Die Gartenlaube (1860)/Heft 22

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1860
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 22. 1860.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


In den Casematten Magdeburgs.

Von Levin Schücking.
(Schluß.)

In kurzer Zeit, schon nach einer halben Stunde, kehrte der Major mit seinem Adjutanten und begleitet von dem Commandanten, dem Platzmajor und einem dritten Stabsofficier in die Casematte zurück.

„Wir bringen Ihnen eine Botschaft vom Herzog, Trenck,“ sagte er; „Seine Durchlaucht läßt Ihnen mittheilen, wenn Sie Ihre Worte wahr machten, so wolle er Ihre Bitte gewähren; er sichert Ihnen seine nachdrückliche Protection und auch die Gnade des Königs zu; auch sollten Ihnen dann sofort alle Fesseln abgenommen werden.“

„Ich danke Seiner Durchlaucht,“ versetzte Trenck, „und verlasse mich auf sein fürstlichess Wort. Wann befiehlt er, daß ich morgen ausführen soll, was ich versprochen habe?“

Der Commandant hatte sich unterdeß mit scharfen Blicken umherspähend in dem Kerker umgesehen. „Glauben Sie uns denn wirklich zu Narren halten zu können?“ fiel er jetzt ein.

„Durchaus nicht!“ versetzte Trenck stolz und kalt; „ich bin weder ein Narr, noch halte ich Sie dafür!“

„Machen Sie anderen Leuten weiß, daß Sie mit dem Teufel im Bunde stehen,“ sagte der Platzmajor lachend.

„Es handelt sich hier nicht um den Teufel, sondern um den Befehl des Herzogs, um welche Stunde morgen ich auf dem Glacis spazieren gehen soll.“

„Nun, wohl,“ sagte der Commandant, „der Herzog läßt Ihnen sagen, es bedürfe dessen nicht – es reiche hin, wenn Sie uns nur genau angäben, wie Sie es bewerkstelligen wollen, und wir die Möglichkeit einräumen müssen.“

Trenck blickte forschend in die Gesichter derer, die ihn umstanden. Es lag ein Ausdruck darin, der ihm nicht gefiel und der ihn hätte zum Mißtrauen führen müssen. Aber er war zu sehr in Aufregung bei dieser ganzen Scene, er dürstete zu sehr nach dem Triumphe von Staunen und Bewunderung, den ihm der nächste Augenblick bringen konnte, als daß er besonnen geblieben wäre. „Hat der Herzog das in der That gesagt?“

„Zweifeln Sie an unseren Worten?“

„Er sichert mir die Gnade des Königs zu, auch wenn ich Ihnen blos den Beweis führe, daß ich frei und ungehindert davon gehen kann, ohne, wie der Herr Platzmajor glaubt, die Hülfe des Teufels in Anspruch zu nehmen?“

„Ja!“

„Nun wohl, meine Herren,“ rief jetzt Trenck laut aus – „so geben Sie Acht!“

Damit begann er den rechten Fuß aus seiner Fessel zu lösen, dann die Kette, die an seinem Halsringe hing, dem Commandanten trotzig vor die Füße zu werfen und die Handschellen mit der Stange dazwischen ebenfalls; darauf schleuderte er das Halseisen dem Uebrigen nach, und dann trat er stolz und aufgerichtet ein paar Schritte vor, daß die Officiere bestürzt zurückwichen. Er wandte sich nun der Ecke zwischen seinem Lager und der Wand zu, hob hier etwas vom Boden auf und zog einen mit Gold gefüllten Beutel, ein Pistol, ein Paar Schlüssel, Pulver und Blei und mehrere Feilen hervor, die er auf seinen Tisch legte; dann nahm er die zwischen seinen Handschellen befindliche Stange vom Boden auf, löste sie von den Fesseln los und schritt nun auf die andere Seite der Zelle, wo er vorsichtig ein großes Stück des Bodens aus den geschickt mit Brodkrumen zugestrichenen Fugen hob. Dann hob er ein zweites darunter liegendes und endlich ein drittes auf. Aus der Tiefe darunter zog er zwei kleine Sandsäcke hervor und sagte nun, die Arme wie ein Triumphator über der breiten und kräftigen Brust verschlingend:

„Sie sehen, meine Herren Officiers, daß ich die Wahrheit gesagt. Meine Ketten habe ich den Herren vor die Füße geworfen; dort liegt eine Waffe, um mich auf der Flucht vor dem Wiedereinfangen zu schützen, und Geld, um mir weiter zu helfen; hier ist der Eingang zu dem Wege, der mich aus meinem Kerker führt. Ueberzeugen Sie sich selbst. Untersuchen Sie den Gang; Sie werden finden, daß er sieben und dreißig Schuh lang ist. Er mündet in der Casematte drüben. Die österreichischen Gefangenen, welche dort eingesperrt sind, werden meine Flucht nicht hindern; das Thor der Casematte wird es auch nicht, denn dort liegen die Schlüssel, welche es von innen öffnen. Höchstens würde die ganze dort eingesperrte Mannschaft mich als Escorte begleiten. Die Leute haben mir schon jetzt ihren guten Willen gezeigt, denn sie haben das Ende meines Ganges in ihrer Casematte entdeckt und mich dennoch nicht verrathen. Und was, wenn ich einmal draußen bin, meine weitere Flucht angeht, so ist dafür gesorgt. Der Ort, wo ein vertrauter sicherer Mann mit zwei gesattelten Pferden auf mich wartet, ist mir genau bekannt. Bin ich aber einmal im Sattel, ein zuverlässiges Pistol in der Faust, – dann fangt Ihr Herren mit allen Euern Deserteur-Cordonlinien den Trenck nicht wieder ein, weit eher den Teufel mit einer Leimruthe auf flachem Felde.“

Die Officiere sahen sich allerdings, ganz wie der Gefangene es erwartet hatte, mit stummer Verwunderung an. Die ganze

[338] Scene war so überraschend, namentlich für den Commandanten, der zunächst für seinen Gefangenen verantwortlich war, daß er mehrmals die Farbe wechselte und kaum wußte, was er erwidern sollte. Der Platzmajor richtete unterdeß seine Aufmerksamkeit auf den Minengang Trenck’s, er sprang in die Tiefe hinab und verschmähte es auch nicht, um sich zu überzeugen, in den Gang hineinzukriechen. Als er sich wieder aufrichtete, versicherte er: „Es ist wirklich und wahrhaftig ein tiefer Gang unter der Erde her – so weit ich den Arm vorgestreckt habe, ist kein Ende zu finden!“

„Er ist sieben und dreißig Schuh lang!“ fiel Trenck ein.

„Jetzt ist die Kunst, aus dem Loche wieder herauszukommen,“ sagte der Platzmajor, der weder so groß gewachsen, noch ein so guter Voltigeur war, wie Frohn, um sich mit einem Sprung auf den Rand des Loches schwingen zu können. Zwei Lieutenants faßten ihn unter die Arme und schroteten ihn in die Höhe.

„Da sollte man ja rein des Teufels werden,“ brach jetzt der Commandant aus, der schaudernd überdachte, welche zahlreichen Mitwisser Trenck gehabt haben müsse, um sich alle die Gegenstände zu verschaffen, welche er jetzt offen vorzeigte … es scheint, man hat mir die halbe Garnison bestochen und verführt!“

„Niemanden, der in Ihrer Gewalt wäre, Herr Commandant,“ versetzte Trenck. „Ich habe Ihnen nicht dazu meine Karten offen gelegt, daß Sie jetzt eine Inquisition beginnen und Unschuldige als Verdächtige chicaniren. Der einzige Schuldige ist mein Witz, der stärker war, als der Witz derer, die alles thaten, um mir das Entkommen unmöglich zu machen. Und von Schuld kann ja bei mir keine Rede sein. Der König hat mich hier ohne Urtheil und Recht, ohne daß ich nur ein einziges Mal verhört wäre, ohne daß mir nur angegeben wäre, wessen ich beschuldigt bin, in der unmenschlichsten und grausamsten Haft gehalten. Mich ihr zu entziehen, wie ich kann, das ist mein unveräußerliches Menschenrecht!“

„Kommen Sie jetzt mit uns,“ sagte der Commandant. „Ich nehme Sie mit mir in meine Wohnung. Ich werde von dort aus dem Herzoge die Sache melden, und wir werden seine weiteren Befehle abwarten.“

Trenck war natürlich sehr bereit dazu. Er schritt zwischen den Officieren aus seinem Kerker heraus und dann der Wohnung des Commandanten zu, die nicht in der Sternschanze, sondern in der Stadt lag. In zuversichtlicher Stimmung, voll sanguinischer Hoffnungen, sog er die für ihn fast berauschende frische, freie Luft ein, die er seit fast neun Jahren nicht mehr gekostet.

Wie wenig ließ er sich träumen, daß von Allem, was vorgegangen, der Herzog von Braunschweig keine Ahnung hatte; daß er nach acht Tagen wieder in seinen neubefestigten Kerker zurückgebracht, daß sein Fuß mit einer doppelt so schweren Kette an die Mauer geschlossen sein würde![1]


5.

Es mochte halb elf Uhr sein. Frohn hatte Esther heute nicht gesehen, denn wenn die Gefangenen nicht draußen arbeiteten, so wagte sie sich nicht zu ihm, durch die Menge von Männern, welche die Casematte füllten. Ein Laufbursche hatte Frohn das Frühstück gebracht. Er hatte dieses kaum verzehrt, der Laufbursche war kaum gegangen, als zur Ueberraschung der Gefangenen sich das Thor der Casematte noch einmal öffnete und ein Officier eintrat, dem drei oder vier Handwerker, mit Schaufeln und Schiebkarren versehen, folgten. Sechs Mann Wache besetzten das offen bleibende Thor.

Frohn trat dem Officier entgegen. „Wozu kommen der Herr Camerad?“ fragte er ihn.

„Man fragt noch lange?“ versetzte dieser barsch und von Diensteifer erregt. „Man hat sich in ein Complott eingelassen! Man wird die Folgen schon zu fühlen haben. Wo ist der Eingang zu dem Loch, durch welches man mit dem Trenck conspirirt hat?“

Der Officier war offenbar vortrefflich orientirt, denn er schritt, ohne eine Antwort abzuwarten, dem obersten Ende der Casematte zu, wohin die Arbeiter ihm folgten. Bei dem Erscheinen des Officiers war es natürlich Frohn’s erster Gedanke, daß er verrathen sei. Bei den Worten desselben, bei dem Vorwurf, daß er sich in ein „Complott“ eingelassen, durchzuckte es ihn wie ein Blitzschlag. Es war gewiß, Trenck hatte den Verräther gespielt!

Was war zu thun? War das große Unternehmen aufzugeben, in der Furcht, daß die Festungsbehörden bereits alle Maßregeln ergriffen, um es scheitern zu machen? Dazu war es zu wohl überlegt, dazu sicherte die unverhältnißmäßige Ueberzahl der Gefangenen über die Besatzung zu sehr den Erfolg! Nein – der Streich mußte geführt werden – aber auch sofort! Es war jetzt keine Zeit mehr zu verlieren. Jeder weiter verlorene Augenblick war für die sich gegen einen Angriff der Gefangenen rüstende Besatzung ein Gewinn.

Frohn war bald entschlossen. Der Officier hatte unter Frohn’s Matratze das Loch, welches in Trenck’s Kerker führte, bald aufgefunden. Er gab jetzt den Arbeitern, die herantretend ihn umgaben und das aufgewühlte Loch betrachteten, seine Befehle.

Frohn benutzte diesen Augenblick. Er winkte seinen Leuten – drängte sich an den Officier, riß ihm mit Blitzesschnelle den Degen aus der Scheide, faßte ihn im selben Augenblick am Kragen und warf ihn in das Loch hinunter. Zugleich rief er mit einer donnernden Stimme: „Es lebe die Kaiserin!“

Es war ein entsetzliches Gebrüll und Gejauchz’, was diesem Rufe folgte und die niedrige Casematte mit einem Getöse erfüllte, welches allein hinreichend schien, die kleine, sofort hereinstürzende Escorte des Officiers zu betäuben und zu überwältigen. In der That war dies halbe Dutzend ziemlich harmloser Landmiliz ohne alle Schwierigkeit zu Boden geworfen, und sechs Musketen und ebenso viele Patrontaschen und Seitengewehre waren in den Händen der Gefangenen. Frohn, den blanken Degen in der Faust, stürzte nun zur Casematte hinaus – die zwei davor aufgestellten Schildwachen konnten nicht daran denken, dem Menschenstrom, der sich hinter ihm her daraus ergoß, Widerstand zu leisten; sie waren entwaffnet, ehe sie zur Besinnung über das, was vorging, gekommen. Der entzügelte Haufe rannte nun über den innern Hof der Sternschanze fort, der Hauptwache zu. Diese war mit einer so geringen Mannschaft besetzt, daß Frohn über den Ausgang nicht zweifelhaft sein konnte; er hielt es deshalb nicht für nöthig, den Angriff zu leiten, sondern trennte sich von der Schaar und lief quer über den Platz den Wällen zu. Vierzig Mann der Schaar hatten sich ihm zunächst gehalten; diese folgten ihm jetzt.

Durch seinen Plan orientirt, fand er es nicht schwer, sein Ziel zu erreichen, nämlich die Alarmkanonen auf dem Walle der Sternschanze. Zwei schwere Geschütze waren stets geladen, um jeden Augenblick, so bald die Meldung kam, daß ein Deserteur entsprungen, abgefeuert werden zu können und die Landbevölkerung in der Umgegend der Festung auf ihre Posten zum Schließen eines doppelten Cordons zu rufen. Ein Artillerist schritt als Wache neben den Geschützen auf und ab; als er die herbeistürzenden Gefangenen erblickte, deren laute Zurufe ihm an’s Ohr schlugen, ohne daß er sie verstand, blieb er wie vor Schrecken regungslos stehen und ließ sich ohne Widerstand entwaffnen. Frohn fand augenblicklich in einem der Protzkästen das nöthige Pulver, schüttete es auf das Zündloch der zwei Geschütze, schlug mit dem Stahl und Stein, den er bei sich führte, Feuer, entzündete die Lunte, die er an ihrem richtigen Platz neben der Lafette fand, und einen Augenblick nachher flammte ein heller Blitz auf – ein weithin krachender Schuß donnerte über die Festungswerke, die Stadt und die Elbe fort; ein zweiter Blitz – ein zweiter Donner folgte, und aufgeregt von seiner eigenen That schrie Frohn, die Mütze schwenkend:

„Vivat Maria Theresia! Der Tanz beginnt! Jetzt vorwärts, Ihr Mannen! Ein Bombardier und sechs Mann bleiben hier und halten die Batterie besetzt. Die Andern folgen mir!“

Er eilte fort, von seinen Artilleristen gefolgt, die brennende Lunte in der Hand. Als er den Hof inmitten der Sternschanze wieder erreicht hatte, sah er, daß seine früheren Anordnungen befolgt und bereits ausgeführt waren. Die Wache war von seinen Leuten besetzt, das Thor der Sternschanze war in ihren Händen; viele von ihnen waren schon bewaffnet – sie hatten von dem kleinen Häuflein, welches die Besatzung des Forts bildete, nirgends Widerstand gefunden. Vor der Wache standen zwei kleine Kanonen, [339] sogenannte Bataillonsgeschütze, wie sie damals den einzelnen Regimentern zugetheilt waren, aufgefahren. Sie waren wegen der zahlreichen in der Festung aufgenommenen Kriegsgefangenen geladen und standen auch gegen den Eingang in die Casematte gerichtet – den sie freilich zu bewahren, sich heute wenig dienlich gezeigt hatten. Frohn erkannte augenblicklich ihre Wichtigkeit für ihn.

„Kommt her, Ihr Bursche,“ rief er seinen Leuten zu – „die Geschütze müssen mit – spannt Euch davor und dann mir nach!“

Die Leute griffen augenblicklich zu, und indem an jeden der beiden Vierpfünder sich etwa fünfzehn der Artilleristen spannten, wurden sie ohne große Schwierigkeit in Bewegung gebracht. Frohn schritt auf das Thor zu; in der Nähe desselben ließ er Halt machen und den beiden Geschützen eine Wendung nach rechts geben. So richteten sich ihre Mündungen wider ein niedriges aber festes Bohlenthor, welches den Eingang in ein kleines blockhausartiges Gebäude verschloß. Eine Cartouche wurde zerrissen und gab Pulver für die Zündlöcher her. Frohn selbst visirte dann, trat zur Seite, legte die Lunte an, das Geschütz krachte los und als der Dampf sich verzogen hatte, sah man, wie das Thor zersplittert aufkrachte. Der Eingang zu dem Pulverhaus, zu den Munitionsvorräthen, war gewonnen.

Ein Eljen- und Vivatschreien der Leute folgte. Alles stürzte dem Gebäude zu, auch die Mannschaft, welche nach seinem frühern Befehl das Thor besetzt hatte, lief herbei, um sich mit Munition zu versehen. Frohn rief mit seiner weithinschallenden Stimme die Leute zurück; aber erst nach einigen Minuten hatte er soviel Mannschaft wieder um sich, um mit seinen Geschützen vorgehen zu können. Er verließ die Sternschanze und rückte durch das Sudenburger Thor vor. Bald hatte er vor sich ein noch von den ältesten Befestigungen übriges zweites Stadtthor. Durch dasselbe blickte er in die Gasse hinein, welche in das Innere der Stadt führte. Er sah, wie dort in der Straße die Menschen, erschrocken über den Tumult, zusammenliefen, und zu gleicher Zeit, wie die Straße herunter ein Haufe Soldaten von der Besatzung unter der Anführung eines Officiers herbeigeeilt kam. Im ersten Augenblick dachte er, daß dieselben kämen, um der Besatzung der Sternschanze zu Hülfe zu eilen, und lachend rief er aus:

„Vortrefflich, sie kommen, um uns ihre Gewehre zu bringen –“

Dann aber durchblitzte ihn der Gedanke, daß sie beabsichtigen könnten, das alte Stadtthor zu schließen. In diesem Falle war Frohn mit einem großen Zeitverlust bedroht – wenn er nämlich genöthigt war, das Thor zu forciren. Augenblicklich gefaßt, sprang er deshalb an das noch geladene Bataillonsgeschütz, faßte den Schwanz der Lafette, warf ihn mit seiner Riesenkraft herum, sodaß es gerade in die Straße hineingerichtet stand, dem drüben herbeistürzenden Haufen entgegen; dann griff er nach der noch brennenden Lunte, visirte noch einmal … drüben leuchtete etwas wie ein weißes, hochgeschwungenes Tuch vor seinem Auge auf – aber nur einen Moment; als er von dem Geschützrohr aufsah, erblickte er nur die jetzt dem Thore ganz nahe gekommenen Feinde, während der Haufen der Bürger erschrocken zur Seite stob. Frohn legte den Zünder an, und eine Kartätschenladung schlug in den Trupp ein, der augenblicklich auseinander floh.

