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Die Gartenlaube (1859)/Heft 35

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1859
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[493]

No. 35. 1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Tage im Walde.
I.

Wie ist es so schön, so herrlich frisch im Wald! im Laubwald, wenn das Frühroth in der Ferne dämmert, der Morgenwind die Blätter rührt und die verschlafenen Bäume zum Erwachen zwingt; ein Specht zu hämmern anhebt, Goldhähnchen vorüber hüpfen, ein Eichhörnchen aus dem Neste guckt, ein Finke zu schlagen beginnt, der Pirol pfeift, die Drossel den Schnabel wetzt – und nun plötzlich sich die Spitzen der Bäume röthen, Thautropfen wie Diamanten glitzern, – einen Augenblick heilige Stille wird, als schritte der Herr durch den Wald – und dann die Sonne aufgeht! –

Es wird Tag. – Nun hebt Alles zu singen an; auf allen Zweigen regt es sich; überall lassen Vogelstimmen sich hören; ein allgemeiner Chor ist es geworden, und die Rehlein lauschen im Thalgrund altklugen Auges, bis ein Beilschlag in der Ferne laut wird, die Geschäftigkeit des Tages des Waldes Morgenfeier unterbricht, die Sonne höher und höher strebt, des Tages Last und Hitze des Waldes Morgenfeier vorüberrauschen macht. – Wie schön ist es im Walde! –

Das junge Mädchen aber, welches den Hügel hinaufstieg, war noch schöner; so jugendlich frisch, so lieblich anzusehen. – Von der entgegengesetzten Seite kam ein Bursch daher. Fröhlich sang er in den Wald hinein:

Und muß ich auch zum Wald hinaus,
Mein Herz bleibt doch bei Dir.

„Wenn’s nur wahr ist!“ unterbrach in diesem Augenblick das Mädchen den Sänger. – Und der, nun, der jodelte auf und lachte. Was er aber sagte, ich weiß es nicht. Verständlich aber war es gewiß, denn die Maid lächelte bei seinen Worten so selig glücklich, und ihr Auge leuchtete so wunderbar.

Sie ließen auf den Rasen sich nieder und saßen dort Hand in Hand. Droben im Laubdach saß ein Fink und schaute listig altklugen Aug’s auf die Beiden nieder. Er schien gar aufmerksam zuzuhören, hat auch gewiß alles verstanden, was die Beiden sich erzählt – will aber nichts sagen, nichts gestehen. Wenn ich ihn frage, singt er mir in’s Gesicht, und mir ist’s, als wolle er mir sagen:

Im Wald, im Wald, da ist’s gar still;
Was ich gehört, nie sagen will –
Du möchtest sonst es plaudern.
Der Wald, der Wald so manches sieht,
Was innig freut Herz und Gemüth –
Doch thät er nie es plaudern.

Der Schelm! als ob ich nicht verschwiegen wäre! Doch halt, wo sind die beiden jungen Leutchen geblieben? – Ei, sieh, das junge Mädchen geht dort, der Bursche dort – und keines thut, als ob es den andern kenne. – Macht das der Herr Förster, der soeben den Berg hinansteigt und dem die Maid so freudig entgegen eilt? Es ist ihr Vater.

Sie ging im Wald so vor sich hin
Und suchte in der Blätter Grün
Der Erdbeer’ rothe Früchte

Jetzt aber wirft sie einen Blick verstohlen zur Seite. Soeben steht der Bursch auf der Kuppe des Berges. Noch einen Schritt abwärts – und er ist verschwunden. Singt er nicht laut?

Ade, Du Maid, mein süßes Lieb,
Geschieden muß es sein! –

Der Förster hat mit den eben ankommenden Holzschlägern zu schaffen; er reicht der Tochter die Hand zum Abschiede und schreitet fürbaß.

Die Maid aber geht langsam, langsam nach Haus. Alle Freudigkeit scheint hin. Sie preßt die Hand auf das wogende Herz; eine Thräne stiehlt sich aus dem Auge – und leise spricht sie: „Werd’ ich ihn wiedersehen? Ach!“

Kein Feuer, keine Kehle kann brennen so heiß,
Als heimliche Liebe, von der Niemand nichts weiß.

Und die Sonne steigt höher und höher empor. Der frische Morgenwaldduft ist längst verschwunden. Laut dröhnt der Beilschlag, der Holzfäller. Ein Baum nach dem andern schlägt nieder. Ein eigenthümliches Aechzen wird beim Fallen vernehmbar, gleichsam als ob der Baum, der Jahrhunderte lang so frisch im Wald gegrünt, seinen letzten Todesseufzer aushauche, als nähme er Abschied von den Genossen, die mit ihm jung gewesen, mit denen er Sturm, Wetter und Sonnenschein gemeinsam getragen. Ein eigenthümliches Wehe durchzittert die Luft, wenn solch’ ein majestätischer Baum donnernd zur Erde fällt.

Die Menschen sind geschäftig im Wald, nur die Mittagsruhe derselben unterbricht den Lärmen. Die Thiere sind zumeist ruhig und still geworden, als pflegten auch sie auf kurze Zeit der Ruhe nach stundenlanger Arbeit. Der Gesang der Vögel wird nur noch in einzelnen Stimmen vernommen. Die Krähen sind in Schaaren nach den Feldern gezogen, die Blätter der Bäume hängen nieder. Alles athmet Ermattung. Doch nicht lange dauert diese Schwüle – die Sonne geht zur Rüste. Es will Abend werden.

Die Förstermaid ist wieder im Wald. Sie geht dem bald heimkommenden Vater entgegen. Oftmals aber bückt sie sich nieder, pflückt eine Waldblume ab, um sie als ein Orakel der Liebe zu benutzen. Sie zerpflückt dieselbe, und das Herz fragt bei jedem niederfallenden Blatt: liebt er mich? liebt er mich nicht? bis das letzte der Blätter, als ein glückliches Zeichen, ihr ein schmerzlich-freudiges

[494] Lächeln auf die Wange lockt. – — „Zwei Jahre bleibt er fort! Wird er mir treu bleiben? Wird er erreichen, wonach er strebt? Und wird mein Vater, wenn das Ziel errungen, seine Einwilligung geben? Wird er mir oft durch seine Mutter schreiben?“ So fragt die Maid sich selbst. Träumend geht sie weiter – und malt in Gedanken die Zukunft sich aus.

Plötzlich aber schreckt sie auf. Leute nahen.

„Gute Nacht, Herr Förster!“ rufen die Holzschläger, und eilen den Fußsteig dahin; indeß der Förster die Tochter freundlich empfängt und mit derselben am Arm querein durch den Wald nach Hause geht. –

Und Abend wird es mehr und mehr. Die Krähen kehren in Schaaren vom Felde heim und lassen, laut mit den Flügeln schlagend, im Walde sich nieder. Jetzt lassen die Sänger des Waldes ihr Abendlied erschallen. Die Spitzen der Bäume röthen sich im Sonnenabendgold. Rehe und Hirsche eilen zum Waldsee hin. – Es ist so eigenthümlich laut ringsum, als suchten alle Geschöpfe noch dem Herrn ein Abendlied, ein Dankgebet darzubringen.

Doch die Sonne verschwindet; die Waldblumen schließen ihre Kelche; der Abendwind rauscht durch die Wipfel der Bäume – dann dunkelt es mehr und mehr; stiller, stiller wird es. – Der Abend vergeht – es wird Nacht. Alles scheint zu schlafen. Doch plötzlich regt, bewegt es sich im Walde; ein eigenthümliches Summen geht durch die Bäume; seltsame Stimmen werden laut; eigenthümliche Schatten huschen vorüber. Eine Eule schreit, ein Fuchs läuft dahin, der Ruf des Uhu tönt, ein Rudel Hirsche jagt vorüber, ein Marder schleicht vom Baume. Jetzt wachen die Glühwürmchen auf und erhellen das Moos; am Moor tanzen die Irrlichter. Jetzt schwebt auf dunklem Wolkensaum herauf das Mondenlicht.

Immer märchengrausiger wird es im Walde!

Gewiß! im Thalgrund tanzen die Wichtelmännchen schon; der Waldgeist jagt vorüber; auf dem dunklen See, wo bei Tage schon so geheimnißvoll die weißen Wasserlilien prangten, wird’s lebendig. Die Wassernixen steigen aus den Lilien auf, wiegen sich auf den breiten, dunklen Blättern – und rudern zum Strand. Jetzt scheint der Mond so hell; man sieht die Nixen deutlich auf dem Wiedengrund tanzen. Drüben aber im Tannenwald rauscht und dröhnt es, als zöge die wilde Jagd daselbst.

Horch! horch! jetzt hastiger Beilschlag. Holzdiebe fällen einen Stamm. Ein Schuß fällt. War es der Jäger oder der Wildschütz? – Nun aber ist Alles still. Mitternacht ist nahe. Ein Uhu rauscht geheimnißvoll durch die Lüfte dahin. – Wie märchengrausig ist’s im Walde! Langsam, still, gleich einer Friedensfahne schwebt der Mond auf dunklem Wolkenboot am Himmel entlang.

Doch welch ein Ton schallt Plötzlich durch die Luft, die geheimnißvolle Stille durchbrechend? Es ist ein Horn, es naht die Post. – Weit, weit hin durch den Wald erklingt das Lied des Postillons. Wie zauberisch wunderbar! – Die Passagiere denken, es sei Station; sie blicken verschlafen zum Wagenfenster hinaus. Sie sind im Walde. Ueberall dichter, dunkler Wald.

Jetzt aber macht der Weg eine Wendung, er wird breiter. Ein Giebel wird sichtbar. Es ist das Försterhaus. Lauter, schöner bläst der Postillon. Und droben im Giebelstübchen des Hauses fährt aus süßem Traum eine Jungfrau auf.

Schlaftrunken reibt sie sich die Augen. Sie horcht, sie lauscht. Schrieb der Geliebte schon? – Weiter, weiter fährt die Post, das Horn verstummt. Alles still. Die Maid schlummert ein –

Doch zieh’n durch ihre Träume
Posthorn und Mondenschein.



II.

Monden sind vergangen, Herbstnebel lagern im Gebüsch auf Flur und Heide. Kein Vogelsang erschallt, kein Sonnenstrahl glitzert durch die Zweige; tiefstill ist es im Wald, Hin und wieder fällt ein welkes Blatt von den Eichen und Buchen nieder; Sommerfäden, von dem Wiesenrain herübergeweht, hängen schlaff, feucht von den Wachholderbüschen herab; ein fallender Tannenzapfen durchbricht auf einen Augenblick die melancholische Stille, eine Mandelkrähe huscht von Ast zu Ast, indeß ein Dohlenschwarm, auf schiefer, vom Blitz gespaltener Weide hockend, wie aus dumpfem Schlaf erwachend, träge aufblickt; dann ist es wieder still, nebelstill – Herbst lagert auf Flur und Wald.

Jetzt aber erschallt aus hoher Luft die Stimme wandernder Kraniche, ein Volk Rebhühner schrillt auf am Waldessaum, um gleich darauf nicht fern im Thalgrund wieder nieder zu fallen; der Krammetsvogel[1] läßt sich hören, die Rohrdommel schreit, das Heer der wilden Enten schnattert im säuselnden Schilf – und fern im Hochwald ertönt die dumpfe, weitdröhnende Stimme eines majestätischen Hirsches.

Wie so anders ist es in den Tagen des Herbstes im Wald! Jeder Blick sagt, daß der Winter naht. Alles bereitet sich auf den Winterschlaf: Baum und Strauch, der ganze Wald mit seinem Grün, mit seinen lebendigen, frohen, heiteren Bewohnern. Nur die dunkelgrünen Tannen wollen von Hoffnung sprechen und sich ihrer Nadeln nicht entkleiden. Die Vögel aber, die den Winter scheuen, zogen zumeist bereits dem schöneren Süden zu.

Hastig durchschreiten Männer den Forst; im Herbst ist nicht gut weilen im Walde. Die Jägermaid aber, die sonst so frisch, so keck den Wald durcheilte, schleicht heut so langsam, traurig dahin. Sie schaut nicht um, sie blickt zur Erde nieder. Waldmann, der treue Hund, das alte gute Thier, wedelt ihr zur Seite und blickt sie mit seinen klugen Augen so fragend an, so verständig, als wollte er sagen: „Laß gut sein, Herz! Sei nicht betrübt! es wird einst wieder Frühling werden!“ – Sie aber, als müsse sie auf diese Gedanken antworten, schüttelt das Haupt – und zerdrückt eine Thräne im Auge. Eine Eidechse rasselt durch das welke Laub, das den Boden rings bedeckt, eine Feldmaus schlüpft in ihr Loch – und ein Hase läuft über den Weg. Der Hund bellt, er will dem Wild nach, doch die Maid hält ihn zurück und sagt, begütigend ihm die Seite klopfend: „Kusch Dich! Mir bedeutet sein Ueber-den-Weg-laufen kein Unglück mehr. In der Brust steht es geschrieben, die Ahnung hat es mir längst gesagt: Er blieb nicht treu! Zwei Jahre gab er Frist, dann wollte er wiederkehren treu und bieder. Der erste Herbst schon machte seine Liebe welken.“

Busch und Wald mag sich entlauben,
Aber treue Liebe nicht;
Kenntest wohl das Glück mir rauben;
Daß ich lieb’ Dich, mußt Du glauben –
Lieb’ Dich, bis das Herz mir bricht.

