Die Gartenlaube (1860)/Heft 47

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1860
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 47. 1860.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Onkel Gottliebs Jugendliebe.
Von Ottilie Wildermuth.

In der großen gemüthlichen Eckstube der Oberamtei, die man heutzutage Salon nennen würde, die aber dazumal, vor etwa vierundzwanzig Jahren, noch die Visitenstube hieß, saßen in emsiges Arbeiten und Plaudern vertieft drei junge Mädchen, zwei Gäste und ein Töchterlein des Hauses.

Es war ein vergnügliches Geschäft, zu dem man ihnen diesmal aus besonderer Vergunst dieses Staatszimmer eingeräumt hatte; der große runde Tisch vor ihnen, die Stühle, selbst der Fußboden, der sonst mit seiner alten getäfelten Arbeit so bübsch aussah: Alles war übersät mit leichtem, weißem Stoff, Bandstückchen, farbigen Bändern, Blumen, kurz mit all dem luftigen Apparat eines Ballstaates.

Ein bescheidener Ballstaat zwar möchte es erscheinen im Vergleich mit den Forderungen der Neuzeit: der Stoff, der damals für drei Mädchen hinreichte, würde heute nicht mehr genug sein, die breite Grundlage einer Einzigen zu überziehen, die weiße und rothe Rose und der Kornblumenzweig, mit dem Eugenie und Hedwig hier eine wundervolle Toilette herstellen wollten, hätte nicht den zehnten Theil einer der dicken laublosen Blumenkronen gegeben, mit denen unsere jungen Damen heutzutage als ein Mittelding zwischen Priesterin und Opferlamm die Bälle besuchen.

Nun, wie gesagt, die drei Mädchen, die hier an ihrem Ballstaat schneiderten, thaten es mit großer Befriedigung, in der Stille gewiß, daß sie in diesem Schmuck, wenn nicht bezaubernd und unwiderstehlich, – so hoch verstieg sich ihre Phantasie nicht – so doch recht nett und anmuthig aussehen würden, so gewiß, als dies unsere Mütter in ihren glattanliegenden Kleidern mit spannenlanger Taille, unsere Groß- und Urgroßmütter in Reifröcken und Schleppkleidern, Poschen und Haartouren auch geglaubt haben.

Eugenie, die Tochter vom Hause, putzte sich ein hübsches gewaschenes Mousselinkleid, in dem sie schon einmal als Brautjungfer aufgetreten, mit kornblumenblauen Schleifen aus; Hedwig nähte Spitzen um das nagelneue Kleidchen von schottischem Battist, das diesmal eingeweiht werden sollte; Jeannette aber saß etwas abgewendet von den Andern, wühlte und suchte in altem und neuem Kram von Bändern und Blumen, und Niemand durfte fragen oder wissen, was sie that, was die Neugier der Andern in nicht geringem Maße reizte.

„Höret,“ begann die kleine Hedwig bedenklich, „ich mag nun zählen, wie ich will, so bringe ich nicht mehr als neun Tänzer heraus …“

„Ach geh,“ rief ungläubig Jeannette aus ihrem Schlupfwinkel hervor.

„Gewiß,“ versicherte die Kleine ernsthaft, und rechnete an den Fingern, „da ist der eine Actuar, der andere hat eine Frau, die dazu noch krank ist, der Buchhalter, der Apothekergehülfe und zwei Commis …“

„Nur Einer tanzt,“ warf Eugenie sachverständig ein.

„Und der Doctor,“ fuhr Hedwig fort.

„Ist verheirathet,“ bemerkte Jeannette mit aufgeworfenem Mäulchen.

„Das genirt mich gar nicht,“ versicherte die Kleine genügsam, „ich plaudere eigentlich viel behaglicher mit Ehemännern, nur wundert mich, daß er noch tanzlustig ist.“

„Ach weißt Du, er tanzt um Kundschaft,“ meinte Jeannette, „so ein junger Prakticus muß Alles probiren, hie und da wird Einem übel auf einem Ball, da gibt’s immerhin Gelegenheit, sich nützlich zu machen. Aber Eugenie, nein, wie die dasitzt und phantasirt! freilich, die hat wohl ihr Schäfchen im Trocknen.“

Eugenie ward glühend roth, sie hatte freilich nicht gezählt und gerechnet, obwohl sie sich auch kindisch freute auf das seltene Vergnügen; Einen wußte sie, der heut kommen würde, Einen, den die Mädchen nicht gezählt, und den sie sich wohl hütete, zu nennen, – es war der junge Gutsbesitzer, der seit nicht lange dort drüben auf dem Rauhenstein hauste und allerlei menschenbeglückende Pläne in’s Werk zu setzen begann; – ihr guter Hausfreund, der Doctor, hatte ihr anvertraut, daß er die Einladung der hiesigen Honoratioren zu ihrem Königsball angenommen habe. Sie kannte ihn selbst noch nicht genau, aber bei einer Landpartie in die Thalmühle war sie neben ihn zu sitzen gekommen, und sie hatten allerlei schöne Ideen über Menschenwohl und Völkerglück miteinander ausgetauscht. Es waren ihr indeß noch ganz neue, vortreffliche Pläne über dies Thema eingefallen, und während sie hier ihre Schleifen und Blumen ordnete, dachte sie sich allerlei lange und interessante Gespräche aus, die sie wahrscheinlich mit ihm halten würde, wenn er, was gar nicht zu bezweifeln war, auf dem Balle sie alsbald erkennen und auffordern würde.

Ehe sie die muthwillige Jeannette noch weiter plagen konnte, ehe die kleine Hedwig dazu kam, ihren catalogue raisonné von der Tänzerwelt zu vollenden, kam die Mutter, die gute Mutter, die an solchen Tagen gewöhnlich des Tages Last und Hitze über sich nahm und dem jungen Volk freie Zeit ließ für seine Angelegenheiten. Sie sah aber diesmal ernst und bekümmert aus. „Leg’ die Sachen indeß bei Seite, Eugenie,“ sagte sie, „rühre etwas Wasser mit Johannisbeersaft und trag’s hinunter, bis ich einen Trank koche; die junge Frau unten ist gar nicht gut auf.“

[738] Eugenie legte willig ihre Herrlichkeiten bei Seite und ging mit der Erquickung in den untern Stock, wo seit einiger Zeit, in Ermangelung einer andern Wohnung, der Actuar mit seiner jungen Frau wohnte. Die Frau war Wöchnerin, das Kindlein, erst noch mit so unendlichem Jubel begrüßt, schlummerte nun fast unbeachtet in seiner Wiege, um das Bett der jungen Mutter aber, die bewußtlos in glühender Fieberhitze lag, stand angstvoll der Gatte, der Arzt und die Wärterin. Leise und schüchtern setzte Eugenie den Trank auf ein Tischchen, sie wagte nicht der kranken Frau näher zu kommen und wußte, so gern sie gewollt, hier nichts zu helfen, sie sah nach dem schlummernden Kindlein und schlich leise wieder herauf.

