Arm schon Manchen niedergehalten und niedergeworfen hat? – und dennoch tritt schon ein Zeuge gegen ihn in seinem eigenen Herzen und Gewissen auf.

Gewissermaßen bildet dieser von des Künstlers Hand entworfene Ritt den Mittelpunkt alles dessen, was in den vier bis jetzt erschienenen Bänden des neuen Gutzkow’schen Romans: „der Zauberer von Rom“ erzählt wird, der, wie die „Ritter vom Geiste“ desselben Verfassers, über die gewöhnlichen Grenzen einer Erzählung hinausgeht und mit dem Zwecke der Dichtung den verbindet, Denkwürdigkeiten der Zeit zu geben.

Es ist des Dichters Streben, in diesem neuen Romane das katholische Leben, das Streben der Kirche, die Zaubermacht auf dem Capitole Roms darzustellen, den noch unbeendeten Streit zwischen den „Welfen und Ghibellinen“, und wir staunen über die Tiefe und Klarheit, mit welcher er uns in das Leben und den Geist der katholischen Kirche einführt, wie er ihre Größe und ihre Schwäche schildert und letztere gerade aus dem Poetischen in ihren Erscheinungen entwickelt. – Die noch nicht zur Hälfte beendete Dichtung gestattet uns noch kein vollständiges Urtheil, wir können nur auf das uns bereits Gegebene schauen, aber das berechtigt uns in jeder Weise anzunehmen, daß wir in dem „Zauberer von Rom“ ein Werk erhalten werden, das, wie die „Ritter vom Geiste“, noch eine Zierde unserer Literatur werden wird, wenn auch der erste Band nicht mit der gewohnten Gutzkow’schen Präcision geschrieben ist.




Ein Pirschgang auf Gemsen.
Von Friedr. Gerstäcker.

Schon ein Pirschgang an und für sich, und wenn es auf einen Rehbock wäre, ist ein wonniges Gefühl, und mit der schußfertigen Büchse im Arm, das Auge überall, das Ohr auch dem geringsten fremden Laut horchend, der eigne Fuß ängstlich jedes Geräusch vermeidend, und fortwährend dabei auf Wind und Deckung achtend, vergißt der Jäger in der Zeit die Welt, und hat nur Sinn und Gedanken auf den einen Punkt gerichtet – auf seine Jagd. Und nun gar ein Pirschgang auf Gemsen!

Die wundervollen Berge um uns her, die Mühseligkeit, ja oft selbst Gefahr der Jagd, das scheue, mit den schärfsten Sinnen begabte Wild zum Ziel, das Alles erhöht nur und mehrt den Reiz solcher Lust, ja die Erinnerung daran ist fast so schön, als der Moment selber – und wie viele solcher Erinnerungen trage ich im Herzen!

Und kann der Nichjäger sich in solche Bergesfreude hineindenken? – Ich will versuchen, ob es möglich ist, ihm einen richtigen Begriff davon zu geben, und konnte er nicht Theil an der Jagd, soll er doch Theil an der Erinnerung nehmen.

Es war im Herbst vorigen Jahres, am 21. October, und ich selber mit einem anderen Schützen von der Jagdgesellschaft in der Riß detachirt worden, die Scharnitzberge auf eigene Hand zu bejagen.

Schon am ersten Tag dort, als wir nach verschiedenen Richtungen hin von dem kleinen Ort Scharnitz aus zu unserem Lager in den Bergen aufbrachen, gelang es mir einen dreijährigen Bock zu schießen. Die nächsten Tage dagegen durchstreifte ich vergebens mit einem der dort stationirten Jäger die Berge. Wir sahen wohl hie und da an den steilen Wänden einzelne Böcke, aber es war nicht möglich an sie hinan zu kommen, und unstäter Wind, der einsetzte, machte endlich sogar jede Jagd vergeblich.

Bei keiner Jagd der Welt hängt mehr vom Wind ab, als gerade bei der auf Gemsen, denn hat das scheue Wild die geringste Witterung vom Jäger bekommen, so mag er nur ruhig seine Büchse schultern und heimkehren. Die Gems nimmt nämlich ohne den geringsten Verzug eine Stellung ein, von der aus sie das ganze benachbarte Terrain vollkommen überschauen kann, und ist ihr dieses nicht offen genug, sind besonders Felsvorsprünge und Schluchten in der Nähe, durch die gedeckt ein Feind doch möglicher Weise anschleichen könnte, so verläßt sie die bedrohte Nachbarschaft ganz und steigt in irgend eine unzugängliche Wand hinein, in die ihr kein Jäger folgen kann.

Bei gutem Wetter weht nun in den Bergen ein vollkommen regelmäßiger Luftzug, und zwar im Sonnenschein die Berge grad hinauf, im Schatten aber die Hänge hinab, und man kann sich beim Pirschen vollkommen gut und sicher darauf verlassen. Ist das Wetter dagegen unbeständig, so fackelt auch der Wind, weht bald das Thal herauf, bald hinab, bald an den Hängen hin, bald her, und ein Anpirschen wird zur Unmöglichkeit.

Wir sahen am 20. ein Rudel Gemsen und wollten, da es mit der Pirsche nichts war, wenigstens versuchen, ob wir sie treiben könnten, aber der unten gebliebene Jäger, der sie beobachten sollte, während ich dem mir bestimmten Stand zustieg, gab bald das verabredete Zeichen zur Rückkehr. Noch wenigstens eine Stunde Weges von ihnen entfernt, hatten die Gemsen schon durch den umschlagenden Luftzug Wind von mir bekommen und waren unruhig geworden, und es blieb deshalb das Beste, sie nicht weiter zu stören. Einen Erfolg konnten wir uns doch nicht davon versprechen. An dem Tag ließ sich deshalb nichts weiter vornehmen, und wir gingen in unsere Almhütte, die wir gemeinsam bewohnten.

Am Tag in einer Almhütte liegen, während man draußen nach Gemsen jagen könnte, – es ist das ein trauriger Gedanke, und die Hütte selber bot eben nicht viel Anziehendes, darüber die versäumte Jagd zu vergessen. Das Innere derselben war rauchgeschwärzt, verräucherte Heiligenbilder mit hie und da einem Schmuck zerknitterter und verblichener künstlicher Blumen hingen an den Wänden. Der Boden bestand aus hartgestampftem, jetzt aber feuchtem Lehm; das eine kleine Fenster hatte so trübe Scheiben, daß es sich hartnäckig weigerte, auch die geringsten Umrisse der draußen liegenden Landschaft zu verrathen, und der in der Milchkammer stehende eiserne Blechofen sandte den Qualm in dicken Stößen durch das niedrige Gemach.

„Hol der Henker den Wind!“ dachte ich und warf mich auf die in der Ecke bereitete Heustätte, daß eine wahre Wolke von Staub um mich her aufstieg. – Schlechtes Wetter in den Alpen – es gibt nichts Trübseligeres.

Die Nacht heulte der Sturm nur so durch das offene und ziemlich hoch gelegene Thal, aber gegen Morgen wurde es ruhiger, und noch vor Tag kam der eine Jäger, der Franzel, herein und meldete, draußen sei das schönste Wetter, und wir möchten aufbrechen, sobald wir wollten.

Das war eine Freudenbotschaft – in wenigen Minuten waren wir angekleidet, ein Kaffee und Schmarren wurde rasch gekocht und verzehrt, und mit einem kleinen Frühstücksvorrath und einem Schluck Branntwein im Bergsack standen wir fast noch eine Stunde vor Sonnenaufgang im Freien draußen, unsere Jagd zu beginnen.

