Die Gartenlaube (1860)/Heft 46
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No. 46. | 1860. |
Husar und Pandur.
Der Oberst von der Trenck stand in jenen Tagen, in der Zeit, nachdem Oesterreich mit Preußen den Frieden geschlossen, mit seinem Corps von Rothmäntlern im Hausruckviertel an der Donau; er selbst hatte sein Hauptquartier in der kleinen freundlichen Benediktiner-Abtei Engelhardszell aufgeschlagen, die etwa in der Mitte zwischen Passau und Linz, nahe der heutigen Grenze Oesterreichs, in einer Umgebung von großartiger landschaftlicher Schönheit liegt.
Das Thal der Donau ist hier von hohen malerischen Bergen eingeengt, deren Gipfel von alten Burgen gekrönt, deren steil ansteigende Wände oder Leithen von Hochwald bedeckt sind.
Das Kloster und die Abteikirche sind, wie die meisten kirchlichen Bauten in Oesterreich, keineswegs düstre mittelalterliche Bauwerke: sie gehören zum größten Theil dem siebenzehnten oder achtzehnten Jahrhundert an; und auch Engelhardszell bot in seinen verschiedenen Flügeln vergleichungsweise geräumige und lichte Gemächer dar, und in der Wohnung des Abtes freundliche Zimmer und Salons, in welchen der Pandurenoberst bequem auf seinen Lorbeeren ausruhen konnte.
Die Mönche hatten sich dicht zusammendrängen müssen, um ihm und einem Theil seiner Officiere Raum zu machen. Die frommen Herren führten einmal wieder ein sehr beschauliches stilles Leben; sie hatten vielleicht seit den Zeiten ihres Stifters, des Baiernherzogs Thassilo, nicht mehr in so strenger Zurückgezogenheit gelebt wie jetzt, wo sie sich scheuten, auf Gängen und Korridoren den wilden Gesellen, die unter ihrem Dache und leider auch in ihrem Keller das Regiment führten, zu begegnen … Die schwarze Soutane duckte sich vor dem rothen Mantel, wie eine Taube vor dem Weih.
In dem einen Büchsenschuß weit von der Abtei liegenden Marktflecken Engelhardszell war ein starker Trupp von Trenck’s Panduren einquartiert.
Am vierten Tage nach seinem Ausmarsch aus Wien, kurz nach Mittag, war der Oberstwachtmeister von Frohn in diesem Ort eingetroffen. Von der Ortsobrigkeit hatte er Quartiere für seine Leute verlangt, und die Ortsobrigkeit hatte rathlos und niedergeschlagen die Marschroute angestarrt, welche Frohn dem ehrlichen Oberösterreicher vorgehalten.
„Es ist halt ganz unmöglich,“ sagte der „Pfleger“ – „alle Häuser sind mit den Kroaten besetzt.“
„Und die Abtei auch?“
„Die Abtei … da liegt ja der Oberst selber!“
„Thut nichts, geb’ Er mir Quartierbillets für die Abtei.“
„Aber ich sag’s ja, Ew. Gnaden, da liegt der Oberst von der Trenck, der läßt Ew. Gnaden nicht hinein, und mich könnt’s gerad nur den Hals kosten …“
„Schreib Er nur das Billet – für alles Andere steh’ ich,“ antwortete Frohn befehlend; „es soll Ihm kein Haar gekrümmt werden – aber vorwärts, meine Leute sind hungrig und meine Pferde müde!“
Der „Pfleger“ sah mit einem Blick voll unbeschreiblichen Kleinmuths zu Frohn auf; der arme Teufel verrieth in seinem ganzen eingeschüchterten und rathlosen Wesen, wie angenehm die Lage eines Beamten in einem Orte sein mußte, wo der Trenck mit seinen Kroaten im Quartier lag; aber da Frohn jetzt Anstalt machte, selber an den obrigkeitlichen Schreibtisch zu treten und nach den Formularen für Quartierbillete zu suchen, lieferte er endlich das, was so gebieterisch von ihm verlangt wurde, aus, freilich mit einer Miene, als ob es im Grunde für ihn gleichgültig sei, ob er einen Tag früher oder später von seinen schrecklichen Gästen massacrirt oder in die Donau geworfen oder auf irgend eine andere grausame Weise seiner entsetzlichen officiellen Thätigkeit überhoben werde!
Der Oberstwachtmeister ritt nun mit seiner kleinen Escorte dem Kloster zu, vor dem zwei Seressaner mit ihren breiten Handschars Wache standen.
Ein Trupp dieser verrufenen und mit ihrem halbtürkischen Costüme, ihrer fremdartigen Bewaffnung wie ein Stück wilden Heidenthums aussehenden Kerle lagerte um ein großes Feuer, das sie auf dem freien Platze vor dem Kloster entzündet hatten; sie lagen auf ihren Mänteln auf der Erde; den Ehrenplatz auf einer Bank, die seitwärts aufgeschlagen stand, hatten sie einem großen Fasse überlassen, an welchem ein junger Trommlerbube den Zapfer machte.
Frohn überließ es seinem Wachtmeister, den Pater Kellner oder Klostervogt aufzutreiben, damit er Raum für Mann und Roß schaffe; er selbst warf die Zügel seines Pferdes einem seiner Husaren zu und betrat das Innere der Abtei durch ein Portal, welches heute trotz klösterlicher Clausur sperrangelweit offen stand. In einem Gange, an dessen rechter Seite eine Treppe aus rothem Salzburger Marmor in die Abtswohnung führte, fand er einen Kroaten, dem er befahl, ihn zum Obersten zu bringen.
„Was wollen bei Oberst? – Oberst hat nicht Zeit – hat zu thun, Oberst, viel zu thun!“
„Führ’ Du mich nur zu ihm, mein Bursche, ich komme von der Kaiserin!“
[722] „Darf nicht,“ sagte der Kroat achselzuckend, „was ist Kaiserin – Oberst ist Kaiser, wo ist Oberst!“
„Richtig – Oberst ist Kaiser, wo ist Oberst – ich habe aber mit ihm zu reden, und Du wirst mir zeigen, wo ich ihn finde, oder ich gebe Dir mit meiner Reitpeitsche eine Lection, wie Du den Stabelmeister Deines Kaisers zu machen hast!“
Der Pandur griff augenblicklich nach dem langen Pistol mit incristirtem Kolben, das er in seinem Gürtel trug, aber kaum hatte er es herausgerissen, als ein furchtbarer Hieb der Reitpeitsche Frohn’s seinen Unterarm traf, daß die Waffe klirrend zu Boden fiel.
Der wilde Mensch stieß eine Fluth von Flüchen aus und bückte sich, das Pistol wieder aufzuraffen, Frohn stieß es mit dem Fuße, daß es weithin den Gang hinab flog … am Ende dieses Ganges öffnete sich im selben Augenblick eine Thüre, und ein dunkles bärtiges Männergesicht blickte heraus.
„Was gibt’s da?“ rief der Mann mit zorniger Stimme.
Frohn wandte sich augenblicklich zu ihm.
„Ein Stabsofficier aus Wien, der den Oberst von der Trenck zu sprechen verlangt,“ sagte er mit großer Entschiedenheit „aber auf dem Wege zu ihm auf Mordgesindel stößt, gegen das er sein Leben vertheidigen muß!“
Ohne dieser Beschwerde eine weitere Beachtung zu zollen, zog der Mann in der Thüre sich zurück; man sah, daß er in das Innere des Zimmers hinein sprach, dann trat er über die Schwelle und indem er die Thüre weiter öffnete, sagte er: „Sie können eintreten.“
Der Oberstwachtmeister von Frohn trat in ein großes, ursprünglich im Rococo-Geschmack ziemlich reich decorirtes Zimmer, mit einem kleinen Deckengemälde, Stuckarbeiten und Supporten; es war wahrscheinlich der Empfangssalon des hochwürdigen Klostervorstandes; der Anblick, den es jetzt darbot, konnte jedoch nicht unklösterlicher gedacht werden. Auf einem großen runden Tische in der Mitte standen Flaschen und Gläser, lagen Karten und Würfel und türkische Pfeifen bunt durcheinander; hinter dem Tische saßen ein paar eben so bärtige, eben so braun und martialisch aussehende Männer, wie der, welcher Frohn einführte, aber der Letztere fand keine Zeit, ihnen seine Aufmerksamkeit zuzuwenden, weil diese zunächst vollständig gefesselt wurde durch die merkwürdige Gestalt, die sich bei seinem Eintritt erhob und ihm ein paar Schritte entgegentrat.
Es war ein baumstarker, an Größe Frohn selber noch bedeutend überragender Mann, mit einem Gesichte, das einen unverlöschlichen Eindruck auf Jeden, der es einmal erblickt hatte, machen mußte; es war nicht ursprünglich unschön, dies Gesicht, die Züge nicht unregelmäßig geschnitten, aber tiefe Furchen waren in die von Wetter und Wind gegerbte braune Lederhaut gegraben, aus den dichten schwarzen Brauen sprangen einzelne lange dicke Haare vor, und erhöhten den Eindruck des Katzenhaften, den die eigenthümlichen grauen Augen machten, welche einen matten, halb erloschenen Glanz hatten; das Auffallendste an dem Gesicht aber bestand darin, daß die ganze eine Seite desselben schwarz war, wie die eines Negers – die Explosion eines Pulverfasses in unmittelbarster Nähe hatte es verbrannt und für immer so schwarz gefärbt.
„Was steht dem Herrn zu Diensten? Ich bin der Oberst von der Trenck,“ sagte der Mann.
„Oberstwachtmeister von Frohn, vom Husarenregimente König Joseph,“ antwortete Frohn in militärischer Haltung; „ich habe die Ehre, mich bei dem Herrn Obersten zu melden.“
„Im Dienst hier?“
„In speciellen Aufträgen der Kaiserin.“
„Und die lauten?“
„Da sie ein wenig diplomatischer Natur sind, so werden der Herr Oberst erlauben …“ Frohn warf einen Blick auf die im Hintergrund sitzenden Officiere Trenck’s.
„Nun, so wird’s Zeit haben bis später,“ fiel dieser ein; „unterbrechen wir unser Spiel darum nicht. Der Herr Camerad kann Theil daran nehmen, wenn er Lust hat.“
Dabei deutete er auf einen Stuhl und warf sich wieder auf das Ruhebett neben dem Tische, von dem er vorhin aufgestanden war.
Frohn fand es zweckmäßig, seine Ermüdung durch den zurückgelegten Tagemarsch nicht zu beachten; er setzte sich ruhig an den Tisch, knöpfte seine Uniform auf, löste die Kuppel seines Säbels und ließ diesen rasselnd auf den Boden neben sich niederfallen.
„Wenn der Herr Oberst erlauben, verhelfe ich mir zuerst zu einem Glase Wein. Ich glaube, es ist vortrefflicher Ruster, ich bin durstig durch meinen Marsch geworden.“ Er schenkte sich ein großes Kelchglas voll, leerte es auf einen Zug, schnalzte dann mit der Zunge und sagte: „Nun stehe ich zu Befehl. Bitte den Herrn Obersten jedoch, mich zuvor noch mit den drei andern Herren bekannt zu machen.“
„Das da ist mein Oberstlieutenant Baron de Dolne, das der Herr von Wrtschowar und dies Herr von Nakowitsch, Majore in meinem Corps.“
„Halte mich den Herren empfohlen!“ sagte Frohn, indem er jedem eine kurze Verbeugung mit dem Haupte machte. „Was ist der Einsatz?“
Der Oberst von der Trenck griff zu den Karten, nachdem er einen eigenthümlichen lauernden Blick auf Frohn geworfen. Er war nicht gewohnt, daß Leute, welche sich zum ersten Male in seiner Gegenwart befanden, diese vollständige Sicherheit an den Tag legten und sich so in keiner Weise zu geniren schienen.
„Der Namen des Herrn Cameraden ist mir bekannt,“ sagte er dann, während er die Karten mischte; „ich habe von ihm gehört – hat er nicht als Kriegsgefangener in Magdeburg gesessen und da die Bekanntschaft meines Vetters, des preußischen Windbeutels, gemacht?“
„Ich habe allerdings den Herrn Vetter dort kennen lernen.“
„Und sieht ihn auch wohl unterweilen in Wien?“
„Selten,“ versetzte Frohn – „ich vertrage mich nicht wohl mit ihm. Der Mann ist mir zu groß. So viel Weisheit, Geistesgröße und Heldenmuth, wie sich in diesem einen Sterblichen beieinander finden, ist für ein untergeordnetes Menschenkind wie unser Eins, auf das er mit so viel Recht von seiner Höhe tief herabblickt, nicht bequem und unangenehm.“
„Ja, es ist ein hochmüthiger Bursch, der Fritz!“ fiel lachend der Oberst ein. „Seitdem alle Welt seine Lebensbeschreibung und was er sonst von sich ausgehen läßt, gelesen hat, und er ein berühmter Mann dadurch geworden ist – seitdem die Narren in Wien und Paris Trenckdosen und Trenckhüte und Trenckschnupftücher tragen, ist der Hansdampf in allen Gassen ganz übergeschnappt und will Papst und Potentaten belehren und die Welt anders machen, als sie der liebe Gott gemacht hat, der die Dummheit beging, den Fritz nicht dabei zu fragen! Na, er wird schon gedemüthigt werden; ich habe ihn zu meinem Erben eingesetzt, und wenn mich einmal der Teufel holt, was doch über kurz oder lang der Fall sein muß, dann wird der Fritz zu schaffen bekommen!“
Der Oberst stieß hierbei ein stilles boshaftes Lachen aus; dann begann er als Bankhalter die Karten abzuziehen, während die Officiere Goldstücke setzten und auch Frohn aus einer schweren, von Gold strotzenden Börse eine Anzahl Stücke hervorzog, um damit zu pointiren.
Das Auge des Obersten streifte mit einem Seitenblick, der nicht sprechender und gieriger aus dem Auge eines Wucherers hätte blitzen können, die volle Börse Frohn’s.
Er war eben im besten Zuge des Abschlagens der Karten begriffen – es war das einfache Spiel: „Landsknecht“, was die Herren trieben – als die Thüre sich öffnete und ein Paar Männer, die eine eigenthümliche Gruppe zusammen bildeten, eintraten. Es waren ein Mönch und ein Seressaner; dieser, ein vierschrötiger Mensch mit einer tiefen Narbe über das Gesicht, hatte den erschrocken aussehenden geistlichen Herrn, dem das schwarze Käpplein vom Haupte gefallen war und die dünnen weißen Haare unordentlich um die Schläfe hingen, an der Schulter gefaßt und in’s Zimmer geschoben, wo der letztere angsterfüllt sich ein Mal über das andere demüthig verbeugte, während der Seressaner in stracker Haltung eine Meldung in kroatischer Sprache machte.
Unser Oberstwachtmeister hatte seine militärischen Lehrjahre nicht umsonst im Banat durchgemacht; er verstand die Meldung vollständig und fiel sogleich ein: „Es handelt sich um die Einquartierung meiner Leute, wie ich höre; ich habe dem Pfleger im Marktflecken befohlen, uns Quartier hier im Kloster anzuweisen, da der Flecken, wie er behauptet, überfüllt ist.“
Das Auge Trenck’s leuchtete von einem unheimlichen Glanz auf; während sich die Furchen seiner Stirn in tiefe Falten zusammenzogen.
„Der Herr Oberstwachtmeister haben befohlen?“ sagte er mit einem zornigen Hohn; „und da der Trenck mit seinen Leuten im [723] Kloster liegt, wird derselbe wohl, um Raum für den Herrn Oberstwachtmeister zu schaffen, sich hinaus trollen müssen und bivouakiren?“
„Ich bitte sehr,“ antwortete Frohn mit der größten Ruhe und voller Ernsthaftigkeit, „daß der Herr Camerad sich um meinetwillen nicht geniren. Ich hoffe, daß Platz für uns Alle da ist; nöthigenfalls können meine Leute auf Stroh in den Corridoren liegen!“
Der Oberst blickte mit Verwunderung auf den Mann, der ihm mit solcher Unbefangenheit die Stirn bot, und ebenso sahen die anderen Officiere staunend auf Frohn.
„Dem Herrn Pater Kellner,“ fuhr dieser zu dem angsterfüllten Benedictiner gewendet fort, „empfehle ich meine Leute zu guter Verköstigung; ich werde dem Kloster ein gutes Douceur dafür hinterlassen. Meine Leute sind strenge danach instruirt, daß sie sich aufs Bescheidenste betragen. Wenn dem Herrn Pater weiter etwas in den Weg gelegt werden sollte, so wende er sich nur an mich, ich stehe jeden Augenblick bereit, ihn nachdrücklich in Schutz zu nehmen und dem geistlichen Gewand, das der Herr trägt, Respect zu verschaffen.“
„Tod und Teufel!“ rief der Oberst von der Trenck hier auffahrend aus, „wer commandirt denn hier, der Trenck oder …“
„Der Herr Oberst von der Trenck commandiren hier Ihr Panduren-Freicorps,“ versetzte Frohn gemessen, „und der Oberstwachtmeister von Frohn vom Regiment König Joseph-Husaren commandirt sein Detachement. Das nöthige Quartier gibt der Unterthan her, und wenn Ihre Majestät die Kaiserin militärische Dispositionen treffen, wonach sich Dero verschiedene Truppen auf einem Platze begegnen, so müssen sich dieselben in den Raum theilen und zusammen schicken, so gut es eben angeht. Das ist, dünkt mich, so klar und einfach und so über allen Zweifel hinaus, daß der Herr Oberst gewiß kein Wort mehr darüber verlieren wollen, damit wir nicht länger um unser angenehmes Spiel kommen!“
Der Oberst von der Trenck warf sich in seine ruhende Lage zurück. Er murmelte einige zornige Flüche zwischen den Lippen, während er wieder nach den Karten griff. Dann lachte er plötzlich laut auf.