„Nicht wahr, die Frau ist sehr krank?“ fragte die Mutter.

„Ich meine doch nicht,“ versicherte Eugenie eifrig, „sie hat ja ganz rothe Wangen.“

„Eben diese Hitze ist das Aengstlichste,“ meinte die Mutter.

„O bewahre. Weißt Du, wie Tante Karoline einmal so krank war, die jetzt wieder ganz gesund ist? Gib nur Acht, die Frau Waldmüller wird gewiß wieder gesund!“

Die Mutter schüttelte bedenklich den Kopf und ging selbst zu der Kranken hinunter, während Eugenie, nicht mit demselben fröhlichen Herzen, wieder ihre anmuthige Arbeit aufnahm. Freilich kamen die drei Mädchen gar bald in dem Beschluß überein, daß die Krankheit der Frau Waldmüller gar nicht gefährlich sei und dieselbe wahrscheinlich morgen wieder hergestellt sein werde. Sie kannten selbst nicht den Egoismus ihres jungen Herzens, das nicht gern den Schatten fremden Leides auf seiner Freude leiden wollte.




Es war Nachmittag, der Ballstaat war fertig; ausgebreitet lagen die drei Gewänder mit ihrem Zubehör auf dem Sopha der Visitenstube, von ferne umkreist von den bewundernden jüngern Geschwistern, die Hedwig, die Hüterin der Schätze, immer wieder davon wegscheuchte; etwas ernst, aber recht anmuthig sahen die blauen Kornblumen zu Eugeniens weißem Kleid, sie trugen die Farbe ihrer Augen und mußten hübsch stehen zu der reinen, blühenden Gesichtsfarbe und den dunklen Haaren. Die kleine Hedwig verstand sich nicht auf Toilettenkünste, sie hatte eine ziemlich handfeste Schleife von starkem Rosa an ihrem Kleid vorne befestigt, eben solche an den Achseln, die ihrer etwas kurzen, runden Gestalt das Ansehen einer auffliegenden Taube geben mußten, sie baute aber getrost auf die rothe und weiße Rose, auf ihre siebzehn Jahre und ihr frisches blühendes Gesichtchen.

Die Mutter, die sonst so freundlich Theil nahm an aller Jugendlust, war wieder unten bei der kranken Frau, das ältere Knäblein, das man heraufgebracht, um das Krankenzimmer still zu erhalten, spielte in einem kleinen Gebirge abgängiger Spielsachen, mit denen ihn Oskar, Eugeniens kleiner Bruder, reichlich versorgte.

Da erscholl außen ein Freudengeschrei der zwei jüngern Kinder: „Onkel Gottlieb, Onkel Gottlieb!“ und mit dem überraschenden Lächeln eines Gastes, der sich willkommen weiß, ließ sich der Onkel in’s Zimmer schieben, wo er von den Großen mit demselben Jubel wie von den Kleinen empfangen wurde und nach seiner gewohnten Weise mit ruhigem Lächeln stehen blieb, bis der Begrüßungssturm vorüber war.

Onkel Gottlieb war Verwalter eines freiherrlichen Gutes, etwa sechs Stunden entfernt, ein Junggesell, mit dem löblichen Ehrgeiz so geliebt und so nützlich zu sein, als ob er Weib und Kind hätte. Da der Besitzer seines Gutes im Auslande lebte, so war er vollkommen unbeschränkt und fand in dem alten Schlosse Raum genug zu den höchst werthvollen Gegenständen, mit denen er seine verschiedenen Sammlungen bereicherte, und die er alle seiner Meinung nach um lauter Spottpreise, eigentlich geschenkt erhalten hatte.

Das Schloß, wo Onkel Gottlieb hauste und in stillem Vergnügen seinen Liebhabereien lebte, war das Eldorado für die Kinder der Familie, die alten großen Räume, die weitläufigen Gärten, die reiche Bibliothek, die vielen Gemälde, das Alles war die reichste Nahrung für junge Phantasie. Sie konnten aber dies Glück selten genießen, der Onkel mochte nicht zu oft Gäste empfangen in dem Schloß, das nicht sein Eigenthum war. Dagegen war er ein häufiger, ein gern gesehener und ein äußerst freigebiger Gast, der bei seinen kurzen Besuchen, auf denen er immer liebte zu überraschen, schöne Geschenke mitbrachte und fröhliche Partien veranstaltete. Seine kleinen Reisen zu Verwandten machte er immer zu Pferd, da er behauptete, es sei eine Schande, daß diese männliche und schöne Art zu reisen so abgekommen sei, und sich etwas darauf einbildete, ein vortrefflicher Reiter zu sein und prächtig zu Pferde zu sitzen.

Da ritt er denn auf einem wohlgenährten Braunen seinen steten Trott, eine willkommene Erscheinung für alle alten Weiber, Handwerksbursche und barfüßige Jungen auf der Landstraße, denn er hielt geduldig an bei jeder Bitte und ließ keinen Armen unbeschenkt ziehen; der bewundernde Jubel, mit dem ein paar arme Kinder sich in den Regen von halben Kreuzern theilten, das aufleuchtende Gesicht eines müden Handwerksburschen, dem er statt des landesüblichen Kreuzers einen Dreibätzner verabreicht hatte, konnte ihm auf dem ganzen Wege noch wohlthun.