Vorher genommener Verabredung nach brachen wir Beiden, je mit einem Jäger, nach verschiedenen Seiten auf, unser Glück heute getrennt zu versuchen, und ich wanderte mit meinem Begleiter eine Strecke das Thal hinab, um etwa eine halbe Stunde von dort entfernt einen Berghang zu erreichen, an dem wir gestern Gemsen gesehen hatten. Das Wetter war heute still und ruhig, und wenn wir sie noch an derselben Stelle oder doch in nächster Nachbarschaft trafen, konnten wir uns ohne große Schwierigkeit an sie anschleichen.

Diese Schlußfolgerung war ganz richtig – nur standen die Gemsen nicht auf dem früheren Terrain, sondern hatten sich unglückseliger Weise auf die höchste Spitze des Gebirgsrückens hinaufgezogen, wo ein Anpirschen zur Unmöglichkeit wurde. Ehe wir nur die Hälfte der Höhe hätten ersteigen können, war die Sonne voll heraus; die Luft zog dann aufwärts, und wir wären den Augenblick verrathen gewesen. Ueberdies sind die Scharnitzberge vollkommen kahl, nur ziemlich tief von einem Laatschengürtel umgeben und dabei theils zerklüftet, theils von Reißen (Geröllhänge) angefüllt. Das aber blieb sich hier gleich und der Luftzug die Hauptsache, dem wir nun einmal nicht ausweichen konnten.

In solchen Fällen, wo eine Pirsche zur Unmöglichkeit wird, bleibt nichts Anderes übrig, als das Wild zu riegeln, und das [488] geschieht auf folgende Art und Weise: der Jäger, der sich dabei aber sorgfältig hüten muß, den Gemsen in den Wind zu kommen, besetzt den Wechsel, den die Rudel gewöhnlich in der Flucht nehmen, und sein Begleiter, sobald das geschehen ist, „geht die Gemsen an“. Ein wirkliches Treiben findet nicht statt; der, dem das sogenannte „Riegeln“ überwiesen ist, hat sich nur an irgend einer Stelle zur richtigen Zeit dem Wild zu zeigen, und dieses zieht sich dann langsam von der gefährdeten Nachbarschaft fort, stets den täglich genommenen Wechsel dabei einhaltend. Keineswegs dabei auf der Flucht, kommt es dem im Hinterhalt liegenden Schützen gewiß vor die Büchse, und er hat gewöhnlich auch Zeit, selbst wenn kein einzelner Bock anzieht, sich das beste Stück für seinen Schuß herauszusuchen.

Mit den Gebirgspässen und Wechseln dort noch von früher her genau bekannt, bedurfte ich keiner weiteren Führung, sondern schickte meinen Begleiter ohne Weiteres ab, das Wild zu umgehen, während ich selber im Thal noch ein Stück fortschritt, dann eine aufwärts führende Schlucht annahm, die mich den Blicken des Rudels vollkommen entzog, und nun, so rasch ich konnte, zu der Stelle hinaufstieg, wo ich wußte, daß mir das Rudel anlaufen mußte.

Den Platz erreichte ich auch, tüchtig warm geworden, nach etwa anderthalb Stunden, nahm vor allen Dingen einen Schluck aus der Feldflasche, richtete mir dann mein Versteck an der vollkommen strauchlosen Felswand mit Steinen und Geröll, so gut es gehen wollte, her und erwartete, in den grauen Kleidern auf einige Entfernung überhaupt nicht von dem gleichfarbigen Boden zu unterscheiden, geduldig das Nahen des Wildes.

Eine volle Stunde hatte ich so gelegen, und nicht das Geringste rührte sich. Ein Jochgeier strich einmal mit schwerem Flügelschlage hoch über die Kuppen hin, das Thal hinauf – an den gegenüberliegenden Wänden jagte sich ein Schwärm pfeifender Alpendohlen, und ein Paar Schneefinken zwitscherten dicht um mich her, und suchten sich ihr Futter in dem lockeren Geröll – der abgeschickte Jäger mußte schon auf die Gemsen getroffen sein, und hatten sie sich etwa doch, gegen alle Gewohnheit, thalab gewandt? – dann kreuzten sie weit unter der Stelle, an der ich lag, den Hang, und ich kam hier oben nicht zum Schuß.

Da poltert ein Stein – rasch fährt der Blick zu der Kuppe empor, über die sie kommen müssen, wenn das ganze Riegeln nicht verfehlte Arbeit bleiben sollte, und richtig, über die Höhe nieder springen sieben – acht – neun dunkle Punkte – nicht größer wie die Ameisen – aber in wilder Flucht. Den Berg rasseln sie nieder, daß lockeres Steingeröll nach allen Seiten umherfliegt und mit dumpfem Fall in die Schlucht hinabrollt, oder zischend die Luft durchschneidet – näher und näher, ohne anzuhalten, ohne ein einziges Mal zurückzuäugen – gerade in tollen Sprüngen auf mich ein.

Mir schlug das Herz wie ein Schmiedehammer in der Brust, und vergebens bemühte ich mich jetzt, unter dem wild durcheinander fahrenden Rudel einen Bock herauszufinden. Noch gab es aber vielleicht ein Mittel, sie, wenn auch nur auf einen Moment, zum Stehen zu bringen – ein scharfer Pfiff nämlich, wenn sie sich in Schußnähe befanden, aber ich mußte dann schon wenigstens wissen, auf welches Stück ich schießen wollte.

Voran sprangen die Kitzgeisen mit den Kitzen – die waren frei – aber die letzte Gems im Rudel mußte ein Bock sein – dicker kurzer Hals und breiter Rücken – die Krickeln ließen sich freilich nicht erkennen, denn weil das Rudel bergab gestürmt kam, verschmolzen die Umrisse der schwarzen Krickeln in den dunklen Körpern.

Jetzt waren sie etwa auf achtzig Schritt heran – und, die Büchse vom Backen, pfiff ich, so laut ich konnte – Gott bewahre, – keine dachte daran zu halten – vorwärts stürmten sie, und ließ ich sie bis dicht heran, so wußte ich vorher, daß ich fehlte. Ueberdies durfte ich nicht länger zögern, denn die erste Kitzgeis sprang eben dicht über mir weg, bekam Wind, pfiff und schnellte seitab den Hang hin. Das andere Rudel folgte zum Theil, theils wollten sich einige unter mir fortziehen, die herangesprungenen rascher einzuholen, denn daß hier nicht Alles richtig sei, hatten sie jetzt wohl gemerkt. Ich selber sah nur die eine, die ich mir ausersehen, und auf etwa siebzig Schritt hielt ich eine gute Hand breit vor und feuerte.

Die Gems zeichnete und das Rudel stob bei dem Schuß, der eigentlich mitten zwischen ihnen abgefeuert wurde, wild aus einander. Ich richtete mich jetzt rasch empor und nahm mit dem zweiten Rohr eine der anderthalbjährigen auf’s Korn, die mir wie ein junger Bock aussah – sie mochte jetzt etwa hundert Schritt entfernt sein. Es ist aber kein leichter Schuß, mit der Kugel eine flüchtige Gems zu fassen, und er gelingt nicht immer. Ich schoß zwar, aber die Thiere setzten ihre Flucht unaufgehalten fort und waren im nächsten Augenblick schon hinter dem nächsten Hang verschwunden – die jedoch ausgenommen, auf die ich zuerst gehalten.

Diese hatte sich – schon ein vortreffliches Zeichen – vom Rudel abgethan und zog langsam gerade zu Thal nieder, und als ich hinüber auf den Anschuß sprang, fand ich reichlich hellrothen Schweiß.