Zu gleicher Zeit kamen die noch im Pulverhaus Zurückgebliebenen mit ihrer gemachten Beute herangestürzt.

Frohn rief sie um sich: „Alle, die Musketen haben, in die ersten Glieder hinter mir!“ rief er ihnen zu. „Die Artilleristen laden die Geschütze wieder; sobald das geschehen, folgen sie damit. Vorwärts!“

Er schritt voran, durch das alte Sudenburger Stadtthor, dessen schwache Besatzung, statt an Widerstand zu denken, bei dem Heranströmen von mehreren hundert Leuten zu capituliren verlangte und gegen Abgabe der Gewehre freien Abzug erhielt. Dann eilte Frohn seinen Leuten voraus in die Stadt hinein. Ein schwer Blessirter lag vor ihm; andre von dem Kartätschenschuß Verwundete hatten sich aufgerafft und schleppten sich den zersprengten Cameraden nach. Frohn rief den erschrockenen, unter ihren Thüren stehenden oder zum Fenster hinausblickenden Bürgern zu, sie sollten Sorge für den armen Teufel tragen, – im nächsten Augenblick wurde seine Aufmerksamkeit von einer Gruppe von Menschen in Anspruch genommen, die ein wie leblos in ihren Armen ruhendes Mädchen eben auf die Treppenstufen eines Hauses trugen und niederlegten.

Frohn eilte hinzu und stand wie vom Donner gerührt … er erkannte Esther, über und über von Blut bedeckt, das aus einer Brustwunde strömte, und das die Umstehenden vergeblich zu stillen suchten.

„Esther! Esther! Um Gotteswillen, was ist geschehen?“ rief er entsetzt aus, alle Andern bei Seite schiebend, neben ihr in’s Knie sinkend und ihr todtenbleiches Haupt mit seiner Rechten erhebend.

Sie schlug die geschlossenen Augen auf. Der Klang dieser Stimme hatte sie zum Bewußtsein zurückgerufen. „Sie sind’s?“ sagte sie mühsam und kaum verständlich. „Sie haben mir den Tod gegeben!“

„Ich? … o mein Gott!“

„Sahen Sie mein weißes Tuch nicht? Ich winkte Ihnen – ich wollte Ihnen die Schlüssel bringen!“

Sie zog mit mühsamer Bewegung zwei schwere neue Schlüssel aus einer Tasche ihrer Schürze hervor. „Ich winkte Ihnen,“ fuhr sie fort, „weil ich sah, was Sie zu thun an Begriff standen. Aber der Schuß krachte – und ich …“

„Herr Gott des Himmels,“ rief Frohn in furchtbarem Schmerze aus – „ich bin Dein Mörder geworden – Esther, das ist entsetzlich … Esther, Esther, das bricht mir das Herz!“

Er warf sich händeringend neben sie auf die Treppenstufen.

„Grämen Sie sich nicht. Lassen Sie mich sterben; ich konnte ja nicht leben für Sie … es war unmöglich! Nun sterbe ich für Sie … Jehovah sei mit Ihnen … der Gott meiner Väter – er hat es gefügt. Denken Sie an mich – und – an meinen Vater … armen Vater …“

Die Anstrengung, womit Esther dies gesprochen, hatte das Bluten ihrer Brustwunde verstärkt. Ihre letzten Worte fielen fast unhörbar von ihren Lippen. Sie schloß die leuchtend auf Frohn ruhenden Augen wieder. Ihr Antlitz wurde wachsbleich; sie fiel in völlige Ohnmacht zurück.

„Märtyrin … Heilige!“ schrie Frohn in entsetzlichem Schmerze auf, und dann begann er laut schluchzend ihr Antlitz mit Küssen zu bedecken, verzweifelnd, daß sie sie nicht wieder erwecken konnten – er war fassungslos wie ein Kind.

„Herr von Frohn, Herr von Frohn! Camerad Frohn!“ rief es hinter ihm – zugleich erscholl in der Nähe ein donnernder Jubelruf aus mehr als tausend Kehlen.

Die Gefangenen aus der großen Casematte, die unten vor dem Sudenburger Stadtthore im Fürstenwalle lag, debouchirten eben, über tausend Mann stark, weiter oben in die Straße herein. Sie hatten auf die Signalschüsse Frohn’s sofort ihr vorbereitetes Befreiungswerk begonnen, ihre Casematte forcirt, ihre Wachen entwaffnet und kamen jetzt, auf ihrem Wege alles aufgreifend, was ihnen als Waffe dienen konnte, um nach Frohn’s Weisung auf den Marktplatz zu marschiren. Ihr Jubel begrüßte die aus der Sternschanze hervorgedrungenen Cameraden.

Von diesen letzteren umringten jetzt mehrere Frohn, um ihn zu mahnen, nicht zurückzubleiben; er wurde angerufen, am Arm gefaßt, aus seinem Schmerz fortgerissen in die stürmischen Scenen, die seiner harrten. – Er mußte sich losreißen von dem Anblick des sterbenden Mädchens, der ihm das Herz brach; der Strom, dessen Dämme er selbst durchbrochen, erfaßte ihn und schleuderte ihn weiter. Die Officiere, welche sich bei den befreiten Gefangenen befanden, kamen herbei und umringten ihn, schüttelten seine Hände, bestürmten ihn mit Fragen – er mußte seinen Platz an der Spitze wieder einnehmen, verhindern, daß die Leute nicht in die Häuser stürzten, um zu plündern, mußte Abtheilungen absenden, um sich bestimmter Punkte auf den Wällen, deren Lage er den Officieren beschrieb, und der Festungsgeschütze, die dort aufgefahren waren, zu bemächtigen – wohl niemals ist es einem Menschen weniger vergönnt gewesen, einem persönlichen Schmerze nachzuhängen, als in diesem Augenblicke unsrem armen Dragonerlieutenant Joseph von Frohn.

Man rückte vorwärts, den Breiten Weg hinunter.

Unterdeß hatte die Kunde von dem Alarm sich durch die Stadt verbreitet. In der Ferne ertönte der Generalmarsch. Es tönten Hörnersignale. Die erschrockenen Einwohner rannten hin und her über die Gasse vor der rasch weiter dringenden Colonne, deren erste Glieder, bestehend aus denen, welche Musketen erbeutet hatten, Frohn zu geschlossenen Zügen hatte antreten lassen. Es wurde rechts abgeschwenkt, über den Domhof, dem Marktplatz zu. [340] Schon hatte man diesen erreicht, als aus einer Seitengasse der Major du jour herangesprengt kam. Er sah sich plötzlich von allen Seiten umringt und umdrängt. Frohn eilte auf ihn zu.

„Herr Oberstwachtmeister,“ schrie er ihm entgegen, „ich bitte um Ihren Degen und Ihr Pferd!“

Der Officier starrte ihn an, als ob er vor Ueberraschung seine Sinne verloren habe – zwanzig kräftige Fäuste hatten ihm im nächsten Augenblick das Absteigen erleichtert und den Degen entwunden. Frohn schwang sich in den leergewordenen Sattel und ritt seinem Gewalthaufen vor.

Auf dem Marktplatz Hürde aus allen Kräften der Generalmarsch geschlagen. Soldaten der Besatzung liefen mit ihren Musketen herbei, der Hauptwache zu. Die Mannschaft war aufgestellt und lud eben die Gewehre. An den zu beiden Seiten aufgefahrenen Regimentsgeschützen waren Kanoniere beschäftigt.

Frohn rückte vor. Seine Truppe erfüllte bald die ganze eine Seite des Marktplatzes.

„Herr Oberstwachtmeister,“ wandte er sich an den gefangenen Officier, „hier kann ich Sie als Parlamentair gebrauchen. Stellen Sie dem Officier auf der Wache vor, daß er über kaum fünfzig Mann zu gebieten hat und ich über mehr als hundert, die mit Musketen und Munition versehen sind, und ein paar Tausend, die Knittel, Stangen, Wagenhölzer und andere Waffen führen. Ich werde sofort die Hauptwache umringen lassen und Keinem Pardon geben, wenn der Lieutenant seine Leute nicht augenblicklich die Waffen strecken läßt. Auch werde ich den Tambour niederschießen lassen, wenn er noch einen Schlag auf sein Kalbfell führt. Wenn die Leute die Waffen gestreckt haben, können sie sich zerstreuen und in ihre Quartiere oder in ihre Heimath begeben. Es wird ihnen nichts geschehen, bei meinem Wort!“

Der Oberstwachtmeister übernahm den Auftrag und näherte sich der Wache, indem er dem Tambour winkte, mit seinem Trommeln einzuhalten. Frohn ließ seine Leute aufmarschiren, sodaß sie eine Fronte, so breit wie der Platz es erlaubte, bildeten.

Der Major du jour sprach jetzt mit dem wachhabenden Officier. Es war ein lebhaftes Hin und Wider – der Officier schien anderer Ansicht als der Major – da trat ein Ereigniß ein, welches ihn schnell umstimmte. Von jenseits des Platzes donnerte ein lautes: „Vivat die Kaiserin!“ und eine Colonne, wenigstens fünfzehnhundert Mann stark, marschirte aus einer auf den Marktplatz mündenden Straße auf, dem Haufen Frohns gerade gegenüber; die beiden Truppen begrüßten sich mit dem Schwenken ihrer Mützen und donnerndem Jauchzen.

Dem Officier von der Wache mußte jeder Gedanke an Widerstand schwinden. Er befahl seinen Leuten, die Gewehre zusammenzustellen. Frohn sprengte hinzu.

„Auch die Patrontaschen und die Seitengewehre lassen Sie ablegen!“ rief er herrisch dem Lieutenant zu. Dieser wendete ihm zähneknirschend den Rücken, brach seinen Degen mit dem Fuße entzwei und warf die Stücke vor die Hufe von Frohns Pferd.

Der Letztere ließ ihn ruhig abziehen, während die Wachmannschaft seine Befehle vollzog. Er ließ dann die Waffen von Leuten der eben angekommenen Colonne aufnehmen, durch diese die Wache besetzen, sandte ein starkes Detachement nach dem Brückthore, um zu recognosciren, ob dieses von der Abtheilung der Gefangenen, die früher die Anweisung dazu bekommen, besetzt sei, und versammelte nun die Officiere der Truppen zu einem Kriegsrath um sich. Sie umringten ihn inmitten des Marktplatzes in dichter Gruppe, und diese verstärkte sich in jedem Augenblicke durch diejenigen Officiere, welche ihr Ehrenwort gegeben hatten, nicht fliehen zu wollen, und deshalb frei in der Stadt wohnten, jetzt aber alarmirt von allen Seiten herbei eilten.

Die Meldung, daß das Brückthor besetzt sei, wurde gebracht.

„Dann, meine Herren,“ rief Frohn über die Menge fort, „dann, meine Herren, ist Magdeburg unser! Nur unsere Cameraden von der Citadelle scheinen ihre Aufgabe nicht gelöst zu haben – ich höre dort drüben immer noch den Generalmarsch schlagen. Wir werden ihnen zu Hülfe kommen müssen – die Citadelle wird uns Allen Waffen liefern, denn dort ist das Zeughaus!“

Er gab dann mehreren der Officiere Befehle, mit denen sie zu den Leuten eilten, deren Casematten sie getheilt hatten, ordnete die frei gebliebenen Officiere einzelnen Abtheilungen zu, sprengte von dem einen Haufen zum andern, und so gelang es ihm bald, seine ganze Mannschaft in vier starke Bataillone zu theilen, deren jedes eines der gewonnenen Regimentsgeschütze erhielt. Die mit Musketen Bewaffneten bildeten die vordersten Glieder.

Eine halbe Stunde später marschirte diese Kriegsmacht der Elbbrücke zu. Frohn ritt ihr vorauf über die Brücke. Zu seiner Seite ging der preußische Major du jour, den er bei sich behalten hatte, um ihn als Parlamentair zu gebrauchen. Vor der Citadelle angekommen, sah er bald, daß in Beziehung auf diese sein Anschlag mißglückt sei. Das Thor war verschlossen, die Zugbrücken waren aufgezogen, auf den Wällen waren Artilleristen neben den Wallgeschützen mit brennenden Lunten bereit, die Feinde zu empfangen.

Frohn sandte sofort seinen Parlamentair vor, um die Citadelle am Feuern zu verhindern. Der Major eilte, ein weißes Tuch schwenkend, an das Thor und rief die Wache oben auf der Plattform desselben an. Nach etwa fünf Minuten Harrens erschien ein Stabsofficier an der Brüstung. Die Unterredung währte ziemlich lange. Frohn sprengte ungeduldig über das Glacis, um daran Theil zu nehmen.

„Mit wem hab’ ich die Ehre?“ fragte der Stabsofficier von der Plattform herunter.

„Ich bin der kaiserlich königliche Oberlieutenant von Frohn, Chef der Truppen, welche in diesem Augenblick die Festung Magdeburg im Namen ihrer Kaiserin in Besitz genommen haben.“

„Davon ist mir, dem königlich preußischen Oberst Reichmann, Commandanten der Citadelle und Stadt Magdeburg, nichts bekannt,“ rief der Officier zurück; „das meuterische Gesindel, welches dort aus der Stadt hervordringen zu wollen scheint, werde ich sogleich niederkartätschen lassen! … “

„Sie verkennen Ihre Lage, mein Herr Oberst,“ antwortete Frohn kühl – „die Stadt und die Sternschanze sind in unserer Hand, und bei der geringen Garnison der Citadelle wäre es sehr thöricht von Ihnen, dieselbe vertheidigen zu wollen. Die Gefangenen in derselben …“

„Haben allerdings ausbrechen wollen,“ schrie der Oberst zurück, „wir haben sie aber bereits zur Raison gebracht und völlig unschädlich gemacht, darauf verlassen Sie sich!“

„Wenn Sie die Citadelle nicht sofort auf Gnade und Ungnade ergeben,“ rief Frohn zur Antwort, „so lasse ich alle Geschütze zusammenfahren und damit vom Fürstenwall herunter Bresche in Ihre Citadelle schießen; dann lasse ich stürmen und Alles massacriren, was darin ist.“

„Versuchen Sie es,“ entgegnete der Oberst.

„Auf Ihren Kopf kommen die Folgen,“ versetzte Frohn. „Ich werde meine Leute nicht abhalten können, die Stadt zu plündern …“

„Daran kann ich Sie nicht hindern. Thun Sie, was Sie verantworten zu können glauben. Ich werde meine Schuldigkeit thun.“ Mit diesen Worten zog sich der Oberst zurück.

Frohn begab sich zu den Seinen zurück. Er befahl zunächst, die Mannschaften in den Straßen gedeckte Aufstellungen nehmen zu lassen. Dann wurde abermals Kriegsrath gehalten. Frohn war entschieden für einen Angriff auf die Citadelle. Er glaubte, daß ein Sturm, ohne Weiteres unternommen, glücken müsse. Sollte er mißlingen, so konnte die Citadelle einem Feuer aus den ihre Flanken bestreichenden Geschützen der übrigen Festungswerke, namentlich des Fürstenwalls, nicht vierundzwanzig Stunden lang widerstehen. Dann war man Meister der Hauptfestung des Reiches, ihren Zeughauses, ihrer unermeßlichen Vorräthe – es war ein Gewinn, der dem ganzen Kriege eine andere Richtung geben konnte!

Aber Frohn wurde überstimmt. Die Stabsofficiere, ein Paar alte Generalmajore, die unter den Gefangenen waren, bemächtigten sich bald des Wortes und der Leitung der Debatten – Frohn sah, daß man ihm, dem jungen Oberlieutenant, nicht lange die Anführerschaft lassen werde; daß der Geist, der sich unter seinen Cameraden geltend machte, ihn sehr bald zwingen werde, seinen jungen Oberbefehl der verjährten Autorität Seiner Excellenz des kaiserlich königlich österreichischen Feldmarschall-Lieutenants Zopf zu überlassen. Die Meinungen neigten sich entschieden einer Capitulation über eine friedliche Auseinandersetzung zu.

Den Bedingungen derselben wurden denn endlich in einem der nächsten ansehnlichen Bürgerhäuser schriftlich aufgesetzt, sie lauteten:

„Der Gouverneur von Magdeburg läßt sofort sämmtliche noch in der Citadelle befindlichen kaiserlich königlichen Kriegsgefangenen in Freiheit setzen.

[341]

Wilhelmine Schröder-Devrient.


„Die durch ihr gegebenes Ehrenwort gebundenen kaiserlichen Officiere werden dieses Ehrenworts entlassen.

„Die kaiserlichen Truppen quartieren sich bis morgen in der Stadt ein und werden von der Bürgerschaft verpflegt.

„Sie halten so lange sämmtliche von ihnen eingenommenen Posten und Werke besetzt.

„Sie ziehen mit den von ihnen genommenen Waffen ungehindert am morgigen Tage nach der sächsischen Grenze ab.

„Es werden ihnen die Bestände der Festungscasse abgeliefert und unter sie als Reisezehrung vertheilt. Dagegen werden sie alles andere königliche und Privateigenthum respectiren.