Weiter eilt sie. Im jungen Birkenausschlag, mit Fichten untermischt, ist der Dohnenstrich. Schon glänzen ihr die rothen Ebereschenbeeren aus den Dohnen entgegen. Hin und wieder hängt in den Schleifen ein Vogel schlaff und todt. Dort, in jener Dohne am alten Fichtenstamm, hat sich soeben eine Schwarzdrossel gefangen; noch flattert das Thier.

Die Maid schreitet hastig hinzu, löst die Schleife und läßt den Gefangenen fliegen.

„Nimm Deine Freiheit, Dein Leben wieder!“ ruft sie laut. Und auf die übrigen todten, bereits ausgelösten Vögel in ihrer Hand blickend, sagt sie: „Wie hat euer Fang mich sonst erfreut! – Und nun?“

In diesem Augenblicke trottelte ein alt Mütterchen an der Seite eines jungen Mädchens vorüber. Beide haben Reisig auf dem Nacken. Sie grüßen die Maid. Die alte Frau aber sagte, als sie vorüber war und sicher, daß ihre Worte nicht mehr gehört werden konnten: „Die hört auch im nächsten Jahr den Kuckuk nicht mehr schreien! – Wohnt das Mädel so schön im Wald, hat so schmucke Jägersleut’ oft im Haus – und muß ihr Herz an den Einen hängen, der sie nun sitzen läßt! – Ja, ja! Der Wind hat die Blüthen der Heckenrosen längst verweht; aber ein Paar derselben hat er auf die Wangen der Jägermaid gezaubert – und da blühen sie fort, Allen sichtbar – als Grabesrosen. – Siehst Kind! So geht’s! Sah’ die Lieb entstehen – und vergehen. Der Nachbarin Bursch lief so emsig zum Wald, der Dirne nach; bis er das Herz der Maid gefangen, wie einen Vogel in der Schleife. Seine Augen und sein rother Mund das waren die rothen Ebereschenbeeren, die den Vogel kirrten; und seine Worte waren die Locktöne, die ihn bezauberten, bis er gefangen saß. Wie oft trafen sie sich im Wald! Hab’s oft gesehen. Mich alte, arme Frau haben Beide freilich nicht beachtet. – Was sich liebt, das sucht und findet sich. Auch bei der Mutter des Burschen kamen sie zusammen. Und als er Abschied nahm, in Hoffnung nach wenigen Jahren als Mann zurückkehren zu können, der im Stande sei, den eigenen Heerd zu gründen: da machte die Hoffnung auf ein glückliches Wiedersehen den Abschied ertragen. – Es sollt’ anders kommen! Noch ist kein Jahr in’s Land gelaufen, und schon hat der Bursch, der so treu und bieder schien, das Mädel vergessen und [495] sein Herz der reichen Tochter seines jetzigen Herrn zugewendet. – Man spricht davon, es solle bald Hochzeit geben!“

„Der Garstige!“ fiel das junge Mädchen ein. „Hätt’s von Dem nicht geglaubt. – Doch das Geld!“

Sie schritten weiter. Die Förstertochter aber blickte wie träumend den Beiden nach. Sie hatte die alte Frau erkannt; sie hätte so gern ein Wort mit derselben gewechselt – und hatte es doch nicht gethan. Die Brust war ihr zu übervoll. Der Schmerz macht meist verstummen. Frost durchschauert sie; sie fühlt den Abend nahen. Mehr und mehr qualmen die feuchten Dünste aus dem Moosgrunde auf, Nebelschatten ziehen vom Moore her. Das sind die Fieber, die aufsteigen; die kalten Sumpffieber, die den Menschen erfassen, bis er, langsam hinsiechend, in’s Grab steigen muß.

Die Jungfrau, ihre todten Vögel am Arm, schreitet dem Vaterhause zu. Tiefer sinkt der Abend nieder. Der Hund wird unruhig. Fern, im Hochwald, ist große Jagd. Dumpf schallen einzelne Töne herüber; vor kurzem fiel ein Schuß. – Jetzt rasselt es in den Zweigen der Schonung; man hört’s, ein Thier bricht sich keuchend in mächtigen Sätzen Bahn, durch das Dickicht. Der Hund stutzt, er spitzt die Ohren. Jetzt ist das Wild nahe. Dort! dort! ein majestätischer Zwölfender, stark schweißend, keucht heran. Jetzt ist das Thier zur Stelle, wo die Jungfrau steht; es stutzt; es hebt sich mit mächtigem Satze ans, es stößt den eigenthümlichen Ton aus, jenen Ton, den das Wild von sich gibt, ehe es stirbt – und endet zu den Füßen der Maid.

Du armes, schönes Thier! wie drang Dein Todesseufzer der Jungfrau so tief in das Herz; wie blickten Deine klugen, großen Augen dieselbe so bittend, bittend an, als sprächen sie: Hilf mir! Sie darf nicht weilen. Näher dringt die Jagd. Schon hört sie die herantobende Meute. Auch ihr Hund wird unruhig und will sich nicht zufrieden geben. Scheu, flüchtig, wie ein gejagtes Reh, eilt sie dahin durch den Wald, dem Vaterhause zu.

Lauter, wilder tobt die Jagd. Ein mächtiges Halloh ertönt. Die Beute ist gefunden. Die fröhlichen Jäger versammeln sich. – Noch kurze Zeit und die Jagd ist beendet. Still wird es im Wald. Die Nacht beginnt. Der Fuchs durchstreift, als unberufener Jäger, den Dohnenstrich, der Baummarder schlüpft aus seinem Loch heraus, die Eule glotzt von den Zweigen herab. Aber dies Alles macht den Wald nicht lebendig; es bleibt dumpfstill; selbst kein Mondenstrahl wagt sich hervor.

Es ist als webten die Stunden
Ein Nebeltodtenkleid;
Wald, Feld ist wie gebunden,
Verzaubert in dumpfem Leid.

5
Kein Vogel läßt sich hören,

Kein Mondlicht zeigt sich jetzt –
Matt schimmern die alten Föhren –
Herbstnebel sich drüber setzt.




III.

Und nun sind die Wege verschneit. Der Winter ist gekommen. Wieder verändert ist der Wald. Unter der weißen, warmen Schneedecke scheint Alles wie vergraben, wie todt zu ruhen – und doch sprosset schon ein neues Leben unter der kalten Winterhülle hervor, von Niemand gesehen, von Wenigen geahnt und beachtet.

Auch die Grabesrosen auf den Wangen der Maid im Forsthause waren schöner und dunkler erblüht, indeß die Wangen selbst bleich und bleicher geworden waren, und die Augen wie in überirdischem Glanze zu leuchten begonnen hatten. Das Alles sprach von keinem kommenden Frühling, das waren nicht Zeichen von Genesung.

Die Blätter, eh’ sie fallen,
Färben sich schön und roth,
Der Sterbenden schnell Genesen
Und Lächeln bedeutet Tod.

5
Der Augen himmlisch Glänzen,

Ein Wort, von Hoffnung erfrischt,
Das ist der Lampe Flackern,
Aufleuchten, eh’ sie verlischt.

Christnacht ist heut; die Weihenacht ist gekommen. Ein eigenthümlich Weben und Feiern geht durch den Wald, durch die ganze Welt. Es ist, als wäre die ganze Erde mit Wonne durchschauert, als müsse jede Creatur in Freude jauchzen: „Christ ward geboren!“

Der alte Förster lehnt am Fenster seines Hauses und blickt in den Wald hinaus. Der alte Mann sieht recht eigen schmerzdurchschauert, wehmüthig aus. Denkt er vielleicht der Sage jetzt, die da spricht, daß der Herr einst in heiliger Weihenacht durch den Wald geschritten sei und die Bäume daselbst gesegnet habe, so daß auch sie seit der Zeit in der Christnacht eine Stunde erblühn – und in voller Zier des Frühlings prangen? Hofft er dies Blühen gewahr zu werden?

Der alte Mann blickt so eigenthümlich ernst in den Wald hinein, zum Himmel auf, als habe er beiden so recht viel zu sagen und zu vertrauen. – Er kennt ja fast jeden Baum im Walde, er hat viele derselben noch gepflanzt, die jetzt schon zu kräftigen Bäumen herangewachsen sind. Wie lange wird es dauern, und man schlägt sie nieder, man senkt auch ihn hinab in die kühle Erde. Ein Anderer tritt an seine Stelle, der den Wald nicht so lieb haben kann, als er ihn hat. Er ist ja in demselben groß geworden; der Wald hat ihn gesehen als Jüngling, als Mann, als Greis; der Wald vernahm seine Freude, sein Leid, sein Weh.

Und heut ist der Mann so stumm. Er leuchtet keine Wildspur im Schnee; er lauscht nicht auf den Beilschlag der Holzdiebe, noch auf den Schuß des verwegenen Wildschützen. Er steht am Fenster und starrt in die Dämmerung hinaus. Hat er den Weihnachtsbaum nicht anzuzünden? Drüben im Städtchen glänzet schon Haus bei Haus Licht um Licht. Ueberall prangen die Christbäume schon; die jubelnden Kinderstimmen sind erwacht – Freude ist überall.

Und der Wald liegt schweigend, ernst im Schnee begraben. Die Sterne funkeln, der Mond durchleuchtet ihn überall.

Der alte Mann ist vom Fenster verschwunden.

Die Tannenbäume wiegen
Ihr Haupt so sorgenschwer,
Auf allen Zweigen liegen
Schneeflocken rings umher.

Die Nacht brach ein. – Tief im Walde fährt die Post; die Wege sind verschneit, langsam fährt der Postillon, die Passagiere nicken schlafesmüd. – Nur in der einen Ecke des Wagens vernimmt man leises Flüstern. Dort sitzt ein Bursch mit seinem Lieb im Arm, mit seiner Braut. Heut führt er dieselbe seiner Mutter zu; das soll derselben schönstes Christgeschenk sein. Wie Viel, wie unendlich Viel haben die Beiden sich zu sagen!

Jetzt bläst der Postillon! Wie herzgewinnend tönt das Horn! Der dritte Passagier, ein Jüngling, der zur Heimath reist, ist erwacht. Der freut sich des Klanges. Er öffnet das Wagenfenster, er starret in den Wald hinaus; er will des Hornes Ton so ganz vernehmen. Plötzlich aber bricht der Postillon in schönster Melodie des Liedes ab. Ein heller Lichtglanz, vom Forsthause her kommend, durchleuchtet den Wald zur Stelle, die Landstraße entlang. Die Pferde beugen den Kopf zum Lichtschimmer hin; der Postillon hat sich im Sattel erhoben und schaut gleichfalls hinüber zum Hause, indeß der Wagen einen Augenblick zu stehen scheint.

Der Jüngling beugt sich weit zum Fenster hinaus, während auch das Paar im Wagen sich zu ermuntern scheint; er ruft: „Gewiß! im Forsthaus brennt der Weihnachtsbaum. He, Schwager, haltet!“

Der aber wendet sich im Sattel um und sagt: „Das ist kein Weihnachtsbaum, das sind die Lichter, die der Förster um den Sarg seiner Tochter angezündet. Sein Kind liegt auf der Todtenbahr!“

Im Wagen vernahm man nach diesen Worten einen Schrei. Der Bräutigam stieß ihn aus. Krampfhaft preßte er die Braut an sich, indeß eine Thräne unwillkürlich von seiner Wange rollte, und eine mahnende Stimme in seinem Herzen sprach: „Das ist Dein Werk! Die Jungfrau starb um Dich!“ Rasch rollt der Wagen durch den Wald dahin. Mitternacht ist nah. Jetzt geht’s den Berg hinab; die Stadt liegt tief im Thal; noch kurze Zeit, dieselbe ist erreicht. Wiedersehn bringt Freude meist; auch die Reisenden werden voll Freude empfangen.

Fern im Walde aber weint ein greiser Vater am Todtenbette seines einzigen Kindes!

Weit ab, entfernt, im Fichtenwald,
Weglos, thalwärts, waldein;
Liegt, ringsum Föhren, grau und alt,
Ein Friedhof, eng und klein.

5
Am Kreuze Moos und Moos am Zaun,

Kein Laut die Ruh durchbricht;
Altklugen Aug’s hinüberschaun
Die Reh’ im Mondenlicht.

Schlaftrunken rings die Fichten stehn,

10
Das Wild schaut ernst darein –

Der Herr scheint durch das Thal zu gehn –
Es kann nicht stiller sein.

Von fern klingt Glockenläuten her;
Der Ton ruft: Weihnachtszeit! –

15
Nacht wird’s am Friedhof mehr und mehr;

Dichtflockig still es schneit.

F. Brunold.



[496]
Hermann Knaur.

Die Statuette Gellert’s, von der wir unsern Lesern eine Abbildung vorlegen und auf die wir weiterhin zurückkommen werden, gehört zu den verhältnißmäßig bekanntesten Werken eines gar wackern Meisters, der im Uebrigen die ihm gebührende öffentliche Anerkennung bisher noch nicht gefunden hat, und der auch in seiner Vaterstadt Leipzig, obgleich diese Ursach hätte, sich ihres Sohnes zu freuen, nicht so bekannt ist, wie er es wohl verdient, was übrigens aus mehren Gründen unschwer zu erklären ist. Zunächst nämlich ist Hermann Knaur eine der schlichtesten und anspruchslosesten Persönlichkeiten, denen ich in Künstlerkreisen begegnet zu sein mich erinnere, ein Mann, der, so oft ich ihn in seiner bescheidenen Werkstatt aufgesucht habe, mir immer wieder den Eindruck eines jener tüchtigen und einfachen Meister unseres deutschen Mittelalters, eines Adam Kraft oder Peter Vischer gemacht hat, jener alten Meister, welche, aus den Kreisen des zünftigen Handwerks hervorgegangen und sich des unlöslichen Zusammenhanges ihrer Kunst mit dem Handwerk vollkommen bewußt, im Leben nur als schlichte Werkleute auftraten und nur als solche gelten wollten, ohne daß deswegen der göttliche Funke der höheren künstlerischen Schöpferkraft minder klar und rein in ihrem Gemüthe geleuchtet hätte, und ohne daß ihren Werken die Bedeutung geistig tiefer Erfindungen abgegangen wäre, weil sie ihre Arbeiten, in was immer für Stoffen es sein mochte, auch technisch materiell im Schweiße ihres Angesichts mit eigener Hand zu vollenden hatten.