Vor allen Dingen lud ich nun meine Büchse wieder, mich nicht weiter um die schwer kranke Gemse kümmernd, und wie ich dabei nach oben sah, entdeckte ich meinen Franzel, der schon halbwegs den steilen Hang, mit Steigeisen und Bergstock einkrallend, halb rutschend, halb laufend, herunter kam. Er mußte ganz dicht hinter den Gemsen gewesen sein, und darum schien das Rudel in solch erstaunlicher Eile.

Wie Franzel herankam, erzählte er die Geschichte. Die Gemsen hatten, ohne ihn jedoch zu wittern, freiwillig ihren Stand gewechselt, waren ihrem gewöhnlichen Wechsel zugegangen, und wären ohne Störung jedenfalls langsam und vertraut zu mir herunter gekommen. So aber glaubte er, daß sie sich gleich von dort aus zu Thal gezogen hätten, und wollte ihnen den Weg dahin abschneiden, und erst als er sie nirgends finden konnte, verfolgte er seine zuerst eingeschlagene Bahn, mich abzurufen. Oben nun auf der Bergkuppe rannte er plötzlich unversehens mitten in das Rudel hinein, und daß die Gemsen jetzt über Hals und Kopf den Hang hinabstürmten, war natürlich.

Wir suchten vor allen Dingen den zweiten Anschuß ab, aber ohne Erfolg. Es war kein Tropfen Schweiß, kein abgeschossenes Haar zu finden, und ich hatte mit dem zweiten Lauf gefehlt. Die kranke Gemse fanden wir dagegen, kaum vierhundert Schritt entfernt, verendet neben einem großen Felsblock liegen, und es war richtig eine Geis, aber ein altes geltes, außerordentlich feistes Thier, das mit dem kurzem Hals und dem gedrungenen Körper kein Mensch in nur mäßiger Entfernung von einem Bock hätte unterscheiden können. Gelte Geisen sind aber jagdbar, und ich war deshalb mit meinem Erfolg – wenn mir ein alter Bock auch lieber gewesen wäre – zufrieden.

Wir waideten die Gemse aus, packten sie in Franzel’s Bergsack und setzten uns nun an den Hang, unser mitgebrachtes Frühstück zu verzehren. Eine Stunde ist nämlich in den Bergen gar bald verstiegen, und es war indessen Mittagszeit geworden, bis wo der Mensch in der leichten reinen Luft einen enormen Hunger fühlt. Dabei unterließen wir jedoch nicht, sowohl sämmtliche benachbarte Berge, wie die gegenüberliegenden Hänge sorgfältig mit unseren Teleskopen abzuäugen, und hie und da wurden nach und nach Gemsen entdeckt, und die Möglichkeit oder Unmöglichkeit besprochen, an sie hinanzukommen – war es doch noch früh genug am Tage, eine zweite Jagd zu versuchen.

Dem Hang gegenüber, an dem wir uns befanden, lag das sogenannte Kaltwasserkar, in das Karwendelgebirge hineingedrückt, und auf den hohen und weißen Reißen derselben stand ein Rudel von fünfzehn Stück. Es waren aber, wie sich mit meinem vortrefflichen Glas recht deutlich erkennen ließ, fast lauter Kitzgeisen, und auf den vollkommen offenen Reißen selber überdies gar nicht an sie anzukommen.

Unter den Reißen lag – wie es von dort aussah – ein schmaler Streifen coupirten Terrains, mit Büschen und Gras bewachsen, und mit dem bloßen Auge ließ sich nichts Lebendiges darauf unterscheiden. Mit dem Glas fand ich aber bald verschiedene einzelne Gemsen, dir sich dort theils äßten, theils niedergethan hatten und in voller Ruhe schienen. Und war dort hinüber zu kommen?

„Ja, hinüber zu kommen wär’ schon“, sagte Franzel, der mit seinem Glas die Gemsen nicht hatte ausmachen können, und jetzt das meinige nahm, sie erst einmal zu betrachten; „wir hätten aber schon zwei gute Stunden zu marschiren, bis wir nur unter den Hang kämen, und müßten dann über eine vollkommen offene Lanne hinüber, recht in Sicht von den Böcken.“

Und was waren zwei Stunden? – die Hänge drüben lagen überdies an der Nordseite, also im Schatten – bis wir hinkamen, trat außerdem die Abendkühle ein und der Wind schlug ab, in dieser Hinsicht konnten wir es uns also nicht besser wünschen. Und [489] die Lanne? – wenn wir dorthin kamen, fand sich auch vielleicht ein Ausweg sie zu umgehen, und der Versuch sollte jedenfalls gemacht werden.

Franzel – überhaupt sehr wortkarg, aber ein vortrefflicher Jäger, war mit Allem einverstanden, sah nach der Sonne und nach seiner Uhr, schob sein pappenes Teleskop zusammen, beendete sein Frühstück, stand dann langsam auf, schulterte die Gemse und sagte: „Wollen wir?“ – Ich war ohne Zögern an seiner Seite, und so rasch es der rauhe Boden erlaubte, stiegen wir den Hang hinab, zu Thal.

Franzel hatte die Entfernung keineswegs überschätzt. Erst ging es tief hinab, dann wieder eine Strecke in die Höh, dann wieder nieder, und so abwechselnd, bis wir endlich einen Streifen Wald erreichten, von dem aus wir die Kaltwasserkar, oder wenigstens deren Reißen, vollkommen gut überschauen konnten. – Das Rudel stand auch noch ruhig da – einige Stück hatten sich niedergethan, die Kitzen spielten mit einander, und ein Paar alte Geisen äßten sich an der süßen Gemskresse, die auf solchen Reißen in Masse wächst. Es war lauter Mutterwild und junges Zeug, wegen dessen es der Mühe nicht gelohnt hätte, den weiten Weg zu machen. Von den vermutheten alten Böcken in den Büschen war aber hier unten nichts mehr zu sehen, denn breite Lagen Geröll hatten sich, die Aussicht verdeckend, vorgeschoben, während trotzdem irgend ein alter Bock recht leicht hinter den Büschen am Rand derselben stehen konnte. Die größte Vorsicht blieb deshalb noch immer nöthig.

Von den Bäumen gedeckt, konnten wir allerdings noch ein Stück vorwärts rücken, dann aber lag, wie Franzel ganz recht behauptet hatte, eine breite, vollkommen baum- und strauchlose glatte Lanne zwischen uns und den Laatschen des nächsten Hanges, und das Rudel auf den Reißen mußte uns sehen, wenn wir dieselbe überschritten. Von jenem Rudel waren wir allerdings noch 1500 bis 2000 Schritt entfernt, aber was ist das in jener reinen Luft, die alle Gegenstände fast vor die Augen rückt, und wie scharf äugt eine Gemse! Hier blieb aber wirklich kein Ausweg, wir mußten über diese Lanne, wenn wir nicht einen Umweg von wenigstens zwei Stunden machen wollten, und dann wäre die Jagd für diesen Abend unmöglich geworden – also wie geschah das am Besten?

Mein Vorschlag war, ganz langsam und ohne rasche auffällige Bewegung Einer dicht hinter dem Anderen in die vor uns liegende, grasbewachsene Schlucht hinabzusteigen. Der Weg war vollkommen gefahrlos, und vielleicht ließen uns die Gemsen unbemerkt, wenigstens unbeachtet, den Schutz der nächsten Büsche erreichen. Franzel wußte nichts Besseres, und ohne weiter ein Wort zu sagen, schulterte er die erlegte Gemse wieder und schritt voran, ich dicht an seinem Rücken hinterdrein. Keiner sprach natürlich ein Wort, und nur ängstlich horchten wir, ob wir nicht bei jedem nächsten Schritt das fatale und verrätherische Pfeifen einer der aufmerksam gewordenen Gemsen hören würden – aber nichts regte sich. Schritt nach Schritt stiegen wir die steile Bahn hinab, den Blick auf den Boden geheftet, als ob wir schon damit die scheuen Thiere ruhig halten könnten, und endlich – endlich hatten wir den ersten Laatschenbusch erreicht, hinter dem wir uns Beide schweigend niederkauerten.