„Die Gefangenen Freiherr von der Trenck und Wechsler Isaak Heymann werden sofort in Freiheit gesetzt und nehmen ihren Weg nach Oesterreich unter dem Schutz der Colonne.

„Das königliche Gouvernement der Festung Magdeburg verspricht auf Ehrenwort, daß keine Untersuchung und Verfolgung derjenigen Einwohner stattfinden soll, welche bei der stattgefundenen Befreiung der kaiserlich königlichen Kriegsgefangenen etwa mitgewirkt haben könnten.“

[342] Der gefangene Major du jour wurde mit diesem Entwurf in die Citadelle gesandt. Ein österreichischer Officier wurde beauftragt, ihn zu begleiten. – Bis zur Rückkehr der beiden Herren wurden Anstalten getroffen, die Truppen zu verpflegen. Ein Theil erhielt die Erlaubniß, sich selbst in den Bürgerhäusern einzuquartieren; ein anderer sollte auf einigen freien Plätzen bivouakiren. Ein Officier wurde mit einem Detachement auf das Rathhaus gesandt, um die nöthigen Requisitionen zu machen.

Nach einer halben Stunde kamen die beiden Parlamentaire zurück. Die Bedingungen der Capitulation waren angenommen, bis auf zwei Artikel. Die Geldbestände der Gouvernementscasse auszuliefern wurde entschieden abgelehnt. Die Befreiung des Freiherrn von der Trenck wurde ebenfalls abgelehnt. Es wurde dagegen angeführt, daß Trenck auf einem andern Wege seine Freiheit und die Gnade des Königs zu gewinnen beschlossen habe und daß er allbereits in einer milderen Haft sich auf der Citadelle befinde.

Frohn hatte nicht gerade Gründe, sich um des Freiherrn willen zu ereifern, und beruhigte sich bei dieser Erklärung. Die Debatte über den anderen Punkt wurde in dem Kriegsrathe lebhafter geführt; aber da man einmal am Nachgeben war, that man es auch hierin und begnügte sich mit der Forderung, daß morgen vor dem Abmarsch und nach Uebergabe der eingenommenen Wachen und Posten jedem abziehenden Oesterreicher ein Thaler Reisegeld ausbezahlt werde. Die letztere Bedingung wurde von den Festungsbehörden genehmigt.

Als die Capitulation abgeschlossen war, unterzeichnete Frohn sie zuerst – dann bat er den ältesten Generalmajor, statt seiner das Commando zu übernehmen; der alte Herr willigte begierig ein, um einen so reglementwidrigen Stand der Dinge, daß ein Oberlieutenant über Stabsofficiere commandire und in Gegenwart hoher Vorgesetzter die Prärogative des Verdienstes habe, nicht länger fortdauern zu lassen. Die Verpflegung und Ablösung der Truppen auf den einzelnen besetzten Posten, die Bestimmung der Marschroute für die Heimreise am andern Tage, die natürlich in getrennten Colonnen angetreten werden mußte – alles das überließ jetzt Frohn den Uebrigen.

Er selbst hatte an Anderes zu denken. Er begab sich mit denen, welche die unterschriebene Capitulation in die Citadelle brachten, in diese letztere. Am Thore wartete er, bis nach einer Viertelstunde Harrens eine jubelnde, jauchzende, wilde Menge von Männern daraus hervorströmte, ein buntes Durcheinander von den verschiedensten Uniformtrachten, Physiognomien und Gestalten, der blonde, kräftige Tyroler neben dem schmalen, zigeunerhaften Serbier und Bosniaken, der cumanische Reiter neben dem bärtigen, von den letzten Fetzen seines rothen Mantels bedeckten slavonischen Panduren. Es waren die Gefangenen der Citadelle, die nach dem Inhalt der Capitulation in Freiheit gesetzt wurden.

Frohn ließ sie an sich vorüberziehen; er drückte sich zur Seite, statt sich in den Zug derer zu mischen, welche ihm ihre Freiheit verdankten, und die ihn auf den Händen getragen hätten. Es verlangte ihn nicht, von ihnen zu erfahren, wie sie am Morgen seine Anweisungen befolgt, wodurch ihre Versuche loszubrechen gescheitert seien … er sah nur voll Ungeduld, daß der lange Zug nicht enden wolle.

Endlich waren die Letzten vorüber; ein einzelner Mann, der nicht zu ihnen gehörte, der sie offenbar scheu vermied und einen weiten Raum zwischen sich und dem Letzten gelassen hatte, ein Mann, dessen großer dreieckiger Hut eine jüdische Physiognomie beschattete, folgte ihnen.

Zu ihm trat Frohn. „Isaak Heymann!“ sagte er.

Der Jude hob sein blasses, abgezehrtes Gesicht auf. „Wer ruft Isaak Heymann? Was soll geschehen mit dem armen Isaak, der ist errettet aus seinem Kerker, aus den Händen der Gojim, und weiß nicht, ob es ist ein Traum wie der Traum Jakobs, oder ob es ist die Wahrheit und die Wirklichkeit?“

„Kommt mit mir, Isaak,“ versetzte Frohn, „ich will für Euch sorgen!“

„Der Herr will für mich sorgen? Wer ist der Herr, daß er will sorgen für einen armen Juden, den er nicht kennt, und den die Mizraimiten haben gebrandmarkt mit Schande, obwohl er ist unschuldig wie Joseph, da seine Brüder ihn verkauften …“

„Laßt Euer altes Testament jetzt und kommt mit mir, Heymann, ich habe zu reden mit Euch.“

„Ich will nicht kommen mit irgend Jemand,“ sagte Isaak, „ich will gehen zu…“ Er endete nicht und verschluckte das letzte Wort, indem er einen furchtsamen Seitenblick auf Frohn warf.

„Ihr wollt gehen zu Eurer Tochter,“ sagte dieser – „gerade von ihr wollte ich mit Euch reden!“ Damit nahm Frohn den Alten unter den Arm und schritt mit ihm durch das Thor der Citadelle, über die Elbbrücke der Stadt zu.

Was der österreichische Lieutenant auf diesem Wege zu dem armen Juden geredet – brauchen wir es zu erzählen? Es reicht hin, wenn wir dem Leser ein dunkles und ergreifendes Bild zeigen, in welchem wir die beiden Männer nach wenig Stunden wiederfinden. Eine große, niedrige, dürftig meublirte Kammer eines Judenhauses der Stadt Magdeburg bildet den Rahmen desselben. In der Mitte, unter einer angezündeten dreiarmigen Hängelampe von blankem Messing, auf Kissen, die auf den flachen Boden gelegt sind, ruht ein Frauenbild, die Züge wachsbleich, die Hände gefaltet. Zu ihren Füßen kniet ein Mann mit grauem Haar, Gebete murmelnd, dann leise mit sich selber sprechend, dann plötzlich laut aufschluchzend und sich niederwerfend, daß seine Stirn den Boden berührt, seine Arme die Füße der Leiche umschlingen. Ihm gegenüber, zu Häupten der Todten, steht eine hohe, breite Männergestalt, die Arme über der Brust verschränkt, aber das Gesicht zu Boden gewendet, sodaß der Strahl der Lampe sie nicht berühren und den Ausdruck tödtlichen Schmerzes nicht zeigen, nicht in der Thräne glänzen kann, die an den Wimpern des Mannes hängt.




Beide Männer sind am anderen Tage, in der Frühe des Morgens, Reisegefährten. Sie schreiten zusammen der Grenze Sachsens zu, wo sie sich trennen wollen; Isaak Heymann, um Verwandte in Polen aufzusuchen, Joseph von Frohn, um zu seinem Regimente in Böhmen zurückzukehren. Beide schreiten den dichten Haufen vorauf, welche nach wenig Stunden durch dieselbe Gegend marschiren werden, in getrennten Schwärmen, die Einen nach links, die Andern nach rechts hinaus durch die Gegend fouragirend und marodirend, ein Schrecken der Dörfer, durch welche ihr Weg führt. Und so schwinden sie aus unseren Augen … hinter den Wäldern und Hügeln des Sachsenlandes, sowie das Gedächtniß an sie, an Frohn, den muthigen Befreier seiner gefangenen Cameraden, aus den Büchern der Geschichte geschwunden ist. [2]

  1. Er erzählt wenigstens in seiner Lebensgeschichte (Wien 1787): „Nach meiner erlangten Freiheit reiste ich selbst nach Braunschweig und erfuhr vom Herzoge selbst, daß die damals über mich bestellten Majors demselben nicht die Wahrheit rapportirt und um einen Verweis wegen nachlässigen Visitirens zu vermeiden, demselben gemeldet, sie haben mich bei der Arbeit ertappt und bei genauer Untersuchung gefunden, daß ich ohne ihre Wachsamkeit sicher entflohen wäre. Einige Zeit nachher habe aber der Herzog die Wahrheit erfahren, dem Könige den Vorfall gemeldet, und von dieser Zeit an habe der Monarch nur auf Gelegenheit gewartet, um mir die Freiheit wieder zu geben.“
  2. In einzelnen historischen Werken finden sich nur flüchtige Andeutungen an die erzählten Thatsachen. So z. B. in Trenck’s Lebensbeschreibung, dessen Unzuverlässigkeit schon aus seinen Zahlenangaben erhellt. Er gibt die Anzahl der Gefangenen auf 16,000, der Besatzung bald auf 1500, bald auf 900 Mann an und behauptet, das Unternehmen Frohn’s sei gescheitert, ohne recht zu motiviren, weshalb. Ueber den Erfolg Frohn’s vergleiche v. Stramberg, Rhein. Antiq. II. 1. S. 534, wo auch das Schweigen der zeitgenössischen Geschichtsquellen erklärt wird.


Erinnerungen an Wilhelmine Schröder-Devrient.

Von Claire von Glümer.
VI.
(Mit Portrait.)

Am 14. Juni 1831 begann die deutsche Operngesellschaft ihr zweites Gastspiel in Paris. In der Nacht desselben Tages brachen Unruhen aus, die durch Einschreiten der bewaffneten Macht unterdrückt werden mußten und zu weitverzweigten Untersuchungen Anlaß gaben, sodaß wieder die politischen Interessen alles Andere in den Hintergrund drängten.

Trotz dieser Ungunst der Verhältnisse fand Wilhelmine Schröder-Devrient noch wärmere Aufnahme als das erste Mal. Einige der tonangebenden Blätter dankten der Künstlerin, der es gelungen war, „ihre Zuhörer über das unheimliche Treiben des öffentlichen Lebens zu erheben und für Augenblicke durch ihre Melodien alle Sorgen einzuschläfern.“ Die deutsche Sängerin wurde Mode in [343] demselben Grade, wie es kurz zuvor Paganini gewesen war, und als die Sonnenhitze den Vorstellungen der deutschen Oper ein Ende machte, war die Rede davon, Wilhelmine für die große Pariser Oper zu engagiren. Die Musikverständigen sahen in ihr eine würdige Nachfolgerin jener Sterne erster Größe, Marthe Le Rochois, Sophie Arnould, Henriette Branchu, die seit zwei Jahrhunderten der Stolz der französischen Oper waren. Die Zeitungen gaben der Direction wiederholt den Rath: „die Möglichkeit eines solchen Gewinnes sich nicht zum zweiten Mal entgehen zu lassen;“ das Publicum sprach seine Wünsche ganz unverkennbar durch die enthusiastischsten Huldigungen aus, die es der Künstlerin darbrachte, – aber es war umsonst! die kleinen Talente, die durch Wilhelmine Schröder-Devrient verdunkelt zu werden fürchteten, intriguirten gegen sie, und in diesem Kampfe, – zu dem ihr immer die Waffen fehlten – mußte sie unterliegen. Die Direction zog sich mit nichtssagenden Redensarten zurück. Sie erklärte, daß sie vor Allem einheimische Talente berücksichtigen müsse und daß das Pariser Publicum die deutsche Sängerin nur als Gast wohlwollend aufgenommen hätte, daß es sie aber nicht als wirkliches Mitglied der französischen Academie royale de musique dulden würde.

Wilhelmine war im Begriff Paris zu verlassen, als der Director der italienischen Oper, Edouard Robert, Unterhandlungen mit ihr anknüpfte, und am 9. Juli wurde ein Contract unterzeichnet, der die deutsche Sängerin auf fünftehalb Monate – vom 15. November 1831 bis 31. März 1832 – bei der italienischen Oper engagirte.

Mit diesem Engagement trat Wilhelmine in ganz neue, sehr schwierige Verhältnisse. Ihre Widersacher, d. h. vor allem ihre Neider, hatten die Zeit bis zu ihrem Wiederauftreten geschickt zu benutzen gewußt, sodaß sie im Publicum eine ganz veränderte Stimmung fand; selbst ihren treuesten Freunden und Bewunderern erschien es gewagt, daß sie mit italienischen Sängern concurriren wollte. Die Deutschen könnten nun einmal nicht singen, hieß es allgemein; ihre Sprache, die Rauhheit des Klimas, in dem sie lebten, die falsche Methode ihrer Gesanglehrer würde sie immer an einer vollkommenen Ausbildung hindern – und nun sollte sich eine deutsche Sängerin neben Rubini, Lablache, der Pasta und der Malibran behaupten!

Daß ihr die Italiener in Betreff der technischen Fertigkeiten überlegen waren, hat Wilhelmine Schröder-Devrient selbst erkannt und hat es in ihrer einfach bescheidenen Weise oft genug ausgesprochen. Ihre poetische Gestaltungskraft dagegen, die Gewalt ihrer Leidenschaft hat keiner derselben erreicht.

Rubini war Meister im Gesang und er wollte eben nichts Anderes sein. Die Wahrheit der dramatischen Darstellung war ihm Nebensache. In jeder Rolle blieb er der schöne, edle, gefühlvolle Rubini, dessen unvergleichliche Stimme jedes Herz bis in die tiefste Tiefe erschütterte. Wilhelmine erzählte oft, daß sie ihn nie ohne Thränen hören konnte.

Noch weniger als er hat Giuditta Pasta – die als Sängerin selbst von der Malibran nicht erreicht wurde, als dramatische Künstlerin geleistet. Die berühmte Frau war nicht schön; ihre Gesichtszüge waren scharf markirt, beinah männlich; die mittelgroße Gestalt war starkknochig, ohne Grazie; der gewöhnliche Gesichtsausdruck beinah finster. In höchster Nonchalance pflegte sie die Bühne zu betreten, wo sie sich ruhig im Hintergrunde verhielt, theilnahmlos für Alles, was um sie her geschah, bis an sie selbst die Reihe des Singens kam. Nun trat sie vor, mit nachlässig wiegendem Gang; ihr Gesicht erheiterte sich, und sie begann zu singen – zu singen freilich, wie es nach ihr keine Andere gethan hat. Dem wunderbaren Wohllaut ihrer mächtigen, umfangreichen Stimme kam die vollendetste Tecknik zu Hülfe. Die größten Schwierigkeiten waren ihr ein Spiel; je mehr sie sich häuften, um so mehr verklärte sich das Antlitz der Sängerin. Ob sie vor Liebeslust oder Verzweiflung sang, war ihr ganz gleichgültig. Sie war glückselig, wenn sie sang; ihre Seele wiegte sich voll üppigen Behagens auf den weichen, glockenreinen Tönen, und Alle, die sie hörten, ließen sich mit fortziehen wie in einen wonnevollen Traum. Daß die Künstlerin den dramatischen Theil ihrer Aufgabe ganz außer Acht ließ, fiel Niemand ein – wer hätte denken, kritisiren mögen, wenn die Pasta sang? So oft sie, das Ende ihrer Pièce anzeigend, mit zurückgebogenem Kopfe dicht an die Lampen trat, die Hand wie zum Gruß nach dem Parterre ausstreckte und die dichten schwarzen Brauen in die Höhe zog – was sie in jeder Rolle that, als Semiramide sowohl, wie als Sonnambula, als Vestalin wie als Armida – brach das Entzücken der Zuhörer in donnernden Beifall aus.

Auch in Betreff des Costüms hatte die Pasta ihr Publicum nicht verwöhnt. Da es herkömmlich war, daß sich die Primadonna anders anzog, wenn sie eine Königin darstellte, als wenn sie die Rolle eines Landmädchens sang, so fügte sie sich dem Gebrauch. Aber daß sie in ihrem Costüm eine gewisse historische Wahrheit erstreben und durch dasselbe die dramatische Illusion verstärken müsse, fiel ihr nicht im Traum ein. Sie ging in ihrer Rücksichtslosigkeit und Bequemlichkeit so weit, daß sie als Sonnambula, wenn sie im Nachtgewand erscheinen mußte, nur eine weite, weiße Blouse über die vollständige Kleidung zog und sich so niederlegte. Zuweilen war diese Blouse zu kurz, sodaß die bunten Röcke darunter hervorkamen. Auch das war ihr gleichgültig – sie sang ihre Partie mit gewohnter Meisterschaft, und das sonst gegen jeden äußeren Verstoß so empfindliche Pariser Publicum vergaß alles Häßliche, Widersinnige in ihrer Erscheinung.

Maria Felicitas Malibran dagegen war nicht allein eine große Sängerin, sie war auch als dramatische Künstlerin bedeutend, und während sie die eigene Rolle in lebendiger Wahrheit, mit tiefer hinreißender Leidenschaft darstellte, erwärmte sie auch die Mitspielenden und zog sie mit fort, sodaß Leben und Zusammenhang in die ganze Vorstellung kam. Ihre Amina, ihre Rosine, ihre Desdemona waren Wesen voll Geist und Leben, an deren Existenz man glauben mußte, deren Glück oder Schmerz sie Allen verständlich machte. Als dramatische Sängerin überragte die Malibran alle ihre Vorgängerinnen und Zeitgenossen, bei der italienischen sowohl, wie bei der französischen Oper.