Nun ist freilich die Anspruchslosigkeit und Bescheidenheit für Jedermann eine gar schöne Tugend, und sie macht den Künstler doppelt liebenswürdig, wie sie und eine mit kräftiger Männlichkeit sehr wohl verträgliche kindliche Naivetät, die wir Anderen uns schwer zu bewahren vermögen, denn auch des echten Künstlergemüths beneidenswerthes Erbtheil und sicherstes Kennzeichen ist, deswegen, weil der echte Künstler es bei seinem Schaffen wieder und immer wieder unmittelbar empfindet, daß ihm die besten Gedanken und die schönsten Ideen durch die Eingebung des Genius zu Theil werden, des Genius, der, um mit Platen zu reden, als göttlicher Gast in seinem Gemüthe wohnt, – es ist, sage ich, die Anspruchslosigkeit und Bescheidenheit eine schöne und eine echte Künstlertugend, aber der Welt gegenüber, wie diese nun einmal ist, hat sie auch ihr Bedenkliches, Denn unsere rasch und geräuschvoll lebende und wenig innige Gesellschaft ist eben nicht dazu angethan, das stille Verdienst aufzusuchen, zu würdigen und an’s Licht zu ziehen, sie sucht höhere künstlerische Fähigkeit weit eher in einer für genial geltenden Arroganz und Zerfahrenheit oder Nonchalance, als in der stillen und ernsten Kraft, welche schon die Persönlichkeit unseres Knaur charakterisirt, und sie erwartet vor allen Dingen, daß, wer Tüchtiges zu leisten vermag, es auch verstehe, dies in tönenden Reclamen der Welt zu verkündigen. Und das hat freilich unser Meister nicht verstanden. Ferner, und das hängt mit dem eben Gesagten wenigstens zum Theil zusammen, ist ihm bisher nicht das Glück einer jener großen monumentalen Aufgaben geworden, die einerseits die materiellen Mittel gewähren, welche den Künstler in den Stand setzen, unbedroht von irdischen Sorgen und unbeengt von äußerlichen Rücksichten seine Kräfte auf ein Werk zu concentriren, einen Plan zu voller Reife auszutragen, und bei seinem Schaffen nur den Eingebungen seines Genius zu lauschen, während ihre glückliche Lösung andererseits den Meister mit einem Schlage auf die Höhe nationalen Ruhmes zu erheben vermag. Im Gegentheil hat unser Knaur nur zu lange und nur zu viel mit den Schwierigkeiten der materiellen Existenz zu ringen gehabt, hat nur zu oft seine Kräfte an Aufgaben verschwenden müssen, die dürftig honorirt, meistens geringfügigen Gegenstandes, zu allerlei decorativen Zwecken bestimmt, mit allerlei, zum Theil recht unkünstlerischen Bedingungen der Auftraggeber verclausulirt, um des täglichen Brodes willen übernommen und thunlichst rasch von der Hand gearbeitet werden mußten, wenn der Künstler ihnen gegenüber nicht sein bürgerliches Dasein in die Schanze schlagen wollte, Aufgaben, die in den wenigsten Fällen geeignet oder im Stande waren, künstlerische Begeisterung zu wecken, Aufgaben, deren Lösung wesentlich nicht mehr als technische Routine erforderte, und die nach dem Allen begreiflicher Weise nicht im Stande waren, des Künstlers Ruhm in weiten Kreisen zu verbreiten, und seine Würdigkeit und Fähigkeit zu höheren Leistungen zu erweisen.

So vielfach aber unser Knaur sich auch mit solchen Arbeiten hat befassen, so oft er seinen Pegasus hat in’s Joch spannen müssen, dennoch sind seine Hervorbringungen nicht auf den bezeichneten Kreis beschränkt geblieben, immerhin ist ihm mehr als einmal die Gelegenheit geworden, Aufgaben zu bearbeiten, die, wenngleich ihrer kaum eine auf der Höhe dessen steht, was unsere Zeit dem Bildner als Gegenstand zu bieten vermag, dennoch weit über das erhaben waren, was auch der gediegenste Routinist zu leisten vermag, Aufgaben wirklich künstlerischen Gehalts und nur mit wirklicher Künstlerkraft zu bewältigen. An diese Arbeiten und nur an sie haben wir uns zu halten, wenn wir über den Mann und seine Fähigkeiten ein Urtheil gewinnen wollen, und eben diese Arbeiten oder von ihnen eine Auswahl derjenigen, die nach meiner Einsicht unsers Künstlers Wissen und Können am sichersten darthun, wollen Wir in den folgenden Zeilen etwas näher betrachten, indem wir uns zugleich über die äußeren Lebensumstände desselben eine Uebersicht verschaffen, zu der wir die Daten dem bei N. Weigel in Leipzig 1858 erschienen „Leipziger Künstleralbum“ (erstes Heft, S. 16 f.) entnehmen.

Immanuel August Hermann Knaur ist 1811 zu Leipzig geboren, der Sohn eines 1820 als Oberlehrer nach Grimma versetzten und in eben diesem Jahre verstorbenen, bis dahin in Leipzig lebenden Gymnasiallehrers. Nach dem Tode seines Vaters fand Knaur in einer Leipziger Familie Aufnahme und in der Rathsfreischule Unterricht, während er von seinem 12. Jahre an auch die Leipziger Kunstakademie besuchte. Schon in dem Knaben erwachte, namentlich durch den Anblick des Apollo von Belvedere angeregt, die Neigung zu bildnerischer Thätigkeit, welcher derselbe jedoch so wenig nachzugeben Gelegenheit fand, daß er vielmehr nach erfolgter Confirmation zu einem Leipziger Töpfermeister in die Lehre kam, bei dem er nach vierjähriger Lehrzeit noch bis 1831 als Geselle arbeitete. In diesem Jahre wurde er zum Militair ausgehoben und hantierte demnach einstweilen als wohlbestallter Schütze mit der Kugelbüchse. Soweit er aber hierdurch auch seinem Beruf entfremdet scheinen mochte, wurde er demselben unerwartet dadurch näher geführt, daß er die viele freie Zeit, welche das Soldatenleben im Frieden gewährt, dazu benutzen konnte, seinen Neigungen zu folgen. So begann er denn damit, seine Cameraden, wenn auch nur zeichnend, zu portraitiren, bald aber wurde ihm die Gelegenheit, auch seine Uebungen in der plastischen Kunst zu erneuern, indem er während eines Urlaubs einige angesehene Personen Leipzigs als Büsten nach dem Leben modellirte und auf diese Art für Gönner und Wohlwollende wenigstens die Art seines innerlichen Berufs, seine Bestimmung für die Kunst erwies. Dieser sollte Knaur in nachhaltiger Weise nahe treten, als seine sechsjährige Dienstzeit zur Hälfte abgelaufen war. Damals, 1834, kam Prof. Rietschel von Dresden nach Leipzig, um an Ort und Stelle die letzte Hand an das von ihm verfertigte Relief im Giebel des Universitätsgebäudes zu legen. Von Knaur’s künstlerischem Streben unterrichtet, erbot sich Rietschel, denselben in sein Atelier aufzunehmen, angesehene Leipziger Familien verschafften dem angehenden Kunstjünger die nöthigen, sehr bescheidenen Geldmittel, die militairischen Oberen gewährten in liberalster Weise den nöthigen Urlaub, und Knaur wurde Rietschel’s Schüler.

Schon nach zwei Jahren konnte er seinem Meister als Gehülfe zur Seite treten, und im dritten seiner Lehrzeit modellirte er in Rietschel’s Auftrage selbstständig drei der zwölf Reliefs, welche als ein auf die Hauptmomente der Culturgeschichte bezüglicher Cyklus die Universitätsaula schmücken: das römische Reich – Ritterthum und Minnesang – und Welthandel. Es folgte dann eine nach eigener Idee unternommene Statue, vom Künstler „der Wanderer mit dem Hunde“ genannt, welche, an den Dresdner Kunstverein verkauft, in vielen Abgüssen, namentlich im Auslande verbreitet wurde.

Nach Vollendung dieser Arbeiten trat Knaur in Verbindung mit dem Prof. Hänel, welcher damals mit der Ausführung eines Bacchusfrieses für das Dresdner Theater beauftragt war, und zwar verfertigte Knaur, mit Ausnahme der mittleren Gruppe, das ganze Modell, wozu er zwei Jahre gebrauchte. Dem nun in dem Künstler immer lebhafter werdenden Wunsche nach der Ausführung durchaus selbstständiger Arbeiten entsprach nach seiner Rückkehr nach Leipzig [497] zunächst ein Auftrag des Herrn von Quandt, in allegorischen Figuren die Erfindung des Spitzbogenstyls darzustellen. Diesem Auftrage folgte derjenige, für den Hofrath Keil die fünf kolossalen Büsten Goethe’s Schiller’s, Shakespeare’s, Tasso’s und Cervantes’ zu modelliren, welche den bekannten Keil’schen (Löhr’schen) Garten zieren. Wir übergehen andere Privataufträge, welche theils statuarische Werke, theils Reliefs betrafen, und erwähnen nur noch, daß Knaur in der von Rom aus ausgeschriebenen Concurrenz zur Einsendung von Skizzen für ein Beethovenmonument mit seinem Modell den zweiten Preis errang. Hänel’s Beethoven wurde bekanntlich ausgeführt. Auf Veranlassung dieser Preisgewinnung beschloß der akademische Rath in Dresden, Knaur das zur Ausbildung auf Reisen bestimmte Stipendium von 400 Thalern auf drei Jahre zu gewähren. Formelle Hindernisse aber verzögerten die Auszahlung des Stipendiums um ein halbes Jahr, welches Knaur dazu benutzte, um nach seiner Wiederaufnahme in die Dresdner Akademie zwei Statuen (Shakespeare und Molière) für die Façade des Dresdner Theaters zu modelliren, sowie als Probearbeit eine Statue des Täufers Johannes zu arbeiten, nach deren Vollendung Knaur definitiv das Reisestipendium nach Italien zugesprochen wurde.

Statuette Gellerts von H. Knaur.

Durch die Uebernahme der Modellirung von Bach’s Büste und der Reliefs für dessen Denkmal in Leipzig, sowie die Ausführung einiger anderen, von Privaten in Auftrag gegebenen Arbeiten verzögerte sich die Abreise trotzdem bis 1843. Ende März dieses Jahres ging’s endlich denn in der That nach Italien und zwar über München, Verona, Venedig, Bologna, Florenz nach Rom. Hier errichtete Knaur ein eigenes Atelier, in welchem unter andern Arbeiten zwei Büsten (Portraits), eine Marmorstatue: Mädchen Tauben fütternd, und eine lebensgroße, im Original nur im Gypsmodell ausgeführte, neuerlich aber in Verkleinerung in Zink gegossene Gruppe, Kains Brudermord darstellend, vollendet wurden. Wenn man in dem ersteren dieser Werke, bei aller Anerkennung einer dem Gegenstände angemessenen anmuthigen Auffassung und einer correcten und sorgfältigen Formgebung, einen gewissen Mangel an Frische und an jener naiven Heiterkeit, welche derartige Genrebilder der Alten auszeichnet, sowie einige durch das Material, wenn nicht bedingte, so doch vielleicht mit veranlaßte Gebundenheit der Composition nicht wird wegleugnen können, so verdient dagegen die Gruppe in ihrer energischen Auffassung des Gegenstandes, in ihrer wohlgeordneten, eben so frei und kräftig bewegten wie gefälligen Composition und in ihrer wohlverstandenen und markigen Formgebung volles Lob, und nur gegen den Gegenstand an sich könnte man den Einwand erheben, daß ihm der tiefere ideelle Gehalt und jene befriedigende und erhebende Wirkung auf das Gemüth des Beschauers abgeht, welche die Griechen, in der Plastik unsere unbedingten Meister und Muster, erst in der sinkenden Zeit ihrer Kunst aufgaben und, wie im Laokoon, gegen einen blos pathetischen Gehalt vertauschten.