Er kam, wie gesagt, immer unvorhergesehen und wollte ja Niemand lästig fallen. „Ich kann mich mit dem dümmsten Kerl noch gut unterhalten,“ rühmte er oft und nicht ganz mit Unrecht, er hatte Interesse für Alles und ein Herz für Alle. Daß also auch heute sein Bruder, der Oberamtmann, noch in der Amtsstube, die Schwägerin bei der kranken Frau war, bekümmerte ihn gar nicht, er wußte sich bei den Kindern so willkommen als bei den Alten. Nachdem der erste Begrüßungssturm vorüber war und er auch von den zwei jungen Gästen mit einigen Scherzen Notiz genommen hatte, setzte er sich recht bequem in den Lehnstuhl am Fenster, „des Onkels Sessel“ genannt, überlieferte dem jungen Volke, das beutegierig in einiger Entfernung lauerte, eine vielversprechende Tüte und ließ sich ohne Umstände gefallen, daß Eugenie, die seinen Geschmack schon kannte, ihn mit klarem rothem Landwein und sehr anständigen Resten des Mittagsbratens bediente.

„So, so, das ist leichtes Geschütz für den Königsball?“ sagte er, indem er wohlgefällig lächelnd die Ausstellung auf dem Sopha betrachtete, vor der Hedwig immer noch als Hüterin stand; „nu, sei nur ruhig Kleine, Du wirst etliche Tänzer bekommen, ich habe einigen Herren, denen ich unterwegs begegnete, schon ein gutes Wort gegeben und ihnen einen guten Schoppen Elfer versprochen, wenn sie fleißig mit Euch tanzen.“

„Aber Onkel, nein, ich bitte Dich!“ rief Hedwig, die die Späße des Onkels noch nicht so kannte, in tugendhafter Entrüstung, „meinst Du, so wollen wir uns ausbieten lassen?“

„So, so, Ihr meint wohl, Ihr bekommt von selbst Tänzer genug,“ lachte der Onkel, „weil Ihr so schön seid? Ich sag’ Euch, Ihr seid noch lange nicht so schön, wie die jungen Frauenzimmer zu meiner Zeit gewesen sind. Alle Wetter, ihr hätte sollen die Gertrud Engelmann sehen.“

„War das nicht eine Verwandte, Onkel?“ fragte Eugenie.

„Freilich war’s Eine, und was für Eine! Ja, ja, Mädchen, ich habe nichts gegen Euch, aber der dürft ihr Alle zusammen das Wasser nicht reichen! Wißt Ihr denn, Mädchen,“ und der Onkel nahm dazwischen eine Prise, um seine weichgewordene Stimme zu verbergen, „wißt Ihr, daß es heute vielleicht etwa gerade siebenunddreißig Jahre her sind, daß ich hier von diesem Hause aus als ein junger, schmucker Mensch auch meine Dame auf den Ball geholt habe? Ihr wißt ja, unser Vater war Oberamtmann hier, wie jetzt mein Bruder, Eugeniens Vater.

„Ein anderer Bursch war ich damals, als jetzt, das kann ich Euch sagen, schlank und gerade wie ein Grenadier – hätte nicht viel gefehlt, so hätte mich der alte König einmal zum Reiter gemacht – und frisch und gesund, kein Wassertropfen wär’ auf mir stehen geblieben. Ich war in den Ferien daheim, hatte den Preis für eine Arbeit bekommen, Ordnung gehalten mit meinem Geld, wie in meinen Studien, obschon ich überall ein flotter Kerl war. – Merkt’s Euch, Ihr Buben da, dann kommt man anders nach Haus, als wenn sich so ein Lump und Nichtswisser von Studenten daheim in allen Ecken herumdrückt und dem Vater nicht mehr kecklich vor’s Gesicht darf, wenn der in seine unbezahlten Rechnungen geschaut hat. Ich durfte meinem Vater unter die Augen treten! Und als ich zum ersten Mal wieder zu Hause am Tische saß, nach der Preisarbeit, da machte mir der Vater Platz neben sich, schenkte mir ein mit eigner Hand und sagte: „Frau, daß Du’s weißt, der Gottlieb trinkt von nun an aus meiner Bouteille.“ – Na Buben, was meint Ihr, glaubt Ihr nicht, daß Einem das heute noch wohl thut?

„Aber um auf den Ball zu kommen, so wurde an diesem [739] selbigen Tage, unser Herr war eben erst zur Regierung gekommen, hier ein festlicher Ball veranstaltet zu Ehren seines Geburtstages. – „Gottlieb,“ sagte meine Mutter zu mir, „Gottlieb, jetzt gehst Du hinauf auf den Rauhenstein und ladest die gnädigen Fräulein von Schleppengrill auf den Ball.“ – Dazumal wohnte nämlich auf dem Rauhenstein ein alter lahmer Baron von Schleppengrill mit Familie, sie sind jetzt alle ausgestorben; an wen ist wohl das Gut verkauft?“

„An einen Herrn Oswald, glaub’ ich,“ antwortete Eugenie, die es sehr wohl wußte, zögernd und hocherröthend.

„Also die Fräulein von Schleppengrill sollt’ ich holen,“ nahm der Onkel seinen Faden wieder auf. „„Frau Mutter, das thu’ ich nicht,“ sagt’ ich. – Das braucht Ihr nicht nachzumachen, Buben, es war das ein Ausnahmsfall. – „Das thu’ ich nicht, die Fräulein sind alt und wüst, und die ganze Familie hat mich immer hochmüthig behandelt.“ – „Ei was, jetzt werden sie höflich sein,“ meinte meine Mutter, „der alte Herr hat von Deiner Preisarbeit gehört, und daß Du so geschickt seiest, er hat selber den Vater nach Dir gefragt, gib nur Acht, sie sind diesmal gewiß artig.“ – „Ist mir eins,“ sagte ich, „jetzt will ich erst nicht, warum sind sie nicht vorher höflich gewesen, – seien Sie nur ruhig, Mama,“ damals war’s noch nicht der Brauch, daß man die Eltern ohne Weiteres duzte, ist erst mit der Revolution aufgekommen, – „seien Sie nur ruhig,“ sagte ich, „ich will schon eine Tänzerin bringen.“ –

„So hetzt’ ich denn meines Vaters Amtssubstituten hinüber auf den Rauhenstein, – dem war’s noch eine Ehre, und ich wußte, wenn die Fräulein gern tanzen wollten, so gingen sie auch mit dem. Ich aber ging hinaus in die Vorstadt, Hagenau zu.