Aber nun erschien Wilhelmine Schröder-Devrient, und Maria Malibran mußte erkennen, daß ihr die deutsche Künstlerin nicht allein ebenbürtig, sondern in mehr als einer Hinsicht überlegen war. Wilhelmine debütirte als Doña Anna. Bei ihrem ersten Auftreten, als sie mit Don Juan ringend erscheint, war sie befangen. Die Kälte des Publicums, das ihr, wie schon gesagt, mit Vorurtheilen entgegen sah, wirkte lähmend auf sie zurück. Die fremde Sprache machte sie unsicher – schon sahen ihre Freunde Alles, was sie gefürchtet hatten, in Erfüllung gehen! Aber als nun Doña Anna mit Octavio zurückkehrend die Leiche des Vaters fand, sich mit dem herzzerreißenden Schrei: „Ma qual s’offre, o dei, spettacolo funesto agli occhi miei!“ neben ihn niederwarf und ihre Klage um den Todten, ihren Racheschrei gegen den Mörder erschallen ließ, ging ein Schauer durch die ganze Versammlung. Eine solche Doña Anna war auf dieser Bühne nie gesehen worden. Nicht nur die beleidigte Frauenwürde, nicht nur der Schmerz um den ermordeten Vater, nicht nur das glühende Verlangen, sich zu rächen, sprach aus diesen Tönen. Es war das Verzweifeln einer stolzen, reinen Seele, die sich umsonst gegen die Macht der Leidenschaft sträubt. Wie sah man sie ringen gegen diese immer wieder aufflammende Liebe zu dem Verräther, den sie, gerade um dieser Liebe willen, mit um so unversöhnlicherem Haß verfolgt! Wie sah man sie sich anklammern an die Aufgabe, den Vater zu rächen, und wie sprach sich – als Don Juan endlich dem ewigen Verderben anheimgefallen ist – das Zusammenbrechen dieser gewaltigen Frauennatur in Haltung und Mienen, und vor allem in der wie aus gebrochenem Herzen hervortönenden Bitte aus: „Lascia, o caro, un anno ancora allo sfogo del mio cor.“ – Ein maßloser Jubel dankte der Künstlerin für ihre tiefpoetische Schöpfung, von allen Seiten flogen ihr Blumen zu, und das da capo-Rufen wollte kein Ende nehmen, während Zerline-Malibran vor Zorn und Eifersucht weinend hinter der Coulisse stand, mit zuckenden Händen ihren Busenstrauß zerriß und sich im Stillen gelobte, Alles daran zu setzen, um Wilhelmine Schröder-Devrient zu vernichten.

Schon den Winter zuvor, als Henriette Sontag die Pariser entzückte, hatte die ehrgeizige Frau, die Niemand neben sich dulden wollte, in ähnlicher Weise gelitten. Damals hatte sie ihrem Zorn durch allerlei spöttische, geringschätzige Bemerkungen Luft gemacht. Die Malibran war’s, die von der Sontag sagte: „Sie ist groß in ihrem Genre, aber ihr Genre ist klein,“ eine Aeußerung, die so allgemeine Zustimmung fand, daß sich die eifersüchtige Künstlerin beinahe getröstet fühlte. Schlimmer erging es ihr mit Paganini, dessen Erfolge – obwohl sie nicht auf ihrem Gebiete errungen waren – sie abermals zur Verzweiflung brachten. Sie hatte von ihm gesagt: „Signor Paganini besäße zwar eine staunenswürdige [344] Fingerfertigkeit, durch die sich die Menge verblenden ließe; aber es fehle ihm an aller Wärme, und zu singen verstände seine Violine nicht.“ Paganini erfuhr diese Aeußerung und ließ die Sängerin fragen: „ob sie es auf einen öffentlichen Wettstreit ankommen lassen wolle; er wäre jeden Augenblick dazu bereit.“ Marie Malibran hatte darauf eine hochmüthig abweisende Antwort gegeben, konnte sich aber nicht verbergen, daß sie durch ihre unvorsichtige Aeußerung nur sich selber geschadet hatte.

Eingeschüchtert durch diese Erfahrung, beschloß die Malibran, Wilhelmine Schröder-Devrient mit andern Waffen zu bekämpfen, als mit Worten. Als die erste Aufregung vorüber war, sagte sie sich zum Trost, oder ließ sich von ihren Freunden einreden, daß Wilhelmine ihren Triumph nur der hervorragenden Rolle zu verdanken hätte, daß sie aber nicht im Stande sein würde, sich neben der berühmten italienischen Sängerin zu behaupten. Auf diese Ueberzeugung baute die Eifersüchtige ihren Racheplan.

Ihr Benefiz sollte in den nächsten Tagen stattfinden. Sie wählte dazu Rossini’s Othello und behielt sich selbst die Titelrolle vor, während die Partie der Desdemona Wilhelmine Schröder-Devrient übertragen wurde. Auf diese Weise wollte sie zugleich die Unerschöpflichkeit des eigenen Talentes durch eine ganz neue Kunstschöpfung in’s hellste Licht stellen und die ungetreuen Pariser überzeugen, daß die Desdemona der Malibran von keiner anderen Sängerin erreicht werden könnte.

Sie hatte sich verrechnet! Wilhelminens Desdemona war allerdings eine ganz andere, als die der spanisch-italienischen Künstlerin, aber sie war nicht minder wahr und schön, und das träumerisch Innige, das die deutsche Frau der Shakespeare’schen Desdemona abgelauscht hatte und das sie, trotz aller Leidenschaft des Ausdrucks, immer wieder anklingen ließ, verlieh ihrer Schöpfung einen unwiderstehlichen Reiz. Die Malibran dagegen erschien als Othello so unvortheilhaft als möglich; ihre zarte Gestalt, die im Männerkleide und neben Wilhelminens üppiger Schönheit fast dürftig erschien, paßte schlecht zu der gewaltigen Leidenschaft des Mohren, und die wunderbare Grazie, die der Künstlerin sonst eigen war, ging in den Uebertreibungen verloren, durch welche sie in dieser Rolle die Manneskraft zu ersetzen suchte. Ihr Augenrollen, Stampfen, Kopfschütteln, das Verzerren der feinen Lippen, das Ballen der kleinen Hände machte einen beinah komischen Eindruck, und sie hatte es nur der entschiedenen Vorliebe des Publicums, der Erinnerung an ihre anderen Leistungen zu verdanken, daß man sie nicht für ihren Mißgriff strafte. Ihre Freunde bemühten sich sogar, dem Beifall, den Wilhelme Schröder-Devrient erntete, das Gegengewicht zu halten – aber Marie Malibran war eine viel zu geistreiche Frau, um nicht zu verstehen, daß sie trotz dieses scheinbaren Erfolges eine Niederlage erlitt. Ihre Verzweiflung, ihre Wuth stieg von Scene zu Scene und beraubte sie endlich so ganz der Besinnung, daß sie zuletzt die todte Desdemona zu dicht an die vordere Lampenreihe schleppte und ihren Kopf so niederlegte, daß ihr der niedersinkende Vorhang unbedingt das Gesicht zerschlagen mußte. Glücklicherweise sah der Maschinist die Gefahr und ließ den Vorhang nicht nieder. Das Publicum, das erst applaudirt und herausgerufen hatte, stutzte, wunderte sich, wurde ungeduldig und rief, des Anblicks der Leiche müde: „à bas le rideau!“ Wilhelmine lag in Todesangst, unverwandt zwischen den vorsichtig geöffneten Lidern zu dem drohenden Vorhang emporstarrend. Plötzlich war es ihr, als sänke er tiefer und tiefer – sie ertrug die Angst nicht mehr und schob den Kopf so vorsichtig als möglich zur Seite. Aber das Publicum hatte die Bewegung gesehen und mißverstanden – man glaubte allgemein, Desdemona wolle sich überzeugen, ob Othello, bei dieser hartnäckigen Unbeweglichkeit des Vorhangs, seine Rolle als Todter noch immer fortspiele. Ein schallendes Gelächter brach los, während der Vorhang nun wirklich niedersank. Hatte Frau Malibran – wie Viele behaupten – ihren Fehler absichtlich begangen, so hatte sie erreicht, was sie bezweckte. Der Effect der Vorstellung war vollständig gestört. Sich in einen Wettstreit mit Wilhelmine Schröder-Devrient einzulassen, hat die Künstlerin aber nicht mehr unternommen. Ueberhaupt trat sie damals nur noch ein paar Mal in der Pariser italienischen Oper auf und ging im Januar 1832 nach Italien, wo sie sich mit dem Violinspieler Beriot vermählte.

Wilhelmine hat der Malibran trotz dieser Feindseligkeiten allezeit die begeistertste Anerkennung gezollt, und ihren frühen Tod – Marie Malibran starb in Manchester am 26. Septbr. 1836 – hat vielleicht keine ihrer Kunstgenossinnen so aufrichtig beweint, wie die von ihr gehaßte und verfolgte Schröder-Devrient.

In Paris blieb Wilhelmine, auch nach der Entfernung ihrer Hauptrivalin, von feindseligen Elementen umgeben. Spontini kam an die italienische Oper und benutzte hier, wie in Berlin, seinen ganzen Einfluß gegen die Künstlerin. Er vermochte die Pasta zurückzukehren und setzte es durch, daß ihr fast alle bedeutenderen Rollen übertragen wurden. Wilhelmine sah sich zu einer Unthätigkeit verurtheilt, die dieser strebsamen Natur im höchsten Grade peinlich war. So oft sie sang, erntete sie enthusiastischen Beifall, aber ihr Repertoir blieb auf wenige Stücke beschränkt, und so kam die Vielseitigkeit ihres Talentes nicht zur Geltung.

Obwohl sich Wilhelmine in diesen Verhältnissen sehr unbehaglich fühlte und mit sehnsüchtiger Ungeduld dem Ende ihres Engagements entgegensah, verkannte sie nicht, von welcher Bedeutung dies Zusammenwirken mit den besten Sängern der Zeit für ihre künstlerische Entwickelung war. Wie sie immer bereit war, das Gute anzuerkennen, war sie es auch, zu lernen und an sich selbst zu arbeiten. Rubini, die Pasta, die Malibran waren ihr Vorbilder im Gesang, denen zu folgen sie sich eifrig bestrebte – ein Streben, das der beste Erfolg belohnt hat.

Aber auch nach außen hin, für die Verbreitung ihres Ruhmes, war ihr das Engagement bei den Italienern von Nutzen. Monk-Mason, Director der deutsch-italienischen Oper in London, trat mit ihr in Unterhandlungen, und am 3. März 1832 wurde der Contract geschlossen, der sie für die Saison desselben Jahres (Mai und Juni) engagirte. Monk-Mason versprach ihr für die zwei Monate die Summe von 20,000 Francs und bewilligte ihr außerdem eine Benefizvorstellung, die im Mai oder Juni stattfinden sollte. Sie mußte sich dagegen verpflichten, monatlich wenigstens zehn Mal zu singen und während der Dauer ihres Engagements auf keiner andern englischen Bühne aufzutreten. In Concerten und Privatgesellschaften zu singen, stand ihr frei.

Als Imogene in Bellini’s Oper „il pirato“ nahm sie Abschied von Paris – sie hat seitdem keine französische Bühne wieder betreten. Das Haus war überfüllt bei dieser Vorstellung – obwohl es die achte Wiederholung des Piraten war – der Applaus überstieg alle Grenzen. Mit Blumen und Lorbeeren beladen kam Wilhelmine in ihre Wohnung zurück.

Am folgenden Tage war in vielen Zeitungen ein Nachruf an die Scheidende zu lesen. In einem dieser Blätter heißt es: „Frau Schröder-Devrient hat in einer Weise von uns Abschied genommen, die sie uns ewig unvergeßlich machen wird. Wie hat sie die Angst der Mutter dargestellt, als Gualtiero droht, ihr Kind zu tödten; wie leidenschaftlich und doch wie maßvoll ist ihr Entzücken, als ihr der Pirat den Sohn zurückgibt! In dem großen Duett mit Rubini hat sie Alles übertroffen, was wir je gehört haben. – Gewiß, diese Frau steht als Künstlerin neben den größten Sängerinnen aller Zeiten – ihre Bescheidenheit aber hebt sie über alle Andern empor.“




Aus der Vogelwelt.
Von Dr. A. H.
I. Wie die Vöglein Hochzeit machen.

Die Vögelein im grünen Wald,
Die wollten machen Hochzeit bald.
 Volkslied.

Georges Sand sagt unter Anderen in ihrer Histoire de vie: „Der Vogel ist, was der Künstler unter den Menschen,“ und ich kenne keine größere auf diesen Punkt bezügliche Wahrheit, mit weniger Worten ausgesprochen. Es ist in der That so. Der Vogel ist eine künstlerische Natur durch und durch, aller ihrer Flatterhaftigkeit, aller ihrer liebenswürdigen Launen, aller ihrer genialen Productivität und aller ihrer Grazie voll. Eine solche ist indessen immer schwer zu verstehen. Sie will mit [345] feinem, interessirtem Sinne abgelauscht sein. Ein freistehendes, halbverschneites Vogelnestchen im kahlen, entblätterten Strauche erzählt uns noch lange nicht die ganze Geschichte seines Ursprungs. Die ist ein Frühlings- und kein Wintermärchen. In den Frühling denn mit den Erinnerungen von vielen Jahren! –

Wenn die Rothbuche den durchsichtigen, grünlichen Schleier über das Haupt geworfen, wenn Schwadengras (Glyceria fluitans) und Binse vom dunklen Grunde empor nach dem warmen Lichte verlangend ihre Wurzelblätter ausstrecken und der wunderliche Huflattich die röthlichen Blüthenkolben, von keinem Blatte umfangen, wie Schachfiguren auf den feuchten, schwarzen Boden stellt, dann ist es bei den Vögeln schon lange Frühling geworden, auch ohne seine Hauptzeugen, das Schwalbenpärchen. Sie hatten ihres liebsten Freundes Nähe längst ahnend empfunden, wie eine begabte Natur die der andern. Aber wessen das Herz voll ist, deß geht der Mund über – und bei ihnen der Schnabel. Spatzen und Meisen fangen zuerst an. Ihnen geht’s im März schon gut genug gegen den Winter. Das weiß auch die Goldammer auf der Dachfirste. Träumerisch läßt sie das Schwänzchen herunterhängen, hat das Gefieder aufgeblasen, und singt leise und so recht innig ihre kurze, rührende Strophe. Und wißt Ihr, was das Liebchen bedeuten soll? Es hat bei uns auch einmal ein Dichter dasselbe gesagt:

Wohl war uns der Winter ein harter Gast,
Den armen, den trauernden Vögeln verhaßt.

Das fällt dem Aemmerling wieder Alles ein, indem er so singt, wie er vor kurzem noch vor dieser oder jener Thüre gebettelt, und wie er vor der Scheune auf dem Zaune saß und so sehnsüchtig wartete, die Katze möchte endlich davongehen, damit er die von der Tenne springenden Körnlein auflesen könnte. Immer mehr vergrößert sich indessen von Tag zu Tag das Vogelconcert. Ein Zauberer hat mit seinem Stabe aufgeschlagen, daß sich die Tonwellen nun weiter und weiter verbreiten durch Wald und Feld, wie die Wogen um einen in’s Wasser gefallenen Stein. Der Zauberer heißt Frühling, und jedes seiner Lieder ist ein Liebeslied.

Aber die anderen alle schwatzten nur von seinem beginnenden Regimente, wie die Nachricht von der Ankunft eines Fürsten murmelnd durch das Volk läuft. Da kam seine officielle Heroldin, die Lerche. Eine „tönende Rakete“ steigt sie in die Wolken. Scharfen Auges bewacht sie das unter ihr liegende Feld. Soweit ihr Lied gehört wird, will sie auch das Land besitzen, den alten römischen Rechtssatz umkehrend und behauptend: cujus coelum, ejus solum. Mit Schnabelhieben und Spornstreichen werden die Nebenbuhler aus den Revieren vertrieben, bis endlich der Lenz jedem der noch übrigen Vagabunden ebenfalls die Heimath angewiesen hat, und nun Landfriede herrscht.

Mit Liedern ist um ein Weibchen geworben worden, unter Liedern ist das Nestchen erbaut hinter der schützenden Scholle. Und als sie das erste erdgraue Eichen hineingelegt, da war der Seligkeit kein Ende. Bis es im Abendrothe schwimmt, und die Felder unten schon alle dunkel sind, jubelt das Männchen noch oben in den Wolken. Aber zuletzt muß es doch herab; denn was ausgegangen von der Scholle, muß immer wieder dahin zurück. Doch so schnell kann der begeisterte Vogel noch nicht zu irdischem Schlafe die Augen schließen. Ueberall auf der Brache singen die Lerchen noch fort – Hunderte – leiser zwar ein wenig und träumerischer, doch fast wunderbarer und süßer, als oben fern am Himmel. Es ist, als hätten sie ihn zur Nacht mit sich auf ihren Flügeln heruntergetragen, daß er sich unmittelbar auf die müde Erde decke, und als sängen sie nun noch fort, wie zwischen den Wolken, die als Nebel die Häupter der stillen, kleinen Blumen streifen.

Und allmählich erlöschen die Lerchenstimmen, eine nach der andern, wie die Lichter in den Dörfern gegen Mitternacht hin. Wie die Lerche ihren Nistplatz, wenn auch nicht erobern, so doch behaupten mußte gegen Andere ihresgleichen, so geht es ebenfalls bei den übrigen Vögeln zu. Jedes Lied, möge es vom Wipfel der schlanken Tanne herab ertönen, oder aus dem dichten Rohrwalde des Stromes, von der unfruchtbaren Felsenkuppe, mit spärlichem Grase bewachsen, wie das Haupthaar eines Greises, oder aus dem blühenden Apfelbaume, – jedes Lied war ein Kriegslied und ist ein Triumphgesang geworden.