„Der Herr Camerad hat beim Teufel Recht!“ rief er dabei aus, „packt Euch, Ihr da an der Thüre, die Husaren können bleiben, und daß ich von keinem Streit und von keinen Raufereien höre, oder das Wetter fährt Euch auf den Schädel!“
Der Pater Kellner und der Seressaner verschwanden sofort; Trenck schlug die Karten ab, wie zuvor, aber die anderen Officiere beobachteten mit eigenthümlichen Blicken den Oberstwachtmeister von Frohn. Vielleicht war es Bewunderung seiner ruhigen Kühnheit, was in ihren Blicken lag, vielleicht dachten sie nicht viel anders als: wenn unser Geizhals von Oberst nicht vorzöge, Dich hier zu halten, um erst Deine volle Geldbörse zu plündern, so würdest Du einen ganz andern Mann an ihm gefunden haben!“
Das Spiel hatte etwa eine Stunde gedauert; Frohn hatte den Inhalt seiner Börse sich um ein Bedeutendes vermindern sehen, denn es war, als ob der Pandurenoberst eine magnetische Anziehungskraft für die blanken Kremnitzer Ducaten besitze; endlich hatte er sich erhoben, um zu revidiren, wie sein kleines Kommando sich unter Dach und Fach gebracht, und um sich im Kloster-Refectorium einen Imbiß auftragen zu lassen, da er seit dem Frühstück nichts genossen hatte. Er fand seine Leute im Refektorium versammelt; da sie die Sprache der Panduren nicht verstanden und vielleicht eine Art aristokratische Abneigung fühlten sich mit diesen Burschen einzulassen, hatten sie sich im Kloster zusammengehalten, und zu ihnen hatten ein paar von den Klosterherren sich gesetzt, die aus der Anwesenheit so disciplinirter und wohlgeschulter Kriegsknechte eine Art Trost und Beruhigung schöpften. Franzl, der Wachtmeister, saß hinter einem Bierkruge neben dem Pater Kellner, welcher ihm die haarsträubendsten Dinge von den Streichen dieser Panduren erzählte, die nach seinen Berichten eine Art eingefleischter Teufel sein mußten.
Frohn setzte sich zu ihnen, und während für ihn die Speisen bereitet wurden, hörte er diesen Berichten zu. Der Imbiß wurde aufgetragen; nachdem Frohn gegessen, winkte er Franzl in den Hintergrund des langen und dunklen Raumes, wo er ihm leise flüsternd mehrere Befehle gab. Franzl verschwand danach aus dem Kloster, um sich sogleich nach dem Marktflecken hinab zu begeben. Frohn aber ließ sich in die Zelle führen, die für ihn bereitet war und wohin Franzl bereits seinen Mantelsack hatte bringen lassen – dort warf er sich auf das Bett nieder, um ein paar Stunden zu ruhen.
Es mochte neun Uhr sein, als Franzl ihn weckte. Der Oberst ließ den Herrn Cameraden ersuchen, das Nachtmahl mit ihm einzunehmen.
Frohn erhob sich.
„Was hast Du ausgerichtet, Franzl?“ fragte er.
„Alles in Ordnung; der Schiffer war ganz willig und ist ein Mann wie wir ihn brauchen!“
„Gut … und was ich Dir anvertraut habe?“
Franzl schlug mit dem Säbel lächelnd an den Schaft seines Halbstiefels.
„Hier steckt’s, Herr Oberstwachtmeister – seien Sie ganz ruhig; es nimmt mir’s Niemand!“
„So gib mir den Dolman.“
Frohn warf den Dolman über die Schultern und ging den Corridor hinab zum Zimmer Trenck’s.
Als Frohn bei diesem eintrat, fand er Trenck allein. Er schritt, die Hände auf dem Rücken, langsam auf und nieder. Ein Diener hielt sich aufrecht neben dem Sessel des Obersten, der an einen mit Speisen besetzten Tisch geschoben war.
„Nehmen der Herr Camerad mit mir vorlieb,“ empfing Trenck den Eintretenden. Dieser verbeugte sich.
„Nachher,“ fuhr jener fort, „können wir zu den Aufträgen übergehen, die der Herr von Frohn an mich zu haben behauptet.“
„Ich stehe dem Herrn Oberst ganz zu Befehl!“
Man setzte sich. Trenck aß rasch, und da Frohn ihm gleichen Schritt zu halten suchte, konnte die Tafel bald abgeräumt werden: die Flaschen und Gläser blieben.
„Laß Er uns jetzt allein,“ sagte der Oberst zu dem Diener, und als dieser gegangen war, fuhr er zu Frohn gewendet fort:
„Wenn’s also beliebt, können wir zur Sache übergehen, mein Herr Diplomat … packe der Camerad aus mit seiner Angelegenheit, und ein wenig kurz, damit wir zur Ruhe kommen.“
Frohn füllte sein Glas mit rothem Ungar; dann zog er ein geschliffenes Krystallfläschlein aus der Brusttasche seiner Uniform hervor und goß einige Tropfen daraus in seinen Wein.
„Was tröpfelt der Oberstwachtmeister denn da in sein Getränk?“ fragte der Oberst, der ihm aufmerksam zusah.
„Ein Lebenselixir, das von besonderer Kraft ist. Ich habe es von einem alten türkischen Arzt bekommen, dem ich beisprang, als ihn ein Haufe Slavonier in die Donau werfen wollte. Es hat eine ganz merkwürdige Kraft und wer es braucht, den schützt es vor allen inneren Krankheiten; es curirt vom Fieber und merkwürdig ist, wie ruhig und fest man danach schläft.“
Frohn leerte sein Glas zur Hälfte mit großem Behagen, dann goß er noch einige Tropfen zu.
„Das könnt’ ich brauchen,“ sagte Trenck, „ich liege manche Stunde schlaflos in der Nacht und wälze mich, fluchend über die Langeweile, hin und her.“
„Will der Herr Camerad versuchen?“ versetzte Frohn. „Das Recept steht ihm zu Diensten.“
Trenck hielt Frohn sein Glas hin, und dieser ließ eine ziemlich starke Dosis seines Elixirs in den rothen Wein tröpfeln.
Der Oberst trank davon.
„Man schmeckt nichts!“ sagte er, mit den Lippen schnalzend.
„Aber die Wirkung wird sich schon verspüren lassen,“ entgegnen Frohn, sein Glas leerend.
„Und nun die Aufträge?“
„Sie bestehen zunächst darin, daß ich dem Herrn Oberst ein Gespräch mittheilen soll, welches in den letzten Tagen zwischen der Kaiserin und dem König Joseph über den Herrn Oberst stattgefunden hat. Die Kaiserin hat da ein wenig ungnädig sich über den Herrn Obersten ausgesprochen und von allerlei Klagen geredet, die gegen denselben bei ihr angebracht seien; er sei ein Ketzer, ein Gottesleugner, er hätte keinen Respect vor Gott noch dem Teufel, und es sei ihm nichts auf der Welt und im Himmel heilig. Wogegen denn seine Majestät der römische König den Herrn Obersten vertheidigt haben; und endlich haben die junge Majestät mich rufen lassen und haben mir befohlen: Frohn, setze Er sich zu Pferde und reite Er zum Trenck; sage Er dem Obersten, ich hätte mein Wort verpfändet, daß ihm wenigstens das heilig sei, was jedem guten Soldaten heilig ist, sein Ehrenwort. Nehme Er dem Obersten [724] von der Trenck das Ehrenwort ab, daß er hierher nach Wien kommen und sich vor seiner Kaiserin verantworten wolle gegen das, was allerlei Menschen, die ihr Gehör gefunden, gegen ihn vorgebracht haben. Der Oberst von der Trenck kann in Wien auf meine Protection rechnen, da ich nicht zweifle, daß er sich von allen jenen Anschuldigungen wird mit leichter Mühe rechtfertigen können.“
Der Pandurenoberst hatte den Oberstwachtmeister, während dieser mit größter Seelenruhe sprach, überrascht angesehen, und seine Augen funkelten jetzt in heftigem Zorne auf.
„Zum Teufel,“ rief er aus, „das ist eine schöne Litanei, die der Herr Camerad mir da vorbetet. Und dazu soll der Trenck geduldig Amen sagen? Also die Frau Kaiserin, für die ich hundert Mal mein Leben in die Schanze geschlagen habe, hat sich von Pfaffen und alten Weibern wider mich aufhetzen lassen? Und jetzt, wo der Krieg aus ist, in dem der Trenck Wunder gethan hat, wo man ihn nicht mehr gebraucht, da soll er sich verdefendiren! Hölle und Teufel, Herr Camerad, ich habe erwartet, daß meine Kaiserin mir das Feldmarschalllieutenants-Patent schickte, aber solche Botschaft nicht!“
„Ich meine, es muß dem Herrn Obersten lieb sein,“ fiel Frohn ein, „daß man ihm Gelegenheit geben will, sich von dem Verdacht zu reinigen, den man der Kaiserin nun einmal beigebracht hat!“
„Die Kaiserin ist ein unvernünftiges Weibsbild,“ schrie Trenck wüthend auf, „das Hofgesindel und die Federfuchser in Wien sind meine Feinde …“
„Vergesse der Herr Oberst nicht, daß ich von Ihrer Majestät der Kaiserin, die Gott erhalte, nicht in meiner Gegenwart so reden hören darf …“
„Darum scheer’ ich mich den Henker,“ fuhr der zornige Pandurenoberst fort, „wie um die ganze Wiener Hallunkenbande, die mir etwas an’s Zeug flicken wollen, blos deshalb, weil ich nicht Lust habe, mich von ihnen als Schwamm gebrauchen zu lassen der sich bei Freund und Feind vollsäuft und den sie dann gemüthlich ausdrücken … da liegt der Hase im Pfeffer, mein schlauer Herr Camerad, der sich zu solchen Botendiensten beim Trenck gebrauchen läßt! – Ja, darauf läuft’s hinaus – sie wissen, die Federfuchser in Wien, daß der Trenck mit saurem Schweiß und halsbrechender Mühe sich ein paar Groschen auf die Seite gebracht hat …“
„Aber,“ fiel hier Frohn ein, auf dessen Lippen es ein leises Lächeln brachte, als er sah, wie fest der Ideengang eines Geizhalses bei seinem Gelde haftete, – „aber darum handelt es sich ja nicht, sondern blos um eine dienstliche Verantwortung über Dinge, die Sie schon Ihrer Ehre wegen nicht unaufgeklärt lassen, werden, – der König hat mir das selbst gesagt, und ich wiederhole Ihnen, daß er mir ausdrücklich aufgetragen, Sie seiner Protection zu versichern.“
„Was Protection – ich kenne das … wenn man die Schreiberseelen einmal so weit hat kommen lassen, daß sie ihr Gift in die Protokolle laichen können, dann ist ein ehrlicher Kerl unrettbar verloren, dann hilft ihm Joseph’s Protection nicht mehr. Wird der Monarch daran erinnert, so heißt es: wir haben nicht voraussetzen können, daß die Untersuchung eine solche Wendung nehmen würde, es sind Umstände eingetreten, die uns zwingen, von einer persönlichen Einmischung in den Lauf der Sache abzusehen, und was diese diplomatischen Ausflüchte sind, die einem ehrlichen Soldaten, der sein Bestes meint gethan zu haben, den Strick um den Hals lassen!“
„Ich fasse nicht,“ entgegnete Frohn, „wie der Herr Camerad die Sache so bedenklich findet – ich an seiner Stelle würde sogleich an den Hof eilen und meine Widersacher beschämen.“
„Das werde ich schön bleiben lassen,“ rief Trenck aus. „Solchem Gesindel ist eine redliche Kriegsgurgel nicht gewachsen – und wenn ich es wäre, hätte ich keine Lust, zum Ritter Sanct Georg an dem Hofkriegsraths-Lindwurm mit den Gänsekielen und dem schwarzen Tintengift zu werden. Mögen die niederträchtigen Bestien, die meine Monarchin wider mich aufhetzen, in ihrem eigenen Gift ersticken – ich bleibe wo ich bin – wir wollen doch einmal sehen, ob man wagen wird, offen etwas gegen den Trenck zu unternehmen, den einzigen fähigen Kopf, den das Haus Oesterreich unter seinen Soldaten hat; denn das mag mir der Camerad glauben, die Andern, vom großmüthigen Herrn Feldmarschall Herzog von Lothringen an, bis herunter auf den weisen Laudon, den ich als Lieutenant bei meinem Corps hatte und als unbrauchbar zum Teufel jagte, die Andern sind Alle Dummköpfe!“
„Sie wollen mich also nicht nach Wien begleiten?“
„Nein!“ versetzte Trenck, sein Glas leerend.
„Wenn ich aber Ihr Ehrenwort erhalte?“ fragte Frohn, das seinige ebenfalls leerend und, als Trenck die beiden Gläser wieder voll schenkte, in beide etwas von seinem Elixir tröpfelnd.
„Mein Ehrenwort wird der Camerad nicht erhalten,“ versetzte Trenck, in seiner Erhitzung nach dem Glase greifend und es hinunterstürzend.
„Aber,“ fiel Frohn ein, „wenn ich es erhalte, so werden Sie zeigen, daß König Joseph Recht hatte, und daß es Ihnen heilig ist.“
„Daran wird der Camerad nicht zweifeln,“ murrte Trenck, „oder ich müßte ihn vor die Klinge fordern!“
„Nun wohl, mein Herr Oberst von der Trenck, so sind wir beide morgen auch zusammen auf dem Wege nach Wien,“ antwortete Frohn.
„Wie ist das zu verstehen? Was heißt das?“
„Weil der Herr Camerad mir sein Wort geben wird.“
„Tollheit!“
„Innerhalb der nächsten Viertelstunde.“
„Ich? daß ich mit dem Oberstwachtmeister nach Wien reiten werde? Den Teufel werde ich thun!“
„Wollen Sie meine Gründe hören?“
„Larifari – der Herr Camerad hat meine Antwort auf seine diplomatischen Aufträge gehört, jetzt ist genug über die Sache geschwatzt … Was ich gesagt habe, kann er in Wien bis auf die letzte Sylbe wieder berichten, ich scheer’ mich den Henker darum – und nun mag er gehen und sich auf’s Ohr legen, es ist Schlafenszeit!“
„Noch nicht, ich habe noch einige Worte zu sagen, um zu Ende zu kommen.“
„Ich meine, ich habe genug Unsinn gehört,“ fiel Trenck ein, „was hat der Camerad noch auf dem Herzen?“
„Oberst von der Trenck,“ entgegnete Frohn, indem er dem riesigen Mann mit dem abenteuerlichen Kopfe, der jetzt von Zorn und Wein geröthet doppelt unheimlich und wild aussah, ernst und fast drohend in die funkelnden Augen blickte – „Oberst von der Trenck, ich weiß sehr wohl, daß Sie sich sehr wenig aus ihrem Leben machen; Sie haben es mehr als hundert Mal in die Schanze geschlagen, wer wie Sie mit dreihundert Mann die Festung Budweis stürmt und ein ganzes Regiment Preußen darin zum Gewehrstrecken zwingt; wer ganz allein in eine meuterische Truppe hineinsprengt, und je dem vierten Mann den Kopf herunter haut, der betrachtet den Tod als ein Kinderspiel. Was mich angeht, so habe ich es freilich bis zu dieser Gleichgültigkeit nicht gebracht, und wenn ich auch im Felde und dem Feinde gegenüber als guter Soldat meine Schuldigkeit gethan habe, so ist es mir doch ein furchtbarer Gedanke, in der Kraft meiner Jahre plötzlich sterben zu sollen …“
„Aber zum Teufel, wie gehört das hierher – was ficht den Cameraden denn an?“ rief Trenck aus, indem eine gewisse Unruhe aus seinen unstät aufblitzenden Blicken hervorbrach.
„Es gehört sehr hierher,“ fuhr Frohn fort; „denn wenn der Oberst von der Trenck bei seinem Entschluß bleiben und mir sein Ehrenwort nach wie vor verweigern wird, so sind wir in ein paar Stunden oder noch früher Beide Leichen, er wie ich!“
„Hölle und Teufel,“ fuhr Trenck auf, „was soll das heißen?“
„Das soll heißen, daß wir Beide Gift genommen haben, eine ganz hinreichende Dosis, um ein Pferd zu tödten.“
„Gift!“ schrie Trenck, indem er entsetzt aufsprang und nach seinem Säbel griff.
„Gift!“ wiederholte Frohn, ebenfalls aufstehend, und mit ruhiger Hand, an der nicht das leiseste Zittern zu bemerken war, die kleine Krystallflasche, die vor ihm stand, zum Lichte erhob. „Ich habe dem Cameraden gesagt, daß dies ein Wundertrank wider alle Krankheiten sei und einen merkwürdig ruhigen und festen Schlaf verleihe; es verleiht den Todesschlaf! Hat der Oberst einen kunstverständigen Mann, einen tüchtigen Arzt in seinem Hauptquartier, so lasse er ihn herbeiholen; er kann es untersuchen … wenn es noch Zeit dazu ist – der Trank wirkt in einer bis zwei Stunden!“
Die Zeitungen brachten unlängst die Nachricht, der Kaiser von Rußland habe in Begleitung des Großherzogs von Weimar, der preußischen, württembergischen und hessischen Prinzen den berühmten Wald von Bialowicza besucht, und dort am 18. und 19. Oct. eine Jagd abgehalten. Da vielleicht nicht vielen Lesern der Gartenlaube die eigenthümliche und interessante Beschaffenheit jenes Waldes bekannt sein möchte, so unternehmen wir es gern, mit ihnen eine Reise in den einzig noch bestehenden europäischen Urwald zu machen.