„In der Vorstadt da wohnte in einem kleinen Häuschen der Herr Vetter Extraprobator. Wie wir eigentlich verwandt gewesen sind, weiß ich so genau nicht, ich glaube, seine Mutter war ein zugebrachtes Kind aus der ersten Ehe meiner nachmaligen Stiefgroßmutter; – genug, man hieß ihn eben Herr Vetter. Der Herr Vetter war von jeher etwas schwach im Geiste gewesen, seit dem Nervenfieber, wie seine Frau behauptete, war er immer noch schwächer geworden, und lebte nun von einem kleinen Ruhegehalt allhier, wo es damals wohlfeil zu leben war und wo sie den Genuß eines Bürgerstückchens hatten.

„Die Frau Base, des Herrn Vetters Frau, war eine grundgescheidte Frau, sie erhielt ihren Mann in Ehren, so dumm er war, und machte ihm seine alten Tage behaglich mit sparsamen Mitteln. Ihr einzig Kind, die Gertrud, war fort gewesen als Hausjungfer, im Dienen, sagte man dazumal noch, heutzutage würde man sagen in einer Stelle zur „Unterstützung der Hausfrau“. – Wie dem auch sei, die Gertrud war mir und auch andern Leuten so respectabel, wie eine Königin. Daheim bei uns hatte gar Niemand an sie gedacht, da die Frau Base in noblem Stolz sich immer zurückhielt von den vermöglichen Verwandten. Ich aber dachte an sie, ich hatte sie schon etlichemal im Vorbeigehen gesehen, seit ich in der Vacanz war.

„Hinter des Herrn Vetters Hause war ein ganz kleines Gärtchen, so schön gepflegt und erhalten, wie ein Paradiesgärtchen, es blühte da prächtig zusammen mit späten Nelken, Levkoy und Herbstrosen. Gertrud aber ruhte nicht in einer Geisblattlaube, wie’s in den Romanen der Brauch ist, nein, sie stand an einem Waschzuber, den sie, weil’s im Häuschen so eng war, herausgestellt hatte, in einem allen Barchentkleidchen und wusch. – Das that aber nichts zur Sache, – nichts für ungut, Mädchen, aber so Eine kommt nur alle hundert Jahr einmal auf die Welt, – eine prächtige Gestalt, wie eine Herzogin, solche wundervolle Haare, Augen wie Sonnen, und Gott weiß, wie sie’s angegriffen hat, daß sie mit all dieser hellen Pracht von Schönheit doch so sanft und so demüthig ausgesehen hat!

„Sie wandte sich um, als sie mich kommen hörte, und blickte mich an. – So kann Einen Niemand mehr grüßen auf dieser Welt, wie sie. „Gertrud,“ sagte ich, „heute Abend ist Königsball, und Du mußt meine Ballkönigin werden.“ – „Ist’s Dein Ernst?“ fragte sie und gab sich gar keine Mühe, ihre helle Freude zu verbergen. Das arme Kind war achtzehn Jahre alt und hatte noch selten erfahren dürfen, daß sie jung war. Mit der Mutter hatten wir einen schweren Stand, bis sie’s erlaubte; „ich zweifle wirklich,“ sagte sie endlich nach ihrer klugen Weise, „ob’s der Papa zugibt, er ist so eigen in diesen Sachen.“ Der Papa, du lieber Gott, der war froh, wenn man ihn in Ruhe ließ. Als ich ihm den Fall vortrug, sagte er sehr bedächtig: „ich habe über die Sache bereits der Mutter meine Ansicht mitgetheilt,“ – nun kurz und gut, sie mußten nachgeben.“

„Aber, Onkel, wie war’s möglich, daß die Gertrud noch einen Ballanzug herrichten konnte?“

„Das war ihre Sache; ich sage Euch, wenn Ihr heut in dem Euren nur den zehnten Theil so schön ausseht, wie sie ausgesehen, so dürft Ihr Gott danken.

„Kam also der Abend; ich ließ die Mama auf dem Glauben, daß ich die Fräulein Schleppengrill abhole, und putzte mich.“

„Recht schön, Onkel?“

„Will’s meinen; anders als die Bursche heutzutage, die sich nicht entblöden, im Ueberrock zu tanzen; da hätte zu meiner Zeit ein Frauenzimmer mehr auf sich gehalten, als daß sie mit so Einem getanzt hätte. Milchweiße, seidene Strümpfe hatte ich an und kurze Suwarowstiefeln mit rothen Kappen und kurze Hosen von echtem Nanking; Eure Bursche jetzt, die Waden haben wie eine kranke Lerche, die können freilich so etwas nicht riskiren – und eine gestickte Weste nebst einem blauen Frack vom feinsten Tuch, die Elle hatte neun Gulden gekostet, und ich hatte mir ihn selbst angeschafft von dem Preis.“

„Aber die Gertrud?“

„Nun, ein weißes Kleid brauchte damals keinen solchen Umstand und war nicht so weit wie ein Kirchenrock; aber schön gestickt war das Kleid der Gertrud von ihrer eignen fleißigen Hand, sie hatte es mit grünen Epheublättern garnirt, und grüne Epheublätter trug sie in ihren prächtigen Haaren, die griechisch aufgewunden waren, dazwischen eine echte Perlenschnur, und Perlen um den Hals – so ein Schmuckstück fand sich damals in jeder honnetten bürgerlichen Familie – es kann gar nichts Schöneres mehr geben als diese Jungfrau …“ Der gute Onkel mußte wieder eine Prise nehmen und konnte lange nicht mehr fortfahren; er bemerkte auch nicht, wie bei seiner langen Erzählung mit den vielen eingeschalteten Sätzen da und dort Eins von seinen jungen Zuhörern sich fortgeschlichen, nur Eugenie hörte ihm noch mit wahrem, lebendigem Interesse zu.

„Meine Eltern und Schwestern waren schon im Saal,“ hob er endlich wieder an, „auch die Schleppengrillen mit dem Substituten waren bereits angerückt in unmäßigem Staat mit Schäferhütchen und Turbanen – wie aber die Thür aufging und ich hereintrat mit meiner Dame in all der hellen Pracht ihrer Jugend und Schönheit, da hättet Ihr sehen sollen, wie sie aufschauten!“

„Wie in dem Märchen von der Aschenbrödel, Onkel?“

„Meinetwegen ja, – „ist das des Extraprobators Gertrud?“ – fragte Eins das Andere. Ja, die war’s! Und wir tanzten Menuet und Ecossaise, nichts Schöneres, und die Mama hatte auch nichts mehr dagegen …“

Eugenie bemerkte jetzt, daß Jeannette sich weggeschlichen, um den Anfang ihrer Toilette zu machen; da trat die Mutter mit sehr ernstem, trübem Gesicht herein, das nicht aussah, wie eine Ballvorbereitung. „Es ist keine Hoffnung mehr,“ sagte sie, als sie den Onkel kurz und herzlich begrüßt hatte, und brach in Thränen aus, „es kann heute Nacht noch zu Ende gehen; die armen Kindlein, der arme Mann!“

„O, ist’s möglich?“ sagte bestürzt Eugenie, deren Gedanken eben wieder von dem Ball aus alten Tagen zu dem heutigen Balle gewandert waren, und die so ziemlich der kranken Frau vergessen hatte.