Es ist nämlich eine oft beobachtete Thatsache, daß eine Gemse den anpirschenden Jäger bemerkt, ohne den geringsten Warnungsruf hören zu lassen, so lange sie ihn mit ihren Blicken verfolgen, also auch beurtheilen kann, in wie weit ihr die Gefahr näher rückt. Sie läßt ihn dann allerdings nicht mehr aus den Augen und steht zur Flucht bereit, aber sie pfeift auch nicht, bis er sich irgendwo versteckt, oder durch Fels oder Busch ihren Blicken entzogen wird. Dann erst läßt sie den scharfen, nur zu wohl bekannten Pfiff ertönen und flieht – bleibt nach einer Weile wieder stehen und äugt umher, und sieht sie den Feind dann noch nicht, so pfeift sie wieder und flieht die Gegend, so rasch sie kann.

Durch unser Verstecken nun machten wir die Probe, ob wir von dem scheuen Wild bemerkt oder beachtet wären, und als wir etwa zehn Minuten dort still und regungslos gelegen und gerastet hatten, flüsterte Franzel: „Sie haben nichts gemerkt – jetzt kommen wir an.“

Vorsichtig legte er nun seinen Bergsack mit der schweren Gemse ab, diese auf dem Rückwege mit zu nehmen, packte sie aber vorher aus und hing sich den leeren Bergsack auf den Rücken.

„Wozu?“ flüsterte ich leise.

„Den Bock hinein zu thun“, lachte Franzel – „haben ihn schon.“

Diese Zuversicht theilte ich nun allerdings nicht, dennoch hatten wir das bis jetzt schwierigste Hinderniß beseitigt, und mit gutem Wind war in der That die Möglichkeit, daß ich an einen oder den anderen Bock anpirschen konnte. Aber wo standen die Gemsen jetzt, die wir drüben von dem Hang aus auf dem „kleinen Grasflecken“ erkennen konnten? Diese „kleinen Grasflecken“ selber hatten, wie mir jetzt schien, eine ungeahnte Ausdehnung gewonnen, und wo die einzelnen Gemsen darin suchen, ohne einer oder der anderen zu früh in den Wind zu kommen? Für jetzt blieb freilich nichts übrig, als die Deckung der Laatschenbüsche, so weit das anging, zu benutzen; als wir diese aber endlich verlassen mußten und einen breiten, offenen Streifen Geröll erreichten, waren wir durch eine früher gar nicht bemerkte, abhängende Wand gedeckt, so daß uns jetzt keine obenstehenden Gemsen mehr sehen konnten, bis wir wenigstens den oberen Hang erreichten.

Ueber das Steingeröll mußten wir trotzdem sehr vorsichtig schreiten, denn die Steine klapperten unter den eisenbeschlagenen Schuhen. Den Bergstock umgedreht, daß die Eisenspitze das Geröll nicht berührte, schritten wir langsam aufwärts und erreichten endlich, nach einer guten halben Stunde etwa, die ersten Erlenbüsche, zwischen denen wir das Wild wußten.

Der Nachmittag war indessen viel weiter vorgerückt, als wir bisher vermuthet hatten. Die Sonne konnten wir schon lange nicht mehr sehen, und Franzel meinte, wir würden nicht viel Zeit übrig haben, bis wir „aufi“ kämen. Schritt für Schritt konnten wir auch von hier aus nur vorwärts rücken, denn jeder Fußbreit brachte uns höher, und der Wind schlug ab; umgehen durften wir also keine Gemse, wenn wir nicht die ganze Jagd verderben wollten, und vorsichtig nach allen Seiten umheräugend, pirschten wir uns langsam aufwärts.

So sorgfältig nun Franzel dabei vermied, je laut aufzutreten, so machen auf der Pirsche Zwei doch immer mehr Geräusch als Einer, und ich winkte ihm nach einer Weile, da, wo er stand, zurückzubleiben, während ich das Terrain allein absuchen wollte. Ohne ein Wort zu erwidern, nickte er nur leise mit dem Kopf, drückte sich dann unter den nächsten Busch, und rührte und regte sich nicht mehr.

In der peinlichsten und doch wieder für den Jäger wonnigsten Spannung schritt ich indessen weiter. Meinen Bergstock, den ich hier nicht mehr brauchte, hatte ich bei Franzel zurückgelassen, und die gespannte Doppelbüchse – einen Baader’schen Bock – in der Hand, kroch ich mehr, als ich ging, die nächste Anhöhe hinan, hinter der ich jedenfalls irgend eine der von drüben gesehenen Gemsen vermuthen mußte.

Jetzt hatte ich sie erreicht und hob vorsichtig den Kopf – nichts zu sehen. Todtenstill lag der ganze Platz; kein Laut war zu hören, kein Blatt fast. Wo in aller Welt waren die Gemsen geblieben? Sollte ich jetzt links oder rechts abgehen? – Ich that erst das Eine, dann das Andere, aber nach keiner Richtung konnte ich das ersehnte Wild erspähen, und der Boden war dabei so wellenförmig gehoben, daß man von einer der kleinen Anschwellungen aus nur immer eine äußerst kurze Strecke überschauen konnte. Hatten uns die schlauen Thiere doch am Ende gewittert und das Weite gesucht? Auf dem lockeren Geröll der Reißen hätten wir aber ihre Flucht hören müssen. Jedenfalls standen oder saßen sie noch wie früher hier im Busch zerstreut, und ich durfte mich darauf gefaßt machen, in der nächsten Minute vielleicht schon das verhängnißvolle Pfeifen zu hören.

Eine Möglichkeit blieb noch: es konnte ein zweites Rudel gewesen sein, das, hier nur auf dem Grasboden zerstreut umheräßend, sich indessen wieder gesammelt hatte und mit hinaus auf die Reißen gezogen war. Das mußte ich vor allen Dingen untersuchen, und pirschte mich nun rasch nach oben. Der Abend dämmerte stark, und ich hatte keine Viertelstunde Zeit mehr zu versäumen.

Der obere Rand war indessen gar nicht so leicht erreicht, wie ich es vermuthete, wenigstens an der Stelle, an der ich gerade hinauf wollte, denn eine kleine steile Felswand lag dazwischen – aber es ging doch. Oben dehnte sich ein flacher, mit dichten Alpenrosenbüschen bewachsener Hügelkamm aus, und von diesem ab mußte ich die ganzen glänzend weißen Reißen übersehen können. – Richtig, wie ich den Kopf langsam und vorsichtig über die Büsche der Alpenrosen emporhob, lag die ganze, schräg auflaufende Fläche der Reißen vor mir, und dort, etwa vierhundert Schritte entfernt, stand noch das nämliche Rudel, das wir von drüben aus gesehen – fünfzehn Stück – keines mehr und keines weniger, und weiter war nicht eine einzige Gemse auf der weiten, hellglänzenden Fläche zu [490] erkennen. Jene andern Gemsen staken noch jedenfalls rechts und links von mir in den sie deckenden Büschen.