Wir besteigen in Berlin die Ostbahn und lassen uns in etwa 24 Stunden den ganzen, 100 deutsche Meilen betragenden Schienenweg entlang führen. Von Stallupoenen oder Eidtkuhnen wenden wir uns dann südostwärts, durchfahren das an jener Stelle nur schmale Königreich Polen, sowie die Herrschaft Bialystock[1] und betreten die Grenzen des litthauischen Gouvernements Grodno. Dasselbe ist circa 630 Quadrat-Meilen groß, doch nur der kleinere Theil ist angebaut und von nur 500,000 Menschen bewohnt. Wir durcheilen fruchtbare Landstriche, denen aber verhältnißmäßig ein geringer Ertrag abgewonnen werden kann, da es an Arbeitskräften zur Gewinnung derselben, sowie an Absatzquellen und Fortschaffungsmitteln noch sehr gebricht. Alles um uns her ist waldlose Ebene, und wir staunen um so mehr, da wir hier undurchdringliche Waldungen erwartet hatten. Endlich taucht am Horizont ein langer dunkler Streifen auf, er wächst von Stunde zu Stunde und erweist sich bald als ein ungeheuerer Wald. Es ist der berühmte Wald von Bialowicza, der in einer Längenausdehnung von 7 und einer Tiefe von mehr als 6 deutschen Meilen vor uns liegt. Er bedeckt einen Flächenraum von etwa 30 Q.-M.
Dieser großartige Waldcomplex liegt ganz abgesondert für sich, ja man könnte ihn einer Insel vergleichen, so umgeben ist er von Feldmarken, Dorfschaften und baumlosen Haiden. Im Innern des [726] Waldes finden sich nur einige wenige Colonien, welche, wie die an den Außengrenzen befindlichen Ortschaften, nur von Forstbeamten und Jagdfrohnbauern der Krone bewohnt und der Forstpolizei unterthan sind. Der Hauptort und zugleich die älteste Ansiedlung mitten im Walde ist das Dorf Bialowicza, welches man erst von der Forst-Grenze aus nach einer halben Tagereise erreicht. Es liegt auf einem Hügel, zu dessen Füßen die Narewka (Nebenfluß der Narew) fließt, und besteht aus vielen rohen Blockhäusern und einem ebenfalls aus Holz ausgeführten Jagdschlosse, welches August III., König von Polen und Kurfürst von Sachsen, erbauen ließ.
Der ganze Bialowiczaer Wald ist in zwölf Abtheilungen oder Reviere getheilt, welche durch vierundzwanzig Fuß breite Gestelle von einander abgeschieden sind. Jedes Revier hat wieder seine Unterabtheilungen, und wie die Reviere von Oberförstern verwaltet werden, so werden diese von Unterförstern und vielen Jagd- und Waldbeamten geschützt. Die obere Leitung ist in den Händen eines Oberforstmeisters, welcher seinen Wohnsitz gewöhnlich in Bialowicza hat. Die Besoldung aller dieser Beamten, besonders der in den unteren Rangstufen, ist nur sehr gering. Was sie zu ihrem Unterhalt bedürfen, liefert ihnen der Wald, und ist ihnen die Jagd auf alle in demselben befindlichen Thiere, ausgenommen auf den Bison oder Auerochsen, völlig freigegeben. Dieser aber darf nur mit ausdrücklicher kaiserlicher Genehmigung erlegt werden, wie es in Preußen mit den Elenthieren ein gleicher Fall ist, die in den Forstrevieren und am kurischen Haff noch in ziemlich bedeutender Anzahl vorhanden sind. Auf die Bisonjagd kommen wir noch ausführlicher zurück, nachdem wir zuvor einen Blick auf den Wald selbst geworfen haben.
Auf die Vegetation in demselben hat die europäische Cultur noch nicht eingewirkt. Wir befinden uns in einem vollständigen Urwalde, in welchem die Spuren der Menschen noch gar nicht, oder doch nur in dem beschränktesten Maße erkennbar sind. Aber es darf nicht vergessen werden, daß dieser Urwald ein nordischer ist, daß er also einen ganz andern Charakter haben muß, als jene Urwälder auf der südlichen Halbkugel unserer Erde, die uns gewöhnlich bei dem Worte „Urwald“ vor der Phantasie schweben! Nur die im Norden Deutschlands einheimischen Waldbäume trifft man im Walde von Bialowicza an, und auch diese nicht einmal alle. So fehlt z. B. die Rothbuche (fagus sylvatica) gänzlich.[2]
Dafür aber erreichen die andern Bäume, ganz besonders die Kiefer, auf feuchten Stellen die Fichte, und von Laubhölzern die Eiche, die Linde, Hainbuchen, Birken, Ellern, Pappeln und Weiden ein unerhörtes Alter, eine an das Wunderbare grenzende Höhe und eine kolossale Stärke. Alle diese Holzarten kommen in der buntesten Vermischung vor, und finden sich von der verschiedensten Altersstufe und dem ungleichsten Umfange dicht neben einander. Hier hat ein Sturmwind mehrere alte Riesenstämme entwurzelt und zu Boden geschleudert. Wo sie hinstürzen, da sterben und verwesen sie auch! Ueber ihnen aber erheben sich Tausende von jungen Stämmchen, die im Schatten der alten Bäume nicht gedeihen konnten, und nun im regen Wetteifer nach oben streben, nach Luft, nach Licht, nach Freiheit. Ein jedes sucht sich zur Geltung zu bringen, aber doch können nicht alle das Gleiche erreichen. Bald zeichnen sich einige vor den andern aus, und einmal erst mit dem Kopfe oben, fangen sie an, sich breit zu machen, wölben eine prächtige Krone, und unterdrücken erbarmungslos die schwächeren Pflanzen, die nun traurig zurückbleiben und verkümmern, – denn hier heißt es gerade umgekehrt wie der Dichter singt: „Nicht Raum für Alle hat die Erde!“ Aber auch diese übermüthig Emporstrebenden werden einst in das Greisenalter treten, auch ihre Wurzeln werden von den Stürmen gelockert und herausgerissen werden, bis auch über ihren Sturz Freude unter dem jungen Nachwuchs sein wird, und dasselbe Spiel, derselbe Kampf beginnt.
Außerhalb der gebahnten Wege, welche der Jagd wegen in Ordnung gehalten werden, ist der Wald kaum zu betreten, nicht einmal an Stellen, wo die Bäume lichter stehen, da gerade dort ein dichter Unterwuchs von allen möglichen Straucharten wuchert. An andern Stellen hat der Sturm Hunderte von Bäumen umgebrochen, die so verworren über und untereinander liegen, daß selbst das Wild Mühe hat, sich durchzuarbeiten. Ab und zu gewahrt man allerdings bedeutende Lichtungen durch das Dickicht des Waldes schimmern. Schon glaubt man an der Waldesgrenze zu sein, oder doch eine Dorfschaft vor sich zu haben, – aber wenn man auf eine solche Lichtung zuschreitet, gewahrt man, daß sie ihre Entstehung einem Waldfeuer zu verdanken hat, welches sich in kurzer Zeit dies ungeheure Loch fraß, und dann genug hatte – denn menschliche Kräfte vermögen wenig oder nichts über die Gewalt des Feuers in diesen Riesenwaldungen. Alle acht bis zehn Jahre kommt durchschnittlich ein Brand von dieser Ausdehnung vor, – kleinere Waldbrände aber sind ganz an der Tagesordnung.
Der neueren Zeit, der Zeit des Dampfes und der Elektricität wird die Eigenthümlichkeit des Bialowiczaer Waldes kaum noch lange widerstehen! Vielleicht sehen wir schon nach wenigen Decennien daselbst eine regelmäßige Forstwirthschaft eingeführt, welche die ungeheuren Schätze, die der Natur dort noch abzuringen sind, der Krone Rußlands nutzbar machen wird.
So segensreich die Zugutemachung des Holzes für die ganze Umgegend von Bialowicza auch sein würde, – ein Stand würde dies doch aufrichtig beklagen. Ich meine die Jäger. Der Bialowiczaer Wald ist unseres Wissens der einzige Zufluchtsort und Sammelplatz von jagdbaren Thieren, welche außerdem in Europa theils gar nicht mehr, theils sehr vereinzelt auftreten, ja die man in solcher Anzahl und solcher Verschiedenheit in unserm Welttheile sicherlich nicht zum zweiten Male beisammen findet! Bei der zunehmenden Cultur, bei der nothwendig damit Hand in Hand gehenden Zunahme der Bevölkerung würde dieser echte „Thiergarten“ völlig vernichtet werden. Seine Bewohner würden die gestörte Ruhe und Abgeschiedenheit ihres Aufenthaltsortes schmerzlich vermissen, zum Theil freiwillig das Weite suchen, zum Theil vertrieben und ausgerottet werden, wie wir das überall gesehen haben, wo größere Waldungen dem Fortschritte der Civilisation dienstbar gemacht wurden!
Und was der Bialowiczaer Wald für den Jäger, d. h. für den wahren, tüchtigen, in allen Wildarten gerechten Waidmann, in seiner jetzigen, noch fast ursprünglichen Verfassung bietet, das wird aus dem Folgenden genugsam hervorgehen.
An Wildarten finden wir daselbst vor allen den Auerochsen (Urochs oder Bison), den Elenhirsch in großer Zahl, obwohl nur im Winter, da er im Sommer die benachbarten Brüche aufsucht, und den Bären in drei verschiedenen Gattungen. Sind das nicht schon drei Achtung erweckende Namen? Von den letztgenannten ist der mittelgroße braune am häufigsten, seltener der große schwarze und der kleine silbergraue. Der schwarze Petz lebt ausschließlich von Vegetabilien und Honig, doch sind auch die beiden andern nicht so furchtbar, als gemeinhin angenommen wird, da sie fast nur gefallenes Wild zerreißen, selten oder nie gesundes, und den Menschen nur in der Nothwehr angreifen. Roth- und Damwild ist sonderbarer Weise gar nicht vorhanden, und das Reh kommt verhältnißmäßig nur selten vor, vermuthlich wegen der Menge reißender Thiere, die ihm nachstellen. Schweine leben immer in Rotten von fünfzig bis sechzig Stück beisammen; Dachsbaue sind aller Orten zahlreich, und an Hasen, den gewöhnlichen, so wie den weißen, ist kein Mangel.
Der Wolf ist stark vertreten, und zwar findet er sich von der größten, fünf bis sechs Fuß langen Art. Er ist der Jagd sehr schädlich, da er den Wildkälbern nachstellt und jährlich eine bedeutende Menge derselben seinem Heißhunger opfert. Im Winter, und besonders wenn ein stärkeres Rudel – oft dreißig bis vierzig Stück – beisammen ist, wagt sich der Wolf sogar an Auerochsen und Elen, die er so lange umherjagt, bis es ihm gelingt, ein Stück von der Heerde abzutreiben, das dann stets sicher seine Beute wird.
Noch gefährlicher als der Wolf ist in dieser Beziehung der Luchs, der im Bialowiczaer Walde keineswegs fehlt. Er hält sich fast immer an den Waldsäumen auf, und lauert dort, zusammengekauert auf einem starken Baumast, auf das arglos vorüberschreitende Wild. Mit einem gewaltigen Satz stürzt er sich auf dasselbe, und tödtet es, indem er ihm die Kehle zerbeißt. Diese Methode gelingt ihm selbst bei größeren Thieren, besonders aber bei den Rehen. Springt er aber einmal fehl, so macht er keine Anstalt, das flüchtige Thier zu verfolgen, sondern sucht sich mürrisch einen andern Hinterhalt, in der Voraussicht, daß der nächste Angriff einen glücklicheren Ausgang haben werde.
Alle Arten von Wieseln und Mardern, früher auch der Zobel, die wilde Katze und natürlich Füchse, sind in Menge [727] vorhanden, und die Jagd auf diese Thiere gehört gewiß ebenso wenig zu den uninteressanten, als zu den ergebnißlosen, um so weniger als die Bälge, besonders der Marder und Füchse, einen recht bedeutenden Werth im Handel haben.
Das wilde Geflügel ist im Bialowiczaer Walde in jeder Art zahlreich vertreten, und in besonders großer Menge findet sich das Auer- und Birkhuhn, sowie die Schnepfe vor. Auch Rackelhähne gibt es, diese sehr seltene Spielart zwischen Auer- und Birkhähnen, welche von den Eingebornen „Skrzekot“ genannt werden, mit welchem Namen sie zugleich den Klang seiner Stimme bezeichnen, der, danach zu urtheilen, nicht eben sehr melodisch ist. Von Raubvögeln zeigt sich häufig der Steinadler, seltener der Geier. Bemerkenswerth ist noch das Vorkommen einer großen Schildkröte, deren Fleisch indeß wenig schmackhaft sein soll.
Unstreitig ist es aber das Vorhandensein des wilden Ochsen, was uns den Wald von Bialowicza ganz besonders interessant macht. In Betreff dieses Thieres ist bereits viel gestritten worden, und es hat sich in Folge dessen, besonders aber durch die Unverzagtheit unkundiger Schriftsteller, eine große Verwirrung der Begriffe eingeschlichen. Wir werden es versuchen, Einiges zur Aufklärung der Sache beizutragen, gestützt auf eine Autorität, wie es der ehemalige russische Oberforstmeister, Baron v. d. Brincken, sicherlich ist.
Der wilde Ochse hieß bei den alten Deutschen Wysent, bei den Griechen und Römern Bison. Die Polen nennen ihn Zubr, und wir bezeichnen ihn gewöhnlich mit Auerochse. Sein Körper ist mit kurzen weichwolligen Haaren bedeckt; dagegen ist die Stirn in ihrer ganzen Breite, der Nacken, der Höcker und die Kehle bis unter den Bauch mit langen Haaren bewachsen, die, besonders bei höherem Alter der Thiere, äußerst struppig und borstenartig sind. Im Sommer ist der Bison – wir werden fortan diese Bezeichnung wählen – hellbraun, im Winter dunkelbraun. Das Haar hat einen starken Geruch nach Moschus an sich, der sich im Winter dermaßen vermehrt, daß eine gar nicht überfeine Nase die Nähe des Bisons schon aus mehrere hundert Schritt Entfernung spüren kann.
Der Kopf des Thieres ist unverhältnißmäßig groß. Die Hörner stehen weit auseinander, sind kurz, halbkreisförmig gebogen, und von schwärzlicher Farbe. Einmal abgeschnitten, wachsen sie nie wieder. Die Augen sind sehr eigenthümlich, da die Pupille senkrecht steht und die Hornhaut schwarz ist. Geräth der Bison in Wuth, so treten sie aus ihren Höhlen und das Weiße wird blutroth. Die Muskelkraft des Thieres ist enorm, und seine Haut noch einmal so dick als die unseres Rindviehes.
Sehr wichtig für die Charakteristik des Thieres ist die festgestellte Thatsache, daß der Bison zwei Rippen mehr hat, als der gewöhnliche Ochse. Er besitzt deren 14 Paar, 8 regelmäßige und 6 kurze. Während die Muskulatur bei ihm sehr ausgebildet ist, sind Magen und Eingeweide ungewöhnlich klein. Das Gehirn riecht auch nach Moschus. Die Bison-Kuh gleicht dem männlichen Thiere sehr, nur ist sie etwas kleiner und nicht ganz so stark behaart.
Was die Dimensionen des Thieres betrifft, so theilt uns Brincken mit, daß der von ihm selbst im Bialowiczaer Walde erlegte Bisonstier, welcher nur mittler Größe gewesen, von den Hörnern bis zur Schwanzwurzel 7 Fuß und 9 Zoll gemessen habe. Der Kopf bis zur Schnauze war 1 Fuß 9 Zoll lang. Die Höhe des Thieres betrug 5 Fuß 1 Zoll. Die Breite des Kopfes ist gewaltig, und standen die Augen bei dem gedachten Stiere 1 Fuß 2 Zoll weit von einander entfernt, die Hörner aber 1 Fuß 7 Zoll. Der ganze Bison wog 11 Centner und 43 Pfund.
Im Sommer und Herbst suchen sich diese Thiere feuchte Orte auf und halten sich in Dickungen versteckt. Im Winter findet man sie dagegen meist im hohen Holze, wo sie alsdann in größeren Heerden beisammen sind. Nur die alten Stiere bleiben für sich allein. Während der Büffel bekanntlich eine große Vorliebe für das Wasser hat, geht der Bison nur höchst ungern hinein. Eigenthümlich ist es, daß der Bison im Sommer sehr scheu, im Winter keinem Menschen aus dem Wege geht. Es ist schon vorgekommen, daß Bauern lange warten mußten, ehe es dem Bison gefiel, den Fußpfad zu verlassen, auf dem sie einander begegneten und den er gänzlich sperrte.