Aber wie glücklich sind die Vögel nicht daran! Jede schmetternde Fanfare, die dem Feinde sagen soll: „wahre Dich, hier wohnt schon ein Herr!“ lockt zu gleicher Zeit die Liebe, daß sie komme und ein Nestlein baue. Und wenn die Männchen auf dem Zuge zusammen gegen Abend eingefallen sind und zu singen anheben, im Liederstreit, eines immer süßer, als das andere, dann kommt sie auch über Nacht und im Traume, wie in jener hebräischen Sage. Stille hat sich das schönste Weibchen, das weiblichste, zu dem besten Sänger, dem männlichsten, begeben, und fort ziehen sie am anderen Morgen mitsammen, bis wo die Haide mit der verblühten Erica vom vorigen Jahre, das weite Stromufer oder der stille Waldfleck wieder einem Paare frischer Vogelherzen Schauplatz ihrer Liebe und ihres Lebens werden soll.

Möge das starke Geschlecht nach draußen hin seinen Kampf haben und seine Lieder: anspruchslos, wie sogar in den unscheinbaren Farben des Kleides, schaffen die Weibchen emsig und ruhig die Wiege für die Kleinen. Da wird jeder Vogel dreister und zutraulicher. Auf den Waldwegen sitzen die Finken, Meisen und die kleinen Sänger und zupfen die Halme und festgefahrenen Federn aus den Wagengeleisen, oder spähen nach ausgefallenen Haaren auf den Viehtriften. Der Weih (Milvus regalis) schleppt die wunderlichsten Raritäten aus der Nähe der Dörfer herbei, Alles, was nur irgend weich zu sein verspricht, ordnungslos in seinem Horste zusammenpackend. Grasbüschel, ein alter Eichkatzenschwanz, den vielleicht der Baummarder von seinem Fraße übrig gelassen, Lappen und Papierfetzen finden sich hoch oben in der luftigen Nachbarschaft wieder, und einmal fiel dem Schreiber dieses aus einem solchen Horste sogar ein veritabler ländlicher Liebesbrief in die Hände, wo noch deutlich zu lesen war, wie sie sich nach ihrem lieben Martin sehnt, der jetzt in Berlin „bei das achte Regiment“ steht.

Maigrün ist die Welt, alles Leid des Winters ist vergessen, und der Schnee, der jetzt noch fällt, stäubt von den Aepfelbäumen oder den Schlehdornhecken. Und mitten in all dieser blühenden Pracht, diesem Königreiche von Licht, Farbe und Duft, sitzt der Vogel mit der jauchzenden Kehle, Reichsherr und Reichsherold zugleich. Aber wenn auch die ersten lauten Frühlingstöne der Standvögel schon an warmen Februartagen einen Glauben verriethen, der fast Berge versetzen konnte, der Liebe hatten sie doch mehr, und sind kein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Die Liebe aber ist überall ein Kind des Geheimnisses.

Da huscht es denn durch die blühenden Büsche, da arbeitet es an heimlichen Stellen auf den Wiesen, und macht eine Kuhfährte größer und dreht mit Brust und Steiß, damit das Loch rund und glatt werde, damit es mit den paar Halmen ausgelegt werden könne, auf denen die vier Eier, alle mit den Spitzen nach innen, liegen sollen. Da gräbt sich’s sogar mit zartem Schnäbelchen und Füßchen tief in die Erde, wie die Uferschwalben, die sonst um die Sonnenstrahlen über den Stromspiegeln flattern. Da hat es heimlich sogar zu dem Zweige, der sich über unserem Fenster dicht an das Haus lehnt, Halme und Federn getragen, ohne daß wir eine Ahnung davon hatten, bis der Winter mit den hämischen Händen das kleine Geheimniß zerzupfte. Die Spechte haben die Stämme bis zu ihrem Kerne für die zu erwartende Nachkommenschaft ausgemeißelt, und die Kleiber (Sitta caesia, Meyer) in den vorjährigen Wohnungen die Hausthüren wieder halb zugeklebt, wenn sie für ihre Feinde auch weit genug waren. Und wie zierlich haben sie aus Halmen und Federchen geflochten, wie glatt und rund und nett in die Erde oder in die Stämme gebohrt! Ihr Haus und ihr Kleid, ihr Lied und ihr Leben, Alles athmet Anmuth bei den Vögeln.

Und wenn ein Vöglein wirbt! Wie da das Männchen sich so schmiegt und wendet um seine Liebe herum, wie es da so süß singt, so gut es die kleine Kehle eben vermag, wie es da dem Baumaterialien herbeischleppenden Weibchen entgegenfliegt und ihm schäkernd zum Neste folgt, dann über dem ordnenden und flechtenden auf die blühenden Zweige hüpft, und wie aus seinem vollen Herzen der Jubel hervortönt, für den nur einer bevorzugten Menschenbrust ähnliche Laute bescheert worden! Wehe der Hand, die sich frevelhafter Weise an einem Vogelneste vergreift!

Maigrün ist die Welt. Alle Vögel singen, und das rothe Abendlicht tanzt nach ihrem Liede in den Baumkronen. Immer dunkler wird es und leise rauscht es in den Wipfeln. Langsamer folgen die Strophen allmählich und langsamer, bis eine nach der andern ganz ausbleibt. In den Fliederbüschen am Gartenzaune schlägt zuletzt noch die Nachtigall allein. Warm, dunkel und feucht kommt die Nacht gezogen, und immer heißer athmet der Flieder seine Düfte, und immer mächtiger singt der Vogel, daß man fast [346] zu hören vermeint, wie ihm die Brust vor Wonne und Wehmuth springe. Drüben im Dorfe haben sich alle Thüren längst geschlossen. Einzelne trübe erleuchtete Fenster, hinter denen der Schmerz der Krankheit sich ruhelos auf dem Lager wälzen mag, bohren sich noch in das Dunkel hinein. Hin und wieder bellt ein Hund kurz auf. Die Dorfstraße ist öde und still, nur der Wind treibt kräuselnd ein Paar Halme daher. Vom andern Ende hat der Nachtwächter bereits sein Sprüchlein hergesungen, und selbst das leise Rauschen des Windes ist verweht. Da hebt die Nachtigall von Neuem an. O, wer sie so niemals gehört, der kennt ihr Lied gar nicht. Ihm darf nicht einmal der Mond leuchten, damit es mit seinen Schwingen, die gewaltiger als die des Adlers, um das in Duft und Dunkelheit beklommene Herz sich schlage, so schauerlich und süß, wie die Natur selber, in der Tod und Leben ja so eng an einander liegen.

Aber die Hähne krähen schon einzeln, und die Haidelerche am Waldrande ist hoch in die Luft dem jungen Tage entgegengeflogen, der wieder kommt, seine Sonne bis zum nächsten Abende leuchten zu lassen über der Vöglein Lieben und Leben.




II. Wie die Vöglein ihre Brut erziehen.

Und wenn der Tag geschieden,
Dann eilen wir zufrieden
Zurück zu unsrer Mutter Schooß.
Das ist das Loos
Der kleinen bunten Sänger,
Je länger
Je lieber süßes Loos!
 Ernst Schulze.


Du hast gewiß schon einmal ein aus dem Neste gefallenes Vöglein gefunden, lieber Leser. Ist Dir nun da nicht der große Unterschied zwischen einem solchen und den auf dem Hofe umherlaufenden Küchlein oder jungen Entlein aufgefallen? Gewiß. Du wirst die richtige Bemerkung gemacht haben, daß das erstere der beiden jungen Vögelchen von den Eltern eine geraume Zeit noch gefüttert wird, ehe es flugbar das Nest verlassen kann, während die Küchlein oft mit der halben Schale auf dem Rücken in die Welt hineinlaufen, und emsig scharrend und umherspähend selbst ihr täglich Brod verdienen. Es wird Dir ferner aufgefallen sein, daß das junge Schwälbchen oder Spätzlein fast noch ganz nackt war, als Du es in die Hand nahmst, hin und wieder nur mit etwas spärlichem weißen Flaume bedeckt, während die Entlein oder Küchlein einen dichten gelben oder grünlichen Pelz trugen, der, verbunden mit der Wärme unter den Flügeln der Mutter, vor Nässe und Kälte hinreichend schützte. Dergleichen Brut, wie die der Schwalben und Spatzen, und andererseits wie die der Hühner und Enten, gibt es nun mehr, und diejenigen, welche ihre früheste Jugend nach der ersteren Art verleben, nennt man mit einem Worte Nesthocker (Insessores), während die letzteren Nestflüchter (Autoplagi) heißen.

Uebrigens macht hier die Natur durch Uebergänge öfter Ausnahmen von ihrer eigenen Regel, wo sie es zu ihren Zwecken gerade braucht, und so finden wir mitten unter den Nesthockern das vollständige Dunenkleid der Nestflüchter (z. B. bei den Raubvögeln) und unter diesen wieder das lange im Neste Verweilen der ersteren (z. B. bei den Reihern, Scharben [Halieus]). Milch haben die Vögel nicht, um mit diesem Nahrungsmittel ihre Jungen aufzuziehen. Es muß daher irgend etwas vorhanden sein, was diese Stelle vertreten kann. Das sind denn vor allen Dingen die Insekten. Nestflüchter daher, wie Nesthocker können im Ganzen und Großen dieselben als erstes Futter durchaus nicht entbehren, und diejenigen Küchlein unserer Höfe, welche ab und zu eine Spinne oder einen Regenwurm (wenn auch beides gerade keine Insecten, so doch als Nahrungsmittel diesen sehr ähnlich) erwischen können, gerathen immer besser, als wenn sie nur Vegetabilien vorgeworfen erhalten. Wo Nesthocker indessen niemals Insecten füttern, wie die Tauben es thun, da bereiten die Alten in ihrem Kropfe aus den Körnern schon vorher einen milchähnlichen, leicht verdaulichen Brei, der mit zunehmendem Wachsthum der Jungen auch derber und kräftiger wird, und sich bei deren Flugbarkeit schon nicht mehr von den um diese Zeit fast reifen Sämereien der Leguminosen, der Cruciferen und Euphorbien unterscheidet, welche hauptsächlich die Nahrung unserer wilden Tauben ausmachen.

Der Schauplatz des Lebens der Nesthocker ist nun, wie dies wohl leicht einzusehen, hauptsächlich Wald und Busch, während den Nestflüchtern das Feld, die Wiesen und die Ufer der Gewässer angewiesen sind. Alles, was unter’m grünen Laubdache zwitschert und singt, hat im Moose, zwischen Baumwurzeln, im hohlen Stamme oder in den Zweigen bis zum Gipfel hinauf sein Nestchen an irgend einer verborgenen Stelle, die meistentheils mit wunderbarer Präcision ausfindig gemacht worden ist, da ja hierin der ganze Schutz des ersteren besteht. Ueberall steckt denn so eine kleine Räuberhöhle mit mindestens vier unersättlichen Rachen, denen fortwährend gefangene Insecten zugeschleppt werden, um in diesen Schlünden spurlos zu verschwinden. Ein Schnäbelchen voll ist auf einmal nicht viel, aber es wird viel durch die Zahl der Angreifer und die Dauer, in welcher der Krieg geführt wird. Es wäre in der That sehr gefährlich, hier durch eine Schwächung der dem Menschen freundlichen Partei ein Uebergewicht auf der entgegengesetzten Seite hervorzurufen. Indessen taugen die luftigen Schwingenträger nur für das Tirailleurgefecht, und ein Kampf in geschlossenen Reihen sagt ihrer Natur nicht zu. Wenn daher aus Mangel an vernichtenden Schnäbeln oder aus irgend welchen anderen geheimen Ursachen ein Ueberfluthen lebendigen Stoffes, wie Buffon es nennt, stattfindet, wenn der Fraß etwa des Maikäfers, der Nonne (Liparis Monacha), des Schwammspinners (L. dispar) oder der Processionsraupen (Gastropacha processionea und G. pinivora) überhand nimmt: dann fliehen die Vögel die kahl zerfressenen Orte, anderen Mächten den Streit überlassend, den sie selber jetzt nicht mehr zu bestehen vermögen. Der lichte Wipfel kann ihre Nester nicht mehr verbergen, und in Massen verzehren nur sehr wenige Vogelarten die haarigen Raupen oder die großen Käfer. Spanner (Geometra) und Wickler (Tortrix), sowie die glatten After-Raupen der Blattwespen (Tenthredo) sind ihre Lieblingsspeise, und diese Thiere müssen ebenfalls vorkommen, da der Hunger der Vögel mit dem hurtigen und wie durch eine innere Angst beschleunigten Fraße des heraufgezogenen Heeres doch nicht gleichen Schritt halten kann.

Doch kehren wir zu den Vögeln und ihren Nestern zurück. Es ist eine eigene, sorgsame Wirthschaft bei diesen Thieren, die, hinsichtlich ihres lockeren Federkleides, das nur durch dichte Ueberdachung und Anschließung der einzelnen Theile über und neben einander seinen Zweck der Erwärmung des Körpers erreichen und besonders die Möglichkeit des Fluges verschaffen kann, auf die exacteste Reinlichkeit angewiesen sind. Mögen Specht und Meise noch so tief durch ihr gemeißeltes oder sonstwie entstandenes Loch in den gehöhlten Baumstamm hineingegangen sein, immer werden ihre Jungen reinlich gebettet liegen. Jedes Krümchen Koth trägt die Mutter mit dem Schnabel zum Flugloche hinaus. Wenn der Wiedehopf, der durch seine Stänkereien zum Sprüchwort geworden ist, hierbei eine Ausnahme macht, so ist der Grund davon wohl hauptsächlich in dem langen, dünnen Schnabel desselben zu suchen, der, schwach außerdem noch an der Spitze, ein Herumsuchen in der Bruthöhle nicht gestatten würde. Daß übrigens die jungen Wiedehopfe nur kurze Zeit, nachdem sie flugbar geworden, sowie die Alten nur während des Brütens und der Jungenpflege auf eine so mephitische Weise parfümirt sind, kann auf das Bestimmteste versichert werden. Bei den Vögeln, welche nicht in Höhlen brüten, ist das Hinaustragen des Kothes nicht weiter nöthig, indem hier die Jungen selber für Entfernung desselben sorgen, welches Geschäft manche äußerst komische Position zur Folge hat. Aber selbst bei denjenigen Nesthockern, welche auf der Erde bauen, findet man keinen Wall von Excrementen um die Wohnung her, indem auch hier der größte Theil derselben von der sorgsamen Mutter entfernt wird, der der Instinct sagt, daß in verdorbener Luft keine Jungen gesund und fröhlich aufwachsen können. O, warum besitzen so viele Weiber (nicht Weibchen!) unserer eigenen, ebenfalls nesthockenden Species nicht denselben Instinct? –

Sind die Federstoppeln größer und größer geworden, haben sich die Flügelchen ein wenig entfaltet, und ist das Schwänzchen bereits einige Linien lang, so richtet sich schon hin und wieder einer der kleinen Insassen der Nester keck über seine Nachbar- und Brüderschaft auf, langsam gähnend und das Flügelchen reckend, als fange es ihm bereits an, gar sehr langweilig zu werden. Die Jungen der Raubvögel zerreißen in diesem Stadium schon selbst die ihnen vorgeworfene Beute. Endlich ist die Brut flugbar geworden. Das stärkste erhebt sich eines schönen Vormittags zuerst auf den Rand des Nestes, reckt noch einmal die Flügel, setzt zum Sprunge an und flattert hinüber zu dem kaum mehr als [347] eine Spanne weit entfernten nächsten Aste. Ha, wie sieht da die Welt schon ganz anders aus! Der benachbarte Baumstamm hatte ja vorher die Aussicht auf ein so mächtig großes Stück derselben verbaut. Die Mutter kehrt mit Aetzung zurück, nicht wenig erstaunt, zum ersten Male außerhalb der Wohnung angebettelt zu werden. Aber in derselben ist ihr bereits Alles schon aus dem Schnabel genommen worden, und der Guckindiewelt hat nichts bekommen.

Das scheint ihm denn doch ein bedenklicher Umstand zu sein, und er hüpft wieder auf den Nestrand zurück, versuchend, sich in die Gesellschaft der Geschwister einzudrängen. Aber diese haben es unterdessen gar nicht so übel gefunden, ihre wohlgenährten Bäuchlein etwas behaglicher in dem reichlicher vorhandenen Raume auszudehnen. Der kühne Auswanderer sieht sich auch hier abgewiesen, macht aber bald, vermöge seines glücklichen Temperaments, gute Miene zum bösen Spiele und erwartet geduldig den restaurirenden Schnabel eines der beiden Alten so nahe als möglich beim Neste. Als dieser Wunsch in Erfüllung gegangen, erhält auch er wieder seine Portion und schluckt sie vergnügt hinunter.

Indessen böse Beispiele verderben gute Sitten, und bald folgt wieder ein Vöglein seinem älteren Bruder und hüpft über den Nestrand hinaus. Jetzt verstehen auch die Alten den Fortschritt der Jugend, und die Flüchtlinge vor der Thüre werden ebenfalls bedacht. Diese lernen übrigens sehr schnell ihren Vortheil kennen und hüpfen den mit Aetzung herbeieilenden Alten bereits von ferne entgegen, mit der rührendsten Grazie um die köstlichen, herzerfreuenden Leckerbissen bittend. Da tritt denn ein umgekehrtes Verhältniß, wie früher, ein, und die jüngsten müssen bald machen, daß auch sie das Nest verlassen, um nicht zu großen Nachtheil zu erleiden.

So zerstreut sich denn die ganze Gesellschaft bald in die nächsten Büsche oder Wipfel, immer weiter sich von ihrer Wiege entfernend. Schreiten die Alten zu keiner ferneren Brut, so ziehen sie wohl mit ihrer diesjährigen Familie umher. Im umgekehrten Falle aber ist das alte Band schnell zerrissen, und in dem Revier, in dem das folgende Nest begonnen wird, sind die flüggen Jungen ebenso gut Fremde und Eindringlinge geworden, wie jeder andere Vogel derselben Art.