Sollte ich jetzt zurückpirschen? – dann kam ich von oben und sie mußten Wind bekommen – ich begriff überhaupt nicht, daß sie mich nicht schon lange gewittert hatten. Aber was anders anfangen? Der Abend brach mit Macht herein, und in dem Thal hinter mir lag schon die Nacht. Eine Möglichkeit blieb noch.

Gemsen, und wahrscheinlich mehrere alte Böcke standen um mich her, ohne bis jetzt eine Ahnung von meiner Nähe zu haben, denn wäre nur einer von ihnen vorher geflohen, so würde das Rudel da oben nicht so ruhig seinen Stand behauptet haben. Die Entfernung bis dorthin war allerdings zu groß, wenn ich aber nun mit hohem Visir auf eines der jungen Thiere hielt? Durch den Schuß wurden die mir nächsten Gemsen erschreckt, und möglicher Weise konnte mir gerade eine vor das zweite Rohr laufen.

Es war das ein verzweifeltes Mittel, aber auch das letzte, vor Dunkelwerden die Sache zur Entscheidung zu bringen. Ich klappte deshalb rasch entschlossen das hohe Visir auf, legte meine Büchse auf einen Stein, nahm eines der jungen Thiere, das möglicher Weise ein zweijähriger Bock sein konnte, auf’s Korn, hielt dann noch etwa anderthalb Hand breit darüber und – drückte ab.

Die Gemse, auf die ich geschossen, zuckte allerdings zusammen, denn die Kugel mochte wohl dicht dabei auf die Steine geschlagen haben, getroffen war sie aber nicht. Das ganze Rudel fuhr im ersten Schreck durcheinander, die paar Kitzgeisen, die gesessen hatten, sprangen in die Höhe, und plötzlich nahmen alle ihre Flucht gerade nach mir herunter.

Die Ursache war leicht erklärlich: der Schall des Schusses brach sich donnernd an der hinter ihnen aufsteigenden steilen Felswand und täuschte sie dadurch in der wirklichen Richtung, von welcher der Schuß dröhnte.

Ganz auf ähnliche Weise hatte ich früher einmal einen starken Bock erlegt, indem mir, als er noch weit entfernt war, der eine Lauf zu früh losging, der Bock aber, durch das Echo des Knalls getäuscht, gerade auf mich zu floh.

Während das Rudel jetzt über das lockere Geröll der Reißen prasselte, sah ich ängstlich nach rechts und links, ob mir nicht einer der alten Grauröcke zum Schuß käme – aber Alles blieb in den Büschen still, und nur das Rudel kam näher und näher. – Jetzt floh es, durch irgend eine Laune der Leitgeis geführt, in einer Schwenkung auf etwa hundert Schritt quer vor mir vorüber, über die Reißen. Sollte ich meine letzte Kugel an eines der jungen Dinger wagen? Und wenn mir dann ein alter Bock noch zum Schuß gekommen wäre? – Plötzlich schrak ich zusammen, als ob ich einen Stich in’s Herz bekommen hätte, denn dicht, dicht vor mir, nicht zehn Schritt von mir entfernt, gerade hinter den Alpenrosen, tauchten ein paar mächtige Krickeln auf, und eine Secunde später stand ein alter Bock in Lebensgröße vor mir und äugte mir scharf und erstaunt in’s Gesicht. Im Nu flog die Büchse an den Backen – das Rudel hörte und sah ich nicht mehr, aber – das hohe Visir. Ich hatte vergessen, es niederzuklappen, und wie ich das Korn suchte, fühlte ich mehr, als daß ich es sah, die veränderte Lage.

Ich hätte vielleicht können ein Stück tiefer halten, aber auf so kurze Entfernung blieb der Schuß dann doch immer ungewiß, auch dachte ich in dem Augenblick nicht daran. Rasch zog ich die Büchse zurück und drückte das Visir nieder – aber der Bock war wie in den Boden hinein verschwunden. Doch er konnte mir nicht mehr entgehen; mit einem Satz war ich auf dem Alpenrosenrande, der mich bis dahin halb verdeckt hatte. Wollte er in die Büsche, so mußte er ebenfalls diesen überspringen, und über die Reißen hin hatte ich nach allen Seiten freien Schuß. Dort rasselten jetzt die Steine, und im nächsten Augenblick floh der alte, feiste Gesell, der aus einer Art Mulde wieder zum Vorschein kam, über das weiße Geröll. Das aber gab unter seinen Schalen nach; er konnte nicht recht flüchtig werden, und wie ich ihm jetzt auf höchstens sechzig Schritt bedächtig auf’s Blatt zielt, brach er mit dem Schuß im Feuer zusammen.

Ich habe mich schon über manchen Schuß gefreut, aber kaum je mehr als über diesen, und ein lautes Hurrah! – denn mit der leeren Büchse brauchte ich keine Rücksichten weiter zu nehmen – brachte wenige Minuten später den bergaufkeuchenden Franzel an meine Seite.

„Haben wir ihn?“

„Dort liegt er, Franzel!“

„Kann er noch fort?“

„Nein, er ist fertig – ein guter Bock.“

„Der ist recht“, sagte Franzel vergnügt, indem er, während ich die Büchse wieder lud, meinem ausgestreckten Arm folgend, der Stelle zukletterte, wo der Bock in den letzten Zuckungen mit dem lockeren Gestein langsam zu ihm niederrutschte. Das Rudel floh indessen der linken Wand zu, die es auf einem schmalen, nur solchen Thieren zugänglichen Pfad hinanstürmte, und rechts von mir sah ich auch jetzt zwei andere Gemsen, jedenfalls Böcke, das Weite suchen. Die aber hatten Ruh, unsere Jagd war gemacht, und still vor sich hinlachend, brach Franzel den jetzt verendeten Bock auf und hob ihn in seinen Bergsack.

„Hab’ ich nicht gewußt, daß wir den Sack brauchen würden?“ schmunzelte er, als er mir meinen Bergstock reichte – „der war noch recht heut’ Abend. Die werden schauen, wenn wir auf die Alm kommen! Aber viel Zeit hatten wir auch nicht mehr zu verlieren, denn ’s wird mit Macht dunkel und der Weg ist schlecht.“

Franzel hatte Recht, und hielt sich auch nicht mit weiteren Worten auf. Schnurgerade glitt er den Hang hinunter, der Stelle zu, wo wir die andere Gemse zurückgelassen hatten. Diese nahm ich in meinen Bergsack, und da wir noch eine gute Stunde von unserer Almhütte entfernt waren, schritten wir jetzt wacker aus, sobald als irgend möglich unser Nachtquartier zu erreichen.

Und was für ein wonniges, seliges Gefühl ist es, nach solcher Tagesarbeit, mit der eigenen schweren Beute im Bergsack, der stillen Jägerhütte in den Alpen zuzuschreiten! Das muß aber wirklich erst einmal selber mit durchgemacht sein, um es ganz begreifen und empfinden zu können; durch Worte läßt sich das im Leben nicht beschreiben.

Daheim war mein Jagdgefährte indessen ebenfalls mit einem jungen Bock eingetroffen, und weil er früher als ich mit seiner Jagd fertig geworden, hatte er noch eine ganze Partie Gemskresse zu einem Salat gepflückt und mitgebracht. Gemskressensalat und gebratene Gemsleber, Kaffee und Schmarren, es soll mir irgend ein Gourmand kommen und behaupten wollen, daß er in seinem ganzen Leben besser gegessen habe!


Die Prairien.

Erlebnisse eines deutschen Flüchtlings von C. B.
(Fortsetzung.)