Seine Nahrung besteht aus Baumrinde, Blättern, Knospen und Gräsern. Ein ganz besonderer Leckerbissen ist ihm die Rinde der Esche, welche er, zum großen Nachtheil dieser edlen Holzart, abschält, so weit er nur irgend reichen kann. Jüngere, biegsame Bäume reitet er, wie der Elenhirsch, nieder und vernichtet sie so gänzlich. Im Winter verzehrt er die Knospen der Laubhölzer, während er die der Nadelhölzer und des wilden Rosmarin – die Hauptnahrung des Elens – völlig unangefochten läßt. Im Herbst ist der Bison außerordentlich feist. Seine Brunstzeit fällt in den September und währt drei Wochen. Die alten Stiere finden sich dann bei den Heerden ein und kämpfen oft auf Tod und Leben mit einander. Die Kuh trägt neun Monate und setzt im Mai in tiefen Dickungen nur ein Kalb. In dieser Zeit ist sie ungemein böse, und geht jedem sich ihrem Lager Nahenden mit größter Wuth zu Leibe. Das Kälbchen kann sich zwei bis drei Tage lang nicht vom Boden erheben, nach Verlauf einer Woche aber ist es schon recht flink auf den Beinen, und begleitet die Alte auf ihren Wanderungen. Bis zum Herbste, wo dem Kalbe die Hörner wachsen, ist seine Farbe eine röthlich-braune, und erst nach sechs bis sieben Jahren ist es völlig ausgewachsen. Die Kuh soll 30–40 Jahre alt werden, der Stier aber bis 50 Jahre. Die Mehrzahl stirbt Alters, nachdem sie die Zähne verloren haben. Mit den reißenden Thieren besteht der Bison oft harte Kämpfe, aus denen er indeß gewöhnlich als Sieger hervorgeht, um seine Gegner dann mit den Hufen zu zerstampfen.
Eine Vermischung mit dem Rindvieh dortiger Gegend kommt nie vor. Der Bison scheint vielmehr eine große Antipathie gegen dasselbe zu hegen. Der Schriftsteller Gilibert erzählt in seiner Naturgeschichte des Bison, daß zwei eingefangene, etwa sieben Wochen alte Kälber das Euter einer gewöhnlichen Kuh, welche ihnen als Amme dienen sollte, durchaus nicht annehmen wollten, nicht einmal, als sie schon lange ohne Nahrung geblieben waren. Man versuchte es nun, sie an eine milchende Ziege zu legen, was sie sich ruhig gefallen ließen. Wenn sie aber gesättigt waren, stießen sie die Ziege, gleichsam verächtlich, bei Seite. Gegen das Haus-Rindvieh waren und blieben sie stets gleich wüthend, und als sich ihnen einige Jahre darauf ein Bulle zu sehr näherte, stießen sie ihn so gewaltig mit ihren Hörnern, daß derselbe nur mit knapper Noth sein Leben rettete.
Von den ihnen bekannten Menschen dagegen ließen sie sich außerordentlich viel gefallen, nahmen ihrem Wärter sogar das Heu aus der Hand und leckten sie zärtlichst. Fremde Menschen dagegen durften sich ihnen nicht nahen, und der Anblick rother Stoffe machte sie stets wüthend.
Flemming in seinem „vollkommener deutscher Jäger“ beschreibt das Fleisch des Bison als unverdaulich und schädlich. Brincken hingegen, der es mehrfach gegessen, rühmt es als saftig und wohlschmeckend, und meint, es habe große Aehnlichkeit mit dem Fleische unseres Rindviehes und dem Wildpret des Rothwildes, jedoch sei das Fleisch poröser. Die von demselben bereitete Bouillon riecht und schmeckt ein wenig nach Moschus.
Die Haut des Bison ist sehr werthvoll und wird vom Riemer und Schuhmacher gern verwendet. Es existirt in jenen Gegenden der Aberglaube, daß ein Gürtel von Bisonleder, von Frauen getragen, deren Entbindung erleichtern solle.
Die Anzahl der noch jetzt im Bialowiczaer Walde befindlichen Bisons wird sich auf 700 Stück belaufen. Diesen Wald verlassen sie niemals. Als die Herrschaft Bialystock noch preußisch war, gaben sich Forstleute daselbst die erdenklichste Mühe, die Bisons auch in ihren Waldungen einzubürgern, aber gänzlich ohne Erfolg.
Zum Leben gehört Muth. Er ist die Bedingung für glückliche Durchführung des praktischen Lebens, wie auch für sittliche Veredelung. Ist der Muth da, so ist auch schon die erste Hälfte der That geschaffen. Mit edler oder mindestens unschuldiger Gesinnung verbunden führt er in allen Beziehungen aufwärts, von einer Stufe des Gelingens zur andern. Fehlt aber der Muth, so [728] bleibt das Leben nicht nur ein überall gedrücktes, beengtes, sorgenvolles, sondern der Mensch wird auch, selbst bei bester Gesinnung, seinen höheren Lebensaufgaben unendlich Vieles schuldig bleiben. Er ist daher in allen Lagen des Lebens eine Grundbedingung des wahren Lebensglücks.
Gleich allen körperlichen und geistigen Kräften beruht auch der Muth auf organischer Grundlage, und zwar auf einer gewissen Festigkeit des Nervensystems, zunächst also auf Gesundheit. In kranken Tagen ist der Mensch muthärmer, als unter übrigens gleichen Umständen in gesunden Tagen, d. h. sein noch so starker und geübter Wille wird den Muth, wenngleich immer noch viel höher als beim ungeübten geistigen Schwächlinge, doch nie bis zu demselben Höhepunkte zu steigern vermögen, als ihm dies in gesunden Tagen gelingt. Dasselbe ist der Fall, wenn langedauernde Entziehung von Nahrung, von Schlaf, Ueberanstrengung der Kräfte, oder das Gegentheil, das Uebermaß von Nahrung, Schlaf und von Trägheit (Uebungslosigkeit) der Kräfte, sowie andere erschöpfende Einflüsse den Organismus geschwächt haben.
Bei all dem kann aber der gesündeste Mensch doch der furchtsamste, feigste Mensch sein, denn der eigentliche Muth wird erst erworben. Nächst jener organischen Vorbedingung gehört also, wie bei allen dem Willen unterworfenen Kräften, noch Selbstthätigkeit, Uebung hinzu, um in den Besitz des Muthes zu gelangen.
Wir wollen uns noch etwas klarer zu machen suchen, was wir unter Muth zu verstehen haben.
Wir meinen hier nicht den auf blinder Unkenntniß der scheinbaren oder wirklichen Gefahr beruhenden fälschlich so genannten Muth, auch nicht den auf niedrige oder rohe Ziele gerichteten oder den aller Ueberlegung baaren plumpen, tollkühnen Muth, denn den hat auch – der Mameluck, sondern wir meinen die wissentliche und überlegte Nichtachtung und Bekämpfung der Gefahr zu Gunsten höheres Strebens, den auf vernünftige und edle Zwecke gerichteten klarbewußten Muth. Muth ist die standhafte und für jedes edle Ziel thatbereite Willenskraft, also eine hohe Tugend und zugleich die Stütze aller übrigen Tugenden. Die mit schlechten Beweggründen verbundene Willensstärke ist Trotz oder Frechheit.
Von Natur ist der Mensch (also der rohe Naturmensch und das Kind) weder furchtsam noch muthig, d. h. er ist frei von gedachter Furcht, aber ohne activen, selbstbewußten, selbsthandelnden und schaffenden Muth. Er duselt in das Leben hinein, seinem blinden Instincte folgend. Auf einer höheren Lebensstufe angelangt, die Gefahren des Lebens erkennend und vielfach voraussehend, wird er entweder muthig oder er wird furchtsam, je nachdem er in der Kraft des Muthes sich übt oder nicht. Uebung ist die Mutter jeder Vervollkommnung. Die Uebung, Bildung, Kräftigung, Veredelung des activen Muthes fällt mit der des Willens (der Willensorgane des Gehirnes) zusammen.
Um muthigen Sinn in dem Kinde zu entwickeln, muß zeitig, schon im zartesten Alter begonnen werden.
Die erste und allgemeinste Vorbedingung für Entwickelung des muthigen Sinnes ist die, daß man das Feld vollkommen rein erhält vom Gegensatze des Muthes, von aller Art Furcht, Schreckhaftigkeit, weichlicher Empfindelei, übertriebener Scheu vor unangenehmen, aber an sich unschädlichen Sinneseindrücken, durch Anblick und Nähe gewisser Thiere, Geräusche, Temperaturdifferenzen u. s. w., sowie überhaupt von allen die geistige Kraft lähmenden Einflüssen. Vor Allem muß der natürliche passive Muth ungetrübt erhalten werden, ehe man an erfolgreiche Entwicklung des activen Muthes denken kann. Man darf die Furcht mit ihrem Gefolge nicht einziehen lassen. Des Kindes Seele ist ein weicher Boden. Jedes hineingeworfene Samenkorn haftet. Vor allen ist es das Samenkorn der Furcht, welches leicht und schnell haftet und die tiefsten, oft nie wieder austilgbaren Wurzeln schlägt, weil hier das Gefühl der noch vorhandenen Schwäche und der Mangel an Ueberlegung ausnehmend empfänglich macht. Furchterregende Eindrücke sind also die gefährlichsten Gifte für das kindliche Seelenleben.
Versetzen wir uns mit dieser Anschauung in die Kinderstuben, so machen wir darin meistentheils traurige Betrachtungen und finden hier den Keimboden von oft lebenslanger Erbärmlichkeit des Charakters, von Kleinmuth und aller Art Willensschwäche, von vorurtheilsvoller und abergläubischer Dummheit bei aller Aufklärung im Uebrigen, von sogenannter Nervosität, Hypochondrie, Hysterie etc. Hier sucht eine unverständige Wärterin durch weichliche (kraftnehmende statt kraftgebende) Hätschelei ihre verderbliche Affenliebe zu beweisen, dort – weil vernünftige Zuchtmittel im Hause unbekannt sind – durch Drohung mit schwarzen Männern und anderen Popanzen sich zu helfen oder durch Mittheilung von haarsträubenden Erzählungen, Gespenstergeschichten oder Märchen (die letzteren sind, auch wenn sie poetischen Werth haben, nur für Kinder des reiferen Alters am Platze) die Kinder zu amüsiren oder vielmehr – geistig zu vergiften. Wieder wo anders schrickt die nervöse Frau Mama bei unerwarteten Geräuschen oder bei Blitz und Donnerschlag in Gegenwart der Kinder heftig zusammen oder schreit laut auf, anstatt die Auffassung der Kinder nur für die Großartigkeit und Erhabenheit solcher und ähnlicher Naturphänomene zu gewinnen, etc. Solchen nervösen Müttern und unbedachten Eltern möchten wir zurufen: Wer seinen Kindern zu Liebe die eigenen Schwächen nicht beherrschen kann, der entziehe sich wenigstens in allen Situationen, die das Hervortreten solcher Blößen vermuthen lassen, soviel wie möglich dem Wahrnehmungskreise der Kinder, denn euer Beispiel ist es besonders, das sich in allen Beziehungen in der Seele des Kindes unauslöschlich abdrückt, so oder so!
Mit Fernhaltung der angedeuteten Furchteindrücke gehe die Forderung des eigentlichen activen Muthes, die Vornahme der Muthübungen, Hand in Hand, und zwar in sanfter Allmählichkeit den Kräften, der Altersstufe und vorausgegangenen Gewöhnung entsprechend, denn jeder natürliche Entwickelungsgang ist ein allmählich aufsteigender. Besonders gegen das reifere kindliche Alter, das 8., 10., 12. Jahr, treten die activen Muthübungen in den Vordergrund, während natürlich auch fernerhin noch auf mögliche Störungen durch Furchteindrücke geachtet werden muß, die, wenn sie ja stattgefunden, alsbald gründlich entwurzelt werden müssen.
Wenn das jugendliche Leben nicht durch Blasirtheit, Weichlichkeit, widernatürliche Etikette oder erdrückenden Schulzwang eingeengt wird, so bietet sich überall die reichste Gelegenheit zu entsprechenden Muthübungen: im jugendlichen Spiele, im Springen, im Klettern, in praktischen Leistungen aller Art, besonders wo es zugleich dem Wohle Anderer gilt, bei Knaben in harmlosen Kampfübungen etc.
Gebt den Kindern nur Freiheit unter elterlichem Auge, unterstützt und feuert an die schwachen und schüchternen, zügelt die übermüthigen – und der Muth wird in ihnen wachsen und reifen von einer bestandenen Probe zur anderen. Sie sollen, je älter sie werden, mehr und mehr die Gefahren des Lebens kennen, aber soweit möglich durch eigene Kraft abwenden und überwinden, nicht aber vor den überwindbaren fliehen, auch das unvermeidliche Ueberkommen unbesiegbarer Gefahren mit Festigkeit und Besonnenheit ertragen lernen.
Selbstverständlich wird bei allen Muthproben der Kinder auf gleichzeitige Besonnenheit und angemessene Vorsicht und da, wo es ernsten Gefahren gilt, auf die nöthige Eingrenzung des muthigen Sinnes zu achten sein. Nur ist dabei in Anschlag zu bringen, daß eine Menge von Gefahren, welche der verweichlichte, furchtsame und durch die Furcht geblendete und gelähmte Schwächling als solche noch betrachten muß, für den Muthigen, Entschlossenen, körperlich und geistig Gewandten in Wirklichkeit gar nicht mehr existiren, daß Muth, Gewandtheit und Sicherheit in Gefahren, denen ja selbst das bewachteste Leben stets ausgesetzt bleibt, eben nur durch Uebung erlangt werden, daß bei jedem Zusammenstoße im Leben der Muth an sich schon halber Sieg ist, und endlich, daß nach alter Lebenserfahrung – Gott den Muthigen am meisten beschützt.
Muth und Selbstvertrauen sind ja nicht blos wichtig als Schutz gegen Gefahren, sondern auch als die Haupttriebfedern aller Thatkraft, folglich der Lebensbestimmung überhaupt. Auf Entwickelung der eigenen Kraft ist das ganze menschliche Leben berechnet. Die Grundbedingungen dazu sind Muth und Uebung. Ihrer bedarf in vollstem Maße der Knabe, in einem nach dem Charakter der Weiblichkeit zu bemessenden Grade das Mädchen.
Wie Furcht, Kleinmuth und Aengstlichkeit die Lebenstüchtigkeit verringern, den Lebensgenuß auf jedem Schritte verbittern, Schwäche und Sünde zugleich sind, so ist umgekehrt der muthige Sinn der mächtigste Hebel für Lebenstüchtigkeit und Lebensglück. Dies erkennt Jeder, der nur ein wenig darüber nachdenkt. Er wird dabei aber auch herausfühlen, daß der muthige Sinn zugleich die Bedingung sittlicher Veredelung ist. Diesen letztgenannten und höchsten [729] Werth des muthigen Sinnes wollen wir uns durch ein paar Hinweise näher vor die Augen führen.
Ein Mensch, der sich einmal gewöhnt hat, die Bewährung des Muthes als unbedingten Ehrenpunkt in sich aufrecht zu erhalten und darin einen wesentlichen Theil seiner Würde und Selbstzufriedenheit zu finden, wird den Muth nach allen Richtungen hin zu bewähren suchen, sowohl in der Richtung auf den Kampf mit äußeren Hindernissen und Widerwärtigkeiten, als auch in der Richtung auf den Kampf mit den eigenen geistigen Mängeln, Schwächen und Fehlern. Er wird sich jeder Art von Kleinmuth, Verzagtheit, Schlaffheit, aber auch jeder Niedrigkeit der Gesinnung, der Falschheit, Heuchelei und besonders der Lüge schämen, denn ihm sagt sein Gewissen, daß die Lüge die allerverächtlichste Art der Feigheit ist. – Ferner: Wohl ist es hoher Muth, für Pflicht, Wahrheit, Recht und Ehre unter allen Umständen felsenfest zu stehen oder im heißesten Schlachtgetümmel kämpfend den Tod zu verachten. Aber ein noch höherer Muth ist die standhafte und nie murrende Erhebung über unabänderliche schwere und besonders durch ihre Dauer schwere Schicksale, der in den schwersten Lagen ausdauernde Muth. Wer aber den großen Schmerz, den großen Kampf siegreich bestehen will, der muß seine Kraft erst an den kleinen Schmerzen und Kämpfen geübt und gestärkt haben. So führt der Muth zu sittlicher Veredelung. Ein Mensch, von der besten und reinsten Gesinnung beseelt, aber dabei muthlos, wird, wenn es gilt die schwersten Proben dieser seiner Gesinnung zu bestehen, unterliegen, nur der muthige wird siegen. Der Steuermann und der Held bewährt sich nicht bei ruhiger See und im Frieden – da sind wir Alle Helden, – sondern im Sturme und Kampfe.
Die erzieherische Einwirkung wird also stets auf die Entwickelung und Befestigung eines solchen Sinnes gerichtet sein müssen, bei welchem zwar jede frevelnde Tollkühnheit und leere Muthprahlerei ausgeschlossen ist, dagegen, je nach den verschiedenen Anforderungen und Stellungen des Lebens, der würdige, sich über Alles erhebende Muth nie fehlen kann, wo ihn vernünftige, und besonders, wo ihn edle Zwecke verlangen.
Zur Erreichung dieses Erziehungszieles – der Heranbildung des auf Festigkeit des Nervensystems beruhenden edlen, festen Willens und Muthes, glücklicher Geistesgegenwart, schneller Entschlossenheit, rüstiger Thatkraft – ist aber durchaus erforderlich:
Erstens, daß dazu alle die oben angedeuteten tausenderlei kleinen Dinge fleißig benutzt werden, wozu sich im Laufe des täglichen Lebens gerade Gelegenheit finden läßt, und zwar in je entsprechender Weise schon vom zarten Kindesalter an. Denn wollt Ihr die Muthübungen erst den ernsten, wichtigen Fällen, den Fällen der Noth überlassen, erst von diesen Alles erwarten, so ist es zu spät. Der Affect des Augenblickes findet keinen vorbereiteten Sinn, wirkt betäubend und lähmt dadurch jede mögliche Selbsthülfe. Der hinterlassene Eindruck der Bestürzung, Schwäche und Hülflosigkeit vermehrt die Furcht, während der muthgeübte Mensch aus dem Bewußtsein gelungener Erhebung über den Affect und aus dem Bewußtsein der Fähigkeit, die Gefahr zu besiegen, neuen Zuwachs seines Muthes gewinnt.