„Es ist gewiß,“ sagte die Mutter traurig, „ich werde die Nacht bei ihr wachen.“ In dem Augenblick kamen Hedwig und Jeannette, um mit Vorsicht den Ballstaat zu holen, die Mutter theilte ihnen den traurigen Stand der Krankheit mit. „Daß von uns aus nicht die Rede sein kann auf einen Ball zu gehen, so lang eine Hausgenossin in den letzten Zügen liegt, werdet ihr natürlich finden,“ fuhr sie fort. „Frau Lenz war so freundlich mir anzubieten, daß sie Euch mitnehmen wolle; ich stelle es Euch frei; von Dir, Eugenie, nehme ich an, daß Du selbst nicht daran denkst zu gehen.“

„Ich würde sehr gern zurückstehen, Tante,“ versicherte Jeannette geläufig, „ich kann Dich versichern, die Freude ist mir eigentlich ganz genommen – nur denke ich – da ich die Frau so garnicht näher kenne – es – es könnte sie alteriren, wenn sie zufällig erfahren sollte, daß sie uns um das Vergnügen gebracht hat …“

[740] „Na, gnad Gott deinem Mann!“ brummte der Onkel für sich, „um Ausreden bist du nicht verlegen, wenn sie auch diesmal etwas dumm sind.“

„Ich bliebe auch gern da, Tante,“ begann Hedwig einen Entschuldigungsversuch, „wenn – wenn ich mich nicht so gefreut hätte.“

„Geh’ immer hin,“ sagte die Mutter, lächelnd ihre Stirn streichelnd, „Katharine bringt einen großen Korb zu Euren Kleidern, Ihr könnt Euch auch ankleiden bei Frau Lenz.“

Eugenie legte schweigend ihre Schleifen und Kornblumen in ein Körbchen und trug ihr Kleid hinaus; sie hätte sich geschämt sehen zu lassen, wie nah’ sie dem Weinen war; sie schämte sich auch, als in ihrem Stübchen die Thränen nun doch unaufhaltsam flossen, aber sie konnte nicht anders.

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Die Fenster des Ballsaals im Gasthof zur goldnen Krone waren hell erleuchtet, man konnte die Helle noch von den Fenstern der Oberamtei aus sehen, den fernen Klang der Tanzmusik hören. Unten vernahm sie Niemand, wo hinter geschlossenen Läden das trübe Lichtchen der Krankenstube hervorschimmerte; auch oben brannte noch ein Licht, in dem großen Zimmer, von dem man hinunter sehen konnte nach dem Gasthof; da saß Eugenie, die unmöglich schon zu Bette gehen konnte, obgleich der Vater sich zur Ruhe gelegt hatte, und der Onkel noch ein wenig ausgegangen war, um einige Bekannte in der Krone zu sprechen.

Wir können nicht leugnen, Eugeuie, obwohl ein vernünftiges Mädchen, hatte lange an dem offenen Fenster gelehnt, hatte nach den Lichtern gespäht, nach den flüchtigen Tönen der Musik gelauscht, sogar getrachtet, ob sich unter den Schatten, die dort am Fenster vorbei huschten, nicht eine Gestalt unterscheiden ließe. – Die Tanzmusik selbst ließ ihr junges Blut nicht ganz unbewegt, es war ein Vergnügen, das sie so selten genießen konnte, übermächtiger war doch die Frage: war er da? mit wem wird er reden? wird er mich wohl vermissen? Endlich hatte sie das Fenster geschlossen und sich gesetzt, es war gar stille um sie. Sie dachte, wie ihr so nahe eine Seele vielleicht den letzten Kampf kämpfe, den furchtbar ernsten Schritt thue in die dunkle, unendliche Ewigkeit. Es war eine gute, stille Frau gewesen, die Kranke unten, sie hatte ihrem Manne, ihren Kindlein, ihrer Pflicht gelebt frommen und einfältigen Herzens, – wie seltsam, wie unheimlich fast kam Eugenien der Ballsaal vor, wenn sie ihn im Stillen verglich mit dem Sterbekämmerlein, wo die Kranke, wie sie sie heute Abend gesehen, so still mit gefalteten Händen dalag.

Sie dachte an ihn, den sie gehofft zu sehen, – man sagte, er habe sein Gut verpachtet und gehe auf ein paar Jahre nach England, – dann sah sie ihn vielleicht nie wieder. Sie blätterte in dem Gesangbuch, in dem die Mutter diesen Abend gelesen, eh’ sie ihre Nachtwache antrat, sie schlug auf und traf die Worte:

Der beste Will’ ist Gottes Will’,
In diesem ruht man sanft und still,
Begib dich all’zeit frisch hinein,
Begehre nichts, als nur allein
 Was Gott gefällt.

Wie hatte sie sich denn so vergeblich grämen können? Wenn es Gottes Wille war, daß sie ihn wieder sehen sollte, – weiter wollte sie noch nicht denken, – lag es dann nicht in Gottes Hand sie zusammen zu führen? Es wurde gar stille in ihr: das Leben der jungen Frau unten, all ihr eignes Sein und Leben konnte sie recht zuversichtlich in Gottes Hand legen, und ein Frieden zog durch ihre Seele, ein stilles, herzinniges Glück, wie sie es nie empfunden in Licht und Glanz des Ballsaals. – Draußen tönte die Klingel; sie fuhr auf und eilte hinab; war es die Mutter mit der Todeskunde? Es war der Onkel, der vom Gasthaus zurückkam.

„Es war nichts,“ sagte er etwas verdrießlich, „vernünftige Leute können einander nicht recht sprechen neben solchem Gethu, aber wenn Du nicht schläfrig bist, und Du bringst mir ein Gläschen von Deiner Mutter Stachelbeerwein, so bleibe ich noch bei Dir.“

Eugenie bediente den Onkel und saß gemüthlich neben ihm auf dem Sopha; wer da drüben gewesen, das konnte sie trotz aller Mädchendiplomatie nicht herausbringen, – der alte Herr lebte in vergangnen Zeiten.