Anders geht es freilich bei den Nestflüchtern zu. Hier laufen die Jungen, sobald sie das Ei verlassen, meistentheils gleich mit der Mutter nach Nahrung aus. Sie werden nur vor Nässe und Kälte unter den schützenden Flügeln bewahrt und vor Feinden gewarnt. Für das Uebrige müssen sie selber sorgen. Da kriechen sie denn bei Annäherung eines Weihen oder eines vierfüßigen Schnapphahns wie die Mäuse unter das dichte Gras oder das Kraut, durch die dunkle Farbe des Rückens ihrer ganzen Umgebung sehr ähnlich sehend, dicht an den Boden geschmiegt, lautlos und unbeweglich in dieser Stellung verharrend und nur mit den glänzenden Augen verstohlen umherschielend. Die Gefahr ist glücklich vorüber, die Alte lockt zum Aufbruche, und die kleine Schaar ist bald wieder um diese versammelt, die keins ihrer Lieben vermißt.

Wie sehr die Farbe dabei eine schützende Rolle spielen muß, kann man besonders bei den kleinen Regenpfeifern sehen, von denen der eine, Aegialites minor, hauptsächlich auf dem kahlen, öden Sande der Fluß- oder Seeufer lebt. Hier kann man wohl die winzigen, kaum drei Finger hohen Jungen an den weißen Unterseiten erkennen, wenn sie lustig umherlaufen. Bei einer Gefahr drücken sie sich aber nur auf den freien Sand, auf diese Weise ein graues kleines Häufchen bildend, das fast wie ein Kiesel oder eine Kröte aussieht, und in dem wohl so leicht Niemand ein niedliches Küchlein ahnt. Hat man trotzdem das widerstandslose, ängstlich zirpende Thierchen ergriffen, so kommen die Alten, besonders das Weibchen, ganz nahe herbei, langsam und wie halbgelähmt, ein kurzes Streckchen über dem Boden dahinflatternd, oder sich wirklich lahm stellend, und vor dem Feinde mit herabhängenden Flügeln herhinkend, die Verfolgung allein auf sich zu lenken versuchend.

Oft nistet die Märzente (Anas Boschas) weit ab vom Wasser und muß zu Fuß ihre Wanderung nach demselben antreten, umgeben von ihrer wackeligen und wie die Flöhe herumhüpfenden und nach vorüberfliegenden Insecten schnappenden Brut, die besser mit dem fremden Terrain fertig wird, als die Alte selber. Einzelne Nestflüchter, die trotzdem angewiesen sind, ihre Jungen nicht im Neste groß zu ziehen, brüten sogar in und auf Bäumen, wie der Gänsesäger (Mergus Merganser) und der grünfüßige Wasserläufer (Totanus ochropus), der am liebsten alte Drosselnester bezieht. Da macht denn die Mutter kurzen Proceß mit den ausgekommenen Küchlein, einzeln jedes mit dem Schnabel beim Halse ergreifend und mit demselben hinabfliegend, es säuberlich auf den Boden niedersetzend, bis sie alle unten sind und oben nichts mehr zirpt.

Machen die Nestflüchter keine Brut weiter, wenn die Jungen der letzten vollkommen flugbar geworden sind, so bleibt auch hier, wie bei den meisten Nesthockern, die Familie beisammen, zu welcher später noch andere stoßen, wie denn die Bögel der ersteren Kategorie stets eine größere Neigung zur Geselligkeit zeigen, als die der letzteren. Zuletzt wird der Herbst rauher, und je nachdem einer Art die Nahrung früher oder später beginnt auszugehen, machen sie sich schneller oder langsamer auf die Streife nach derselben, oder gehen ganz auf und davon über das Meer. Wie’s dabei zugeht, erzähle ich Dir vielleicht ein ander Mal, lieber Leser.




Berliner Bilder.
Von E. Kossak.
Nr. 9. Oeffentliche Charaktere.

Je weniger scharf sich der Begriff definiren läßt, den man in der Zeitungssprache mit den von uns als Überschrift gewählten Worten verbindet, mit desto geringerer Besorgniß erlauben wir uns, zu einem besonderen Zwecke eine willkürliche Anwendung derselben zu machen. Wir verstehen unter „öffentlichen Charakteren“ nicht allein diejenigen Personen, welche durch anhaltende, krampfhaft angestrengte Thätigkeit ihrer Rede- und Schreibwerkzeuge einen gewissen Ruf in der Welt erlangt haben, und von der Menge fortwährend beobachtet und kritisirt werden, sondern auch jene Individuen, die ohne sonderliche Mühen und Talente, nur durch die Bosheit des Geschicks sich an die Oeffentlichkeit hinausgeworfen und den Blicken Aller bloßgestellt sehen.

Wir reden deshalb nicht von berühmten Ministern und Abgeordneten, vielgenannten Kanzelrednern und Mimen, geschätzten Schriftstellern und Gelehrten, sondern nur von mehreren öffentlichen Charakteren, denen wir täglich auf der Straße begegnen und so manche humoristische Belehrung über die Eitelkeit des menschlichen Lebens verdanken. An der östlichen Ecke des Museums, der ehemaligen Börse gegenüber, hat sich eine stattliche Obstfrau niedergelassen. Ihr von dem Witterungswechsel scharf mitgenommenes Gesicht zeigt einen trotzigen, die vornehme Welt verachtenden Ausdruck, man sieht ihr die Wohlhabenheit an, und aus ihrem Gebehrdenspiele spricht deutlich etwas, das den Liebhaber frischen Obstes abmahnen kann, von ihren festen Preisen etwas abhandeln zu wollen. Von dieser Dame wollen wir nicht reden, da sie, wenn auch eines der ausgezeichnetsten Exemplare, doch zu jener Gattung öffentlicher Charaktere gehört, die schon allzuoft beschrieben worden ist. Aber dicht neben ihr, in der Richtung nach der großen Treppe des Museums, hat sich der Mann angesiedelt, welchen wir, als den Einzigen seiner Art in Berlin, portraitiren wollen. Unser Freund L. Löffler ist uns dabei, wie der Holzschnitt zeigt, behülflich gewesen. Der Mann, von dem wir sprechen, ist ein alter Herr von hoher Gestalt, dessen dürftige und abgetragene Kleider mit einem Rest von feinen Manieren auf eine tragische Weise contrastiren. Offenbar hat er sich hart neben der stattlichen Obstfrau angesiedelt, weil ihre zungengewappnete Nähe ihm Zutrauen eingeflößt und Schutz versprochen hat, und wirklich scheinen ihre gerunzelten Augenbrauen sagen zu wollen: „Kommt meinem alten Schützling nicht zu nahe, ihr Straßenbuben und Taugenichtse, wenn ihr es nicht mit mir zu thun haben wollt.“ Unser alter Herr treibt nämlich ein Geschäft, das sichtlich des Schutzes einer starken Nachbarschaft oder angrenzenden Großmacht bedarf, wenn es nicht zu einem Gespött der Muthwilligen werden soll: er ist Menageriebesitzer. Nicht etwa in dem verwerflichen Sinne

[348] jenes polnischen Juden, der zu seinem Collegen, dessen Sinn nach dem Besuch der Kreuzberg’schen Menagerie stand, entrüstet über die unnütze Geldausgabe sagte: „Was willst Du in der Menagerie? Hirsch Bär Wolf heißt Du, Wanzen, Flöhe und Läuse hast Du, ein Sch…d bist Du, hast Du doch schon allein eine ganze Menagerie an Dir!“ Nein, der ehrwürdige Alte hat nichts gemein mit diesen beiden frivolen Verächtern der Zoologie, deren unsaubere Reden wir nur bange citiren; er besitzt eine wirkliche Menagerie. Zwar reicht sie nicht an den Berliner zoologischen Garten, aber sie vertritt doch immer eine gewisse wissenschaftliche Richtung; sie will die Menagerie des Kleinen und Curiosen in der Natur sein.

Der Alte zeigt sich nicht an jedem Tage mit seiner Menagerie öffentlich. Er ist ein Feinschmecker im Punkte der frischen Luft, und liebt Sonnenschein und blauen Himmel. Mehrere Grade Kälte pflegen ihn und seine Thiere noch nicht nach Hause zu treiben. Wenn man sich ihm nähert, bemerkt man anfangs noch nichts von einer Menagerie. In gerader Haltung geht der Alte vor dem Gitter auf und ab, und wirft Seitenblicke auf die Spaziergänger. Er beobachtet, ob sich nicht irgend ein Neugieriger einfinden und ihn um Erklärung der Thiere ersuchen wird. Nichts ist zu sehen, als eine Anzahl schmutziger Kästchen mit einzelnen Luftlöchern. Doch nein, an einem dieser Kästchen ist der Schieber aufgezogen, und man erblickt einen bunten Vogel, der einen sanften Anflug von Lebensüberdruß zur Schau trägt und zuweilen leise einen melancholischen Ton als den Rest seiner ehemaligen Jugend- und Waldmusik ausstößt. Dieser Vogel ist anscheinend der abgehärtete Vogel der Menagerie, dem die nordischen Lüfte nichts mehr anhaben können. Wir irren jedoch: indem wir unmittelbar in die Nähe treten und über die Köpfe eines halben Dutzend kleiner neugieriger Jungen sehen, bemerken wir einen noch abgehärteteren Bewohner der Lüfte, auf den die gespannteste Aufmerksamkeit der Jugend gerichtet ist. Er soll wahrscheinlich, gleich den Papageien, Arras und Kakadus der Menagerien, auf Jahrmärkten die Neugier der Menge im Allgemeinen anreizen, und erfüllt diesen Zweck vollkommen. Wenigstens verwendet die versammelte Jugend kein Auge von ihm und prägt sorgsam sein Aeußeres ihrem Gedächtnisse ein. Dieser Vogel ist eine ganz kleine Gattung der Waldeulen und wird von dem Menageriebesitzer als strix passerata bezeichnet. Strix passerata ist leider höchst rupfig und mit Rücksicht auf die Strenge der Witterung ganz ungenügend befiedert. Sie sitzt bald auf dem Deckel eines Kästchens, bald auf einer Eisenspitze des Gitters, welches das Museum umgibt, und ist durch ein dünnes, am Fuße befestigtes Kettchen an der Entweichung gehindert. Einzelne Federn stehen ungemüthlich aus ihrem Schwanze und den Flügelenden hervor, auf dem Kopfe hat sie einen kahlen Fleck. Mit offenbarem Mißbehagen kauert sie sich in ihrem traurigen Gefieder zusammen, und betrachtet argwöhnisch die Buben, welche unverkennbar die nächste günstige Gelegenheit, sobald der Alte wegsieht, wahrzunehmen und unsere arme strix rasch einer der eximirten Federn zu berauben gedenken.

Der Menageriebesitzer.

Da der Alte den bösen Sinn der Buben längst erkannt hat, läßt sich ihr Vorhaben nicht leicht ausführen. Er hat die Augen überall und stößt von Zeit zu Zeit mit leisem seltsamen Tone den Warnungsruf aus: „Nicht anfassen! nicht anfassen!“ Doch nicht er allein, auch strix passerata merkt scharf auf, und zuweilen verräth der Schreckensruf eines der Jungen, den sie in den Finger gebissen hat, daß wieder ein Attentat gegen ihre Federn unternommen worden ist. Bald veredelt sich aber die Gesellschaft. Ein Herr in groben, aber reinlichen Sonntagskleidern, vielleicht ein kleiner Handwerker oder Fabrikarbeiter, tritt mit seinem Sohne näher und gedenkt ihm, möglicher Weise zur Feier seines Geburtstages, die Menagerie zu zeigen. Der Alte kennt den Herrn seit geraumer Zeit; ihre Sympathien sind auf denselben Punkt der Zoologie gerichtet. Auch der Handwerker liebt kleine curiose Bestien und beherbergt in großen, mit Leinwand zugebundenen Glasgefäßen eine Anzahl Eidechsen und Schlangen. Jetzt enthüllt der Alte mit freundlichem Lächeln seines gekupferten Gesichtes die naturhistorischen Schätze und erklärt sie mit jener Monotonie, welche immer von der allzuhäufigen Wiederholung auch der geistreichsten Gedanken und interessantesten Thatsachen herzurühren pflegt. Der Handwerker aber zeigt seinem Knaben sehr genau die Sehenswürdigkeiten, während der Alte jedes Kästchen so zu halten und zu drehen weiß, daß kein Unberufener einen unentgeltlichen Blick hineinzuwerfen vermag.

Da ist in erster Reihe der schwarze Kanarienvogel, eine sehr seltene Spielart, dann ein Kästchen mit weißen Mäusen, dann ein Thier, welches so zahm ist, daß es nach vollendeter Mahlzeit, wie der Alte mit der Genugthuung eines glücklichen Erziehers sagt, „in sein Local freiwillig zurückkehrt“. Aufsehen bei dem Knaben erregt namentlich der Siebenschläfer, so genannt, „weil er sieben Monate im Jahre schläft“. Er betrachtet ihn mit stillem Neide und verzeiht es ihm nicht, daß er selber von seinem zärtlichen Vater schon um sechs Uhr Morgens gewaltsam aus den Federn hervorgeholt wird. Dann folgt ein Kästchen mit kleinen Schlangen, die zum Schutz vor der Kälte mit einigen Lappen bedeckt sind. Der Menageriebesitzer schildert sie als nicht giftig, bezeichnet sie aber doch als bedenkliche und nicht zuverlässige Thiere, vor deren näherem Umgange der Deutsche gewarnt werden muß. Die zur Schaustellung herangezogenen Thiere wissen leider die ihnen angethane Ehre nicht zu schätzen. Sie befinden sich in einem Zustande von Widerwillen gegen den Umgang mit Menschen und stiller Selbstbeschaulichkeit; man wandelt nicht ungestraft unter Palmen und Professoren, aber man steckt auch nicht ungestraft in kleinen schmutzigen Kästchen. Der alte Menageriebesitzer beobachtet aber, während seiner gelehrten Auseinandersetzung, die vorüberwandelnde Menschheit, und wirft Jedem, der es wagt, zu lächeln, einen scharfen, mißbilligenden Blick zu. Es schwebt etwas Räthselhaftes um den Mann, er spricht mehrere neuere Sprachen, und ein dunkles Gerücht gibt ihn für einen ehemaligen Officier aus, der durch merkwürdige Lebensschicksale in diese abenteuerliche Lage gebracht worden sein soll. Uebrigens ist er ein Unicum; die Gattung stirbt mit ihm aus.

Der „ewigen Musikanten“, wie wir die im Thiergarten den Leierkasten drehenden Invaliden nennen wollen, sind dagegen immer mehrere. Als öffentliche Charaktere betrachtet, sind sie noch öffentlicher, als der Menageriebesitzer, da sie alle leidlich heitere Stunden des Jahres auf ihren Posten zubringen. Auch kann ihre Gattung nicht aussterben, denn sobald einer von ihnen das Zeitliche segnet, ertheilt die hohe Obrigkeit einem Andern die nothwendige Concession zur Ausübung seiner wilden Musik. Es scheinen nicht sowohl Verdienste auf dem Schlachtfelde zu sein, welche zur gnädigen [349] Ertheilung der Erlaubniß, das öffentliche Mitleid durch den Leierkasten ansprechen zu dürfen, veranlaßt haben, als vielmehr schwere, in Friedenszeiten, aber im Dienste erlittene Leibesschäden. Jeder dieser alten Gesellen ist mit einem argen Uebel behaftet, und der Bevorzugteste, der sich an der einträglichsten Stelle, in der ersten Eingangsallee des Thiergartens postirt hat, verfügt sogar nur über einen Arm. Sie haben sich sämmtlich an solchen Punkten aufgestellt, wo der Strom der Spaziergänger an ihnen vorbeiziehen muß, und scheinen mit ihrem Lebensberuf nicht unzufrieden zu sein.

Die lange Beobachtung der Berliner Menschheit hat ihren Blick geschärft, und selbst derjenige, welcher als Blinder oder doch Augenleidender eine grüne Brille mit schwarzen Scheuklappen trägt, erkennt aus ziemlich weiter Entfernung diejenigen Personen, welche wohl bereit sein könnten, ihm einen Groschen zu opfern, und läßt alsbald sein geliebtes Instrument ertönen. Der ältere Officier, der Mann mit einem Ordensbändchen, das behäbig watschelnde Ehepaar, der in philosophische Betrachtungen versunkene Cigarrenraucher, das sich scheu umblickende Liebespärchen: sie alle werden unvermeidlich mit lieblichen, nicht selten etwas falschen Tönen begrüßt. Selbst alle stolzen Cavaliere und Reiter entgehen nicht den Klängen, obgleich die lange Erfahrung gelehrt haben muß, daß ihre Beiträge in die Blechbüchse auf dem Leierkasten die spärlichsten zu sein pflegen. Die treuesten Freunde der Invaliden sind wohl die kleinen Kinder, die im Sommer von ihren Wärterinnen in den Thiergarten geführt werden und mit Entzücken den köstlichen Melodien der Leierkästen lauschen; zweifelhafter scheint indessen, ob die regelmäßige Anwesenheit dieser Zuhörer sich rentirt. Alle Leierkästen sind von patriotischer Constitution und spielen vorzüglich jene Lieder, welche von den musikalischen Preußen bei festlich musikalischen Gelegenheiten von Männerquartetten oder Chören gesungen werden.

Die Existenz dieser militairischen Musiker ist übrigens eine nomadische. In den frühen Vormittagsstunden finden sie sich vor Anfang der täglichen Promenade auf ihren Plätzen mit ihren Frauen oder Wärterinnen ein, nehmen auf einem Schemel Platz und erheben sich nur, wenn der Anspielung würdige Personen erscheinen. Höhere Hitze- oder Kältegrade können sie, ungeachtet ihres vorgerückten Alters, sehr wohl ertragen. Die Mittagsmahlzeit und das Vesperbrod, in den Wintertagen auch hinreichende Quantitäten von heißen Getränken, werden ihnen von jungen Emissären aus der Stadt zugeführt. Ihre Tracht ist ein alter abgetragener Waffenrock, graue Beinkleider und eine lebensüberdrüssige Militairmütze. So stehen sie unter hohen schattigen Bäumen und drehen als lebendige Illustrationen zum Capitel des modernen Heerwesens die Kurbeln ihrer Leierkästen, während die jungen Vögel aus ihren Nestern verwundert auf die verwitterten militairischen Gestalten herabblicken.