Im Jahre 1845 nach Leipzig zurückgekehrt, begann Knaur seine Thätigkeit in seinem neu gegründeten Atelier mit der Modellirung einer in der Universitäts-Aula in Leipzig aufgestellten Kolossalbüste Leibnitz’s, einem Werke, dem vor allen bisher besprochenen der unbedingte Vorzug gebühren dürfte, und welches, voll Würde und Klarheit in der Auffassung, höchst charakteristisch und dabei großartig in der Formgebung, im besten und eigentlichsten Sinne monumental genannt zu werden verdient, und das seines Meisters Beruf für die höheren Aufgaben der Kunst Jedem, der sehen will und zu sehen weiß, unwiderruflich erweis’t. Der Büste Leibnitz’s folgte dessen Statuette als Entwurf zu einem in Lebensgröße auszuführenden Denkmal, ein Werk, welches dem Künstler von Seiten des Königs von Hannover die goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft und vom König von Sachsen einen Brillantring eintrug, über welches ich aber mein Urtheil weniger rückhaltlos auszusprechen wage, weil es schwer ist, aus einem in kleinen Dimensionen ausgeführten Modell auf die Wirkung zu schließen, welche ein solches Werk, in Lebensgröße vollendet, zu machen im Stande ist. Eine höchst sinnige und für das Auge wohlgefällige Composition, und eine ebenso charakteristische wie natürliche und frische Auffassung geht gleichwohl auch aus dem kleinen Modell hervor. Ich übergehe ein paar kleinere im Auftrag übernommene Arbeiten verschiedener Art, und muß gleicher Weise von zwei Reliefs, „Christi Geburt“ und „Christi Auferstehung“, die für die Kirche in Haardorf bei Naumburg ausgeführt wurden, schweigen, weil ich dieselben nicht kenne. Im Jahre 1849 fertigte Knaur im Auftrage der Universität Leipzig die Statue des Kurfürsten Moritz, die, 1851 vollendet, jetzt in der Aula aufgestellt ist, charaktervoll portraitähnlich nach einem im Senatssaale hängenden Gemälde, aber meinem Gefühl nach etwas glatt und leer in der Formgebung. Ganz vortrefflich dagegen scheinen mir zwei demnächst gearbeitete Statuetten Goethe’s und Schiller’s, welche, lebensgroß oder kolossal ausgeführt, den Preis über manches sehr berühmte Standbild der beiden großen Dichter davontragen dürften.

In diese Zeit (1849) fällt denn auch die Statuette Gellert’s, welche wir an der Spitze dieses Artikels mitgetheilt haben. Es wird sich allerdings vom allgemeinen ästhetischen Standpunkte und namentlich, wenn wir die Werke der Blüthezeit der griechischen Kunst zum Maßstäbe nehmen, fragen lassen, ob für das statuarische Portrait die Darstellung einer Situation, in der sich das Wesen des Dargestellten symbolisirt, oder diejenige einer bestimmten Handlung rechtfertigen läßt, oder ob nicht vielmehr diese Darstellungsweise zu einer Vermischung des Styls der monumentalen Portraitbildnerei und desjenigen des Genre führen müsse und geführt habe; aber wir haben diese allgemeine Frage hier nicht zu behandeln: es ist bekannte Thatsache, daß die antike Portraitbildnerei in ihrer spätem Periode uns mit der bezeichneten Darstellungsart vorangegangen, und daß diese in unserer Zeit fast allgemein angenommen ist und angewendet wird. Ist diese Manier demgemäß fehlerhaft, so trifft der Tadel, sie angewendet zu haben, nicht sowohl unsern Knaur, als vielmehr die gesammte moderne Kunst; erklärt man sich dagegen mit der Manier im Allgemeinen einverstanden, so wird [498] man gestehen müssen, daß Knaur dieselbe in seiner Gellertstatuette mit entschiedenem Geschick und Glück in Anwendung gebracht hat. Die Statuette vergegenwärtigt uns nicht allein den frommen Gellert, wie ihm, der in stille religiöse Betrachtung mehr noch als in Gebet versunken scheint, etwa sein schönes: „Wie groß ist des Allmächt’gen Güte“ durch die Seele klingt, sie vergegenwärtigt uns auch diesen ganzen mehr innigen als großartigen, mehr weichen als kräftigen, mehr weiblich hingegebenen als männlich schöpferischen Charakter, und sie vergegenwärtigt ihn uns in einer äußeren Erscheinungsform, welche nicht allein im Gesichte die überlieferten Züge des edlen Menschen getreulich wiedergibt, sondern in seiner ganzen etwas hageren und schwankenden Gestalt und Haltung uns an den etwas kümmerlichen und timiden Professor erinnert, ohne gleichwohl in den Formen unschön zu werden.

Monumental ist das nicht und zu lebensgroßer Ausführung würde sich dies Bildwerk allerdings nicht eignen, aber darauf ist es eben auch nicht angelegt und dazu ist es nicht erfunden, während es als Statuette gedacht einen durchaus erfreulichen Eindruck macht.

Ein in neuerer Zeit in Lauchhammer in Erz gegossenes Relief, „die Grablegung Christi“ darstellend, ist ganz im Geiste unserer mittelalterlichen Kunst in ihrer besten Entwickelung gedacht und ausgeführt, ernst und einfach gehalten, in der Anlage klar und gefällig componirt, wirkungsvoll und correct modellirt. Getreulich in demselben Styl, aber ohne zu weit gehendes Hasten an dessen Formeneigenthümlichkeit gestaltet ist ein ebenfalls in Erz gegossenes zehn Zoll hohes Crucifix, welches später entstand.

Nach Beendigung der genannten Werke wurde des Künstlers Thätigkeit auf längere Zeit durch die Aufgabe in Anspruch genommen, die Entwickelung der italienischen Malerei vom 12. bis 16. Jahrhunderte in Relieffiguren eines 112 Fuß langen, für das Dresdner Museum bestimmten Frieses darzustellen.

Die Aufgabe an sich ist keine günstige zu nennen; denn erstens, um nur einige Hauptbedenken anzudeuten, widerspricht dieselbe in ihrer einzigen möglichen Lösung, durch eine Folge aneinander gereihter auf die Hauptträger der Entwickelung bezüglichen Gruppen, einem der obersten Gesetze der Friesreliefbildnerei, welche vor Allem eine formelle wie ideelle, äußere wie innere Einheit der Composition unausweichlich fordert. Zweitens geht den hier von Knaur geforderten Darstellungen größtentheils der Reiz höherer Formenschönheit ab, und schon deshalb ist der Gegenstand zu plastischer Darstellung ungeeignet; noch mehr aber erweist er sich drittens als verfehlt dadurch, daß es absolut unmöglich ist, das, was die Aufgabe eigentlich fordert oder fordern sollte, die „Entwickelung der Malerei“, plastisch darzustellen, d.h. innerlich darzustellen, so daß nichts übrig blieb, als die einzelnen großen Künstler als die Träger dieser Entwickelung in ihrer Persönlichkeit und in ihrer verschiedenen Thätigkeit zu schildern, und in dieser letzteren die Verschiedenheit ihrer künstlerischen Bestrebungen und Richtungen anzudeuten. So allein konnte diese unkünstlerische und besonders unplastische Aufgabe, die besten Falls zu einer Folge aneinander gereihter Illustrationen zu etwaigen Lebensbeschreibungen der Künstler, nie aber zu einem monumentalen Kunstwerke werden konnte, gefaßt werden, und so ist sie von unserem Knaur gefaßt worden. Und was er leisten konnte, das hat er ohne Zweifel geleistet, die, einzelnen Meister sind in der Art ihrer Wirksamkeit recht brav charakterisirt, die Composition der einzelnen Gruppen ist thunlichst gefällig und das Ganze so harmonisch, wie es eben sein kann.

Nach diesem Friese sind sodann aus der Werkstatt unseres Meisters noch eine bedeutende Anzahl von Arbeiten hervorgegangen, Statuen sowohl, die theils in Sandstein, theils in gebranntem Thon, theils in Zinkguß ausgeführt sind, wie Statuetten, Büsten, Hochreliefs (sogen. Reliefstatuen) und Medaillons, welche ich hier nicht alle im Einzelnen besprechen kann, aus denen ich vielmehr nur diejenigen heraushebe, die mir aus dem einen oder dem anderen Grunde eine vorzügliche Auszeichnung zu verdienen scheinen, um schließlich noch ein Wort über die neuesten Arbeiten Knaur’s, die vier vom Erzherzog Ferdinand Max für seine Villa in Miramare bestellten Marmorbüsten des Homer und Dante, Shakespeare und Goethe hinzuzufügen. Die meisten Statuen Knaur’s sind Portraits, von denjenigen idealen Gegenstandes glaube ich den für ein Grab auf dem neuen Friedhofe zu Leipzig bestimmten „Christus mit den Marterwerkzeugen“ hervorheben zu müssen. Aus diesem Titel kann man sich freilich kaum eine Vorstellung von dem Werke machen. Der Heiland steht im reichfaltigen Gewände ruhig aufrecht da, das große Kreuz, an dem Dornenkrone, Geißel etc. befestigt sind, mit dem linken Arm umfassend, während er rechts hinblickend mit der rechten Hand auf das Kreuz hinweist, so das für Alle mit dem Tode besiegelte Erlösungswerk verkündigend. Die Haltung ist durchaus würdig, fest und klar, ohne den geringsten Anflug von theatralischer Action, der Ausdruck des Antlitzes ruhig und milde, doch geistig erregt und wie von dem Schimmer der Verklärung überflogen. Die Formen, in denen das Ganze gehalten ist, stehen jenen krankhaften, schwächlichen, magern und gezerrten Formen, welche das Nazarenerthum unserer Kunst für den Heiland fast zu den classischen gemacht hat, in glücklichster Weise entgegen; die Gestalt hat die nöthige Kraft und Breite, um plastisch an und für sich schön zu sein und um uns nicht nur jenen Christus zu vergegenwärtigen, der still duldend am Kreuze zu Tode gemartert wurde, sondern auch jenen, der in heiligem Eifer erglühend die Verkäufer aus dem Tempel trieb, und der mit ruhiger Festigkeit der Gleißnerei und Heuchelei die Larve vom Antlitz zu reißen wußte. Wenn namentlich die große Büste Leibnitz’s Knaur’s Beruf für die monumentale Kunst darthut, so legt uns diese Christusstatue den Wunsch nahe, daß es unserem Meister öfter vergönnt sein möchte, Werke idealen Gegenstandes zu schaffen und zwar unter günstigeren Bedingungen, als die waren, unter denen er seinen Johannes den Täufer verfertigte, der zur Decorationsfigur eines – Eiskellers bestimmt, nicht füglich etwas Anderes werden konnte, als eben eine ganz leidliche Decorationsfigur.

Viel höher vermag ich auch die drei zusammengehörigen, zur Decoration eines Speisesaales bestimmten Statuetten der Eva, Noah’s und David’s nicht zu stellen, in denen die Dreiheit: Weib, Wein und Gesang dargestellt werden sollte; meinem Gefühle nach würde der Künstler sein Thema glücklicher in den Formen der Antike durch eine Darstellung von Venus, Bacchus und Apollo haben lösen können; die Nacktheit der Eva, die in venusartigen Formen erscheint, löset diese Statue von den beiden anderen reich gewandeten so ab, daß man ihre Zusammengehörigkeit nicht sofort empfindet, also über den Sinn dieser Dreiheit nicht zur Klarheit kommt, und die beiden männlichen Statuen sind, abgesehen davon, daß es sich fragt, ob man so schlechthin Noah als Vertreter des Weines wie Bacchus und David als den des Gesanges wie Apollo hinstellen darf, da Beide doch noch eine ganz andere Bedeutung haben und David einen Gesang vertritt, den man im Speisesaal am wenigsten erwartet, ziemlich typisch ausgefallen.

Unter den Portraitstatuen und Statuetten ist besonders diejenige Hutten’s hervorzuheben, deren Auffassung und Ausführung im geraden Gegensätze zu dem Typischen der eben besprochenen Figuren in hohem Grade individuell erscheint, und bei der dieser Individualismus in der Persönlichkeit und im Costüm augenscheinlich das Hauptaugenmerk des Künstlers gebildet hat, der ihm zu Liebe auf einen streng monumentalen Charakter verzichtete, den er leicht hätte wahren können, wenn er gewollt hätte. Das zeigen uns die Statuetten Luther’s und Melanchthon’s, die sich wie kleine Copien großer Monumente ausnehmen, während andererseits wieder die Statuette Mendelssohn’s, welche den Meister im Acte des Dirigirens eines Musikstückes zeigt, mehr in dem in dieser kleinen Ausführung gewiß berechtigten Charakter des Genre gehalten ist.

Die Suite von Büsten berühmter Componisten: Haydn, Händel, Bach, Beethoven, Mozart, Weber, Mendelssohn und Schumann sind zu bekannt und in Gypsabgüssen zu weit verbreitet, als daß ich es nöthig finden könnte, über dieselben im Einzelnen zu reden. Die nach dem Leben modellirten Büsten Großmann’s und A. Böttcher's verbinden eine treue und liebevolle Auffassung des Individuellen mit würdiger Haltung, und namentlich ist der wundervolle und mildkräftige Kopf Großmann’s (neben Thorwaldsen und Rauch einer der imposantesten Greisenköpfe, die ich gesehen habe) bei aller Treue der Portraitähnlichkeit im Sinne der antiken Kunst in’s Monumentale gesteigert.