Harry lachte, und Ben sah mich verwundert an. Staunen und Beifall schienen seine verwitterten Züge auszudrücken; als ich aber schwieg, machte sich ein anderes Gefühl Raum, das der Mißbilligung. Schweigen ist das Kennzeichen der Prairie. In diesem endlosen Raume verhallt jeder Ton. Nur auf die Erde hingeworfen, hörst Du den Flintenschuß, hörst Du den Galopp des Pferdes, den Trab des Büffels. Nirgends kann sich der Schall brechen, überall saugen ihn die tausend und aber tausend Grasspitzen ein. Schweigend grast das Thier, schweigend begibt es sich auf die Flucht, schweigend greift es den Feind an; nur verwundet stößt es einen Schrei des Schmerzes oder der Wuth aus, fast erschrocken darüber. Deshalb erregt auch jeder Laut die Aufmerksamkeit des Prairiebewohners. Auge und Ohr sind immer offen, denn Gefahr droht überall. Wir waren noch nicht weit genug eingedrungen in die Prairie und hatten auch noch keine Lust, uns auf eine Jagd einzulassen, deshalb hielt Ben seine tadelnde Bemerkung zurück.

Mein Unfall gab zu ernsten Erwägungen Anlaß. Zwar hatte ich einen Taschencompaß, allein, noch kein firmer Reiter, konnte mir leicht ein Unfall zustoßen; und, getrennt von den Anderen, war ich rettungslos verloren, da ich noch nicht einmal der Jagd kundig war. Harry übersah die Gefahren unserer Lage und sprach [491] mit Ben darüber, ohne mir etwas davon zu sagen, um mich nicht ängstlich zu machen. Wie mir Harry gestand, war er in Zweifel gewesen, ob er umkehren oder Ben zurückschicken sollte, einige Gefährten zu holen.

„Dachte’s wohl!“ hatte Ben gesagt. „Muß Einen für sich haben dann wird’s schon gehen,“ hatte er hinzufügt, „es ist gute Art.“

Um Mittag machten wir Halt. Noch lebten wir von unsern Vorräthen und dachten an keine Jagd, nur ich konnte sie nicht erwarten. Alle Müdigkeit war verschwunden, ich fühlte, daß ich schon Gewalt über mein Pferd erhielt. Es war ein prächtiges, edles Pferd. Schlank und fein gebaut, konnte es seinen englischen Stamm nicht verleugnen, und zeigte auch die Klugheit dieser edlen Rasse. Ich fütterte es selbst mit meinem Brodte, und ich hatte seine Liebe später so gewonnen, daß es meine anfängliche Ungeschicklichkeit ganz vergaß. Tag für Tag zu Pferde ist die beste Reiterschule, und ich wurde bald mit meinem Pferde eins. Von den Gefahren, welche mir droheten, hatte ich keine Ahnung. Endlos lag freilich die Prairie vor uns, ein Grasmeer im eigentlichsten Sinne des Wortes, denn Welle auf Welle reihte sich der Boden an einander. Diese Prairie heißt besonders die trockene oder wellige Prairie und ist Meeresboden, oder vielmehr der Grund eines Sees gewesen, dessen Abflüsse der Kansas und Arkansas bilden, auch wohl noch der Red-River. Der Arkansas hat sich sein Bett deutlich durch das Ozark-Gebirge gegraben, wie ich deutlich auf unserem Wege von Fort Smith nach Fort Gibson erkennen konnte. Zwischen 2 bis 10 Fuß schwankten die Bodenerhebungen, waren aber unmerklicher, da auf den Höhen das Gras 2 Fuß, in den Gründen fast 2 Ellen hoch stand. Außer dem Arkansas hatten wir noch kein Wasser wieder gesehen. Unseren Pferden merkten wir es an, daß ihnen die wenigen Tropfen, welche sie von unserem Vorrathe erhielten, nicht genügten, aber es ging vorwärts bis in die Nacht hinein. Endlich machten wir Halt an einem kleinen Flüßchen, unter den Bäumen an seinem Ufer loderte unser Feuer lustig auf, und ich fühlte die Anstrengungen des Rittes so sehr, daß ich mir kaum Zeit nahm, etwas zu essen, und dann, in meine Decke gehüllt, bald in tiefen Schlaf versank. Ich erwachte ziemlich spät und war verwundert, daß noch keine Anstalt zum Aufbruche gemacht wurde.

Harry scherzte über meine Jagdlust, und nach Rücksprache mit Ben wurde beschlossen, die erste Büffeljagd zu machen. Ich sollte mich mehr als Zuschauer verhalten. Ungern that ich es, aber ich erkannte das Vernünftige des Vorschlages. Wir ließen alle unsere überflüssigen Sachen am Orte unsers Nachtlagers und ritten thalaufwärts. Bald sahen wir einen Büffel in einiger Entfernung weiden. Die starken Büffelstiere lieben die Einsamkeit, sind aber durch ihre Wildheit um so gefährlicher, und durch ihre Schlauheit um so geschützter vor Angriffen. Ben und Harry machten ihren Angriffsplan, und ich erhielt den Auftrag, den Büffel immer im Gesichte zu behalten, dann verschwanden sie in der Prairie.

Die Minuten der Erwartung dehnten sich unendlich, aber doch hatte ich nicht das Gefühl der Vereinsamung, wie an den Ufern des Arkansas. Es lag dies nicht am Sonnenschein, an der Aufmerksamkeit auf den weidenden Büffel und der Anspannung der Nerven durch die Jagdlust – es mochte Alles etwas dazu beitragen, wie der regnerische Tag vielleicht meine Gemütsbewegung gesteigert hatte; die Hauptsache war: ich fühlte mich als ein neuer Mensch. Die ganze Natur sah mich mit andern Augen an, weil ich sie mit andern Augen betrachtete. Ich reflectirte über diese Veränderung in mir, ohne zum Bewußtsein derselben zu kommen, denn meine Aufmerksamkeit ward jetzt ganz von dem Büffel in Anspruch genommen. Er begann unruhig zu werden. Vielleicht war einer der Reiter auf hartem Boden geritten, und er hatte ihn gehört, denn noch sah ich keinen von Beiden. Er schaute sich unruhig um, und schien sich seiner Umgebung vergewissern zu wollen. Meine Aufregung steigerte sich; ich fühlte, daß sie sich meinem edlen Rosse mittheilte. Da sah ich Harry hinter dem Büffel erscheinen. Behutsam näherte er sich; vielleicht bis auf fünfzig Schritte ihm nahe gekommen, indem er sich bis auf den Hals des Pferdes niedergebeugt hatte, sprengte er in vollem Laufe auf das Thier los. Es war in demselben Augenblicke, wo ihn der Büffel bemerkt hatte. Dennoch war dieser überrascht und schien erst unschlüssig, ob er fliehen sollte oder nicht. Da warf er sich plötzlich herum und stürmte fort. Es sah höchst komisch aus, wie diese dunkle Masse sich durch das hohe Gras wälzte, denn von den Beinen sah ich nichts. Harry war ihm zur Seite, und ich bemerkte, wie er sich bemühte, ihm die Richtung seiner Flucht, nach unserm Lager zu, anzugeben. Es gelang. Fast Seite an Seite sprengten sie auf mich zu. Wieder ging es eine Welle hinauf. Mit einem Male überschlug sich der Büffel und kugelte herunter, war aber gleich wieder auf den Beinen, und weiter ging’s! Jetzt sah ich auch Ben von der Seite erscheinen. Harry mit dem Büffelstier war mir ziemlich nahe gekommen, ich konnte sehen, wie er den Lasso schwang, wie der Stier wieder stürzte. Meine Büchse hatte ich schon fertig gemacht. Da sah ich, wie Harry im Sattel wankte, als der Stier sich wieder aufrichtete und fortstürzte. Ich konnte leicht erkennen, daß wider Harrys Willen sich sein Lasso fest verschlungen und ihn mit dem Büffel verbunden hatte. Es blieb ihm nur die Wahl, den Lasso abzuschneiden oder durch die Wucht des riesigen Thieres mit fortgerissen zu werden, wenigstens hatte er jetzt die Herrschaft über dasselbe verloren, da er sich hüten mußte, sein Pferd zu nahe heranzutreiben, daß es nicht in den Lasso verwickelt wurde. So war die Thatsache. Ich aber sah nur, daß etwas nicht in der Ordnung sei, glaubte Harry in Gefahr und sprengte rücksichtslos dem Büffel entgegen. Eben richtete dieser sich von einem neuen Fall auf, als ich mit meinem Pferde fast gerade auf ihn lossprengte. Die blutunterlaufenen Augen des furchtbaren Thieres stierten mich an, mit wilder Wuth wollte es sich auf mich werfen. Mein Pferd wich dem mächtigen Stoße aus, und ich jagte dem Büffel meine Kugel durch das eine Auge in das Gehirn, daß er mitten in seinem Stoße zusammenbrach.