Zweitens ist dazu erforderlich, daß man die Kinder des reiferen Alters mit Behutsamkeit und allmählicher Steigerung an starke und überraschende Eindrücke gewöhnt, hier und da in kleine, berechnete Gefahren verwickelt und soweit als möglich sich selbst helfen läßt. Aengstliche Eltern glauben sich durch möglichste Vermeidung jedes Risico’s am besten gegen Selbstvorwürfe zu wahren, bedenken aber nicht, daß sie durch Umgehung eines nur eingebildeten nächstliegenden Nachtheiles ihren Kindern einen sicheren und ungleich wichtigeren lebenslänglichen Nachtheil zufügen, daß sie durch Einflößung ihres ängstlichen Sinnes und dessen bleibende Fortwirkung eine weit schwerere Verantwortung, eine wirkliche Versündigung auf sich laden, daß die Aengstlichkeit an sich die größte Gefahr ist, daß der ängstliche Mensch Gefahren sieht, wo keine sind, und allen unausweichlichen wirklichen Gefahren weit eher zum Opfer wird, als der im muthigen Sinne geübte Mensch.
Nach Ueberschreitung des Kindesalters bedarf besonders der Jüngling noch fernerer und höherer Muthübungen. Die Zeit braucht Männer. Soll der Jüngling zum lebenstüchtigen Manne reifen, so darf die Schule der Männlichkeit nicht mangeln. Und doch, wie wenig bieten unsere modernen Lebensverhältnisse dazu Gelegenheit! Wie unauslöschlich dieser Drang der männlichen Jugend, in Muthproben sich zu bewähren und so männlich zu reifen – davon geben die Turniere der alten Zeit und die modernen Turniere (die Duelle der studirenden Jugend), welche trotz Gesetzesstrenge fortbestehen, ein Zeugniß. Mir scheint, daß weise Regierungen diesen edlen Drang, anstatt ihn ganz verkümmern oder auf Abwege gerathen zu lassen, vielmehr nähren und benutzen sollten zu gleichzeitiger Förderung des Gemeinwohles, z. B. durch Organisation von Rettungs-Mannschaften für Feuersbrünste, Ueberschwemmungsnoth und alle Art allgemeiner Unglücksfälle, von Schutzwehr-Mannschaften zur Erhaltung der öffentlichen Ordnung, zur Verwendung nach innen und außen u. dergl. – Körperschaften, die aus allen Kreisen der dem Militärdienste nicht unterworfenen Jünglings-Altersclasse zu bilden wären. Die Turnanstalten, welche hauptsächlich die Kraft und Gewandtheit entwickeln, würden, bei ihrer hoffentlich immer weiteren Ausbreitung, mit solchen Anstalten, die den Muth nach allen Richtungen hin entwickeln, trefflich zusammenwirken, um edlen männlichen Geist zum nationalen Gemeingute zu machen.
Freilich ist dabei stets im Auge zu behalten, daß auch die besten Einrichtungen des Staates nur dann gedeihen können, wenn sie von unten getragen und von allen Seiten entgegenkommend gefördert werden. Ein gesunder Staat baut und verjüngt sich nicht von oben herab, sondern von unten herauf, von der Wurzel, vom Boden der Familie aus. Von hier aus wollen wir, die Väter und Mütter, richtig und tüchtig bauen. Wir wollen an der soliden Grundlage des Staatsgebäudes unbeirrt und unverdrossen bauen. Wir bauen langsam, aber sicher und fest. Ob Diejenigen, welche den Bau von oben herab regieren, richtig bauen, wird dann davon abhängen, ob sie mit uns bauen. Wer von da oben mit uns baut, dem reichen wir vertrauensvoll die Hände. Ueber Alle von oben und unten richtet der Geist der Geschichte, der das ewig Wahre und Gute schließlich immer zum Siege führt, alles Andere wie hohle Spreu verweht – richtet der Geist, der das All durchdringt!
Wer von London, der größten Stadt auf der Erde, in seinen kleinen Geburtsort, einen germanischen „Gau“, zurückkehrt und den neugierigen Philistern von den ungeheuren Größen- und Massenverhältnissen dieser Englischen- und Welthandels-Metropolis erzählt, wird Anfangs zwar mit Staunen und Wunder angehört, aber hinterher findet sich immer bald ein gewisser Aerger ein, der unter Verhältnissen leicht bis zur Wuth gegen den „Aufschneider“ steigen kann. Die Meisten, die von London nach Deutschland kommen, haben derartige Erfahrungen gemacht. „Der will uns weiß machen, daß London so und so groß, daß es in London von dem und dem so und so viel gebe,“ heißt es. „Denkt er denn, weil er in London gewesen, daß er uns deshalb die Hocke so voll lügen kann, daß wir hier so dumm sind, daß wir hier in unserm respectvollen Kreisstädtchen so gut wie gar nichts sein sollen?“
Kurz, es ist eine kitzlige Sache, Kleinstädtern und Kleindeutschländern von London zu erzählen. Es ist dem Bewohner einer Stadt, um die man zwischen Kaffee und Abendbrod mit einer Pfeife oder Cigarre gemüthlich herum schlendern kann, schwer, oft unmöglich, sich genau zu denken, was ein Städte-Koloß mit drei Millionen Bewohnern, mit mehr Menschen, als man in ganzen Königreichen findet, Alles für Zahlen- und Größenverhältnisse bedingt. Man gibt die drei Millionen zu, ohne nur von einem Tausend eine klare arithmetische Vorstellung zu haben, erbost sich hernach aber leicht über die Zahlen, welche durch die Bedürfnisse dieser drei Millionen entstehen und sich daraus sehr leicht erklären. Geht man nun gar zur Beschreibung solcher Anstalten und Einrichtungen über, die nur durch die drei Millionen zusammengedrängter Menschen, nur in dem Mittelpunkte des ganzen Welthandels, [730] nur allein unter diesen nicht zum zweiten Male auf der Erde vorkommenden Verhältnissen möglich, nothwendig und wirklich wurden, so kann man in Schöppenstedt oder Buxtehude leicht herausgeworfen werden.
Alle Abende über 600,000 Gasflammen, alle Tage über 15,000 Omnibuse und Droschken, 17 große Eisenbahnhöfe mit mehr als hundert Stationen innerhalb Londons, Eisenbahnen über den Häusern und Straßen hin – das sind schon gefährliche Themata für den Londoner Deutschen in der Bürger-Ressource zu Posemuckel. Aber Eisenbahnen unter der Erde, unter den Häusern und Straßen Londons hin, unter dem ungeheuren unterirdischen Lebensadersysteme der Cloaken, Wasser- und Gasröhren und elektrischen Nervendrähte – das gilt für offenbare Aufschneiderei und Verhöhnung kleinstädtischer Philister-Weisheit. Außer und neben den unterirdischen Adern und Nerven, den Cloaken, Wasser- und Gasröhren, den elektrischen Drähten, den Eisenbahnen – noch ganze unterirdische gewölbte Straßen, 7 Fuß 6 Zoll, also hoch genug für den größten Mann, darin aufrecht umherzuwandeln, und 12 Fuß breit, neue Haupt-Cloaken als Pfort-Adern für den Abfluß alles Schmutzes von drei Millionen Menschen und aus einer halben Million von Küchen – der eine davon acht englische Meilen lang, 9 Fuß hoch und eben so breit, ein anderer zehn Meilen lang und 10 Fuß 6 Zoll hoch mit eben dieser Breite, ein dritter und vierter von ähnlichen Verhältnissen, unterirdische Riesenbauten, um den mehr als 300 Meilen langen, unter allen Straßen hinlaufenden, gemauerten, aus jedem Hause getränkten Abflußadern Auswege zu verschaffen.
Das sind allerdings fabelhafte, mit Nacht und Grauen, mit Unglaublichkeit bedeckte Wunder des unterirdischen London. Gleichwohl ist jeder Zoll davon massive, gemauerte Thatsache. Wer London über dem Steinpflaster kennt, wundert sich über diese unterirdischen Wunder höchstens insofern, als sie jetzt erst im Werke und Werden und nicht längst vollendet sind. Oben war längst kein Platz mehr, da ein Acker leerer Boden in der City schon vor Jahren mit 85,000 Pfund oder viel mehr als einer halben Million Thaler bezahlt ward, und der Raum auf den Straßen längst nicht mehr für die ewig rollenden und knatternden Millionen von Rädern und Pferdehufen hinreicht.
„Kann ich die Oberen nicht bewegen, nehm’ ich zum Acheron meine Zuflucht.“ Man baut also endlich ein London unter London. Wo das Pflaster so theuer ist, daß man durch Pflasterung mit purem Golde den leeren Boden nicht erkaufen kann, da bezahlt sich’s schon, sich unten durchzumauern. Andere wölben neue Eisenbahnen über den Häusern und Straßen und der Themse hin, so daß wir ein unterirdisches London entstehen und das überirdische sich nach allen Seiten erweitern und ausdehnen sehen.
Wir sehen uns zuerst das unterirdische an. Um zunächst eine Vorstellung von den Cloakenstraßen zu bekommen, brauchen wir nur zu bedenken, daß die drei Millionen Bewohner Londons in 3000 Straßen und 600,000 Häusern wohnen, und aus jedem Hause aller flüssige Unrath durch je zwei bis fünf Canäle in die Cloake der Straße abläuft, um durch letztere einem größeren Verbindungscanale zugeführt zu werden. Letztere münden wie Nebenflüsse in die großen Hauptströme der neuen 9 und 10 Fuß hohen, meilenlangen Abzugs-Passagen, die den zusammenströmenden Unrath dieser ungeheueren Menschenmassen und den Spülicht aller Köchinnen Londons nicht mehr, wie bisher, in die Themse, sondern weit hinaus in östliche Niederungen abführen, wo der auf jährlich 600,000 Pfund abgeschätzte Dung-Werth dieses „goldenen“ Paetolus extrahirt und in goldenen Weizen verwandelt werden soll.
Von der Industrie und dem Leben in diesen unterirdischen Straßen, den unzähligen Menschen und Hunden, die alle Tage in diese Schachte einfahren, um weggespülte silberne Löffel und goldene Ringe zu nehmen, wenn sie sie finden, sich sonst aber mit Knochen, Papierfetzen und sonstigen proletarischen Stoffen zu begnügen oder Ratten zu fangen (todt für Pasteten-Bäcker und sonstige Gourmandie, lebendig für die Rattenhetz-Clubs, acht Pence bis einen Schilling per Dutzend), ließe sich manch schauerliches Nachtstück componiren, was wir aber für diesmal der „geneigten“ Phantasie der Leser zu eigener Besorgung überlassen wollen. Wir haben diesmal vollauf mit oberflächlicher Besichtigung zu thun.
London wird auch in jedem Hause, jeder Küche mit reinem Wasser versehen. Neun Compagnien pressen täglich über 50 Millionen Gallonen reines, wenigstens filtrirtes Wasser durch hundertmeilige, unterirdische Eisenröhren in die Cisternen der Häuser, von wo es theils durch Küchen, theils durch „Water-closets“, nachdem es seine Pflicht gethan und gewaschen, gespült und sonst irgendwie gereinigt und sich selbst mit Schmutz beladen hat, durch die Cloaken, die auch alles Regen- und Straßenwasser durch unterirdische Canäle aufnehmen, wieder abläuft. So wird London fortwährend in allen architektonischen Poren durchwässert, gereinigt und gewaschen, wodurch die größte Stadt der Welt ungeachtet des Giftes und der Galle und der Pestilenzien, die es fortwährend producirt, zugleich eine der gesundesten wird. Genaue Vergleiche der Sterblichkeit vor und nach Einführung solcher Drainage haben ergeben, daß in ein und derselben Stadt nachher bei vermehrter Einwohnerzahl 15 bis 25 Procent weniger Menschen starben. So wichtig für die öffentliche Gesundheit ist die Art, wie die Städte, und nicht blos Menschen, sich der Reinlichkeit erfreuen.
Man denke sich die unterirdischen Adergeflechte, die täglich über 50 Millionen Gallonen reines Wasser in jedes Haus der drei Millionen Menschen liefern und noch viel mehr mit allem Schmutze und Unrathe dieser ungeheuren „Civilisation“ wieder abführen müssen. Neben diesen unterirdischen Eisen- und Steinadern laufen die Röhren der Gas-Compagnien, welche die 600,000 öffentlichen „Brenner“ alle vierundzwanzig Stunden mit 20,000,000 Cubikfuß Gas versorgen. Außerdem brennen in manchem einzelnen Laden mehr Gasflammen, als in einer ganzen deutschen Kleinstadt Straßenlampen. Es gibt Läden mit mehr Straßen, als in Treuenbrietzen oder in Flachsenfingen aufzutreiben sind. Zudem hat jedes anständige Privathaus seinen Kronleuchter mit je fünf bis zehn und mehr Gasbrennern. London ist oft heller bei Nacht, als am Tage. Privatim werden noch alle vierundzwanzig Stunden gegen 25,000,000 Cubikfuß Gas verbrannt. Dies muß Alles aus Kohlen geschwitzt und durch mehr als tausend Meilen Röhren (mit allen Privatröhren, die in die Häuser führen und darin in verschiedene Etagen und Räume) fortwährend in etwa eine Million Lampen und Brenner gedrückt werden. Welch ein Geäder unter diesem London! Die Gasströme beschäftigen noch Hunderttausende von unterirdischen Uhrwerken oder Gasometern, die auf einem Zifferblatte mit zwei Zeigern zu jeder Zeit angeben, wie viel Cubikfuß Gas seit der letzten Zahlung in jedem Hause verbraucht wurden, so daß die neue Rechnung sofort danach ausgefertigt werden kann.
Neben dieser unterirdischen Circulation des Wassers und der Gasluft in dem Adersysteme zucken aber auch entsprechende Massen von Nerven, die Stadt- und Landes- und unterseeischen Telegraphendrähte, welche sich zugleich je 10 bis 30fach an allen Eisenbahnen oben, und für Stadtpost-Zwecke über den Häusern und Straßen hinziehen. Das elektrische Stadtpost-System ist noch im Werden. Wir haben früher einmal auf dessen Wesen und Umfang hingewiesen.
So haben wir bis jetzt die Riesenwerke der Cloaken und der Wasserversorgung, der Gasadern und der Telegraphen-Nerven unter dem Pflaster Londons. Dazu kommen nun aber nicht nur Eisenbahnen unterhalb aller dieser unterirdischen Labyrinthe, sondern auch noch eine ganz neue Art von Untergrund-Bauten, die „Sub-Wege“ genannt werden.
Bis jetzt ist Eine unterirdische Eisenbahn in Angriff genommen und über die Hälfte vollendet. Sie verbindet die beiden großen Eisenbahnhöfe der West- und der Nordbahn und dehnt sich als ungeheueres Gewölbe für doppelte Schienen etwa 3 Meilen lang unter dem nördlicheren Theile Londons hin. Für diejenigen, welche Localkenntniß oder eine topographische Karte Londons haben, fügen wir hinzu, daß sie größtentheils unter der New Road hin die „Great Western“ in Paddington mit der „Great Northern“-Eisenbahn (mit dem großen Bahnhofe in King’s Croß) verbindet. Weitere Ausdehnung nach der City etc. wird beabsichtigt, ist aber noch nicht endgültig beschlossen.
Als der Tunnel unter der Themse hin gegraben wurde, war alle Welt voll Staunen über dieses tollkühne Unternehmen. Von der jetzigen unterirdischen Eisenbahn wird nicht viel Wesens gemacht, obgleich sie viel mehr Unternehmungsgeist, Capital und gigantisches Maulwurfstalent in Anspruch nimmt. Welche ungeheuere Erd-, schwere Lehm- und Thonmassen mußten aus der Tiefe herausgeschafft und von der Oberfläche, wo sie sich nicht häufen durften, entfernt werden, um den kolossalen Raum für den Doppelschienenweg unten zu gewinnen! Und diese Gebirge von Mauersteinen, [731] um diesen Raum drei Meilen lang zu sichern und zu wölben! Da auch die Cloaken- und andere riesige Mauerbauten fabelhafte Massen von gebrannten Steinen verschlangen, läßt sich leicht erklären, daß das Tausend schlechtester Mauersteine von 18 auf 40 Schillinge stieg und sie auch für diesen Preis nicht immer leicht zu haben sind.
Und nun noch die gemauerten Maulwurfsgänge der „Sub-Wege“! Sie dienen blos dazu, das unterirdische Adersystem unter Aufsicht und in Ordnung zu halten und Raum für Reparaturen zu sichern, für welche bis jetzt immer das Steinpflaster aufgerissen und der Boden aufgewühlt werden muß, sodaß die Straßen, ohnehin längst zu enge für den gedrängten Wirrwarr des Verkehrs, oft ganz gestopft werden. Die Sub-Wege enthalten an ihren Seiten und auf ihrem Boden die Wasser-, Cloaken- und Gasröhren und elektrischen Verbindungs-Drähte, sodass sie unmittelbar zugänglich sind und bleiben und jede Aenderung und Reparatur vorgenommen werden kann, ohne die Oberwelt, das Steinpflaster, den Verkehr zu behelligen. Bis jetzt ist erst Ein solcher Sub-Weg im Werke, 7 Fuß 6 Zoll hoch und 12 Fuß breit. Die Länge ist noch unbestimmt, da er sich natürlich mit der Zeit an andere, die noch ausgewählt und gemauert werden, anschließen muß.