Was denn nun endlich die neuen Marmorbüsten Goethe’s, Shakespeare’s, Dante’s und Homer’s anlangt, an welcher letzteren Knaur gegenwärtig arbeitet, so können wir denselben einen völlig gleichen Werth nicht zugestehen. Die geringste eigene Schöpferkraft unseres Dichters dürfte sich in der Büste Goethe’s offenbaren, welche eben so gut für eine Copie der mannichfachen unter uns verbreiteten Portraits unseres Dichterheros, wie für ein Originalwerk gelten darf. Der Shakespeare ist eine wohlempfundene Umgestaltung des Kopfes von dem Westminsterdenkmal des großen Briten, welche gleichwohl [499] sich von dem ungünstigen Einflüsse dieses Vorbildes nicht ganz zu befreien vermocht hat. Dies Vorbild, über dessen Portraittreue ich kein Urtheil habe, wirkt unseren, wenn ich so sagen darf, idealen Vorstellungen von Shakespeare gegenüber in hohem Grade herabstimmend, es fehlt dem auf etwas vorhängendem Halse getragenen Kopf an geistiger Kraft und Energie, und derselbe hat namentlich in den unteren Partien, in dem weichlichen Mund und dem kleinlichen Kinn etwas geradezu Läppisches. Diese Anstöße hat nun unser Knaur allerdings beseitigt, er hat den Kopf gerade emporgerichtet, dem Auge einen freieren Blick, der Stirn größere Klarheit, dem Munde und Kinn mehr Festigkeit verliehen, aber es ist auch in seine Büste etwas Weichliches und Unbestimmtes in den Formen hinübergekommen, welches ihr den Monumentalcharakter benimmt. Ganz und gar vortrefflich dagegen ist der Dante, welcher wesentlich nach der Todtenmaske im Besitze des Königs von Sachsen gearbeitet ist, vortrefflich namentlich im Modell. Denn die Ausführung in Marmor zeigt eine gewisse Befangenheit und Aengstlichkeit des Künstlers gegenüber dem preciösen Material, welche bei der seltenen Gelegenheit, in solch schönem cararischen Marmor zu arbeiten, nur zu erklärlich ist und ihm gewiß nicht zum Vorwurf gereichen kann. Ich bin überzeugt, daß bei einer Ausführung etwa in Sandstein der Dante noch ungleich vollendeter geworden wäre, denn Sandstein ist ein Material, bei dem ein Block, sollte der Meister bei etwas kühnem Draufgehen mit Meißel und Bohrer ja einmal einen unverbesserlichen Fehler machen (sich verhauen, wie man es nennt), für einige Thaler wieder zu beschaffen wäre; an einen solchen Block cararischen Statuenmarmors Nr. 1. aber tritt man mit einem gewissen Respect und einer gewissen Scheu heran. Und diese Scheu unsers Künstlers ist in der Dantebüste fühlbar, welche bei weitem nicht die Schärfe und Entschiedenheit, nicht die Frische und Markigkeit aller Formen besitzt, welche das kostbare Modell zeigt, und welche nur durch vollendete Rücksichtslosigkeit in der Arbeit zu erreichen ist. Und doch hat unsers Meisters Sicherheit und Kühnheit in der technischen Bearbeitung des Marmors schon während der Herstellung der vier Büsten augenscheinlich zugenommen, und die in Arbeit befindliche vierte des Homer verspricht abermals einen Fortschritt gegen den Dante, so daß man getrost behaupten darf, daß Knaur, wenn er eben so oft in Marmor zu arbeiten hätte, wie er in Sandstein und Thon arbeitet, gar bald es den besten, mit Ausnahme vielleicht der römischen Routiniers, gleichthun würde. Was aber die geistige Schöpferkraft, die feine Formempfindung, die Fähigkeit einer durchaus charaktervollen und bedeutenden Behandlung eines interessanten Antlitzes und seiner Steigerung im Sinne des Ideals anlangt, vergleiche man das Modell des Dante und des Homer, und man wird mit Freuden einräumen, daß hier Knaur durchaus auf der Höhe unserer Kunst steht.

Wollte Gott, daß ihm recht bald und recht oft Aufträge zu Theil würden, bei denen er sein ganzes schönes und ernstes Talent zu entfalten die Gelegenheit und die Möglichkeit hätte!

Overbeck.




Berliner Bilder.
Von E. Kossak.
6. Die Herren von Grün.

Nach den Beobachtungen aller aufmerksam schwitzenden Menschen haben wir in diesem Jahre einen ausnahmsweise heißen Sommer, begleitet von einer Menge ungewöhnlicher Erscheinungen, gehabt. Zu allgemeinem Erstaunen ist in unseren gemeinen nordischen Schlendrian etwas von der Ueppigkeit des Südens gekommen. Nicht allein Pflanzen, welche in den norddeutschen Districten sonst nur zur kümmerlichen Entfaltung gelangen, wie der Oleander, prunken mit den reichlichsten Blüthen und erzeugen selbst unter unserem harten Himmelsstriche den zu dieser Gattung gehörigen seltenen Schmetterling, sondern auch unter den Menschen kommen anmuthige Gewohnheiten schönerer und wärmerer Gegenden auf, und verleihen dem Leben unbekümmerter Naturen einen sorgenfreien Anstrich. Das alte Geschlecht derer „von Grün“, welches sich ohne sonderlichen Aufwand von heraldischer Kenntniß bis auf Adam im Paradiese zurückführen läßt, florirt in diesem Sommer wieder und veranlaßt uns, seine Merkmale getreulich aufzuzeichnen, da wir schwerlich wieder solchen italienischen Sommer und eine ähnliche nochmalige Blüthezeit desselben erleben werden.

Was die Lazzaroni vorstellen, weiß jedes Kind, sobald es in der Schule sein Bilderbuch lesen gelernt hat, es weiß, daß diese harmlosen Bürger einer so schönen Stadt, daß man getrost sterben kann, nachdem man sie in Augenschein genommen, einen angeborenen Abscheu vor Arbeit, reiner Wäsche und ungeflickten Kleidungsstücken haben, daß sie leidenschaftlich Maccaroni lieben und entweder im Schatten auf der Straße schlafen, oder die Tarantelle tanzen, vorausgesetzt, daß sie nicht durch ihren Beruf: die Bettelei, von beiden abgehalten werden.

Wer die „Herren von Grün“ sind, ist minder bekannt, da Berlin von den schriftstellernden Touristen weniger beachtet wird, und das genannte Geschlecht außerdem nicht mit gleicher Deutlichkeit im öffentlichen Leben zum Vorschein kommt. Es wäre durchaus unwissenschaftlich und ungenügend, wollten wir die Herren von Grün die Lazzaroni von Berlin nennen, denn sie zeichnen sich vor den Bewohnern von Neapel durch eine ungleich größere Vielseitigkeit und Mannichfaltigkeit ihrer Sitten aus. Versuchen wir demnach, sie so vollständig als möglich zu charakterisiren.

Der Verein der Herren von Grün, diese ehrwürdige Genossenschaft, wird durch diejenigen Personen gebildet, welche im Sommer, von einem tiefen Abscheu vor der Einförmigkeit der Straßen und den Mühsalen der Arbeit erfüllt, die Stadt verlassen und eine Villeggiatur beziehen, ohne eine Villa zu besitzen oder eine Sommerwohnung gemiethet zu haben. Durchdrungen von Poesie, lassen sie die Mauern und Thore, diese traurigen Schauplätze der Accise und Wache, hinter sich und umgaukeln die Residenz wie die lieblichen Genien, deren jedes Ballet, jedes Märchenbuch eine unbegrenzte Anzahl stets zur Disposition hat. Abhold jener regelmäßigen Beschäftigung, wie sie den Stolz des fleißigen, aber leider philiströsen und pedantischen Bürgers bildet, aber gestimmt für eine kaltblütige Meditation, suchen sie ihren Lebensunterhalt auf die leichteste und angenehmste Weise zu erwerben.

Die Jäger und Fischer unter ihnen bilden zuerst eine noch leidlich achtbare Classe und erhalten durch die Beschäftigung mit diesen noblen Passionen einen ritterschaftlichen Anstrich. Im Leben höher gestellt und durch Geburt ausgezeichnet, würden sie die Bewunderung ihrer Nebenmenschen erregen. Die Herren von Grün, insofern sie Jäger sind, suchen Vogelnester auf, fangen Nachtigallen weg, obgleich darauf eine empfindliche Strafe steht, und stellen den Eichhörnchen nach. Später im Herbste machen sie sich kein Gewissen daraus, den etwas verwilderten und der städtischen Häuslichkeit entfremdeten Katzen in den Obst- und Gemüsegärten vor den Thoren heimlich nachzuschleichen und sie ihrer Felle zu entkleiden. Es hat unter ihnen solche gegeben, die auf hübsche kleine Hunde, welche ohne Maulkorb und Halsband unbedachtsam vor die Landhäuser ihrer Gebieter gingen und mit gemeinen Kötern spielten, ihr Augenmerk richteten, sie unter ihre Obhut nahmen und in der Stadt an Liebhaber feiner Hündchen verkauften.

Noch unschuldiger in ihrer Denkungsart und ihrem Treiben sind die Fischer. Schon in den frühen Morgenstunden ziehen sie mit der Angelruthe und einem kleinen Eimer vor die Stadt hinaus und suchen im Schatten der Erlen und Weiden auf dem Floßholz ein behagliches Plätzchen, um ihrer Liebhaberei zu fröhnen. Es kommt ihnen minder darauf an, wenige und große, als viele und kleine Fische zu fangen. Selbst wenn ihre Mühen ohne Ertrag bleiben, fühlen sie sich durch das süße Nichtsthun und die träumerische Stimmung, in welche der Angler beim Anblick des flimmernden Wasserspiegels und der leisen Töne, die aus dem Schilf aufsteigen, versinkt, gar seltsam befriedigt. Fast scheint es, als lebten sie allein von Fischen und verdienten so den Namen von Ichthyophagen. Ihre natürlichen Feinde sind die Fischer von Fach, welche die Gewässer gepachtet haben, und auf sie als muthwillige Störer ihres Gewerbes fahnden. Die fischenden Herrn von Grün suchen sich deshalb meistens unnahbare Stellen für Böte aus, und einige Furchtsame unter ihnen ziehen es sogar vor, nur zur Nachtzeit zu fischen, um den beängstigenden Nachstellungen ihrer erbitterten Gegner [500] zu entgehen. Außer Fischen pflegen sie auch noch in der Umgegend Krebse zu fangen und den Taugenichtsen, welche aus irgend welchen Gründen nicht an den polizeilich bezeichneten Stellen baden wollen, seichte und sichre Ufer zu zeigen.

Zwischen diesen im Ganzen genommen noch harmlosen Gentlemen und den eigentlichen Herren von Grün besteht ein großer Unterschied. Wir begegnen bei den Jägern und Fischern immer noch einer gewissen schwachen Thätigkeit, wenigstens einem Kraftaufwande; der Leser muß uns jetzt seitab von der Straße der bürgerlichen Wohlanständigkeit folgen, dorthin, wo die Wirklichkeit sich den spähenden Augen der Schutzmannschaft entzieht und höchstens ein reitender Gensd’arm die freie Kunst unserer Studienobjecte beeinträchtigt.

Wir spazieren gemüthlich in einem Baumgange neben der Chaussee, der Himmel strahlt in köstlicher Bläue, die Vögel, die im August noch nicht die Stimme verloren haben, singen einstimmig, ein kühler Lufthauch flattert aus dem Parkdickicht an die sonnenhelle warme Landstraße; wir fühlen uns zu allerlei poetischen Scherzen aufgelegt. Da tritt hinter einer dicken Eiche ein Mann hervor und nähert sich uns mit dem Gebehrdenspiele eines Fechters um klingende Münze. Sein Haupt ist mit einem Filzhute bedeckt, der in seinen Mußestunden ihm als Kopfkissen dient, aber seine Füße werden weder durch Schuhe, noch durch Strümpfe behelligt. Er trägt einen Rock, der im Drange der Ereignisse die unbestimmte Farbe vielfach umhergeworfener politischer Charaktere angenommen hat. Der Rock kann roth, aber auch weiß und schwarz gewesen sein; wer wagte es dreist zu behaupten? Von einem Hemde oder anderweitigen Andeutungen von Wäsche ist keine Spur zu entdecken. Als Luxusgegenstand hält der Unbekannte nur einen jungen Baumstamm von zwei Zoll Dicke mit dem Anstande eines wilden Mannes auf alten preußischen Thalern in der Rechten. Wir erschrecken keinesweges vor diesem echten Herrn Grün. Er bittet mit etwas lallender Stimme um Brod, aber wenn wir ihm folgen wollten, würden wir sehr bald entdecken, daß er nur nach „Brod in tropfbarer Gestalt“ strebt, wie die modernen Herren Chemiker den Branntewein scherzhafter Weise nennen. Dieser ist ein echter Sprößling aus dem Hause derer von Grün. Im bürgerlichen Leben zu den wildwachsenden Pflanzen gehörig, oder doch nahe am Zaune der Gesetzgebung emporschießend, wird er von einem unwiderstehlichen Drange hinausgetrieben in den Wald, in die Fluren, an die Landstraßen. In die regelrecht zugestutzte Wirklichkeit ist er auf keine Weise zu fügen, es sei denn, man finge noch einmal mit seiner Erziehung im Arbeitshause oder einem ähnlichen Institute für die Heranbildung vernachlässigter Staatsbürger an. Frei wie der Vogel in der Luft, vorausgesetzt, daß er sich immer rechtzeitig in den Chausseegraben niederducken oder im Korn und in Gebüschen verstecken kann, wenn ein mit der Absuchung der Chausseen beauftragter Schutzmann vorüberreitet, blüht er den Sommer über zwischen den Mauern Berlins und den Dörfern, innerhalb des zweimeiligen Belagerungskreises, dieser einzigen Glorie großer Städte. Niemand hat ihn essen, viele trinken und trunken gesehen. Der Umgang mit der Natur versetzt ihn in einen Zustand der Begeisterung, dem er gern durch künstliche Mittel nachhilft. Zu den producirenden Naturen können jedoch diese Herren von Grün nicht gerechnet werden, von Papieren führen sie nur die zu ihrer Legitimation nothwendigen bei sich, und oft selbst diese nicht, da die Actenstücke ihres Lebens von den Kinderjahren an selten vollständig, häufig durch Ereignisse in Unordnung gebracht, und zuweilen sogar wegen entscheidender Thaten durch amtlich untersiegelte und im Namen des Königs ausgestellte Papiere bereichert sind, welche die rechtmäßigen Besitzer derselben nichtsdestoweniger Niemandem gern zu zeigen, sondern meistens ganz zu verheimlichen lieben. Sie besitzen dennoch ein gewisses löbliches Selbstgefühl und tragen ihre Gesuche nur im Tone einer sanften Ansprache vor. Selten kommt es vor, daß sie mit einiger Zuversicht aus dem Gebüsch treten, sich einer einzeln gehenden Dame anschließen, und nicht eher mit rhetorischen Uebungen und ausdrucksvoller Mimik aufhören, bis die Dame ihnen ihr Portemonnaie gegeben hat, oder ein Herr mit einem Rosse sich nähert. Eigentlich stellt dieser Mann mir den Flaneur unter den Herren von Grün vor.