„Es war mir seltsam zu Muthe da drüben,“ gestand er dem jungen Mädchen, „es ist noch derselbe Saal.“

„Und hast Du noch oft dort mit der Gertrud getanzt?“ fragte Eugenie etwas schüchtern.

„Nie mehr,“ sagte der Onkel fast feierlich. „Siehst Du,“ hob er wieder an, „heut’ Nacht ist mir’s nun gerade, als sollt’ ich Dir Alles erzählen – es ist kurz beisammen – und wenn Dir Dein verlorner Ball ein Bischen weh gethan hat, so kannst Du sehen, daß man oft auf mehr verzichten muß als auf einen Ball.

„Noch eh’ ich die Gertrud auf den Ball geführt, an die überhaupt daheim bei mir Niemand dachte, hatte mir mein Vater ein feierliches Ehrenwort abgenommen, daß ich mit keinem Mädchen vom Verlieben und Verloben sprechen wolle, bis ich mein eigen Amt und Brod habe, – „das frühe Versprechen taugt den Kuckuk nichts,“ meinte er, „wenn Du aber so weit bist, daß Du auf eignen Füßen stehen kannst,“ hatte er gesagt, „so wähl’ mit Gott, Du sollst einen guten Rath haben, wenn Du willst, aber ich verspreche Dir, daß ich auch Deine freie Wahl ehren will, und die Jungfrau, die Du mir bringst, soll uns als Tochter willkommen sein.“ – Mein Vater hatte oft etwas Feierliches in seiner Redeweise.

„So hatte ich denn mit der Gertrud kein einziges Wort gesprochen, als was Vetter und Base zusammen reden dürfen. Die Aussichten auf Anstellung waren dazumal auch lang, und man dachte gar nicht daran, daß sich ein Student verloben könnte. Auch wir dachten nicht so weit, nur eine rechte Freude hatten wir aneinander, so oft wir uns sahen. Als ich von den Ferien wieder auf die Universität ging, gab sie mir ein Wandersträußchen mit auf den Weg, Immergrün und ein Spätröschen. Als ich in die Osterferien kam, sagte mir die Mutter, Gertrud sei wieder fort als Weißzeugverwalterin in einer großen Fabrik. Das wird auch anders werden, dacht’ ich bei mir und studirte und schaffte, als gält’s Minister zu werden. – Wenn Dir einmal Einer sagt, er habe Dich gern, Mädchen, so paß zuerst auf, ob er daneben tüchtig studirt, oder was sonst sein Geschäft ist auf der Welt; thut er das nicht, so laß ihn laufen; eine Liebe, die Einen faul macht, die ist nichts nutz.

„Als ich im Herbst wieder kam, brachte ich einen Brief mit vom Professor Schemmeler, des Vaters Jugenfreund und Factotum, der strich mich so heraus, daß der Vater mir seine goldene Uhr schenkte; ich war voll lauter froher Hoffnung und konnte es diesmal fast nicht erwarten, bis ich zu dem Häuschen in der Hagenauer Vorstadt hinauskam. Noch ein Jahr, so hatte ich ja absolvirt und doctorirt; wer weiß, ob nicht da schon der Vater ein Bischen weich gab, und das eigene Brod konnte dann in keinem Falle mehr weit sein. Auch fiel mir erst ein, daß ich nur versprochen, mit keinem Mädchen vom Verloben zu reden; wenn ich gegen eine Mutter ein Wörtchen fallen ließe, so war’s am Ende keine Sünde.

„Unter solchen Gedanken kam ich zum Häuslein des Vetters. Alle Wetter, war’s da aufgeputzt, und stand ein neuer Lehnsessel im Zimmer mit grünem Saffian und goldnen Nägeln, in dem saß der Herr Vetter in einem prachtvollen Schlafrock von gestepptem Kupferzitz; kam die Frau Base in einer Spitzenhaube und einem seidenen Kleid; „was ist bei Ihnen los, Frau Base?“ fragte ich, war mir aber nichts Gutes vor. – „Wissen Sie’s denn noch nicht, Herr Vetter? Unsere Gertrud ist ja Braut mit dem Associé des Herrn Fehringer, bei denen sie im Hause war? Nicht wahr, so ein Segen kommt nicht oft über ein armes Mädchen? Und da sehen Sie, wie generös der neue Herr Tochtermann ist, und unser Fritzle kann jetzt studiren, und unsern Gottlobele nehmen sie in’s Geschäft. Heute Abend noch erwarten wir sie.“ – Sie fand gar kein Ende. Ich aber machte, daß ich weiter kam. Ob sie etwas gemerkt hatte, weiß ich nicht; ich glaub’s, sie war ein gescheidtes Weib. Meine Mutter hat’s gemerkt, das sah ich an ihrem Gesicht, als ich wieder heim kam, aber sie that mir die Liebe und sagte nichts.“ Der Onkel war lange still.

„Hast Du sie nicht mehr gesehen?“ fragte Eugenie schüchtern.

„Warum nicht?“ sagte der Onkel in fast rauhem Ton, „hat sie doch Brautvisite gemacht bei meinen Eltern in einem grünseidenen Kleid und einem langen weißen Shawl, der sechszig Gulden gekostet, und einer goldenen Uhr mit Perlen eingefaßt und einer goldenen Erbsenkette!“

„Und wie war der Bräutigam?“

„Wie wenn ihn der Dreher von verlegenem alten Buchsbaumholz gedreht hätte, nicht jung und nicht alt, nicht warm und nicht kalt, der langweiligste Kerl auf Gottes Erdboden.“

(Schluß folgt.)



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Friedrich Christoph Schlosser.

Mit freudigem Stolze nennt Deutschland, das sich im Reiche des Wissens so mancher Großgeister rühmen kann, den Altmeister deutscher Geschichtschreibung, Schlosser, als den ersten seiner Historiker, „so weit die deutsche Zunge klingt“, und wohl kann die kühne, aber vollkommen begründete Behauptung aufgestellt werden, daß die reiche deutsche Literatur erst in Schlosser einen Geschichtschreiber gefunden hat, den sie den größten, ruhmgekröntesten aller Völker und Zeiten zur Seite zu stellen vermag, ja, der sie in den meisten Punkten noch überträfe, wäre seine Darstellung, vor allem die Sprache an so manchen Stellen nicht etwas zu locker und ungefeilt. Für diese kleinen Nachtheile entschädigt er aber seine Leser auf das Reichste durch sein tiefes Quellenstudium, vor allem aber durch den Geist der Wahrheit und des strengen sittlichen Ernstes, der alle seine Schriften durchweht.