Die genannten öffentlichen Charaktere üben, wohlgemerkt, ihre Wirksamkeit in Uebereinstimmung mit der Polizei aus. Sie sind so gut geduldet, wie die Bettelmönche in katholischen Ländern. Wir wenden uns aber zu jenen Männern und Jünglingen, welche nicht durch Leibesschäden, sondern durch einen poetischen Hang des Geistes von dem trockenen Ernst der Arbeit abgehalten werden und sich, freilich nicht ganz ohne Widerstreben des Ortsvorstandes, der freien Muße widmen. Eine Lieblingsbeschäftigung dieser Charaktere besteht in dem Oeffnen der Klitschen vor Kirchthüren und Theatern. Wenn Ihr an einem Regenabende in eines der kleineren Theater oder an einem Sonntagnachmittage in die Kirche fahrt, um bei dem siebenten Kinde irgend eines stets um zahlende Pathen verlegenen armen Clienten Gevatter zu stehen, wird an den Stufen des Gebäudes plötzlich die Thür des Wagens aufgerissen. Ein kräftiges Subject greift hierauf mit meistens nicht ganz reinlichen Händen, ohne Euch zu fragen, hinein, sucht Euch oder Eure Ehehälfte festzupacken und weniger hinauszuheben, als hinauszuziehen. Auf die Toilette nimmt das Subject weiter keine Rücksicht, ebenso wenig auf den Leibeszustand des Fahrgastes; es behandelt ihn als schnödes Frachtstück. Das ganze Verfahren hat einige Ähnlichkeit mit dem Entern eines Kauffahrteischiffes durch die Ungläubigen, und es frommt selbst nicht, wenn man sich dem Eindringling lebhaft widersetzt und seine Hände zurückstößt. Kaum hat man dann festen Boden unter den Füßen, so schlägt der Wagenpirat schleunig die Thür zu, eilt Euch nach und fordert ein Trinkgeld für seine Dienstleistung. Ihn kümmert nicht die Zugluft, die gewöhnlich in den Fluren der Theater und Kirchen weht, nicht Eure leichtere Kleidung; er will eine Entschädigung haben, und wenn Ihr ihn nicht befriedigt, packt er Euch wohl am Aermel des Rockes und wird deutlicher. Dieselbe Scene wiederholt sich am Schlusse des Gottesdienstes oder Schauspieles. Der fliegende Portier verfügt über den Wagen, er hat die Thür besetzt, zwar nicht über seine Leiche, aber doch mitten durch seine schmierigen Klauen führt der Weg zu den gepolsterten Sitzen.

Diese gewaltsame Bettelei wird durch die Situationen, in denen man sie regelmäßig verübt, höchst widerwärtig. Nie ist es unangenehmer und bedenklicher, als mitten in einem Gedränge von eiligen Menschen den Geldbeutel zu ziehen und im Halbdunkel für einen ganz Unbekannten ein kleines Geldstück hervorzusuchen. Ein Herr, dem bei einer solchen Gelegenheit vor dem Dom das seidene Taschentuch aus dem Rocke gezogen wurde, läßt sich noch heute nicht ausreden, daß manche Kutschenaufmacher mit den Kirchentaschendieben ein Bündniß geschlossen haben und die dem Diebstahl Geweihten hinzuhalten und zu beschäftigen suchen. Ist man aber aus angeborener Weichherzigkeit freigebig gewesen, so besteigt der Kutschenaufmacher sofort den hinteren Bediententritt des Wagens, begleitet die Gesellschaft nach Hause und wirbt dort um ein zweites Trinkgeld. An Sonntagen kann man diese Gesellen hinter allen Kutschen stehend erblicken, da der gutmüthige und bei solchen Gelegenheiten freigebige Handwerkerstand an diesem Tage gewöhnlich seine Hochzeiten zu feiern pflegt.

Vielleicht noch lästiger sind die kleinen Knaben und Mädchen, die in den Hauptstraßen oder in den Hausfluren starkbesetzter Restaurants den Spaziergängern und Gästen nachstellen. Als es noch einen Freihandel mit Journalen in Berlin gab, vertrieben diese Detaillisten mit großem Eifer die Witzblätter und illustrirten Wochenschriften, machten ein gutes Geschäft und waren dem Publicum als nützliche und für Verbreitung von lustiger Unterhaltung sorgende Mitglieder der menschlichen Gesellschaft ganz angenehm. Wem wäre es nicht oft ergötzlich gewesen, für ein paar Pfennige mehr eine Stunde nach der Ausgabe ein interessantes Blatt zu kaufen, und beim Dessert, oder auch im Freien, auf einer Bank sitzend, in voller Gemüthlichkeit zu lesen? Die neuere Staatslehre von der Umkehr der Wissenschaft hat auch diesem raschen und lustigen Verkehr ein Ende gemacht. Die Freihändler wurden von den Constablern verfolgt, wie die ersten Christen von der römischen Polizei unter der blutigen Kaiserwirthschaft. Man warf die armen Jungen zwar nicht den wilden Thieren vor, aber es war auch nicht hübsch, daß man sie in die Stadtvogtei schickte, ihnen nur an Sonntagen die Kaldaunen von zahmen Thieren vorwarf, und sie bei wiederholtem Schmuggel von Zeitungen bis zu vier Wochen, mit allerlei Hallunken zusammengesperrt, im Loche sitzen ließ. Nach den hartnäckigsten Verfolgungen gelang es, ein Seitenstück zur napoleonischen Continentalsperre zu liefern; aus den fliegenden Buchhändlern wurden nothgedrungen Blumenhändler.

Von den Promenadestunden des Vormittags an treiben sie sich bis gegen Mitternacht, wo sie sich vor den Thüren der eleganten Delicatessenkeller postiren, umher und halten dem Publicum ihre armseligen Körbchen mit einigen durch Sonne, Wind und Staub mißhandelten Blumensträußchen unter die Nase. Es sind ganz kleine, noch der elterlichen Pflege bedürftige Kinder darunter, die oft, nur äußerst dürftig gekleidet, viele Stunden lang in kalten Frühlingsnächten auf den steinernen Stufen sitzen und auf das Klirren der Champagnergläser und den endlichen Aufbruch der Gäste lauschen, um im günstigsten Falle ein karges Almosen zu erhaschen, gewöhnlich aber nur mit harten Worten angelassen und bei Seite geschoben zu werden.

So viele unnöthige „öffentliche Charaktere“ besolden die christlichen Staaten. Sollten sich nicht einige Ersparnisse machen lassen, um diese blutige Satire auf die Jugenderziehung in dem „Staate der Intelligenz“ zu vertilgen?



[350]
Garnison- und Parade-Bilder.
Nr. 4. Die Militairprüfung.
(Schluß.)

Nachdem die Ruhe wieder hergestellt war, entfernte sich der Oberst auf einige Zeit, nachdem er befohlen hatte, die Prüfung erst nach seiner Rückkehr zu beginnen.

Der Ausdruck seines ganzen äußeren Menschen deutete auf Durst, den er jedoch nicht mit Wasser zu löschen gedachte. Wasserscheu war dem Alten mit unverkennbaren Schriftzügen auf die Stirn geschrieben. Nach einer guten halben Stunde kehrte er zurück. Sein Gesicht war mit einer Scharlachröthe bedeckt, und durch diese flammenfarbige Region zog jene Jovialität, die das Eigenthümliche seines Charakters war, ihre grellen Blitze. Er bestieg das Katheder.

„Ein seltsamer Professor!“ schmunzelte er, während er es sich auf der ungewohnten Stelle bequem machte. „Ob die gelehrten Herren in den weiten Roben mich wohl als ebenbürtig anerkennen würden? Ich glaube kaum. Und doch besteht der ganze Unterschied zwischen uns darin, daß jene die Raupen im Kopfe und ich dieselben auf den Schultern trage.“

Der Alte sah sich nach Beifall um, den ihm der Hauptmann Mühler in einem zustimmenden Gelächter entgegentrug. „Ein lederner Witz!“ brummte der Lieutenant Pohlens, während sich das Gesicht des Lieutenants v. Rade! in jene satirisch-humoristischen Fallen legte, welche es so geistreich machten.

„Lassen Sie uns endlich an die Geschäfte des Tages gehen,“ begann der Alte nach einigen Augenblicken der Ruhe, die er dazu angewandt hatte, seine prüfenden Blicke über die langen Zeilen blasser Gesichter laufen zu lassen, an deren Besitzer der Ernst des Tages immer näher herantrat. „Reichen Sie mir doch die von den Compagnien eingegangenen Nationale der jungen Leute, Hauptmann Mühler,“ sagte der Oberst. „Ich will mich zunächst über die persönlichen Verhältnisse derselben informiren, damit ich doch weiß, aus welcher Classe der Bevölkerung sich das Officier-Corps meiner Brigade completiren wird.“

Nachdem er die verlangten Papiere empfangen hatte, sagte er zu uns: „Derjenige, dessen Namen ich aufrufen werde, tritt an mich heran und beantwortet meine Fragen offen und dreist.“

Es folgte nun eine düstere Pause, während deren sich der Oberst mit der Durchsicht der über uns sprechenden Papiere beschäftigte. „Bombardier Schwalbe!“ rief er endlich, nachdem er bereits die Hälfte der Nationale ohne weitere Bemerkung zurückgelegt hatte. Der Bezeichnete stand auf und trat bis auf einige Schritte an den Alten heran.

„Ich ersehe aus Ihrem Nationale, daß Sie in Hamburg geboren sind; was veranlaßte Sie denn, in preußische Dienste zu treten?“

„Mein Onkel, Herr Oberst, der in Berlin ansässig ist, kannte meine Neigung für das Militair und glaubte, daß die Aussichten auf Avancement in der preußischen Armee ungleich besser seien, als bei den Truppen in Hamburg, und ermöglichte deshalb meinen Eintritt in die Artillerie.“

„So, so – o! Also lediglich die Aussicht auf ein schnelleres Avancement führte Sie in unsere Reihen, und der Ruhm, die Kriegstüchtigkeit und Disciplin unserer glorreichen Armee kam bei der Bestimmung Ihres Entschlusses gar nicht in Erwägung? Na, Sie könnten sich in Ihrem Calcül doch gewaltig geirrt haben. Was ist denn eigentlich Ihr Vater?“

„Kaufmann, Herr Oberst.“

„Kaufmann! das ist gar nichts gesagt. Seine alttestamentalische Herrlichkeit, der Baron Rothschild, mit dem österreichischen Stammbaum von vier Ahnen, nennt sich auch Kaufmann, und jeder Sackjude beansprucht dieselbe Bezeichnung. Aber ich kann mir das schon vorstellen. Ihr lieber Papa hat so sein kleines Krämchen und schachert mit alten Kleidern, Schuhsohlen und verbrauchten Lumpen.“

Die rücksichtslose Behandlung, die dem armen Bombardier widerfuhr, machte ihn erbleichen. Es war eine jener Naturen, die jedes Unrecht, das ihnen angethan wird, tief empfinden, aber nicht die Energie haben, es abzuschütteln und auf den Angreifer zurückzuwerfen. In diesem Falle war dies freilich nicht möglich, denn der Oberst war nicht der Mann, der sich von einem Untergebenen die Faust zeigen ließ, aber die leidende Haltung, die der junge Mann annahm, die sich namentlich durch zwei große Thränen ausdrückte, welche langsam an seinen Wangen herunterrollten, brachte ihn bei dem Alten in noch größeren Mißcredit.

„Der hoffnungsvolle Sohn der freien Reichsstadt weint!“ schrie er mit zornigem Lachen. „Fort, auf Ihren Platz! Und das merken Sie sich, so lange der alte Tuchsen einen Wahlzettel zu schreiben hat, wird solch weinerlicher Syrupsjunge nicht Officier, und wenn er die Gelehrsamkeit mit Löffeln gefressen hat.“

Der arme Schwalbe schlich niedergebeugt auf seinen Platz. Der Alte brummte und keifte noch einige Augenblicke, und vertiefte sich dann wieder in die vor ihm ausgebreiteten Papiere. Nach einiger Zeit rief er: „Da haben wir ja schon wieder einen Ausländer, und noch dazu einen edlen Bürger der freien Schweiz. Bombardier Werter! Gönnen Sie mir die Ehre, Sie kennen zu lernen.“

Der Vorgeforderte war groß, kräftig und von guter Haltung. Geistige Leerheit stand ihm auf dem Gesichte geschrieben; seine paar Ideen wußte er aber gut in Ordnung zu halten, und bei passenden Gelegenheiten mit Vortheil an den Mann zu bringen. Der Oberst betrachtete ihn einige Augenblicke mit großer Aufmerksamkeit, und die Abneigung, die er gegen Ausländer hegte, schien unterzugehen in dem Wohlgefallen, welches das militairische Aeußere und die imponirende Haltung des jungen Mannes ihm einflößte. „Sie sind in der Schweiz geboren?“ fragte er mit vieler Zurückhaltung.

„In Bern, Herr Oberst.“

„Und wo haben Sie die zu ihrer jetzigen Carriere erforderliche wissenschaftliche Ausbildung genossen?“

„Bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahre besuchte ich die Schulen meiner Vaterstadt, demnächst siedelte meine Mutter nach Preußen über, und ich kam nach D. in die Erziehungsanstalt des Herrn Grafen v. d. R.“

„Habe ich recht gehört?“ schrie der Oberst und sprang auf, als hätte ihn eine Viper gebissen. „In D., in der renommirten Erziehungsanstalt für verwahrloste Kinder, haben Sie den letzten Schliff an Ihre Erziehung gelegt?“

„Der Herr Graf hatten die Gnade, meine wissenschaftliche und sittliche Fortbildung mit besonderer Strenge zu überwachen,“ entgegnete der Bombardier piquirt.

„Und aus Dankbarkeit praktisirten Sie bei ihm den inneren Dienst?“ entgegnete der Oberst, wobei er mit der rechten Hand die Bewegungen des Stiefelputzens nachahmte.

Bei dieser verletzenden Anspielung erbleichte der junge Mann bis unter die Haare der mit Schweiß bedeckten Stirn. Die Blässe nahm jene bleibende Farbe an, die blondhaarigen Personen eigen ist und auf Gemüthserregungen hindeutet, die, wenn sie zum Ausbruche kommen, äußerst gefährlich sind. Doch wagte es der Paroxysmus nicht, die eisernen Fesseln der Disciplin zu durchbrechen, und der Oberst ließ ihn nicht an die Oberfläche kommen, indem er mit seiner gebieterischen Löwenstimme rief: „Fort, auf Ihren Platz! Sonst könnte die Berufung über Sie kommen, uns in einer langathmigen Kapuziner-Predigt abzukanzeln.“

Der mit einer so scharfen Lauge gewaschene Bombardier kehrte mit zornsprühenden Augen nach seinem Sitze zurück. Der Oberst dagegen wandte sich mit folgender Auslassung an die Herren von der Prüfungs-Commission: „Ich achte und ehre die wahre Frömmigkeit, bedaure aber, daß dieses Element im Menschen so häßlicher Verirrung fähig ist und zu so abscheulichen Zwecken gemißbraucht wird. Die Sendlinge, welche die pietistischen Cirkel, diese Lebensverdüsterungs-Anstalten, diese Schulen systematischer Verdummung, über das Land ausspeien, sind zum großen Theil blasirte Menschen, die unter dem Mantel einer gleißnerischen Frömmigkeit die gröbsten Laster verbergen. Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Lassen Sie sich eine kleine Geschichte erzählen, die meiner Behauptung als Beweis dienen soll.“

Der Oberst brachte sich in eine bequeme Positur und begann darauf: „Im Herbste des vorigen Jahres saß ich an einem kalten, trüben Tage mit vieler Seelenruhe beim Frühstück, ließ mir den Madeira aus meinem Keller gut schmecken und bedauerte nur, [351] daß ich den feurigen Insulaner so allein hinuntergießen mußte. Ich trinke nicht gern allein, und darf mit Octavio Piccolomini sagen:

„Ein halben Dutzend guter Freunde höchstens
Um einen kleinen, runden Tisch, ein Gläschen
Tokaier Wein, ein off’nes Herz dabei
Und ein vernünftiges Gespräch – so lieb ich’s.“

„Mein Verlangen nach Gesellschaft sollte sich dieses Mal schnell erfüllen. Es wurde mir nämlich von meinem Diener ein Herr Geisbock gemeldet, der mich in einer hochwichtigen Angelegenheit zu sprechen wünsche. Ich ließ ihn einführen. Herr Geisbock stellte sich mir als Apostel der Wupperthaler Missionsgesellschaft vor, der die „Berufung“ erhalten habe, mit den Brosamen des Worts, die aus der Quelle des Lichtes der Erlösung der frommen Wupperthaler Gesellschaft fließen, auch die verwahrlosten Soldaten zu speisen und bei denselben namentlich auf die Enthaltung von allen alkoholhaltigen Getränken hinzuwirken. Er überreichte mir ein Convolut Berliner und Wupperthaler Betteltractätlein, deren erstes Heft ein Titelkupfer führte, auf welchem der Teufel einen Soldaten am Strick hielt, und erbat sich meine Protection und Mitwirkung bei dem frommen Werke. – Der Herr Apostel war eine lange, hagere Gestalt mit bleichem Gesichte, in welches die Sinnlichkeit tiefe Furchen geschnitten hatte. Das Auge war erloschen, die Züge todt und beinahe bewegungslos. Das fettige, semmelblonde Haar war sorgfältig gescheitelt und hing lang über den Kragen eines dunkelfarbigen Rockes hinab, der nicht nach dem Schnitte der Welteitelkeiten gefertigt war. Die weiße Wäsche war ohne Tadel, bleichte aber die Gesichtsfarbe, die unter den Liebesexercitien, denen sich diese modernen Heiligen in ihrer engern Gemeinschaft hingeben sollen, erdfahl geworden war, zu einem schmutzigen Gelb. Der Mensch machte den widerlichsten Eindruck auf mich, und ich war nahe daran, ihm die himmlische Speise, die er mir in den Druckschriften überreicht haben wollte, in’s Gesicht zu werfen und ihn mit Fußtritten aus dem Heiligthume meiner Häuslichkeit hinauszutreiben, als ich wahrnahm, daß dieser Prediger absoluter Enthaltsamkeit sehr begehrliche Blicke nach der Madeiraflasche auf dem Frühstückstische warf.