Eine sehr anziehende Species sind die Reisenden. Wir sagen absichtlich nicht: der Reisende, da sie, wenn auch nicht in Heerden, doch immer in kleinen Trupps leben. Die Reisenden isoliren sich nicht in einer gleich poetischen Weise, sie entfernen sich niemals so weit von den Wohnungen der Menschen; sie suchen nur einsamere Partieen stiller Parkgegenden und poetische Kreuzwege in der Gegend von Orten auf, wo lediglich ein wohlhabendes Publicum verkehrt. Die Umgebung des zoologischen Gartens ist ihnen aus diesem Grunde besonders lieb und werth. Ganz in der Nähe ihres Aufenthaltes muß immer ein anmuthiger Versteck vorhanden sein, um sich nach Umständen den Augen der Polizei entziehen zu können. Auch lieben sie einen weichen Rasen, auf welchen die Sonne durch Zweige und Land ihre Schattengitter wirft. Wenn man vorübergeht oder in einem Wagen vorüberfährt, findet man gewöhnlich die Reisenden ausgestreckt, und anscheinend von Erschöpfung überwältigt, am Boden liegen. Ihre Stiefeln sind dick mit Staub bedeckt, ihre Gesichter erhitzt und von Schweißtropfen glänzend, sie haben ihre Tornister und Taschen abgelegt, und scheinen vor ihrem Einzuge in Berlin noch einer nothwendigen Ruhe zu pflegen. Nur Einer springt mühselig auf, zieht die Mütze und humpelt neben dem Wagen oder dem raschen Fußgänger her, indem er um eine kleine Gabe für die armen Reisenden bittet. Die Berliner Herzen sind nicht von Kieselstein, fast immer wird die Börse gezogen und eine reichlichere Spende gereicht, wie man sie nach der Ermahnung Vater Goethe’s gern den armen Handwerksburschen unterwegs zuzuwenden pflegt. Mit tausend Danksagungen entfernt sich der Empfänger wieder zu seinen Genossen, und der Geber zieht mit befriedigtem Herzen seines Weges weiter. Will er aber nicht um eine anmuthige Selbsttäuschung ärmer sein, so hüte er sich, jemals wieder diesen Weg zu machen. Er würde die unglücklichen Reisenden morgen, in acht Tagen, in vier Wochen mit denselben bestäubten Stiefeln, den abgelegten Tornistern und Taschen, an der Straße lagernd wiederfinden und nach derselben Melodie angesprochen werden. Wie der Leser sieht, gehören sie unter die ewigen Reisenden oder künstlichen Handwerksburschen, und ernähren sich vortrefflich bei diesem nicht zünftigen Gewerbe. Ihr Gepäck besteht nur in einigen mit Wachsleinwand umwickelten Feldsteinen, ihr Wanderbuch in einem auf diese oder jene entfernte Provinzialstadt ausgestellten Zwangspaß. Meistens werden sie aber erst mit dem Eintritt des Altweibersommers entlarvt und erwischt, weil alsdann die Promenaden und Spazierfahrten durch die einsameren Partien des Thiergartens aufhören, und sie gezwungen sind, ihr Geschäft an der großen Landstraße fortzusetzen. Selten gelingt es ihnen jedoch, länger als drei bis vier Tage ungestört zu bleiben; das anmuthige Spiel endet stets mit einer Abführung in die Winterquartiere am Molkenmarkt.

Der Auswanderer würden wir gern ausführlich erwähnen, wenn wir unserer Sache ganz gewiß wären, und diese blassen Familien mit ihren verhungerten Kindern, in elenden, mit Sackleinwand überzogenen Handwagen, nicht der Wohlthätigkeit ihrer Mitmenschen wirklich bedürftig sein könnten. Als Thatsache sei nur bemerkt, daß auch sie Wochen lang durch Berlin „auswandern“; aber wir wollen dieses arme Volk mit jeder scherzhaften Bemerkung verschonen und ihm lieber so heimlich als möglich, damit die Polizei nicht aufmerksam wird, ein blankes Stück Geld in die Hand drücken.

Wir kommen jetzt zu einer herrlichen, wahrhaft poetischen Classe der Herren von Grün. Dicht vor dem Brandenburger und Potsdamer Thore liegt der Thiergarten, ein wundervoller Park, der nur in seinen nahe an die Stadt grenzenden Theilen etwas gelichtet worden und wenig Unterholz besitzt, zum größeren Theile aber sehr dicht bewachsen ist, und kräftige Constitutionen zu einem dauernden Aufenthalt im Freien einladet. In diesen Dickichten halten sich die Berliner Indianer auf, keine echten Autochthonen, aber kühne Einwanderer. Der Thiergarten ist kein Urwald und außer Singvögeln, Maulwürfen und Eichhörnchen bietet er schwerlich Wild dar; unsere Indianer sind deshalb gezwungen, auf das edle Waidwerk zu verzichten und eine andere Lebensweise zu ergreifen. Längs des Thiergartens zieht sich eine schmale Prairie hin, in welcher sich unter dem bekannten Namen der Thiergartenstraße eine dichte Reihe von Ansiedlungen befindet. Im Sommer wird dieselbe durch Zuzügler vermehrt, und dem geistreichen Bettel oder dem eleganten Diebstahl unserer Indianer ein ziemlich weiter Spielraum eröffnet. Den Tag über streifen sie umher und geben Gastrollen, als arbeitslose Familienväter mit sechs oder sieben kleinen Würmern, apoplektische oder mit den Gliedern zitternde Patienten, und wie die üblichen Masken sonst heißen mögen; von Sonnenuntergang an werden sie jedoch Raubthiere minder gefährlicher Art. Mord und Raub nebst Brandstiftung [501] können ihnen allerdings nicht zur Last gelegt werken, allein die Entfremdung silberner Theekannen, Löffel, Uhren, Kleidungsstücke und Pretiosen, durch kunstgerechte Oeffnung von Fensterläden und Anlegung von Leitern, die sie gern aus dem bestohlenen Local selbst zu entlehnen pflegen, gehört zu ihren kleinen Liebhabereien. Was sie uns als „Herren von Grün“ besonders interessant macht, ist ihre gänzliche Obdachlosigkeit und ihre Gewohnheit, im Freien zu schlafen. Begeben wir uns also auf den Schauplatz ihrer Thaten hinaus. Am Ende des Thiergartens liegt Albrechtshof, ein allerliebster Inbegriff von vielen Sommerwohnungen. In einiger Entfernung von diesen freundlichen Landhäuschen fließt ein Graben, dessen Ufer mit sehr dichtem Gebüsch, Kartoffel- und Getreidefeldern bedeckt sind. Da die polizeilichen Recherchen sich höchstens bis an den Graben zu erstrecken pflegen, und jenseits desselben das Gebiet der Nachbarstadt Charlottenburg beginnt, betten sich die, Indianer gern in diese stillen neutralen Buchten. Abends, wenn Alles in der Umgegend schläft, machen sie sich, mit den Fledermäusen um die Wette, auf und untersuchen die Nachbarschaft.

Ein Freund, der an dem genannten Orte wohnt, wußte viel von dem nächtlichen Pfeifen und den dunklen Gestalten zu erzählen, die spät Abends, wenn die Bewohner der Sommerwohnungen das Bett suchten oder aus der Stadt nach Hause kamen, über den Weg huschten. Als ich ihn neulich um die Kaffeestunde besuchte, trat ein hochgewachsener, aber etwas zweifelhaft aussehender Herr zu uns in den Vorgarten und bat um eine milde Spende.

„Wie heißen Sie?“ fragte der Freund mit entschlossener Stimme.

„Portz,“ lautete die Antwort.

„Wo schlafen Sie?“ Diese eigenthümliche Frage schien den Fremden zu verblüffen, und ihm eine ungemein vortheilhafte Meinung über die Menschenkenntniß des Fragestellers einzuflößen. Warum wollte der Herr wissen, wo Portz schlief? was für Folgerungen konnte er daraus ziehen?

Mit einigem Zögern antwortete der Eindringling: „Nun, wo anders soll ich schlafen, als bei Mutter Grün?“

„Nun, dann werden Sie doch wissen –?“ sagte der Freund.

„Ja wohl – ja wohl!“ fügte der Indianer Portz hinzu, kratzte sich hinter den Ohren und verschwand in den Gebüschen. Man erklärte mir hierauf, daß Portz sehr gut gefühlt oder gewußt habe, wie ein am Busen der Natur Schlummernder nicht wohl Ansprüche an die Hülfe der Gesellschaft erheben könne. Wir lachten, aber nach drei Tagen war der Kleiderschrank eines Nachbarn rattenkahl ausgeräumt. Die Herren von Grün hatten sich gerächt. Nun thaten sich die Sommerbewohner zusammen, wenn es Abends in den Gebüschen rauschte und pfiff, rückten sie in einem geschlossenen Haufen aus und begannen Nachsuchungen. Niemand erwischte jedoch ein Kind der guten Mutter Grün, selbst die mitgenommenen Hunde waren mit ihnen befreundet und blafften nicht einmal, obwohl unfehlbar einige Buschklepper im nahen Busch versteckt waren. Erst nach drei Nächten erwischte der Wächter einen alten Indianer, führte ihn von dannen und legte ihn inzwischen in einen kleinen, zur Zeit nicht besetzten Schweinestall. So erheitern wir uns während der guten Jahreszeit.

Werden die Tage kürzer, vergilbt und fällt das Laub, dann machen sich auch die Beamten der hohen Obrigkeit zur Jagd auf und veranstalten abendlich große Treibjagden. Eine Reihe Constabler durchzieht vom Brandenburger Thor aus, nach dem erwähnten Graben hin, den Thiergarten und bemächtigt sich so der letzten Herren von Grün, welche noch nicht, eingedenk des unvermeidlichen Wechsels der Dinge, weislich ein heimliches Obdach im Weichbilde Berlins gesucht haben.




See-Elephanten.
Mitgeheilt vom Capitain W. Schmidt.

Im Juni 1854 unternahm ich als Capitain eines großen Wallfischfängers eine Reise nach dem südlichen indischen Ocean, um die auf den daselbst liegenden Crozett-Inseln häufig anzutreffenden Seegeschöpfe, wie Robben, See-Elephanten, Seelöwen zu jagen und zu erlegen, worauf wir im indischen Ocean in der Gegend von Madagascar nach Spermaceti-Wallfischen (Cachelots) kreuzen sollten. Ich hatte Leute genug an Bord, um einige der größeren Inseln mit ihnen zu besetzen und Hütten darauf zu bauen; gleichfalls führte ich Lebensmittel genug, diese Leute auf ein Jahr damit zu versehen, da die Inseln selbst nichts hervorbringen, und auf ihnen außer einer Unzahl von Seegeschöpfen aller Art kein Nahrungsmittel existirt.

Am 2. Juli bekamen wir des Morgens eine hohe Insel durch den dicken Nebel zu sehen, welche wir bald für die westlichste der Crozett-Gruppe erkannten. Sie wird Pig-Island von den Engländern, Isle-aux-Cochons von Crozett, ihrem ersten französischen Entdecker, genannt und liegt zwischen dem 47. und 48. Grade südlicher Breite und 49. Grad östlich von Greenwich. Die ganze Gruppe besteht aus fünf Inseln, welche in einiger Entfernung von einander liegen, von denen die drei größeren Pig-, Possession- und East-Island genannt werden; die beiden anderen, die Apostel genannt, sind nur unbedeutend, obwohl hoch und unnahbar. Ihre Küsten sind noch nie von einem menschlichen Fuße betreten worden, da sie von drohenden, noch unbekannten Felsen umgeben sind, die jeden Versuch, darauf zu landen, verbieten.

Im Juli, hier mitten im Winter, waren natürlicher Weise alle Inseln hoch mit Schnee bedeckt, und des Nachts die kleinen, dem Andrange der See nicht ausgesetzten Buchten mit einer ziemlich starken Eisdecke überzogen. Indeß fand ich nie die Temperatur unter 10° Reaumur, und an den den Sonnenstrahlen ausgesetzten Stellen thauete es in den Mittagsstunden und der geschmolzene Schnee bildete zahlreiche Cascaden, welche sich in die See ergossen.