Der große Haufe unserer Historiker machte und macht die Geschichte nur zu oft zur bereitwilligen Dienstmagd der irdischen Größen, und der Glanz, welcher die Kronen umstrahlt, blendet dergestalt ihre Augen, daß sie in ihrer Blödigkeit das Recht nicht vom Unrecht zu unterscheiden vermögen. „Die Wahrheit setzt sich nur auf den Sarg der Könige!“ Darum wird sie nur zu dienstbeflissen bei den Lebenden verhüllt und das Schlechte bemäntelt, wo es sich in den Kreisen zeigt, auf welche das Volk aus seiner Tiefe hinaufblickt. Ganz anders bei Schlosser: die tiefste Entrüstung gegen alles Schlechte und Gemeine, der männlichste Freimuth, die unerschütterlichste Ueberzeugungstreue, die unbestechlichste Gradheit, das muthigste Herz, das rücksichtslos die Tyrannei beim rechten Namen zu nennen und offen für Wahrheit, Freiheit und Recht in die Schranken zu treten wagt – das sind die großen Vorzüge, die uns aus allen Werken Schlossers entgegenleuchten. Von der reinsten Liebe zur Menschheit erfüllt, ein echter Hoherpriester der Humanität, begeistert sich Schlosser für alle Fortschritte im Leben der Völker, und wie weiß auch die Zeit sein Haar gebleicht hat, das Herz ist ihm bis heute jung geblieben. Das deutsche Volk aber drückt dem trefflichen Greise, in ihm sich selbst ehrend, den schönsten seiner Kränze in das langwallende schneeige Gelock und küßt dankbar die hohe Greisenstirne, hinter welcher die erhabensten Gedanken thronen!

Ueber sein Leben hat Schlosser selbst in den bei Brockhaus erschienenen „Zeitgenossen. Biographien und Charakteristiken. (Neue Reihe. Fünfter Band. Heft XX.)“ eine treffliche Selbstbiographie veröffentlicht, die jedoch nur bis in den Anfang der zwanziger Jahre reicht und mit seiner Reise nach Paris endigt. Am 17. November 1776 in Jever, einem nicht volle zwei Stunden von der Nordsee an der äußersten Nordspitze des Oldenburgischen gelegenen Städtchen, geboren, war Friedrich Christoph Schlosser das jüngste von zwölf Kindern und der zehnte Sohn. [742] „Meine Mutter“ – so erzählt er selbst – „war aus einer sehr alten und reichen Familie unseres Landes, eine ungemein kräftige Frau, ohne andere Bildung als die, welche sie sich später selbst verschaffte, ohne Fertigkeit das Deutsche zu sprechen oder ihren Ausdruck im Plattdeutschen zu wählen. Dies hinderte sie indeß nicht, juristische Consultationen den Plattdeutschen plattdeutsch zu geben, dabei alle juristischen Kunstausdrücke richtig anzuwenden; woraus ich schließe, daß ihre natürlichen Fähigkeiten sehr ausgezeichnet müssen gewesen sein. Dasselbe zeigte ihr ganzes Benehmen und die Art, wie sie in den bedrängten Umständen ihren Stolz behauptete. Unglücklicherweise hatte ihr Vater sie nach alter Weise mit Prügel und nur mit Prügel erzogen; sie wandte diese rüstringische Manier auch auf alle ihre Kinder an und verdarb sie alle ohne Ausnahme durch die unvernünftige Strenge. Auch auf meinen Charakter wirkte dies sehr nachtheilig ein, erst spät konnte ich durch viele Mühe und Aufmerksamkeit auf mich selbst die Folgen dieser Art von Erziehung weniger schädlich machen, vertilgen werde ich sie nie. Mein Vater hatte einen sehr ausgezeichneten Verstand, ungemeine Kenntnisse, war im Lateinischen und Französischen Meister und der Gelegenheitsdichter seiner Zeit. Ihn hatte aber, wie tausend Andere, das verwünschte Treiben deutscher Universitäten verdorben, wo man Handwerksburschen zwar Knoten schilt, aber doch ihr Saufen, ihr Brüllen, ihr Gebot zur Lade, ihr Altgesellenwesen, ihre Versammlungen in den Schenken, ihre blauen Montage nachahmt und an die Stelle ihrer Prügeleien ein elendes Duellwesen setzt. Er hatte sich duellirt, er hatte sich das Trinken angewöhnt, er setzte dies zu Hause fort, wo er die lieben Genossen von Marburg, Jena und Göttingen, wo er studirt hatte, wiederfand. Als ein gewandter, witziger, feiner Mann gewann er die Gunst meiner Mutter und heirathete sie wider den Willen des alten geizigen Großvaters, dessen Geld ihm und seiner jungen Frau eine geraume Zeit hindurch ein lustiges Leben verschaffte. Von dieser Zeit erhielt ich keine Kunde mehr; als ich zur Welt kam, war Alles traurig und für mich noch trübere Aussichten. Mein Vater war Advocat; er hatte aber zu seinem Geschäft keine Lust, er beschäftigte sich mit schönen Wissenschaften, und im Mißmuthe hatte er sich ganz dem Trunke hingegeben. Die kräftige Mutter hatte aus dem Schiffbruche ihres ansehnlichen Vermögens zwei Gütchen gerettet, die sie mit Löwenmuth gegen ihn vertheidigte; daher dann und über das Trinken ewiger Zank und Zwist.“