„Diese Beobachtung änderte mein Vorhaben. Ich wollte den Menschen in seiner ganzen Niedrigkeit sehen und ihn benebelt zu seinen frommen Brüdern schicken. In dieser Absicht kämpfte ich den Unwillen nieder, der gegen diesen Heuchler in meiner Brust gährte, und lud ihn mit der gewinnendsten Herablassung ein, an meinem Frühstücke Theil zu nehmen. Er zierte sich nicht lange, nahm ungenirt mir gegenüber Platz und goß das Glas Wein, welches ich ihm einschenkte, hinunter, ohne dabei eine Miene zu verziehen. Es sei die Erleuchtung über ihn gekommen, hob er hierauf an, daß es ihm gelingen werde, mich für die heilige Angelegenheit seiner Gesellschaft zu gewinnen und meine sündige Seele aus den Klauen des Teufels zu erretten; nur müsse er dafür zum Märtyrer werden und, um mich zu bekehren, vorläufig mit mir den Weg der Hölle wandeln. Dies sei ihm in diesem Augenblicke von Gott befohlen, der ihn für diese Stunde von dem strengen Gelübde der Enthaltsamkeit losgebunden und ihm aufgegeben habe, mit mir zu trinken, um meine Gunst zu erringen und dadurch Gelegenheit zu erhalten, mich für die Sache der Gesellschaft zu gewinnen.

„Ich war nahe daran, dem lästernden Schurken die Flasche, an den Kopf zu werfen, doch mäßigte ich mich, verschloß meine Ohren und meine Seele gegen die Salbadereien des Heuchlers und trank ihm tapfer zu, um möglichst schnell mit ihm an’s Ende zu kommen. Doch wir hatten bereits zwei Flaschen meines kräftigsten Madeira’s geleert, ohne daß sich irgend eine Erregung an ihm bemerken ließ. Die dritte und vierte Flasche folgte, der bleiche Mensch blieb so nüchtern, als hätte er Wasser getrunken, während ich, ich will es nicht verhehlen, schon das Gewicht des starken Weines zu fühlen anfing. Ich ließ zwei neue Flaschen bringen, deren Inhalt fast ganz in der bodenlosen Kehle dieses Enthaltsamkeits-Apostels verschwand.

„Ist das Rum vor Ihnen?“ fragte er mich, nachdem er soeben das letzte Glas der sechsten Flasche hinuntergestürzt hatte. „Darf ich Sie darum bemühen?“

„Ich reichte ihm die Flasche, er füllte sich ein großen Glas und goß das flüssige Feuer mit einem Zuge hinab. – Das ging mir doch über den Spaß. „„Altes ausgepichtes Spiritusfaß!““ schrie ich ihm zu, „„Du mußt mit dem Hohenpriester Eurer Gesellschaft, dem Satan, im Bunde stehen, sonst müßtest Du lange am Boden liegen.““ – Der würdige Mann erhob sich langsam von seinem Stuhle und stand kerzengerade vor mir.

„Siehe, Du Mann der Gewalt,“ hob er feierlich an, „der Du weder an Gott noch an seine Wunder glaubst, der Allmächtige hat in seiner Barmherzigkeit, in der Unendlichkeit seiner verzeihenden Liebe, vor Deinen Augen ein Wunder geschehen lassen, um Deine verwahrloste Seele für den Glauben zu retten. Ich, der schwache Jüngling, der seinen Durst mit dem Wasser aus den Bronnen der Wüste löscht und seine Zunge mit dem Thau des Himmels netzt, durfte Fluthen Deiner giftigen Flüssigkeit verschlingen, ohne daß mein Gehirn dadurch belästigt ist. Der Herr verwandelte das flüssige Feuer, wenn es meine Zunge berührte, in lauteres Wasser, sodaß mein Verstand immer klarer und meine Zunge biegsamer wurde, während Dein Geist und Körper in den Banden einer schmachvollen Trunkenheit schmachtet.“

„Herr–raus, verfluchter Gotteslästerer!“ schrie ich und warf ihm zuerst die Betteltractätlein in’s Gesicht. Eine Flasche zersplitterte an der Thür, die der flüchtige Heilige schnell genug zwischen sich und meinen Zorn zu bringen wußte. Meine Hunde verfolgten ihn die Treppe hinunter, ich aber eilte an das Fenster, um seinen Gang und seine Haltung zu beobachten, und mußte die bittere Wahrnehmung machen, daß das süße „Jesuslämmlein“ ohne Wanken und Straucheln seinen Weg verfolgte. Am nächsten Tage erhielt ich eine Rechnung, wonach ich zehn Silbergroschen für das Ausbessern seiner Beinkleider, die meine Hunde zerrissen haben sollten, bezahlen mußte. Ich war offenbar der Düpirte. Ich überlasse es Ihnen, meine Herren, die Nutzanwendung aus dieser Geschichte zu ziehen. Meine Antipathie gegen Alles, was nur im Entferntesten nach Muckerei und Pietisterei riecht, werden Sie sich jetzt zu erklären wissen. Diese lichtscheuen Conventikel sind Pasquille auf’s Christenthum, und die gerühmte Bildung und Civilisation unserer Zeit muß nicht weit her sein, wenn sie solche Erscheinungen unter sich aufkommen läßt.“

Nach dieser Einschaltung beschäftigte sich der Oberst wieder mit der Durchsicht der Nationale.

„Bombardier Kohlhüter,“ rief er nach kurzer Zeit.

Der Bezeichnete erschien vor dem Katheder.

„Ihr Vater,“ begann der Oberst, ohne von dem Papier aufzusehen, „ist in Ihrem National als Landsturm-Major aufgeführt. Dies ist aber eine Charge, die nur für die Kriegsjahre von 1813 und 1814 Geltung hatte, und zu welcher in jener Zeit der Noth Schuster und Schneider ernannt wurden. Ich frage deshalb, was für eine Stellung nimmt Ihr Vater im bürgerlichen Leben ein?“

Bei dieser Frage blickte der Oberst auf, fuhr aber erstaunt zurück, als sein Auge auf den Bombardier traf.

„Ein Pavian in der Uniform meiner Brigade!“ rief er mit grimmigem Lachen aus.

Und wirklich mochte es kaum eine zweite Gestalt geben, in welcher sich das Affenthum so der Menschheit assimilirt hatte. Der Bombardier war klein von Figur und trug sich gebückt. Sein Körper ruhte auf krummen Säbelbeinen, die entsetzlich hager waren. Vor Allem litt sein Gesicht an Mangel von Fleisch, so daß die runzlige Haut auf den bloßen Knochen zu hängen schien. Die kaum fingerhohe Stirn verlor sich in einem Wald von braunrothen Haaren, deren struppiger Wuchs der Bürste spottete. Die Nase war eingedrückt, der Mund ungewöhnlich groß und das Kinn lang und zurückgezogen. In den Augen spielte das unstete Flunkern, welches die kleinen Affenarten so widerlich macht. Der Ausdruck aller dieser Anomalien wurde dadurch noch unangenehmer, daß die Gesichtsmuskeln in einer steten zuckenden Bewegung waren, die der Bombardier auch mit dem Aufgebote seiner ganzen moralischen Kraft nicht zu unterdrücken vermochte.

Der Oberst betrachtete den jungen Mann einige Minuten mit immer steigendem Erstaunen, was so groß war, daß er selbst die Antwort überhörte, die der Bombardier auf die von ihm gestellte Frage gab.

„Na, meine Herren,“ wandte er sich endlich mit einer wahrhaft kläglichen Stimme an die Officiere, „was führt doch der Himmel in seinem Zorn für einen Abhub des menschlichen Geschlechts zu meiner Brigade! Haben Sie jemals ein herrlicheres Ensemble menschlicher Häßlichkeit gesehen, als in dieser Gestalt ausgedrückt ist?“ Und sich nach dem Bombardier zurückwendend, rief er voll [352] Abscheu: „Fort, hinweg! Ich will weiter nichts hören. Ihren Vater, den Herrn Cameraden vom Landsturm, werde ich wohl in irgend einer Menagerie suchen müssen.“

Er warf die noch nicht durchgesehenen Nationale mit Ekel aus der Hand, wobei er die Verse citirte:

„Vorüber, ihr Schafe, vorüber,
Dem Schäfer ist gar zu weh.“

Die Ocular-Inspection war hiermit beendet, und das Examen konnte beginnen. Der Tag war für die Prüfung in der Mathematik bestimmt, der Hauptmann Mühler erlaubte sich aber dem Alten bemerklich zu machen, daß es bereits elf Uhr sei und die kurze Zeit bis ein Uhr, mit welcher Stunde täglich geschlossen werden sollte, zu einer gründlichen Prüfung in der Mathematik nicht ausreichen möchte. Er fragte, ob der Herr Oberst nicht lieber an deren Stelle das Französische setzen wollte. Der Oberst ging auf diese Abänderung ein und gab dem Lieutenant Hohnemann den Befehl, die mündliche Prüfung in der französischen Sprache zu beginnen.

Diese Abänderung war uns im hohen Grade unangenehm. Wir hatten uns nämlich gestanden, daß gerade das Französische die schwache Seite unseres Wissens sei. Unsere Erziehung datirte aus jener Zeit, wo man zu patriotisch war, um an die Sprache des Feindes auch nur einen Gedanken zu verschwenden. Gab es doch Gymnasien, die in den zwanziger Jahren das Französische ganz aus ihrem Lehrplane gestrichen hatten. Unser Wissen in dieser Sprache war deshalb auch sehr lückenhaft, und es gab unter uns nur sehr Wenige, die der Prüfung, so gering auch die Ansprüche waren, die man nach dieser Seite hin an uns machte, mit Ruhe entgegensehen durften. Dazu kam noch, daß wir auf diesem Felde den Alten am meisten zu fürchten hatten, weil er der französischen Sprache durchaus mächtig war und somit unsere Leistungen vollständig beurtheilen konnte. Wenn das Französische, wie es im Plane lag, an dem letzten Tage des Examens Gegenstand der Prüfung geworden wäre, so durften wir hoffen, daß er entweder gar nicht mehr anwesend, oder uns doch in Berücksichtigung der Kenntnisse, die wir bereits in den anderen Wissenschaften gezeigt hatten, bei diesem Gegenstande ein milder Richter sein werde. Jedenfalls durften wir doch annehmen, daß sich bis dahin der sengende Sarkasmus seiner einschneidenden Geradheit, der in unserer Unwissenheit die gewünschte Gelegenheit fand, sich in seiner ganzen Schärfe geltend zu machen, schon etwas abgekühlt haben würde.

Die Anforderungen, die man an uns stellte, waren, wie schon erwähnt, nicht besonders schwierig. Wir sollten einen leichten französischen Autor fließend übersetzen, ein deutsches Dictat ohne grobe Fehler französisch niederschreiben können und in der Conversation einige Gewandtheit haben. Dies war Alles sehr leicht, für uns aber dennoch sehr schwer, und unsere Wissenschaftlichkeit in der unglücklichen Sprache mußte sehr geweckt werden, wenn sie zu den Anforderungen ausreichen sollte.

Die Prüfung begann.

Der Lieutenant Hohnemann sprach den Unterofficier v. Sorgen französisch an und forderte ihn auf, die Autoren zu nennen, welche er gelesen habe, und ihm einen kurzen Ueberblick über seine Kenntnisse in der französischen Sprache zu geben. Natürlich erwarte er die Antwort in derselben Sprache, in welcher die Frage gestellt sei.

Der Unterofficier v. Sorgen schien durch dies Ansinnen keinen Augenblick in Verlegenheit zu kommen. Er antwortete sofort und parlirte einige Minuten in so flüssigen Redensarten, daß man meinen konnte, er rede seine Muttersprache. Es setzte uns dies in nicht geringes Erstaunen, da wir wußten, daß unser lieber Camerad nach seinem eigenen Geständnisse zu denjenigen gehörte, die gar nichts wußten, die nicht einmal flüssig lesen konnten.

Den Alten schien die Gelehrsamkeit des v. Sorgen gleichfalls zu überraschen. Er hörte einige Augenblicke mit Aufmerksamkeit zu und rief dann lachend: „Sieh’, da hat ja dieser Erzwindbeutel auch eine starke Seite. Der Junge parlirt ja wie ein Professor der französischen Akademie. Das Maulwerk dazu hat er schon.“

„Nichts als Dummheiten, Herr Oberst,“ entgegnete der finstere Examinator. „Eingelernte Phrasen auf eine Frage, die er voraussehen konnte.“

„Unmöglich!“ brummte der Oberst ärgerlich.

„Refaites-le!“ rief er dem Unterofficier zu.

Dieser begann seine Litanei von Neuem, und zwar mit einer Furchtlosigkeit und Zungenfertigkeit, die in Erstaunen setzte.

„Taisez-vous. Tais-toi!“ unterbrach ihn der Alte schon nach den ersten Sätzen. Der Unterofficier, der diesen Zuruf nicht übersetzen konnte, schwadronirte ruhig fort, bis der Oberst wüthend aufsprang, ihm die riesige Faust vor die Augen hielt und mit einem Gebrüll, das die Fenster beben machte, ausrief: „Taisez-vous. autrement je vous ferme la bouche!“

Die verständliche Handbewegung brachte unsern kecken Cameraden endlich zum Schweigen.

„Kreuz-Millionen-Donnerwetter!“ schrie der Alte, „eine solche kecke Dummdreistigkeit ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen. Aber ich kenne diesen dicken Millionenhund schon, der überbietet an Frechheit und Selbstvertrauen den ärgsten Mucker, und es gibt keine Dummheit, die er nicht auszuführen und zu vertreten geneigt wäre. In hundert Kneipen ist er Stammgast und bei allen Schenkmädchens Hahn im Korbe. Die schönen Redensarten, durch welche er uns bestechen wollte, hat er sich jedenfalls auch von einer französischen Gouvernante oder Bonne einpauken lassen. Aber ich werde dem ausgepusteten Windsack diese Flausen anstreichen. Balgentreter und Steineklopfer kann er werden, aber nicht Artillerie-Officier. Halten Sie sich nicht länger bei dem Stockfisch auf, Herr Lieutenant. C’est une buse!“

Der nächste Camerad erlag schon bei der ersten Frage.

„Imbécile que vous étes!“ schrie der Alte, als der junge Mann bei seiner Entgegnung einige Augenblicke in seinem Gedächtnisse nach einer fehlenden Vocabel suchte. „Verlieren Sie keine Zeit, Herr Lieutenant, aus dessen Hirnkasten filtriren Sie doch nichts heraus. Den kenne ich schon: c’est un bon diable, der nicht einmal so viel Geist und Muth hat, um mit Geschick einen dummen Streich auszuführen. Den hat der liebe Gott auch in seinem höchsten Zorn zum Artilleristen gemacht.“

Der Nächste, als er in seiner Antwort einige Unsicherheit zeigte, wurde von dem Alten mit einem vous étes un nigaud abgefertigt; und so bekam ein Jeder sein Theil mit Ausnahme des „Weinerlichen“, wie der Oberst den armen Schwalbe nannte, und des „Verwahrlosten“, womit er den Bombardier Werter bezeichnete, welche die Sprache beherrschten und sich darin mit Gewandtheit auszudrücken vermochten.

Der Camerad Kohlhüter wußte gar nichts, er konnte kaum richtig lesen und nicht einmal den leichtesten Satz aus dem Französischen in’s Deutsche übersetzen.

„Cet homme me répugne!“ rief der Alte. „Lassen Sie es für heute genug sein, Herr Lieutenant. Es ist Mittag, wir wollen schließen.“

Zu mir gewandt, fügte er hinzu: „Mit Ausnahme des Weinerlichen und des Verwahrlosten habt Ihr Alle nichts gewußt. Das läßt sich aber noch nachholen. Zu Eurer Beruhigung kann ich Euch sagen, daß ich manchen braven Officier gekannt habe, der die Franzosen zu schlagen wußte, ohne von ihrer Sprache etwas zu verstehen. Morgen kommt die Mathematik an die Reihe. Da bitte ich mir aus, daß Ihr den heutigen Nachmittag dazu benutzt, Euch gehörig vorzubereiten. Bei der Entscheidung über Eure Tüchtigkeit zählt diese Wissenschaft mit vier Stimmen, und wer darin nichts weiß, kann die Hoffnung auf die Epauletten aufgeben, und mag sich nur immerhin mit dem Leierkasten bekannt machen, denn das Herumsingen würde doch sein endliches Loos sein. Also keine Bummelei heute! Den leichtsinnigen Millionenhund, den ich in einer Kneipe attrapire, schicke ich sogleich auf die nächste Wache. Ich nenne mich Tuchsen! Adieu.“


Für „Vater Arndt“

gingen im Laufe der letzten Woche wieder ein: 5 fl. Einige deutsche Verehrer des Vater Arndt in Tiefenbach bei Tannwald (Böhmen) – 15 fl. aus Grätz und zwar: 3 fl. J. P. – 1 fl. J. R. – 1 fl. R. L. – 1 fl. A. P. – 1 fl. H. W. – 2 fl. F. F. – 2 fl. J. B. – 1 fl. J. M. – 1 fl. J. F. – 1 fl. L. P. – 1 fl. F. B. – 2 Thlr. Ludw. Riedel in Meerane.

Ernst Keil.

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.