Viele Meilen lange Cloaken-Passagen, groß genug für Pferd und Wagen, Hunderttausende von Meilen in den Verbindungs-Cloaken, Wasserröhren, Gasadern und Telegraphen-Nerven – das ist eine respectable Londoner Unterwelt mit mysteriösen, schauerlichen Aus- und Eingängen und Fallthüren – vielleicht bald neuer Tummelplatz nicht blos für Ratten, sondern auch für Noth und Verbrechen und schauerliche Roman-Scenen. Aber diese neue Unterwelt reicht lange nicht hin, um dem Londoner Verkehre auf den Straßen die nöthigen Auswege und Lungenflügel zu verschaffen; man muß auch fortfahren, hoch über den Häusern, Straßen und Themsefluthen meilenlange Bogen zu schwingen, um wüthende, schwer beladene Locomotiven darüber hin rasen zu lassen. Es sind nicht weniger als sechs Eisenbahnverlängerungen über die Häuser- und Straßen-Labyrinthe hin citywärts im Werden, aber erst eine im Werke und halbvollendet. Sie führt vom Westende unweit des Buckingham-Palastes der Königin über die Themse und einen der verrufensten, elendesten Stadttheile hin nach dem großen Südost-Eisenbahnhofe jenseits der London-Brücke, wo 64 Schienen neben einander liegen, um den immerwährend kommenden und gehenden Eisenbahnzügen nach und von den verschiedensten Gegenden – besonders Krystall-Palast und Dover – Raum zu gewähren.
Als man in dem verrufensten Stadttheile drüben im Süden – dem Buckingham-Palaste und der stolzesten Aristokratie gegenüber – Häuser niederriß, um für die Brückenbogen der Eisenbahn Fundamente zu schaffen, wurden Arbeiter an der aufsteigenden Pestluft und dem sich enthüllenden unsäglichen Elende zwischen verfaulten Hütten und Löchern öfter krank und mußten entfernt werden. Die sich kühn hinschwingenden Mauerbogen der überirdischen Eisenbahn schafften dem Lichte und der Luft und den civilisirten Menschen zum ersten Male Zutritt in diese schauerliche Schattenwelt von moralischem und physischem Elende. Ohne Localkenntniß haben die übrigen projectirten überirdischen Eisenbahnen kein besonderes Interesse. Wir erwähnen sie nur, um die Vorstellung von den Communicationsmitteln Londons zu vervollständigen. Die Tausende von Omnibus, Droschken, Lastwagen und Equipagen auf den Straßen, die immerwährend kommenden und gehenden (größtentheils überirdischen) Local-Eisenbahnen, die auf der Themse wie Schwalben umherfliegenden Dampfschiff-Omnibus (von ½ Penny an pro Person) – das sind eben alte bekannte Dinge. Neu für diesen Verkehr auf dem Steinpflaster sind nur die Eisenschienen für pferdegezogene Omnibus-Waggons, wie sie sich auf den breiten Straßen amerikanischer Hauptstädte vortrefflich bewähren. Für die engeren, gewundenen und verkehrsüberfüllten Straßen sind sie noch eine brennende Frage, die ein Amerikaner eben durch Legung von Schienen zu beantworten sucht, während Presse, Publicum und Local-Obrigkeiten noch über deren Zulässigkeit und Nutzen streiten. London ist das concentrirteste, sich am leidenschaftlichsten reibende und kolossalste Leben der modernen Civilisation und ihres Verkehrs. Deshalb treibt es aus innerster, unnatürlichster, allmächtiger Nothwendigkeit Blüthen und Früchte, welche den in der ganzen Welt der Eisenbahnen sich immer weiter entwickelnden Proceß der Concentration – des Blutandrangs in großen Städten – am vollendetsten abspiegeln und den Sehenden warnen, ihm wenigstens die Zukunft zeigen mögen.
Mit Benutzung neuer Mittheilungen des Herrn Archidiaconus A. W. Müller in Meiningen, von A. Diezmann.
An einem der ersten Tage des December 1782 kam ein Reisender mit dem Postwagen in Meiningen an und erkundigte sich da nach einem Dorfe. Man sagte ihm, daß es zwei Stunden südlich von der Stadt liege, und zeigte ihm den dahin führenden Weg. Auf diesem schritt er alsbald rasch dahin, weil es schon ziemlich spät war, wohl auch um sich zu erwärmen, denn es hatte tüchtig gefroren und der Schnee lag hoch auf den Bergen und in den Thälern, der Wanderer aber war nur mit einem gestreiften dunkelgrünen Sommerrocke, mit leichten gelben Beinkleidern, Strümpfen und Schuhen bekleidet. Auf dem Kopfe, an dem sich vorn zu beiden Seiten der Stirn große steife Locken, hinten aber ein langer Zopf befanden, trug er einen kleinen dreieckigen Hut. Uebrigens war er noch jung, von hoher, schlanker Gestalt, sah aber leidend und ernst aus. Das Glück hatte ihn offenbar nicht begünstigt, denn er führte neben seiner ungenügenden Kleidung nur noch einen schmächtigen Mantelsack bei sich. Als er das Dorf Maßfeld erreicht hatte, erkundigte er sich nochmals nach dem Ziele seiner Wanderung, denn nun begann es bereits zu dunkeln, und der Weg lief nach einem Walde zu. Am Fuße der Eulskoppe trat der Wanderer aus dem Walde wieder heraus und unfern vor ihm begannen Lichter aus den kleinen Fenstern der Häuser eines Dörfchens zu schimmern. An dem ersten dieser Häuser fragte er, ob er in Bauerbach sei, und auf die bejahende Antwort ließ er sich zu dem Gutsverwalter Voigt führen, der zugleich wohlbestallter Schulmeister war, und in dessen Stübchen er mit den Worten trat:
„Ich bin Dr. Ritter und bringe Briefe von der Herrschaft.“
„So heiße ich Sie willkommen, Herr Doctor. Wir erwarteten Sie, denn die gnädige Frau hat Sie bereits angemeldet und uns empfohlen. Kommen Sie! Drüben im Herrenhause ist ein Stübchen für Sie eingerichtet. Ihr Bett steht bereit, und einheizen ließ ich auch.“
Und der Mann ging mit dem Fremden nach dem sogenannten Herrenhause, in dessen Hofe die Knechte und Mägde zusammenliefen, um den erwarteten Unbekannten zu mustern, geleitete ihn mit Licht die Treppe hinauf und in ein niedriges Stübchen, das behaglich durchwärmt war.
„Nun machen Sie es sich bequem,“ sagte der Verwalter im Fortgehen. „Ich werde für Abendessen sorgen.“
Mit einem tiefen Seufzer sank der Fremde in den Lehnstuhl, und überließ sich Gedanken, wie sie ein – Flüchtling haben mag, der wenigstens für einige Zeit eine sichere Stätte gefunden zu haben glaubt; denn ein Flüchtling mit falschem Namen war der einsame Wanderer, den wir mitten im Winter in dem abgelegenen Walddorfe Bauerbach ankommen sahen, – der damals dreiundzwanzigjährige Dichter der „Räuber“, Friedrich Schiller.
Er war bekanntlich am 18. Sept. 1782 aus Stuttgart wegen der Verfolgung, die ihm seine „Räuber“ zugezogen, und weil ihm der Herzog untersagt hatte, ein anderes Theaterstück zu schreiben, nach Mannheim entflohen, wo sein Erstlingswerk so großen Beifall gefunden und wo er sich von seinem „Fiesco“ noch viel mehr versprach. Aber diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Nachdem man ihn lange hingehalten hatte, gab man ihm seinen „Fiesco“ als unbrauchbar zurück. Seine geringen Geldmittel waren aufgezehrt, ohne daß sich eine Aussicht auf die Erwerbung neuer zeigen wollte. Es blieb ihm also in seiner Noth nichts übrig – zumal er fürchtete, [732] sein Herzog werde ihn verfolgen und fangen lassen – als weiter zu fliehen, und deshalb von dem Anerbieten einer edlen Frau, der Mutter seines ehemaligen Mitschülers Wilhelm v. Wolzogen, Gebrauch zu machen, die schon von seiner Flucht aus Stuttgart benachrichtiget gewesen war, und ihm damals für den Nothfall ihr Dorf Bauerbach bei Meiningen als Zufluchtsstätte zur Verfügung gestellt hatte, obgleich sie fürchten mußte, den Herzog zu erzürnen, wenn er Nachricht davon erhalte, da vier ihrer Söhne sich auf der Karlsschule befanden, und sie selbst deswegen meist in Stuttgart wohnte. Er erinnerte sie jetzt in der That an ihr Versprechen, und sie ließ alsbald, wie wir gesehen haben, Vorbereitungen zu seiner Aufnahme treffen, meldete ihm auch, daß sie selbst zu Neujahr auf einige Tage nach Bauerbach kommen werde.
Um wenigstens die Mittel für die in damaliger Zeit gar nicht unbedeutende Reise zu erlangen (man fuhr von Frankfurt a. M. nach Meiningen 45 Stunden), überließ er dem Buchhändler Schwan in Mannheim seinen „Fiesco“ für ein Honorar von 10 Louisd’or.
Seine glückliche Ankunft meldete er bald nach derselben seinen Freunden in Mannheim und Stuttgart. War es ihm doch zu Muthe „wie einem Schiffbrüchigen, der sich aus den Wogen gekämpft hat“. „Das Haus meiner Wolzogen ist ein recht hübsches und artiges Gebäude, wo ich die Stadt gar nicht vermisse. Ich habe alle Bequemlichkeit, Kost, Bedienung, Wäsche, Feuerung, und alle diese Sachen werden mir von den Leuten des Dorfes auf das Vollkommenste und Willigste besorgt.“
Ruhig und sicher durfte er sich allerdings fühlen, denn er befand sich auf reichsritterschaftlichem Boden, wo die Polizei eines Herzogs von Württemberg nichts vermochte, abgesehen davon aber war der Aufenthalt nichts weniger als angenehm. Die von Hügeln, Wald und Wiesenthälern durchzogene Gegend gewährte zwar einen freundlichen Anblick, aber sie war rauh und ziemlich unfruchtbar. Das Dorf mit den meist kleinen Häusern hatte, wie die fast sämmtlich von dem herrschaftlichen Gute abhängigen Bewohner ein ärmliches Aussehen. Unter diesen Bewohnern befinden sich heute noch wie damals viele Juden. Das sogenannte Herrenhaus selbst war sonst das ansehnlichste Bauernhaus gewesen, erst vor kurzem von der Gönnerin Schiller’s, der Wittwe des geh. Legationsrathes Ludw. v. Wolzogen, angekauft und soweit wohnlich eingerichtet worden, daß sie einige Tage darin sich aufhalten konnte, wenn die Verwaltung des Gutes, die sie als Vormünderin ihrer Kinder zu führen hatte, ihre Anwesenheit erforderte. Es steht heute noch ziemlich unverändert und bildet einen langen, schmalen Bau mit der Giebelseite[3] der Dorfstraße zugewendet, die noch im Anfange des jetzigen Jahrhunderts fast das ganze Jahr hindurch grundlos und kaum passirbar war. Die Hauptlangseite sieht in den Hof, die Rückseite nach dem Garten des Nachbars. Hinter dem Hause befinden sich Scheuer und Ställe. Ein großer Garten fehlt nicht und in dem nördlichen Theile desselben steht eine Laube, in welcher Schiller im Frühling zu sitzen und zu arbeiten pflegte. Sein Stübchen selbst befand sich auf der Rückseite des Hauses, und in das anstoßende Schlafcabinet führte eine rundbogige Thür. Heute noch enthält es sechs Stück, die zu seiner Zeit sich darin befanden: einen Lehnstuhl nämlich, einen auf einem gewundenen Fuße stehenden Tisch, an dem er arbeitete, ein hölzernes Tintenfaß, zwei Bilder an der Wand und einen Ofen mit Messingverzierungen in Rococogeschmack.
Den ganzen December über kam er selten aus diesem Stübchen, wahrscheinlich nie aus dem verschneiten Dorfe heraus. Von den Bewohnern lernte er zu dieser Zeit nur wenige kennen, außer dem Verwalter und seinem nächsten Nachbar, Martin Flock, sowie dem Wirth zum braunen Roß, Debertshäuser, der ihm das Essen lieferte und gegen den er sich nur über das zu oft wiederkehrende [733] Sauerkraut beschwerte, nur den Juden Mattich, den er wegen seiner ziemlichen Bildung und seines gesunden Mutterwitzes gern sah und mit dem er bisweilen das damals in Bauerbach beliebte Kartenspiel „Sechs-Männchen“ spielte. Die Frau des Juden sah freilich den Umgang ihres Mannes mit dem Unbekannten sehr ungern, ja sie machte ihm häufig darüber Vorwürfe. „Was läufst Du zu dem Chattes (Lump)?“ zankte sie. „Geh lieber Deinen Massematten (Geschäften) nach.“ Der brave Jude aber antwortete seinem keifenden Weibe: „Schwag’ mer still! Ich waß net, wie mer werd, wenn er mich ruft. Ich muß folgen. Er ist ein braver, ein gescheidter Ma, und mer weß doch och nicht, was dahinter steckt.“
Darüber, „was hinter dem Fremden stecke“, zerbrachen sich allerdings die Leute im Dorfe und in der nächsten Umgegend vergebens
die Köpfe. Die Wenigsten beruhigten sich bei der Mittheilung des Verwalters. Dr. Ritter sei ein naher Verwandter der Gutsherrschaft; die Meisten glaubten, er stamme aus Baiern, halte nicht viel auf Religion und habe deshalb sein Vaterland verlassen müssen. Daß er den ganzen Tag und meist bis tief in die Nacht hinein las oder schrieb, kam schnell unter den Neugierigen herum, und deshalb galt er allgemein für einen „gescheidten Ma“. Er hatte, wie er selbst in einem Briefe erklärte, „entsetzlich viel zu arbeiten“, denn er wollte so schnell als möglich sein drittes Stück, „Louise Millerin“, vollenden, wie „Kabale und Liebe“ anfänglich heißen sollte. Gleichwohl sah er auch sehnsüchtig und in aufgeregtester Spannung der zu Neujahr verheißenen Ankunft der Frau von Wolzogen mit deren einziger Tochter entgegen, welche letztere auf das immer sehr empfängliche Herz des Dichters schon in Stuttgart, wo er sie gesehen, tiefen Eindruck gemacht hatte, zumal er glaubte, auch er sei ihr nicht gleichgültig. Charlotte v. Wolzogen zählte damals sechszehn Jahre und war zwar nicht eigentlich schön, aber blühend frisch mit besonders lieblichem Ausdruck in den Zügen und anziehend durch Milde und Anspruchslosigkeit.
Mit Entzücken flog er ihnen entgegen, wie er sich selbst ausdrückt, und als sie bereits am 3. Januar nach Walldorf, zu dem Bruder der Frau v. Wolzogen, Dietrich Marschalk von Ostheim, weiter reiseten, begleitete er sie, kehrte aber denselben Tag zurück, um am nächsten schon zu schreiben, daß er sie bald wieder besuchen werde. „Seit Ihrer Abwesenheit,“ sagte er in dem Briefe, „bin ich mir selbst gestohlen. Es geht uns mit großen lebhaften Entzückungen wie demjenigen, der lange in die Sonne gesehen: sie steht noch vor ihm, wenn er das Auge längst davon weggewandt. Er ist für jede geringeren Strahlen erblindet.“ Seine Beschützerin hatte ihn jedenfalls ersucht, ja recht sorgsam bedacht zu sein, daß man nicht erfahre, wer er sei, namentlich in Meiningen, wo man auf den seltsamen Fremden bereits aufmerksam geworden. Er versprach sofort Alles zu thun, was sie wünsche, um ihr keine Unannehmlichkeiten zu bereiten, und ging nicht nur bei seinen späteren Besuchen in Walldorf nicht durch Meiningen, das zwischen diesem Orte und Bauerbach liegt, sondern, ohne Rücksicht auf Weg und Wetter, gerade durch den Wald über Dreißigacker; er schrieb auch drei Briefe mit falscher Ortsangabe und falschen Nachrichten über sich und seine Pläne. Diese sollte Frau v. Wolzogen in Stuttgart im Nothfalle vorlegen, um seine Verfolger über seinen Aufenthalt irre zu führen.
Mehr aber als die Sorge um seine Sicherheit und um die Beruhigung seiner Beschützerin bewegte sein Herz die Leidenschaft der ersten Liebe zu Charlotte und – der Haß gegen die Adelsvorurtheile, die seiner Verbindung mit dieser entgegenstanden, wie der Louisens mit Ferdinand in seiner „Millerin“, in welchem Stück er seinem Bürgerstolze, dem damals noch in ganzer Starrheit herrschenden Adelsstolze gegenüber, bereits leidenschaftlichen Ausdruck gegeben hatte. Er fand aber gerade in jenen Tagen noch eine Gelegenheit, sein Herz in Bezug darauf, und zwar selbst direct gegen Frau von Wolzogen, zu erleichtern, und zwar in einem Gedicht, [734] das er auf die Bitte Charlottens zur Hochzeit ihrer Pflegeschwester Henriette schrieb. Die Mutter dieses Mädchens, die Frau des Feldscheerers Sturm aus Sangerhausen, war im Jahre 1752 ohne ihren Mann, ganz verlassen, nach Rohr bei Meiningen gekommen und da am 23. Juni von einer Tochter entbunden worden, welche Frau v. Wolzogen, damals noch Freifräulein Marschalk von Ostheim, aus der Taufe hob und später, der großen Noth der Mutter wegen, ganz zu sich nahm und erziehen ließ. Am 3. Febr. 1783 nun wurde dieses Mädchen mit dem Verwalter Schmidt in Walldorf getraut, und Schiller schrieb für sie das lange „Hochzeitsgedicht“, das er leider in seine Werke nicht aufgenommen hat, was um so mehr zu bedauern ist, da man keine lyrischen Erzeugnisse von ihm gerade aus dieser Zeit hat. Darin feiert er nicht blos die Liebe:
Wie schön ist doch das Band der Liebe,
Sie knüpft uns an das Weltgetriebe,
Auf ewig an den Schöpfer an.