Pig Island (Isle-aux-cochons) hat seinen Namen von der großen Anzahl wilder Schweine erhalten, welche früher darauf in völliger Freiheit umherstreiften und die von den Jungen der hier nistenden unzähligen Seevögel lebten; sie sind jedoch von den zuweilen anlaufenden Robbenjägern beinahe ausgerottet worden, so daß nur noch einige Heerden von ihnen sich vorfinden, welche sehr schlau und schwer zu erlegen sind und beim Anblicke eines landenden Bootes in das Innere flüchten. Ihre Stelle wird jetzt von wilden Kaninchen eingenommen, welche vor ungefähr zwanzig Jahren von einem Robbenfänger hier zurückgelassen worden waren und die sich dergestalt vermehrt haben, daß sie die trocken gelegenen Theile der Insel in allen Richtungen unterminirt haben. Sie dienen jetzt den Leuten, welche während der milden Jahreszeit den Robbenfang betreiben, zur ausschließlichen Nahrung, und werden leicht von diesen in Schlingen gefangen. Die hier auf den Inseln zurückbleibenden Leute werden deshalb nie mit Fleisch von den Schiffen versorgt, sondern blos mit Thee, Kaffee, Mehl, Zucker u. dergl.; denn außer den Kaninchen finden sich große Massen von jungen Seevögeln vor, welche sehr gut zu essen sind, wenn man sie fängt, ehe sie noch flügge geworden sind und Fische gefressen haben. Vorzüglich zogen wir die Albatrosse allen andern Arten vor, da sie größer und zarter sind und mehr Fleisch an sich haben.

In kurzer Zeit errichteten wir auf allen Inseln an geschützten Orten Hütten von in der Form von Mauersteinen ausgeschnittenem Rasen; die Wände machten wir drei Fuß dick, damit sie dem Winde und Regen widerständen, das Dach wurde hoch gebaut und steil, damit sich nicht während des Winters zu viel Schnee darauf sammle und das Innere mit alten Segeln ausgeschlagen. Der transportable Ofen kam in die Mitte, und rings herum wurden die Betten aufgestellt, welche die Gestalt von länglichen, viereckigen Kisten mit einer kleinen, auch noch durch einen Schieber verschließbaren Oeffnung hatten, in welchen sich ein Mann mit Bequemlichkeit ausstrecken und schlafen konnte und vor der grimmigen Kälte geschützt war. So eingerichtet, bildete das Ganze ein ziemlich bewohnbares Obdach, worin die Leute im Winter behaglich trocken und warm sitzen konnten. Wir ließen zehn Mann auf jeder Insel zurück, mit einer Anzahl von Fässern, großen eisernen Kesseln, um den Thran der getödteten Thiere auszuschmelzen, und hinreichendem Proviant auf ein Jahr.

[502] Da die Zeit zur Erlegung der Thiere noch nicht gekommen war, obwohl wir Schaaren von ihnen an den Küsten umherliegen sahen, so war Zeit genug für die Leute vorhanden, sich bequem einzurichten und Alles zum Fange bereit zu machen. Flinten wurden gereinigt, Lanzen geschliffen, Keulen zugeschnitten und die Böte ausgerüstet, um Expeditionen nach entfernt liegenden Theilen der Insel zu machen und den abgezogenen Speck der getödteten Thiere nach ihrem Hauptplatze hinzuschaffen. Im Vorderteile jedes Bootes ist eine kleine, einpfündige Kanone befestigt, aus welcher bei schlechtem Wetter und heftiger Brandung eine Leine an’s Land geschossen wird, vermittelst welcher sodann die am Lande befindlichen Leuten das Boot schnell durch die mächtigen Wellen hoch auf das trockene Land ziehen. Ohne diese Vorkehrung dürfte es den Böten oft unmöglich sein zu landen, da sich hier das schönste Wetter in wenigen Stunden rasch zum heftigsten Sturm umwandelt.

Robben verschiedener Art gibt es das ganze Jahr hindurch auf diesen Inseln, während der milden Jahreszeit sind sie jedoch in

Die See-Elephanten.

größter Anzahl vorhanden und viel fetter, als im Winter. Die kleinern Arten werden mit Keulen erschlagen , die größern mit Lanzen oder Flinten erlegt, da sie den stärksten Schlägen widerstehen.

Die größte der hier vorkommenden Species von Robben ist der sogenannte See-Elephant oder Rüssel-Seehund (Phoca proboscida), welcher oft die Länge von 23–25 Fuß und ebenso viel im Umfange erreicht. Er gleicht an Gestalt dem gemeinen Seehunde, ist aber nicht so schlank wie dieser und ausgewachsen von bräunlich-grauer Farbe, mit schwarzen Füßen. Bis zum Alter von 2–3 Jahren ist er silbergrau und sein Haar hat einen feinen, seidenartigen Glanz, er ist dann 8–10 Fuß lang und wurde von uns in dieser Größe getödtet, damit uns sein noch feiner Speck als Brennmaterial diene. Das Thier bewegt sich nur höchst mühsam auf dem Lande fort, indem es sich auf den Füßen, welche sehr einer mit Schwimmhaut versehenen Hand gleichen, erhebt, sodann den ganzen Körper vorwärts wirft und die Füße nachzieht. Durch Wiederholung dieser Bewegung gelingt es ihm, sich langsam entlang zu ziehen. Das Hintertheil des Thieres gleicht dem des Seehundes; die Hinterfüße jedoch haben eine sonderbare Gestalt und stehen an der Stelle des Schwanzes. Im Wasser gebraucht sie das Thier nach Art der Schraube des Dampfschiffen, indem es ihnen eine kreisförmige Bewegung gibt, welche dem Körper mit Hülfe der Vorderfüße eine sehr schnelle Fahrt durch das Wasser mittheilt. Die Nase ist bei den Männchen (Bullen genannt) sehr verlängert und hängt ihnen in der Gestalt eines Rüssels zwei Fuß lang über dem Maule herunter; werden sie gestört oder angegriffen, so richten sie diesen Anhängsel steif in die Höhe und stoßen einen starken, trompetenartigen Ton aus, welcher in weiter Entfernung zu hören ist; überhaupt haben beide Geschlechter, Männchen wie Weibchen (Kühe), eine laute, brüllende Stimme, welche der des Löwen an Rauhheit und Tiefe sehr ähnlich ist. Man hört das Gebrüll der sich gegenseitig bekämpfenden Männchen bei ruhigem Wetter auf die Entfernung einer halben Meile.

Der See-Elephant, wenn er in der Nähe des Wassers an gegriffen wird, setzt sich tapfer zur Wehr und sucht seinen Gegner durch Daraufstürzen zu erdrücken, macht aber auch oft von seinen Zähnen Gebrauch. Er ist mit solchen wohl versehen, und sie sind von solcher Härte und die Kraft der Maulmuskeln des Thieres ist so groß, daß ich oft gesehen habe, daß ein wüthender verwundeter See-Elephant einen Stein von der Größe einer Mannsfaust mit den Zähnen ergriff und zermalmte. Durch sein ungeheures Gewicht und die Schnelligkeit seines Sturzes ist er im Stande, einen ungeschickten Jäger augenblicklich zu erdrücken. Zur Tödtung, wenn der Elephant nicht zu groß ist, bedient man sich einer Lanze, bei ausgewachsenen Thieren aber, wo die Jagd schon gefährlicher wird, nimmt man seine Zuflucht zur Kugel, die durch den Kopf des mächtigen Ungethüms gejagt, augenblicklich tödtet.

Die Lanze, welche zum Erlegen dieser unförmlichen Thiere angewandt wird, trägt eine sechs Zoll lange, lanzettförmige, sehr scharfe Stahlspitze an einem drei Fuß langen eisernen Stiele, [503] in welchem wiederum ein vier Fuß langer Griff aus hartem Holze steckt; die Spitze schneidet nach allen Richtungen und der Jäger ist leicht im Stande, die Lebensorgane des Thieres damit tödtlich zu verwunden, indem er ihm dieselbe zwischen den Vorderfüßen in die Brust stößt und schnell einige Male hin- und herbewegt. Es gehört jedoch große Gewandtheit und Geistesgegenwart dazu, sich vor dem Angriffe des 7–8 Fuß über den Kopf des Jägers emporragenden Thieres zu schützen, welches sich mit unwiderstehlicher Kraft vorwärts wirft, um seinen Feind zu erdrücken und mit seinen Zähnen zu ergreifen. Der Jäger ist genöthigt, der fallenden Masse schnell auszuweichen, indem er die Lanze mit sich zurückzieht; im Falle er jedoch vermuthet, ein Lebensorgan des Thieres getroffen zu haben, so springt er, die Lanze zurücklassend, schnell bei Seite, und das Thier stößt sich in seiner Wuth durch wiederholtes Fallen die Lanze immer tiefer in die Brust und verendet in kurzer Zeit.

In den Monaten vom November bis Januar ziehen sie sich vom Wasser zurück und suchen hohe, trockene und den Sonnenstrahlen ausgesetzte Theile der Inseln, um ihr Haar abzuwerfen und neues zu bekommen; man findet sie sodann an so hohen Orten, daß es unbegreiflich scheint, auf welche Weise das unbehülfliche Thier hinaufgelangt ist. Hinunter kommen sie sehr schnell, denn sie werfen sich von bedeutenden Erhöhungen ohne weitere Umstände senkrecht hinab und leiden davon nicht den geringsten Schaden. Sie sind zur Zeit ihres Haarwechsels sehr träge; sodaß man unter einer Heerde umhergehen kann, ohne daß diese die Flucht ergriffe oder den Störer anzugreifen drohte. Sie sind alsdann auch sehr empfindlich gegen Kälte und Regen und verkriechen sich unter dem Schutze von Felsen u. dergl. Ich habe Junge gesehen, welche, von der Wärme unserer Hütten angelockt, durch die Thür einkriechend plötzlich mitten unter uns erschienen; mit der Zeit wurden sie ganz zahm.

Während der Paarungszeit bekämpfen sich die Männchen unter einander, wobei die Weibchen die ruhigen Zuschauer spielen. Die Wuth, mit der sich die erstern angreifen, ist unbeschreiblich, und viele verenden, gänzlich in Stücke zerrissen, ihr Leben, die meisten tragen weit klaffende Wunden davon. Die aus der Schlacht siegreich hervorgehenden suchen sich jeder eine Heerde Weibchen aus und leben dann ohne weitere Streitigkeiten bei einander. Während ihrer Kämpfe ist ihnen leicht beizukommen, da sie zu dieser Zeit den sich nähernden Jägern keine Aufmerksamkeit schenken. Ein ausgewachsener See-Elephant gibt oft 80–100 Gallonen Oel von ausgezeichneter Güte, sein Fell ist jedoch von keinem erheblichen Nutzen und im Vergleich weniger stark, als das des Seehunds.




Das deutsche Einheitsfest in London.

Wir saßen in einem deutschen Hotel der City von London um einen runden Tisch, auf dem die Gläser unberührt standen. Vom Schillerfeste, dessen Gestaltung und Form uns – Schriftsteller, Kaufleute, Buchhändler, Künstler u. s. w. bisher beschäftigt hatte,[2] war in der heutigen Sitzung nicht lange die Rede gewesen, da von dem Momente an, als der Uhrzeiger das Ende der achten Stunde verkündete, Alles unruhig ward und die Besorgniß, daß er ausbleiben könnte, mit jeder Secunde stieg. Bis 8 1/2 Uhr suchte man sich gegenseitig zu überreden, daß er sich sicher einstellen werde. Hab’ er es doch versprochen. Aber er will morgen mit der ganzen Familie an die Walesküste reisen, hieß es; da hat er das Haus zu bestellen, zu packen und so viel zu thun, daß er es vergessen haben kann.

„Mein Gott! es ist sechs Minuten über halb. Es muß sofort Jemand hinaus. Rasch eine Droschke herbei! Wer fährt hinaus? Wir müssen ihn hier haben. Um zehn Uhr sind sie Alle hier. Die ganze Geschichte ist verfehlt, verpfuscht, wenn er nicht hier ist.“ – So rief Einer unserer Gesellschaft, wie ein Gummiball umherspringend, und mich halb mit Gewalt ziehend und zerrend, da er mich für den Geeignetsten hielt, den ersehnten Fehlenden herbeizuschaffen. Und so saß ich plötzlich in einer der berühmten zweirädrigen Londoner Sicherheitsdroschken, die so gut fliegen und sich durch Wagen und Verkehrsgedränge so aalartig glatt winden können, um von 3/4 9 bis 10 Uhr 10 englische Meilen durch das wagenbedeckte London zurückzulegen und den Ersehnten, Unentbehrlichen, den edeln Helden des heutigen Abends mitzubringen.