Harry, der wirklich den Lasso abgeschnitten hatte, kam in demselben Augenblicke angesprengt, und Ben folgte ihm. Harry war unzufrieden mit sich; er war Meister in der Kunst, den Lasso zu schwingen, und nur der Mangel an Uebung hatte ihn zu viel Kraft auf den zweiten Wurf verwenden lassen, sodaß er den Lasso sich zu fest umschlingen ließ, als daß er ihn schnell vom Büffel wieder lösen konnte.

Den Büffel mit dem Lasso zu fangen ist unmöglich„ weil dessen riesige Last Roß und Reiter zu Boden stürzt. Unser erlegter Stier wog seine 15 Centner, und eine solche Last vermag ein Lasso nicht zu halten, wohl aber dem Stier die Beine zu umschlingen, ihn zum Fallen zu bringen und so zu ermüden. Die Kunst des Lassowerfens besteht nun darin, den Büffel fallen zu lassen, ohne den Lasso fest zusammenzuziehen. Der auf diese Weise ermüdete Büffel ist leicht zum Schuß zu bringen, und zum Schuß muß er gebracht werden, weil er nur wenige tödtliche Stellen hat, und verwundet bald aus dem Gejagten der Jagende wird. Ein verwundeter Büffelstier ist fürchterlich, wie ich später erfahren sollte.

Harry vergaß seinen Unmuth über die Freude, daß ich das Thier erlegt hatte, und selbst Ben gab seinen Beifall zu erkennen. Sein erstes Geschäft war, den Stier abzuhäuten. Harry brachte seinen Lasso wieder in Ordnung, und ich wurde nach dem Lager geschickt, um einige Stricke zu holen, an denen wir Streifen von Büffelfleisch trocknen wollten. Ich ritt eiligst davon. Aber obgleich ich nur einige Minuten nach dem Lager hatte, war ich doch schon eine halbe Stunde geritten, ohne dasselbe erreicht zu haben. Hatte ich vorher auf keinen Weg geachtet, mir nur die Richtung gemerkt, so sah ich mich nun nach einem Wege um. Hin und her, die Kreuz und Quer liefen Spuren durch das Gras; aber welche in die Prairie, welche aus derselben führten, das wußte ich nicht. Ich sah mich um, ob ich nicht irgend ein Zeichen entdecken könnte – ich war verirrt! Das Einfachste wäre gewesen, wenn ich meine Büchse abgeschossen hätte, aber ich konnte berechnen, daß ich mindestens einige Meilen von meinen Gefährten mich entfernt hatte. Das Thörichtste wäre gewesen, wenn ich auf’s Gerathewohl hätte weiter reiten wollen. Ich sah nach meiner Uhr; es war neun Uhr. Vermittelst meines Kompasses ward es mir leicht, die Himmelsgegend zu bestimmen. Zum Glück erinnerte ich mich daran, nach welcher Seite der Schatten von Harry’s Pferde gefallen war und der meines Pferdes, als ich den Büffel beobachtete. Südlich von unserm Lager lag der Stier, ich war zu weit östlich geritten, Mußte also südwestlich zurückreiten. Mit dem Kompaß in der Hand wollte ich mich auf den Rückweg begeben, und als ich auf der Höhe einer Welle noch einmal umschaute, bemerkte ich hinter mir einen Reiter. Ich lud meine Büchse und erwartete seine Ankunft. Er mußte mich schon bemerkt haben, und trabte gerade auf mich zu. Eine wunderliche Figur bildete der Reiter. Ein langer, hagerer Mann, saß [492] er auf einem abgetriebenen kleinen Pferde. Seine langen Beine schienen die Erde zu berühren. Ich ritt ihm etwas entgegen.

„Habe die Station, Mr. erwartet mich schon. Wäre schon früher gekommen! Doch kein Unglück gehabt? Nichts Verdächtiges gesehen, keine Spur. Der Fuchs ist gut weggekommen, und der Mr. auch gesund. Verfluchte Bestien, diese Erdhunde! – Wenn ich nur erst ein anderes Biest zwischen den Beinen habe. Hält kaum aus bis zum Lager!“

Man kann sich denken, wie sehr mich diese Anrede überraschte. Mißtrauisch sah ich dem Manne in’s Gesicht, als ich ihm nahe genug war, aber ich begegnete einem so biedern, festen Blicke, daß ich ruhig meine Büchse über die Schulter warf. Er schien meine Gedanken errathen zu haben und war erfreut über das Zutrauen. Er reichte mir die Hand.

„Vorsicht ist immer gut auf der Prairie und in der Stadt. Haltet Euch bei Seite, mein Biest hat zu allen Thorheiten Kraft. Doch besser, ich lasse es laufen. Wasser wird es finden und Futter hat’s genug, um zu Kräften zu kommen. ’s ist doch Gottes Geschöpf.“

Mit einigen Griffen hatte er, nachdem er abgestiegen war, den Sattel abgeschnallt, dann machte er den Zügel los. Mit lustigen Sprüngen eilte das Thier davon, warf sich an die Erde, reckte und streckte sich, und rannte dann in der Richtung fort, die ich als die meinige mir vorgezeichnet.

Wie um das Pferd zu erleichtern, hatte sein Reiter sich schon vorher mit seinem ganzen Gepäck belastet; spielend warf er sich Sattel und Decke über die Schultern und nahm den Zaum in die Hand. Mir that er leid, so bepackt einher zu schreiten, ich sprang vom Pferde und verlangte, daß er auf dasselbe sein Gepäck legen sollte. Er wollte durchaus nicht. Als er aber sah, daß ich auf meinem Kopfe bestand, legte er Sattel, Decke und Zaum darauf, wandte sich dann rasch zu mir und sagte: „Und wenn ich mich nun selbst aufsetzte und davon sprengte?“

„Ihr thut’s nicht!“ versetzte ich lachend. „Und wolltet Ihr’s, meine Kugel ist schneller als mein Pferd.“