Wenn Augen sich in Augen stehlen,
Mit Thränen Thränen sich vermählen,
Ist schon der süße Bund gethan.
Man erkennt auch in anderer Weise darin den Dichter von „Kabale und Liebe“, z. B.:
Wie mühsam sucht durch Rang und Ahnen
Die leidende Natur sich Bahnen;
Gefühl erstickt die Ziererei.
Oft drücken ja gleich Felsen bürden
Mit Seelenruh’ bezahlte Würden
Der Großen kleines Herz entzwei.
Dein Herz, das noch kein Neid getadelt.
Dein reines Herz hat dich geadelt,
Und Ehrfurcht zwingt die Tugend ab.
Ich fliege Pracht und Hof vorüber,
Bei einer Seele steh’ ich lieber,
Der die Empfindung Ahnen gab.
Dann unmittelbar in Bezug auf Frau v. Wolzogen:
Die Freundin, die dir Gott gegeben,
Ihr Adelsbrief ist – schönes Leben.
Den hass’ ich, den sie mitgebracht.
Leider gingen die Worte des Dichters:
So gehe denn zum Traualtare,
Die Liebe zeigt dir goldne Jahre,
nicht in Erfüllung, denn Henriette hatte schwere Zeiten der Noth und des Kummers zu ertragen. Ihr Mann verlor seine Stelle als Verwalter und starb, kümmerlich von einem kleinen Kramladen sich nährend, schon drei Jahre nach der Hochzeit. Ihr jüngerer, erst nach des Vaters Tode geborener Sohn, fiel Werbern in die Hände und konnte mit Mühe von einem dänischen Kriegsschiffe wieder losgekauft werden. Henriette selbst kam später, ganz verarmt, in das von den Herren von Marschalk gegründete Hospital und starb da am 3. Februar 1816.
In „Kabale und Liebe“ hat Schiller übrigens Manches benutzt, was während seines Aufenthaltes in Bauerbach in der Nähe vorging. So lernte er einen Kammerherrn von Stein in Nordheim kennen, der mit großem Aufwande lebte, sich gern „Fürst der Rhön“ nennen ließ und dem Kaiser das Grafendiplom mit der Bemerkung zurückgeschickt hatte, er wolle lieber ein alter Freiherr statt ein neuer Graf sein. Dieser Freiherr von Stein war Onkel und Vormund der beiden Schwestern Eleonore und Charlotte v. Marschalk-Ostheim. Beide verkuppelte er. Eleonore, ein junges blühendes Mädchen, mußte zu Ende des Jahres 1782, obgleich sie noch um ihren Bruder Fritz trauerte, der in Göttingen im Duell gefallen war, den alten weimarischen Kammer-Präsidenten v. Kalb heirathen, denselben, von welchem Goethe sagte, er habe sich als Geschäftsmann mittelmäßig, als politischer Mensch schlecht und als Mensch abscheulich benommen. Die jüngene Schwester Charlotte, mit der Schiller später in ein sehr vertrautes Verhältniß treten sollte, gab der Vormund 1783 an einen Officier v. Kalb. Welchen Eindruck solche Verkuppelung auf Schiller machte, sieht man daraus, daß er in seinem Stück Ferdinand ein Fräulein v. Ostheim antragen läßt, wenn wir auch nicht annehmen wollen, daß sein Hofmarschall v. Kalb den Namen von jenem Kammerpräsidenten erhielt. Selbst die Worte des Geigers Miller: „Der Leibschneider … das hat mir Gott eingeblasen – es kann mir nicht fehlen beim Herzog,“ sollen aus dem Leben genommen sein. Der Pfarrer Schmidt in Rohr nämlich hatte einen Bruder, der Leibschneider des Herzogs in Meiningen war. Wenn nun die Bauern in Rohr nicht gehorchen wollten, pflegte der Pfarrer zu sagen: „ich gehe zu meinem Bruder, dem Leibschneider. Es kann mir nicht fehlen beim Herzog.“ Diese Redensart war in der ganzen Umgegend fast sprichwörtlich geworden, und Schiller griff sie auf.
Die für ihn und seine Familie wichtigste Bekanntschaft war die des Bibliothekar Reinwald, welchen er am 13. Januar in Meiningen durch die Frau v. Wolzogen kennen lernte, die er dahin begleitet hatte. Reinwald war gerade noch einmal so alt als Schiller, ein Mann von Geist und vielen Kenntnissen, aber hypochondrisch und verbittert, weil er viele Jahre bei äußerst geringer Besoldung als Kanzlist hatte arbeiten müssen. Schiller schloß sich dem für alles Schöne und Gute leicht begeisterten Mann bald innig an, besprach sich mit ihm über allerlei Angelegenheiten, entdeckte ihm seinen wahren Namen und erhielt von ihm mancherlei Bücher, die ihm durch den strengen Winter leichter durchhalfen, namentlich solche, die er zu den Vorstudien für die neue dramatische Arbeit bedurfte, für welche er sich entschied, die Geschichte des Don Carlos. Die Hauptfolge aber, welche die Bekanntschaft der beiden Männer hatte, war die spätere Verheirathung Reinwald’s mit Schiller’s ällester Schwester Christophine. Reinwald lernte diese Schwester seines Freundes aus einem Briefe kennen, den sie an den Bruder geschrieben und in dem sie ihm in sehr verständiger Weise gute Lehren über Sparsamkeit etc. gegeben hatte. Auf Reinwald machte dieser Brief einen so tiefen Eindruck, daß er sich sofort hinsetzte und an das Mädchen in folgender Weise schrieb:
„Mademoiselle, ein besonderer Zufall macht mich so frei, an die Schwester meines Freundes diese Zeilen zu schreiben. Unter etlichen Papieren, die Herr Dr. Schiller nach einem Besuche bei mir hat liegen lassen, fand ich einen Brief von Ihnen. Es war wohl nicht blos Sorglosigkeit daran Schuld, sondern auch Vertrauen, denn ich glaube, daß er mich liebt. Ich fand in diesem Briefe, den ich gelesen und nochmals gelesen und abgeschrieben habe, so viel reines Denken und so viel herzliche, besorgte Wohlmeinung gegen Ihren Herrn Bruder, daß ich mich gefreut habe und schäme mich nicht, jeden Gedanken, der mir zu seiner Ausbildung und Glückseligkeit einfällt, mit Ihnen zu theilen etc.“
Nach einiger Zeit machte Reinwald eine Reise nach Schwaben, suchte Schiller’s Eltern auf, sah Christophine und bot ihr seine Hand an, die das verständige Mädchen auch annahm.
In den Januar des Jahres 1783 fällt außer dem schon oben erwähnten Hochzeitsgedichte ein politisch-satirisches Bänkelsängerlied von Schiller, zu dessen Verständniß anzuführen ist, daß der Herzog Georg von Meiningen in Folge einer Erkältung auf der Jagd erkrankt war, und mehrere Tage lebensgefährlich daniederlag. An [735] seinem Leben hing die Selbstständigkeit des Herzogthums. Wenn er starb, fiel es an Koburg. Auch war er sammt dem ganzen Hofe sehr beliebt, weil er mild regierte und für Kunst und Literatur sich interessirte. Koburg vernahm mit großer Freude die Nachricht von der Erkrankung des Herzogs, und machte bereits allerlei kriegerische Anstalten, um gleich nach dem gehofften Todesfalle das Ländchen besetzen zu können. Aber alle diese Vorbereitungen erwiesen sich als voreilige, denn der Herzog genas. Diese Ländergier nun verspottete Schiller in einem Liede, das Reinwald in den Meininger wöchentlichen Nachrichten ziemlich gemildert abdrucken ließ. Um zu zeigen, in welchem Tone es abgefaßt ist, mögen nur folgende Zeilen hier stehen:
„In Juda – schreibt die Chronika –
War Olim schon ein König,
Dem war vom Dan bis Berseba
Bald Alles unterthänig,
Und war dabei ein weiser Fürst,
Dergleichen selten finden wirst.
Nun wird erzählt, daß der König erkrankte und der Vetter auf seinen Tod hoffte:
Doch während daß der Vetter schon
Nach deiner Krone schielte
Und auf dem noch besetzten Thron
Schon Davids Harfe spielte,
Lagst du, o Fürst, beweint vom Land,
Noch unversehrt in Gottes Hand.“
Vom italienischen Kriegsschauplatze. König Ferdinand II. war ein Tyrann, das verkörperte Princip des Absolutismus, aber ein Tyrann von Geist und Energie. Er war Niemandes Werkzeug; Alles war Werkzeug in seiner kraftvollen und mächtigen Hand. Er hat viel für Neapel gethan. Als er die Regierung übernahm, war Alles in einem Zustande der Auflösung und des vollständigen Verkommens; aber Alles, was er geschaffen hat, schuf er für sich, zur Befestigung seiner absoluten Regierung und seiner Dynastie. Das Wohl des Landes stand bei ihm in zweiter, das Wohl der Unterthanen in gar keiner Reihe. Er baute prächtige Schlösser und Paläste und schuf feenhafte Gärten, um selbst darin zu wohnen, er schuf eine vortreffliche Armee von 137,000 Mann und eine Flotte von 149 Kriegsschiffen, um damit seine absolute Regierung gegen jeden Angriff zu vertheidigen, von welcher Seite er auch kommen möge. Um die Volksbildung kümmerte er sich gar nicht; für Anlegung von Schulen und Universitäten hatte er keine Mittel, oder vielmehr die absichtliche und vollständige Vernachlässigung der Volksbildung war ihm ein Mittel zu seinen Zwecken. Für Handel und Industrie hat er nichts gethan. Neapal hat weder Manufacturen noch Fabriken. Der Handel nach auswärts mit einheimischen Producten wurde möglichst erschwert, nicht befördert, denn alle commerziellen und industriellen Verbindungen des Landes mit andern europäischen Ländern stimmten mit der vollständigen Abgeschlossenheit, worein er das Land Neapel versetzt zu sehen wünschte, nicht überein. Handel und Verkehr befördern die Bildung des Volkes und bringen Ideen und Gedanken mit, welche seinen absolutistischen Regierungsprincipien schnurstracks entgegenliefen. Darum haßte der König alle industriellen und commerziellen Beziehungen mit dem Auslande. Am liebsten hätte er das Land mit einer so hohen chinesischen Mauer umzogen, daß selbst die Luft des Himmels hätte draußen bleiben müssen. Er baute deshalb weder Straßen noch Eisenbahnen. Alle Straßen im Lande sind in einem fabelhaft schlechten Zustande; durch ganz Calabrien, von Reggio bis Neapel, geht eine einzige Straße, und auch diese Straße wäre wahrscheinlich gar nicht vorhanden, wenn die Römer sie nicht vor zweitausend Jahren gebaut härten.
In Calabrien reist Niemand, wer nicht dringendst dazu gezwungen ist, und dieser muß sich zwanzig Mann Bedeckung mitnehmen, sonst ist er nicht sicher, todtgeschlagen oder wenigstens ausgeplündert zu werden. Alle die Geschichten, welche man von calabrischen Räubern erzählt, wie sie Reisende gefangen nehmen, sich nach ihren Verhältnissen erkundigen und hohe Summen für ihre Freilassung erpressen, sind wahr; sie sind noch heute an der Tagesordnung. In Sicilien gibt es außer der Straße von Palermo nach Catanea gar keine Straßenverbindung. Wer im Innern der Insel zu thun hat, kann nur zu Maulesel oder zu Pferde hingelangen, und auch dann nur unter sicherer Bedeckung. Ich habe einen Bekannten in Messina, der ein großes Gut im Innern der Insel hat, und es niemals sah. „Ich muß mich ganz auf meinen dortigen Intendanten verlassen, dem ich die Besitzung für eine gewisse Summe in Pacht gegeben habe,“ sagte er zu mir. „Es ist für mich zu mühselig, weitläufig und – auch gefährlich, selbst hinzureisen; ich habe es für einen Spottpreis gekauft; ich wollte, ich wäre es wieder los.“ Alles Korn, was zur Verschiffung in die Häfen nach Palermo und Messina gebracht wird, wird durch Maulesel dorthin befördert. Dem Maulesel werden drei Säcke Getreide aufgeladen; einen frißt er unterweges, der zweite wird gestohlen, nur der dritte kommt häufig an. Trotz alledem ist der Handel Siciliens mit Getreide und Südfrüchten bedeutend; so fruchtbar ist das Land. Die Römer nannten Sicilien bekanntlich schon die Kornkammer Italiens. Eisenbahnen gibt es natürlich in Neapel nicht. Die kurzen Eisenbahnsteige von Neapel nach Gaeta, Caserta, Pompeji und Salerno legte König Ferdinand einzig und allein aus selbstsüchtigen Zwecken an, um schnell nach seinen Lustschlössern und Festungen hinkommen zu können und um schnell Soldaten, Kanonen und Häscher nach Neapel bringen zu können. Neapel könnte die erste Handelsstadt Europa’s sein; seine Lage zwischen Afrika, dem Orient und dem Occident, seine vortrefflichen Häfen berechtigen es dazu, und Neapel ist als Handelsstadt ohne alle Bedeutung. Der Handel Neapels ist in Livorno und in Genua zu suchen. Neapel selbst hat kaum hundert Firmen von einiger Bedeutung, und die Inhaber dieser Firmen sind Deutsche, Franzosen und Engländer. Die Dampfschifffahrt zwischen Neapel, Messina, Palermo und dem Orient ist meistens in den Händen auswärtiger Kaufleute und Gesellschaften.
Persönlich war König Ferdinand ein jovialer und geistvoller Herr. Selbst seine persönlichen und politischen Feinde wissen nicht genug von seiner persönlichen Liebenswürdigkeit zu erzählen. In seiner Regierungsweise, in seiner Härte und Energie gegen seine Feinde war er ein zweiter Tiberius oder Nero. Jedes Gesetz war ihm gleichgültig; sein Wille war sein Gesetz. Die von ihm beschworene Constitution vom Jahre 1848 wurde niemals durch ein Gesetz abgeschafft; sie existirt rechtlich noch heute. Trotzdem ließ er gegen seine Feinde die Tortur und den Stock anwenden; er ließ die Verdächtigen ohne Urtel einsperren und hielt sie zehn Jahre lang im Kerker; schon der Ausdruck der Freude oder der Betrübniß auf dem Gesichte genügte, um Jemanden auf die Liste der Verdächtigen zu bringen. Er ließ die politischen Gefangenen, welche ihm lästig wurden, nach Amerika deportiren, obschon die Strafe der Deportation im neapolitanischen Gesetzbuch nirgends vorkommt. In einem seiner Deportationsdecrete sind die Namen von elf Personen vorhanden, welche schon gestorben waren, und unter sechszig, welche deportirt wurden, kamen fünf vor, welche ihre Strafe schon ganz verbüßt hatten. Gen. Massari, Mitglied des Turiner Parlaments, wurde in contumaciam zum Tode durch den Strick verurtheilt. Er bewies von Turin aus, daß eine Namensverwechslung stattfinde, daß er während der Zeit, wo er des Verbrechens des Hochverraths in Neapel angeschuldigt wurde, in Mailand gewesen sei. Das Alibi war unzweifelhaft; jeder Gerichtshof hatte es anerkannt; aber Massari blieb verurtheilt.
Als es zum Sterben ging, ließ der König seine Familie zusammenrufen und dictirte seinem eigenen Sohne, dem König Franz II., sein Testament selbst in die Feder. Dann ermahnte er alle Familienmitglieder, einig zu bleiben, und sprach zu ihnen die denkwürdigen Worte, die der greise Metternich einstens dem jetzt auch im Exil lebenden Großherzog von Tcscana schrieb: „Wenn wir Alle einig bleiben, können wir für immer zusammen in Italien bleiben; sonst holt uns alle zusammen der Teufel.“ Dann ließ er alle ersten geistlichen Würdenträger, welche in Neapel anwesend waren, kommen und erhielt die Sterbesacramente. Es fehlten Einige; da sagte der König: „Ich sehe, daß Mehrere fehlen; warum kommen sie nicht? sie werden doch wohl eine halbe Stunde übrig haben, um mich sterben zu sehen. Man lasse sie holen.“ Der Monarch behielt seine Besinnung bis zum letzten Augenblick. Derselbe ist übrigens nicht an der schrecklichen Krankheit gestorben, die man gewöhnlich als die Ursache seines Todes anzugeben pflegt. Ferdinand II. starb an der galoppirenden Schwindsucht, die sich bei ihm als Folge eines Fiebers eingestellt hatte, welches er sich durch Unvorsichtigkeit und Erkältung zugezogen hatte.