An sich ist’s heut zu Tage das gewöhnlichste Ding von der Welt, in einer Droschke zu fahren. Selbst eigene Equipage ist nicht viel Werth, wenn man dumm darin aussieht und klügere Leute stolz zu Fuße gehen. Aber dieser wilde Flug durch die größte, hunderttausendfach beleuchtete Ausdehnung Londons – hin und her – nahm unter diesen Verhältnissen doch einen ungewöhnlichen Charakter an. Der Wagenlenker hinten auf seinem hohen Sitze, nicht großer wie ein Suppenteller, durch extravagante Belohnungsaussichten halb wahnsinnig gemacht, flog durch die flammenden, flimmernden, in tausenderlei Lichteffecten zitternden, langen, krummen, auf- und absteigenden Straßen, zwischen unabsehbaren Wagenmassen hindurch, vor kreischenden, fliehenden Menschen vorbei, deren Rockzipfel oder Crinolinen er nicht selten streifte, mit der Wuth eines Berserkers und der Geschicklichkeit eines Jongleurs oder Zauberers. Der Pegasus oder das Flügelroß vorn galoppirte wild, muthig und doch vorsichtig, wild die Mähne bäumend und stolz den Kopf werfend, auch als es schon rauchte und der Athen, in langen, raschen Dampfströmen in die kühle Nachtlust hervorschoß. Die langen, unabsehbaren Lichter-Doppelreihen, die sich immer wieder nach jeder Wendung aus einer unabsehbar langen Straße vor mir aufthaten, und immer wieder ins Unendliche hinauszuirren schienen, die Lebensströme auf beiden Seiten, die Hunderte und immer wieder Hunderte von blendend beleuchteten Läden, dann wieder lange Doppelreihen von Palästen hinter Bäumen, Gärten und Blumen, die grünen Plätze, nie gesehene öffentliche Bauten, Kirchen, Hotels, stolze Säulenordnungen, deren Schatten bald auf kriechende Lumpen und dicht daneben auf fabelhaften Reichthum fielen, dann wieder schäbige, armselige, muffig riechende Gassen und nach ihnen breitere, noblere, reichere Palaststraßen – dieser rasche, zauberhafte Strom des unergründlichen Londoner Lebens bei Gaslicht – meine wilde Jagd, mein pochendes Herz, daß ich ihn nicht finden und so das ganze schöne Fest auseinander brechen könnte, dies Alles zusammen rief eine eigenthümlich trockene, gläubige Stimmung hervor, mit welcher es mir leicht ward, dem schäumenden, begeisterten, unermüdlichen Pferde, einem runden, derben, edlen Rosse, dem der Kutscher wirkungsvolle, gute, kosende Worte gab, statt es zu peitschen, ein Bewußtsein seiner Mission zuzutrauen. Sollte es doch den geehrtesten, populärsten deutschen Mann Londons und deutschen Dichter zu einem Feste der Liebe und Dankbarkeit bringen, und so das deutsche Einheits- und Verbrüderungsfest möglich machen! Und es that seine Schuldigkeit, und warf uns triefend, schäumend, dampfend, zitternd einen Blick geschmeichelten Selbstgefühls zu, als wir es an Ort und Stelle dankbar lobten und klopften und ihm Bier und Brod besorgen ließen. –

Kinkel war nun in unserer Mitte.

Mit Hartnäckigkeit verweigerten wir vorläufig jede Auskunft über Sinn und Zweck der ungewöhnlichen, mysteriösen Aufregung im Hotel und auf der Straße. Während wir ihn über die Berathungen zum Schillerfeste unterhielten, erleuchtete sich die Straße unten mit wandelnden Lichtern, die auf dichte Schaaren deutscher Männer und Jünglinge und eine unabsehbare Masse Volks hinflackerten. Endlich klopfte ihn Jemand auf die Schulter und machte ihn auf die große, weithin flatternde, zum Fenster des ersten Stockes hereinrauschende schwarz-roth-goldene Fahne aufmerksam. Er trat an’s Fenster, und wie er auf den langen, erleuchteten Halbkreis deutscher Männer und Jünglinge herabsah, drang das erste schöne, patriotische deutsche Lied als voller, kräftiger, vierstimmiger Männergesang herauf.

Sein erster Eindruck war ein zorniger. Er schritt kopfschüttelnd rasch im Zimmer auf und ab, und sprach über übel angewandte Freundschaft und das Peinliche einer ihm gemachten Parteidemonstration, in die man ihn gänzlich unvorbereitet geschleppt habe. Eine kurze Erklärung stimmte ihn sofort gänzlich um. Die vier größten deutschen Vereine Londons, sonst isolirt, oft feindlich gegen einander [504] stehend, waren durch Kinkels Persönlichkeit, lehrendes und während dieses Jahres publicistisches Wirken, das von der Forderung deutscher Einheit beseelt wird, zu dem Gefühl und Bewußtsein gekommen, daß man hier einig sein und wirken und Kinkel selbst als der edelste und würdigste Brennpunkt dieser Einheit und Verbrüderung proclamirt werden müsse. So vereinigten sie sich nach langer Isolirtheit, oft bitterm Hader, zunächst zu dem Zwecke, Kinkel zu seinem Geburtstage – 11. August – eine Huldigung durch vereinigten Männergesang darzubringen und ihn zum obersten Präsidenten und Centrum dieser deutschen Einheitsbestrebungen zu ernennen. Sie erfuhren noch zu rechter Zeit, daß Kinkel an seinem Geburtstage schon seine Erholungsreise angetreten haben, Montags den achten aber noch die bereits erwähnte Conferenz zum Schillerfeste besuchen werde. So beschloß man, diesen Abend zu wählen. Die Demonstration war also eine freiwillige, allgemeine und so wenig eine parteiische, daß selbst der Arbeiter-Bildungsverein, bisher ein grimmiger communistischer Saulus gegen Kinkel, um Betheiligung bat und in der Rede seines Vorstehers als eifriger Paulus auftrat. Man kann sich denken, wie dieses Phänomen auffiel und unerklärlich gefunden ward. Einige munkelten sogar anfangs, als dieser ehemalige sehr notorische Saulus auftrat, vom Hinauswerfen; aber der Mann und die übrigen Mitglieder des Arbeiter-Bildungsvereins, bis dahin, wie schon früher einmal, unter dem Einflüsse von Karl Marx und Gesinnungsgenossen stehend, zeigten sich so ehrlich und entschieden umgewandelt, daß sie während des Abends ganz aufrichtig als Männer behandelt wurden, die ihren politischen Parteistandpunkt der höheren Macht der Einheitsnothwendigkeit untergeordnet haben.

Dies bekundet im Kleinen die Fähigkeit der großen deutschen Einheitssehnsucht, zu Hause sich zu verwirklichen. Wenn das Pathos lebendig und warm genug aufglüht und ein Mittelpunkt, eine edle, gefeierte, geliebte Persönlichkeit, als Brennpunkt derselben gefunden sein wird, dann schmelzen auch im großen Vaterlande die Partei- und Sonderinteressen in seliger Einheitsgluth entweder freudig oder freiwillig oder hingerissen in Furcht und Schwäche zusammen und halten sich auch später der großen nationalen Macht, Stärke und Nothwendigkeit untergeordnet. Bis jetzt ist im Vaterlands Preußen als Mittelpunkt dieser Einheitsbestrebungen öffentlich anerkannt worden, nur daß es sich absichtlich oder aus Mangel an schwarz-roth-goldenem Geiste nicht recht an diese Mission hingeben, nicht genug Anziehungs- und Begeisterungsstoff liefern will und kann. Doch wollen wir immer noch hoffen, daß Deutschland die Mittel finden und durchsetzen werde, durch welche allein sein Leben, seine Zukunft gerettet werden kann. Ein uneiniges, vieltheiliges, sich selbst schwächendes und vor der Welt verächtlich und lächerlich bleibendes Deutschland wird früher oder später das Schicksal der Staaten und Völker theilen, die aus innerem Zerwürfniß unterworfen wurden, und entweder ganz untergingen oder noch heute schmachvoll in fremden Fesseln absterben.

Kinkel hörte, nachdem ihm die Entstehung des schönen Bildes vor seinen Augen erklärt worden war, freudig ergriffen den deutschen Einheits- und Vaterlandsklängen zu, die als krafttöniger Männergesang herausquollen. Auch die sonst oft muthwillige und rohe Bevölkerung, welche die Straße dicht füllte, lauschte lautlos und andachtsvoll, obgleich sie nichts davon verstand und begriff. So mächtig wirkt die Schönheit in jeder Form, wenn sie nur eben sich würdig und einfach offenbart. Für uns hatte es etwas ganz besonders Rührendes, die sonst lose und muthwillige Straßenmenge so vollständig durch deutsches Lied und deutschen Gesang gebannt und so ausharren zu sehen bis zu Ende.

Kinkel ging nach dem sechsten Gesange der vereinigten Vereine hinunter und trat, größer und edler von Person und Gestalt, als alle die Tausende um ihn, in ihre Mitte, um mit anfangs ruhigen, dann aber immer bewegteren und feurigeren Worten seine Ueberraschung und seinen Dank auszusprechen, und sich und der Umgebung diese in London unerhörte, plötzlich so würdig und schön verwirklichte Thatsache deutscher Einheit und Verbrüderung der verschiedensten, sogar feindlichsten Elemente zu erklären. Es sei, so begann er, die Einheitssehnsucht, die auch im großen deutschen Vaterlande sich rege, nicht der Bürger Kinkel, was sie hier zu einer festlichen Vereinigung zusammenrufe, die jetzt schmachvollen Gefahren gegenüber aufkeimende große, deutsche Bewegung, deren Kraft immer im deutschen Volke geschlummert und nach kurzer Erlaubniß, zu wachen und sich zu regen, seit zehn Jahren wieder gefesselt sei und in künstlicher Einschläferung gelegen habe. Er erinnerte dabei an die Augusttage damaliger Zeit, als die preußische Nationalversammlung und das deutsche Parlament ganz unabhängig von einander an ein und demselben Tage die Todesstrafe abgeschafft, und wie er ein Jahr später an demselben Tage vor einem militairischen Gericht gestanden, das nur aus unüberwindlichem Rechts- und Ehrgefühl nicht die befohlene Todesstrafe über ihn ausgesprochen.

Das schließliche Hoch auf ein einiges, freies, starkes Deutschland rauschte und donnerte feurig aus der Brust deutscher Männer.

Die Reden der Deputationen, welche folgten, bewegten sich in denselben Gedanken, nur daß man dem edeln, heroischen Mittelpunkte dieses Verbrüderungsfestes zu beherzigen gab, daß er, der zu der Bereinigung Kraft und Begeisterung gegeben, die Mission übernehmen möge, als dieser Mittelpunkt weiter zu wirken.

Dabei fing der Wein reichlich an zu fließen. Und auch Reden und Gesänge flossen aus den verschiedenen Zimmern und Etagen in zum Theil wilder Begeisterung. Unzählige brave Männer, die sich früher nie gesehen oder gleichgültig, selbst feindlich vor einander vorbei gegangen waren, fielen sich in die Arme. Ein Deutscher, der Kinkel heute zum ersten Male sah und sprach, ließ sofort darauf den Tisch mit frischen Flaschen Rheinwein besetzen und fiel Jeden, der ihm in den Weg kam, mit vollen Gläsern an, glücklich wie ein Gott. Das deutsche Verbrüderungsfest wurde durch Kinkel’s Persönlichkeit und Rede zur Thatsache deutscher Einheit, die sich zunächst durch monatliche General-Versammlungen der einzelnen Vereine praktisch fortsetzen will. Auch war von Erbauung einer deutschen „Vereinshalle“ die Rede. Die nächste große, schöne Veranlassung zu vereinigter, deutscher Feierlichkeit wird das Schillerfest sein.

Deutschland, das noch keinen lebendigen großen Genius für den Brennpunkt seiner neuen Lebens- und Einheits-Regungen gefunden, wecke den am 10. November vor hundert Jahren gebornen Schiller auf, vor dessen unsterblicher ewiger Majestät sich alle Parteien und Privatgelüste beugen werden. So ein großer Todter lebt und wirkt gewaltiger, als tausend lebendige Kleinigkeiten, so groß sie sich auch dünken mögen.




Blätter und Blüthen.

Das Grab Alexander von Humboldt’s ist forthin für Millionen „der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht.“ Wenn, die großen Jämmerlichkeiten verziehen und vergessen sein werden, welche zu ihm dem Zuge der Gedanken jetzt den Weg vertreten – dann wird Alexander von Humboldt in seinem Grabe wieder lebendig und der heilige Geist seines Gedächtnisses wird über alles Volk kommen, für das er gelebt, und dem man jetzt die Gedanken an ihn stiehlt. Im Schloßgarten zu Tegel ruht jetzt der Mittelpunkt der Forschung aller Zeiten und Lande, neben dem großen der größere Bruder, Wilhelm und Alexander. Der schlichte Stein, welcher den schmucklosen Eichensarg Alexander von Humboldt’s deckt, ist der Markstein, an welchem für die Naturforschung – im weitesten Sinne dieses Wortes – ein neuer Zeitabschnitt anhebt, der Zeitabschnitt, in welchem die Forschung nicht mehr den Einzelheiten, sondern dem „Kosmos“ gilt, dessen Erkenntniß er lehrte, dem Kosmos, d. h. „der Natur, als einem durch innere Kräfte bewegten und belebten Ganzen.“ Diese Gedanken wecken in uns ein Bild von dem „Erbbegräbniß der Familie von Humboldt im Schloßgarten zu Tegel“ von W. Riefenstahl und L. Billiger, in Oelfarbendruck aus der Anstalt von Winckelmann und Söhne in Berlin. Das schöne Blatt ist ein würdiges Denkmal des seltenen Bruderpaares und wird gleich uns namentlich viele Verehrer des zuletzt Verstorbenen zu großem Dank gegen die Urheber desselben verpflichten.





Zur Nachricht.

Die Fortsetzung der „Erlebnisse eines Flüchtlings“ erscheint in nächster Nummer.

Die Redaction.



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. w:de:Wacholderdrossel
  2. Die Krystall Palast-Compagnie hatte unsrem Vorsitzenden vorgeschlagen, ein durchaus deutsches Programm durch Deutsche zu entwerfen, das sie mit allen ihren glänzenden Mitteln auszuführen sich bereit erklärt hat.