„Glaub’s wohl, glaub’s wohl!“ erwiderte er ernst. „Aber, junger Mann, habt Ihr schon einen Menschen heruntergeholt vom Pferde? Ben hat’s, und nun hält’s ihn fest in der Prairie. Ich habe sie gezeichnet, alle die Diebe, sie wissen, wie meine Kugel trifft. Aber erschossen habe ich keinen. Grausam sind sie Alle. Sie sind Alle Diebe und Räuber, aber sie kennen Dick’s Büchse und kommen ihr nicht zu nah. Ja, Mann, sie sind mir näher gewesen, als mir es lieb war. Ja, hier seht Ihr!“ Mit diesen Worten nahm er seinen Hut ab, und ich sah mit Schaudern, daß er scalpirt war. „Das haben sie mir gethan, diese Rothhäute. Ben hat mich gerettet. Er hat sie Alle erschossen, Keiner blieb über, um Dick’s Scalp in seinen Wigwam zu tragen. Ich habe ihn noch!“ Und er zeigte mir ihn, an seiner Seite hängend. „Ben hat mich gerettet und gepflegt, darum folge ich Ben und kann nicht von ihm lassen. Ich sagte ihm, ich habe die Prairie satt und wolle in der Mission bleiben, und er ging. Junger Mann, ich konnte nicht Ben allein lassen. Wer würde ihn retten, ihn pflegen, wenn ich nicht bei ihm wäre? Da bin ich hinter ihm drein geritten und habe gesehen, daß ihrer Drei waren und Einer ein Grüner. Nehmt’s Wort nicht übel,“ fügte er hinzu, „aber Ihr konntet nicht durch den Strom, und wurdet bei den Hunden abgeworfen. ’s war wohl zu sehen; Ben ließ eine breite Spur und ich fand, daß Einer im Kahne übergesetzt war, und wo der Fuchs gestürzt war, lagen noch die Haare im Grase, und kein zweites Thier wie dieses ist in diesen Prairien. – Ihr waret mir rasch vorgekommen und ich wußte nicht, wie ich Euch einholen sollte, als Ben mir sagte, daß ich in’s Lager kommen möchte.“

„Ben hat Euch gesagt, Ihr solltet zu uns kommen?“ fragte ich erstaunt.

„Nun, ich fand sein Zeichen im letzten Nachtquartier, wo Ihr am Mittag gewesen, und bin fast die ganze Nacht durch geritten,“ fuhr er fort. „Und Ihr erwartetet mich nicht?“

Ich erzählte ihm offen, wie es mir ergangen war.

„Ja, die Prairie ist ein eigen Ding. Einer wird mit ihr nicht fertig, selbst Ihr mit Eurem Kompaß nicht. Aber Ihr habt Euch schon gefunden und den Kopf nicht verloren, Mit uns Beiden, mit Ben und mit mir, könnt Ihr schon ihren Tücken trotzen. Seht, da ist er schon auf Eurer Fährte.“

Und richtig, auf Harry’s schönem Thiere kam Ben, den Kopf zur Erde gebeugt und den Blick auf dieselbe gerichtet, in vollem Galopp auf uns zugesprengt. Er verfolgte meine Spur. Vergebens hatten sie auf meine Wiederkehr gehofft. Dann hatte sich Ben auf Harry’s Pferd geworfen und war mir nachgeritten, wobei er sich gleich überzeugte, daß mein Weg am Lager vorbei führte.

Bald hatte er uns bemerkt und Dick erkennend sprengte er auf uns zu.

„Wußt’s wohl!“ rief Ben.

„Das freut mich, Ben, das freut mich!“ war Dick’s ruhige Antwort, als sie sich die Hände schüttelten.

Wir beschlossen, den Tag über noch am Flusse zu rasten, und den Nachmittag dazu zu benutzen, Dick beritten zu machen. Ich mußte zu diesem Versuche meinen Fuchs an Dick abtreten, und hatte die angenehme Sorge, das Lager zu bewachen und darauf zu achten, daß unser Büffelfleisch in der Sonne gut austrocknete, denn noch vor Mittag war das beste Fleisch in Streifen geschnitten und in die Sonne gehängt. Die Haut hatte Ben in ein sicheres Versteck gebracht, nachdem er sie mit dem Gehirn des Büffels eingerieben.[1]

Gegen Abend kamen Ben und Harry zurück; der letztere mit meinem Fuchs an der Hand. Nach einer Stunde stellte sich auch Dick ein auf einem kräftigen Mustang[2], der aber über und über mit Schaum bedeckt war.

Harry hatte ihn eingefangen, und den Fehlwurf von heute früh ausgeglichen in seinen Augen. Das Thier war unbändig und wild und blieb stets tückisch und boshaft, so daß wir es von unsern Pferden entfernt halten mußten, denn es biß und schlug auch nach diesen. Nur den Lasso aber brauchte man ihm zu zeigen, und es zitterte am ganzen Körper; nur durch ihn konnten wir seine Wildheit zähmen. Unsere Pferde übertrafen es weit an Schnelligkeit. Wir hatten Gelegenheit, dies bald zu erproben; denn trotz unserer Vorsicht hatte es sich doch einmal losgerissen und eilte in die Prairie hinaus. Obgleich wir ihm einen großen Vorsprung lassen mußten, da wir unsere Pferde erst aufzäumten, so überholten wir es doch, und ich hatte die Freude, mein Probestück im Werfen des Lasso abzulegen. Es zeigte sich hier deutlich, daß die Pflege der Menschen auch die natürlichen Fähigkeiten der Thiere entwickelt.

Dick hatte eine ganz besondere Zuneigung zu mir gefaßt. Er rechnete mir hoch an, daß ich gleich solches Zutrauen zu ihm gehabt hatte und ihm als Fremden so dienstfertig entgegengekommen war; er war mein Lehrmeister in Behandlung der Büchse und des Lasso. Schauerlich-komisch löste sich das Räthsel, wie er sich die Indianer vom Leibe hielt und doch seinen Gewissensskrupeln, Niemand zu tödten, treu blieb. Ben erzählte uns, daß er weit der gefürchtetste Jäger sei, daß kein Indianer in seine Nähe zu kommen wage, weil er gewiß sei, mit zerschmetterter Hand oder lahmem Fuße in seine Heimath zurückzukehren. Dies sei den Indianer fürchterlicher, als der Tod, denn alsdann müßten sie als Invaliden bei den Weibern leben.

Unsere Pferde bedurften der Ruhe, und wir folgten dem Laufe des kleinen Flusses, während ich meine Exercitien machte, und wir diese Zeit zur Dressur unserer Hunde benutzten. Beide Jäger waren Gegner dieser schönen Thiere, die ihnen zu laut waren und deren Nützlichkeit sie weit unterschätzten. In der ersten Zeit beachtete ich nicht, wie genau Harry sich über die Bodenbeschaffenheit unsers Weges unterrichtete. Bei einer Biegung des Flusses traten Felsbildungen auf. Ich erkannte Porphyrformationen und machte die Bemerkung gegen Harry, daß an Porphyr sich auch die Kohle anschlösse, wir daher wohl auf Kohlenflöze stoßen könnten. Harry horchte mir aufmerksam zu, und ich fand Gelegenheit, meine wenigen geognostischen Kenntnisse zu zeigen. Harry war sehr erfreut darüber, und gab mir den überraschenden Aufschluß, wie er besonders über die Bodenverhältnisse der Prairie diesseits des Arkansas sich unterrichten wolle, weil er gedenke, daß bald eine Eisenbahn diese Gegend umgestalten solle.

(Fortsetzung folgt.)
  1. Die gewöhnliche Art, die Büffelhaut zu gerben.
  2. Mustang, das wilde Pferd der Prairie, wird mit dem Lasso eingefangen, Der Reiter legt ihm den Zaum an und setzt sich auf das Pferd. Vergebens beißt dies um sich, schlägt hinten und vorn aus, stürmt endlich in die Prairie; bald hat es der Reiter in seiner Gewalt, und es erkennt seine Herrschaft an, bleibt aber tückisch und bissig.