Sein Sohn Franz II., der jetzt in Gaeta eingeschlossene König, gleicht seinem Vater nicht im Mindesten. Er hat nichts von dessen Geist und Energie; er ist ein schwacher, kranker, halb schwachsinniger Mann. Man erzählt in Neapel furchtbare Dinge über die Ursache dieses körperlichen und geistigen Zustandes. Er sieht elend und kränklich aus, leidet an Nervenzucken, und kann nicht gerade stehen. Er geräth in Verlegenheit, wenn man ihn gerade ansieht und länger mit ihm spricht, tritt an’s Fenster und trommelt in seiner Verlegenheit auf den Fensterscheiben. „Was wird man im Auslande sagen, wenn Sie diesen Mann als einen König präsentiren?“ sagte der Gesandte einer großen auswärtigen Macht in Neapel zu einem von den Ministern kurz der dem Ausbruche der Revolution. Franz II. hat sich nach dem Tode seines Vaters in Regierungssorgen abgearbeitet; aber sein Geist ist zu schwach, um irgend eine Relation aufzufassen, geschweige denn eine Maßregel zu ergreifen. Seinem Vater war Alles Werkzeug zur Durchführung seiner absolutistischen Principien; er selbst war ein Werkzeug in den Händen seiner Stiefmutter und der Priester. Um ihn zu zerstreuen, verheirathete sie ihn. Die junge Königin von Neapel, eine Prinzeß von Baiern, ist eine Frau von Geist und Herz. Sie ist durch diese Heirath die unglücklichste Frau der Erde geworden, und ist sehr zu beklagen. Sie hat sich viel Mühe gegeben, den Geist ihres Mannes aufzurichten und ihn zu einem König zu machen. Bei seiner oft an Stumpfsinnigkeit grenzenden geistigen Schwäche war Alles unmöglich und vergeblich. Halbe Tage lang lag der König betend vor dem Bilde der heiligen Jungfrau. „Stehe doch auf,“ sagte sie zu ihm, „erinnere Dich, daß Du ein König bist; Du bist kein Mönch.“ Kurz nach der Verheirathung ging sie mit ihm am Meeresufer spazieren. Sie wurden von Bettlern umringt, welche um eine Gabe baten. Da zog der König seinen Geldbeutel heraus und suchte darin nach einigen halben Carlins. Die Königin riß ihm den Geldbeutel aus der Hand und warf alles darin enthaltene Gold entrüstet unter die Bettler. Der König fuhr oder ritt nie mit seiner Gemahlin aus; diesen Dienst übernahmen seine Brüder. Sein körperlicher Zustand ist zu schwach; er kann nicht längere Zeit zu Pferde aushalten. Die Königin suchte auf die Regierungsmaßregeln ihres Mannes Einfluß zu bekommen; alle ihre Bemühungen waren bei seiner geistigen Schwäche und bei der Macht, welche seine Stiefmutter und die Priester über ihn erlangt hatten, vergebens. „Ich sehe gar nicht ein, warum Du den Leuten dann durchaus keine Constitution geben willst; wir haben in Baiern auch eine [736] Constitution, und wir leben ganz gut bei dieser Constitution,“ sagte sie oft zu ihm. Ueber die in der Ebene von Sessa zwischen Gaeta und Capua stationirten Regimenter hat sie eine Revue abgehalten; er blieb in Gaeta – und betete vor dem Bilde der heiligen Jungfrau.
Daß einem so schwachen und schwachsinnigen Manne die Revolution bald über den Kopf wachsen mußte, ist natürlich. Die Königin hat sich alle mögliche Mühe gegeben, ihn zu bewegen, nach Calabrien zu gehen, als Garibaldi in Reggio landete, und sich an die Spitze der Truppen zu stellen. „Ich werde mit Dir zu Pferde steigen,“ sagte sie zu ihm, „und werde mit Dir fechten,“ aber Alles war vergebens. Später ermannte er sich etwas. „Indeß der Stoß war so gewaltig, die Revolution war in Neapel und Sicilien mit so großer Vorsicht und mit so vielen Mitteln vorbereitet,“ sagte zu mir ein sehr wohl unterrichteter Diplomat in Neapel, der die ganze Entwickelung mit angesehen hat, „daß selbst die Energie und der gewaltige Geist König Ferdinands nicht hätten widerstehen können. König Ferdinand hatte allen Ermahnungen des englischen, französischen und sardinischen Cabinets, ein Regierungssystem zu ändern, welches Gladstone mit Recht „die Negation Gottes“ nannte, das Gehör verweigert; dies entsetzliche Regierungssystem ist gefallen, indem englische, französische und sardinische Bemühungen mit vollem Rechte einem so gequälten Lande zu Hülfe kamen. Eine Revolution kann nicht gemacht werden, wenn der Stoff zu derselben fehlt; aber sie kann berbeigeführt werden, wenn so viel Zündstoff vorhanden ist, wie dies in Neapel der Fall war.
Die Garibaldi’sche Armee ist gut ausgerüstet, gut disciplinirt und von einem vortrefflichen Geiste beseelt. Die Nachrichten der Augsburger Allgemeinen Zeitung von einem Widerstand der Armee, von Opposition in derselben und namentlich von einer Opposition in den sicilianischen Truppen sind aus der Luft gegriffen, und kein Wort Wahres daran. Gerade die Truppen, welche kürzlich in Neapel ausgeschifft wurden, und welche aus Messina kamen, sind die Kerntruppen der Armee. Ich sah sie in Neapel einziehen und sah sie in den letzten Gefechten vor Capua. Sie schlugen sich vortrefflich, und die Begeisterung für ihren Führer war eine große und allgemeine. Es war Nachmittags drei Uhr. Ich stand mit dem Intendanten des General Türr im Schlosse von Caserta vor dessen Quartier. Einige Compagnien dieser sicilianischen Truppen kamen aus dem Gefecht zurück, welches seit Morgens acht Uhr gedauert hatte. Sie brachten ungefähr tausend Mann der neapolitanischen Truppen mit ihren Officieren als Gefangene in das Schloß, welche im Gefecht abgeschnitten waren. „Sehen Sie wohl, mein Herr,“ sagte der Officier französisch zu mir, „fast Alle sind Landsleute von Ihnen.“ – „Mein Herr,“ erwiderte ich ihm, „das ist ein Unglück für mein Vaterland.“ Die neapolitanischen Soldaten sahen sehr gleichgültig und dumm aus, und baten um Essen und Ruhe, wozu sofort die Anstalten getroffen wurden. Die Garibaldi’schen Truppen lagerten sich ganz ermüdet auf die Erde. Da kam Garibaldi mit seinem Stabe aus der Schlacht zurück. Auf einmal erhoben sich alle diese ermüdeten Menschen von der Erde, keiner von ihnen blieb liegen. Alle stürzten in den andern Hof und umringten unter dem Geschrei: „Viva Garibaldi, viva l’Italia!“ ihren General. Minuten lang dauerte das Rufen, das ganze Schloß schien von einem Freudentaumel ergriffen, Garibaldi stand auf der Freitreppe, welche zu seiner Wohnung führte, und dankte mit augenscheinlicher Rührung seinen tapfern Streitern. Es gelang mir erst nach einer Viertelstunde, durch die Massen hindurchzudringen, welche Mann an Mann gedrängt standen, um dem General einen Brief des General Cosenz zu übergeben. Garibaldi ist im eigentlichen Sinne des Wortes der Vater seiner Soldaten, welche in fast abgöttischer Verehrung an ihm hängen und deren Blut und Leben er unter Umständen schont, wo es kein anderer General thun würde.
Garibaldi ist momentan der erste und populärste Mann in Italien; er ist es nicht allein als Soldat, sondern auch „comme individu“, wie der Minister des öffentlichen Unterrichts in Neapel, dem ich durch Hrn. Imbriant, Poerio’s Schwager, empfohlen wurde, zu mir sich mit Recht ausdrückte. Er ist alt geworden in den letzten beiden Jahren, die Sonne Siciliens hat ihn sehr gebräunt; sein Haar beginnt grau zu werden. Er sieht älter aus, als er ist. Er hat drei Kinder; sein ältester Sohn dient unter ihm in der Armee, eine Tochter ist, wie man mir sagte, in Neapel, ein zweiter Sohn in einer Erziehungsanstalt in Liverpool. Garibaldi ist immer voran im Gefecht; er setzt sich mehr aus, als der General es thun sollte; aber er hat viel Glück. Wenn die Kugeln um ihn her einschlagen, bleibt er unversehrt. In Begleitung von nur fünf Mann seiner Officiere zog er in Neapel ein. „Mit Staunen habe ich dies angesehen,“ sagte zu mir ein sonst sehr conservativer neapolitanischer Bürger, „ein wohlgezielter Kartätschenschuß hätte ihn und seine ganze Begleitung zerschmettern können.“ Es ist dies ein Seitenstück zu seiner Einnahme von Varese. Garibaldi hat Varese eigentlich ganz allein genommen. Nachdem er die Oesterreicher über seine militärischen Bewegungen getäuscht und Verbindungen in der Stadt angeknüpft hatte, erfuhr er, daß Varese nur von einigen hundert Mann und einigen Officieren besetzt sei. Er ritt den Seinigen voraus und betrat die Stadt im Gefolge weniger Officiere. Er ließ sich in das Gebäude führen, wo die Oesterreicher einquartiert waren, und stieg die Treppe hinauf zu dem Zimmer, in welchem die Officiere saßen.
„Wer sind Sie?“ fragten ihn die österreichischen Officiere.
„Ich bin Garibaldi,“ erwiderte er, „und Sie, meine Herren, sind meine Gefangenen.“
Erstaunt und erschrocken ergaben sie sich. Sie glaubten den General von seiner ganzen Armee begleitet. Eine halbe Stunde später rückte eine Abtheilung der Alpenjäger in Varese ein und besetzte die Stadt. Garibaldi ist bekanntlich in Nizza am 4. Juli 1807 geboren; ist also jetzt 53 Jahre alt. Er ist ein Kind aus dem Volke; sein Vater war Fischer. „Garibaidi,“ sagte man mir in Neapel, und zwar von competenter Seite, „ist ein besserer Soldat, als er ein großer Taktiker ist.“ Ich bin natürlicherweise nicht im Stande, mir darüber ein Urtheil zu erlauben: aber das kann ich jedenfalls behaupten, Garibaldi ist der erste Soldat seiner Armee. Die Generale Türr, Nino Bixio und Oberst Rüstow gelten für die befähigtsten Officiere in der Armee, neben ihnen, vielleicht vor ihnen allen der Kriegsminister, General Cosenz, der eine außerordentliche Unerschrockenheit und persönlichen Muth mit großem Talent als Taktiker verbindet. Ich wurde dem General Cosenz durch den Minister des öffentlichen Unterrichts vorgestellt, und fand in ihm einen noch jungen Mann – er kann höchstens achtunddreißig Jahr alt sein – schlank, groß, blond, elegant in seinem Wesen und in seinen Manieren. Ich würde ihn für einen norddeutschen Edelmann gehalten haben. Er war früher, wie man mir sagte, Officier in der neapolitanischen Armee. Garibaldi ist kein guter Administrator, sagt man in Neapel. Der Vorwurf kann ihn, nach einer Dictatur von wenig Wochen, wohl nicht treffen. Ein ganzes Regierungssystem umzureißen, wie das neapolitanische war, und dafür ein anderes aufzubauen, ist keine Arbeit von vier Wochen. Man muß nur einen Begriff von dieser allgemeinen Versumpfung baben, welche durch die Regierung der Bourbonen in Neapel eingerissen ist, und sich diese Zustände mit eigenen Augen angesehen haben, um den General von einem solchen Vorwurf bis jetzt wenigstens vollständig frei zu sprechen. Alle Regierungsmaßregeln, welche ich in Neapel als die ersten Resultate der Garibaldi’schen Dictatur angesehen habe, zeugen von großem Verstande und vieler Mäßigung. Nur ein Vorwurf ist dem Dictator mit Recht zu machen, und dieser Vorwurf gilt andererseits für eine große Tugend, nämlich der Vorwurf eines edlen, großmüthigen Herzens.
„Warum läßt der General Capua nicht bombardiren?“ fragte ich einen der ersten Officiere der Garibaldi’schen Armee, „die Aufstellung Ihrer Batterie und die Stärke derselben läßt an dem Erfolge des Bombardements ja gar nicht zweifeln.“ – „O, mein Herr,“ erwiderte der Oberst mir, „das ist ein Beispiel von Edelmuth, wie es nicht wieder vorkommt,“ und machte ein äußerst unzufriedenes Gesicht.
Die lange Belagerung von Capua hat Garibaldi sehr in seinen Operationen aufgehalten. Die Generale Franz II. hätten wahrlich keine Umstände mit dem Bombardement gemacht. Man hat dies an Palermo gesehen. Und in diesem edlen, großmüthigen Herzen ist auch der Grund des Schwankens in der Garibaldi’schen Politik der letzten vier Wochen zu suchen – ein Schwanken, welches vielleicht in diesem Augenblick, wo ich diese Zeilen schreibe, vor einer bestimmten Richtung geschwunden ist. Garibaldi hat seine persönlichen, republikanischen Ueberzeugungen für jetzt der Einheit Italiens in der Vereinigung mit Piemont und Mittelitalien zum Opfer gebracht.
Englische Scharfschützen. Es ist merkwürdig, wie die Scharfschützenbewegung
in England in’s Fleisch und Blut des Volks übergegangen
ist. Statt, wie bestimmt vorhergesagt worden, nach wenigen Monden
selig zu entschlafen, nimmt sie stetig und energisch zu. Es ist den Leuten
Ernst. Sie wollen nicht länger vor ihrem treuen Alliirten zittern. Sie sind
so weit gegangen, den Unterschied zwischen dem Gentleman und dem andern
Sterblichen de facto zu zerstören. Eine sich eben bildende Freiwilligenversorgungscasse
umfaßt gleichmäßig alle Mitglieder. Sie haben den halben Sonnabend
geopfert. Werkstätten, Fabriken, Läden, Comptoirs, selbst Regierungsbureaux
schließen – in überwiegender Mehrzahl – an diesem Tage, wenn
nicht Mittag, so doch zu sehr früher Nachmittagsstunde, auf daß Herr und
Diener, Meister und Gesell die Büchse zur Hand nehmen und zur Uebung
marschiren möge. Und die Leute schießen gut. Ob auch die Invasion, wenn sie
je gewagt würde, mit der Landung ein fait accompli wäre – und diese läßt
sich durch Freiwillige zu Lande nicht hindern – so dürfte doch manche Rothhose
einen brühwarmen Willkommengruß bekommen, den sie fortan nicht wieder
vergessen würde.
Aber wie imposant auch immer das Schauspiel einer sich zu ernstem Spiele rüstenden Nation sei, wie bewundernswerth die begeisterte Opferfreudigkeit der Gesammtheit wie des Individuums, so hat doch hier zu Lande der Humbug so rasch sein Spiel mit allem noch so Würdevollen und Ernsten, daß es eine Lust ist. Wenn bei uns zu Lande der Stutzer, wie er sein soll, mit goldenem Stöckchen, märchenschönem Frack und wunderbar gebauten Stiefelchen über die Straße wandelt, so schreitet nunmehr Jones, Brown und Robinson am hellen Tage mit Büchse, Uniform, Commißstiefeln und Gamaschen gleich einem geharnischten Recken umher – blos der Schönheit wegen, raucht außerdem „Scharfschützentabak“ aus „Scharfschützenpfeifen“, trinkt „Scharfschützengetränk“ aus „Scharfschützenflaschen“, liest nur „Scharfschützenzeitungen“, „Scharfschützenmagazine“, „Scharfschützenbücher“, betet Sonntags aus einem „Scharfschützengebetbuche“, erbaut sich in einer „Scharfschützenbibel“ und singt aus einem „Scharfschützengesangbuche“. Außerdem fährt er mit „Scharfschützenextrazügen“ zu „Scharfschützenfesten“ auf „Scharfschützengründe“, tanzt auf „Scharfschützenbällen“ „Scharfschützenpolka’s“ und „Scharfschützenquadrillen“. Jede Zeitung hat ihre Scharfschützenspalte, Punch gibt keine Nummer ohne eine oder die andere Scharfschützencaricatur aus, und daß die Schuster, Schneider und andere löbliche Patrioten sich und ihr Geschäft der Bewegung angeschlossen und nunmehr als „Ihrer Majestät Scharfschützen-Schuster und -Schneider“ figuriren, versteht sich am Ende von selbst. Und es fehlt nicht an allseitiger Aufmerksamkeit. Die Kinder schreien Hurrah, wenn die Recken, Trommel und Pfeife vorauf, stramm und schmuck durch die Straßen marschiren, aus dem Küchengeschoß stürzen berußte Mägde, aus dem Obergeschoß lehnt die Frau und Tochter des Hauses, die Wärterin, das Baby im Arme, lächelt aus der Höhe der Ammenstube, und Heil dem Mägdlein, das hinter dem Perambulator wandelt – sie kann eine lange Strecke mitwandeln!
Von Gerstäcker ist heute, am 1. November, Nachricht eingetroffen.
Er schreibt vom 5. Juli von San Lorenzo am Pailon in Ecuador ganz
munter und ist guten Muthes. „In zwei Monaten etwa,“ heißt es in
dem Briefe an den Herausgeber der Gartenlaube, „denke ich nach den
neuen Colonien am Papuzu in Peru, wo die Tyroler wohnen, hinabzuwandern.
Bis dahin habe ich noch viel durchzumachen, und dort geht eigentlich
meine Reise erst ordentlich an. Anbei den ersten Bericht, dem von
jetzt ab regelmäßig weitere Schilderungen folgen werden.“ – Die nächste
Nummer schon bringt den ersten Brief.
- ↑ Die Herrschaft Bialystock stand früher unter preußischem Scepter und wurde erst im Tilsiter Frieden 1807 an Rußland abgetreten.
- ↑ Die Rothbuche findet sich schon in Ostpreußen, jenseit des Pregel-Stromes, nur noch auf einigen wenigen Revieren.
- ↑ Wurde im Jahre 1859 bei der Schillerfeier mit der darüberstehenden Platte geziert. D. Red.