In seinem sechsten Lebensjahre ward ihm dieser Vater durch den Tod entrissen und seine weitere Erziehung einer auf dem Lande lebenden Verwandten übertragen. Schon hier entwickelte sich sein Drang zum Bücherlesen, der durch den Schulmeister des Orts möglichst genährt wurde und sich später, als er das Gymnasium seiner Vaterstadt besuchte, in gesteigertem Maße fortsetzte. Zumeist zogen ihn Reisebeschreibungen, ethnographische, geographische und Erziehungs-Schriften jener pädagogischen Zeit gewaltig an, und in seinem funfzehnten Jahre konnte er sich rühmen, mehr als 3000 Bücher dieser Art durchlaufen zu haben. Bald überzeugte er sich jedoch von der Nutzlosigkeit dieses Verfahrens und legte sich nun mit um so größerem Eifer auf das Studium der Geschichte, Mathematik und Physik, wie auf alte und neue Sprachen. Im Jahre 1794 bezog er die Universität Göttingen, um dort Theologie zu studiren; Kästner, Spittler, Plenck, Eichhorn, Heeren und Meiners – Alles gefeierte Namen jener Zeit – waren seine Lehrer, denen er bis in spätere Tage eine dankbare Achtung bewahrt hat. Nach beendigten Studien führte er ein ziemlich wechselvolles Leben; nachdem er eine kurze Zeit als Candidat im Waldeckschen fungirt hatte, kehrte er 1796 wieder nach seiner Vaterstadt zurück, trat aber bald darauf als Hauslehrer in das Haus des Grafen von Bentinck-Rhoone ein, der damals die Grafschaft Varel unter oldenburgischer Hoheit, die Herrschaft Knyphausen aber als unabhängiger Herr, ohne alle Verbindung mit dem deutschen Reiche besaß und seit 1795 als Gefangener in Holland lebte, jedoch bald nach Schlossers Eintritt in sein Haus zurückkehrte. An einem leichtfertigen Höfchen unterrichtete er zwei Jahre hindurch zwei junge Grafen und eine Comtesse von dreizehn Jahren. „Leichten Ton“ – so erzählt er – „Verdorbenheit, falsche Empfindsamkeit, prahlerische Wohlthätigkeit, scheinbare Feinheit, wahre Rohheit, oberflächliche Bildung, Verachtung aller Gründlichkeit und Gelehrsamkeit als Pedanterie, die Züge des elenden Geschlechts, von dem ich als der nouvelle cour angehörig im Gegentheil der ancienne cour dort so viel reden hörte, lernte ich hier im 21. Jahre an der Quelle kennen.“

Nachdem Schlosser zu Varel sich besonders mit Philosophie, namentlich mit dem Studium des Plato und Kant, beschäftigt hatte, gab er 1798 diese Stelle wieder auf und verrichtete einige Zeit die Geschäfte eines Hülfspredigers auf dem Lande. Ohne Aussicht, ein Pfarramt zu erhalten, beschloß er jetzt nach Rußland zu gehen, mußte jedoch dieses Unternehmen bald aufgeben, da um diese Zeit Kaiser Paul das Reisen nach Rußland unmöglich oder doch ungemein schwierig gemacht hatte und der in Altona residirende russische Minister ihm die Ausfertigung eines Passes verweigerte. Er nahm daher die Stelle als Lehrer bei den Kindern eines Kaufmanns an, der in Hamburg fallirt und sich nach dem Dörfchen Othmarschen bei Altona zurückgezogen hatte. Hier lebte Schlosser vom October 1798 bis zum Mai 1800, wo er nach Frankfurt am Main ging, und beschäftigte sich zunächst mit dem Studium der neueren Philosophie und der griechischen Classiker. In Frankfurt widmete er sich ganz der Erziehung und dem Unterricht und gerieth dabei in eine „Studirwuth“, eine Art Krankheit, in welche er auch seine Zöglinge mit hinein zog. „Wir lasen“ – so berichtet er – „den größten Theil der classischen Autoren, trieben Mathematik, Physik, Chemie, besonders mehrere Jahre lang Botanik. – Ich selbst las alle berühmten neuern Historiker von Hume und Rapin an bis auf Heinrich, Schmidt, Voltaire und Johannes von Müller.“ Schon hier begann er an einem „Leitfaden der Geschichte nach den Quellen“ zu arbeiten. Wir bemerken nur flüchtig, daß er im Jahre 1808 einen Ruf als Conrector an der Schule zu Jever annahm, dieses Amt jedoch im Interesse seines Studiums schon im folgenden Jahre wieder aufgab und sich nach Frankfurt zurück wendete, woselbst er einige Lehrstunden am Gymnasium übernahm und dabei den Unterricht der jüngsten Kinder desselben Mannes leitete, in dessen Familie er 1800 als Lehrer eingetreten war.

Bereits im Jahre 1807 begann Schlosser als Schriftsteller aufzutreten. Sein erstes Werk, das er veröffentlichte, führte den Titel: „Abälard und Dulcin“ und war, wie das 1809 erschienene „Leben Beza’s und des Peter Martyr Vermili“, eine Frucht seiner kirchenhistorischen Studien. Im Jahre 1812 folgte seine „Geschichte der bilderstürmenden Kaiser des oströmischen Reichs“, deren Herausgabe ihn mit dem Fürsten Primas Karl von Dalberg, Herrn von Frankfurt, der selbst ein Gelehrter war, in Verbindung brachte und ihm die Berufung als Professor an dem neuerrichteten Lyceum zu Frankfurt verschaffte. Allein schon nach zwei Jahren ging in Folge der über Deutschland brausenden politischen Wirren das junge Lyceum wieder ein; Schlossers Tüchtigkeit war aber allseitigt anerkannt worden, und so übertrug ihm der Rath von Frankfurt mit Einwilligung der Bürgerschaft die Stelle eines Stadtbibliothekars, welche eigentlich nach dem Gesetz nur ein Frankfurter Doctor der Rechte erhalten sollte. Aber schon im Jahre 1817 folgte er einem Rufe als Professor der Geschichte an der Universität zu Heidelberg, welches Amt er bis heute noch bekleidet.

Vorübergehend erwähnen wir noch, daß Schlosser im Jahre 1822 eine wissenschaftliche Reise nach Paris unternahm, um die dort vorhandenen Quellen zu seiner Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts, welche später auch in’s Französische übertragen wurde, zu vergleichen. Zwei Jahre später erhielt er den Titel Geheimer Hofrath, den nachher der Titel Geheimer Rath ersetzte, während ihm sein Landesfürst die Brust mit dem Commandeurkreuz des Ordens vorn Zähringer Löwen schmückte.

Während der langen Reihe von Jahren, innerhalb welcher Schlosser mit ungebeugter Kraft und Lebensfrische Tausende und Abertausende von Jünglingen in die Hallen der Geschichte einführte und für alles Große und Herrliche im Menschen- und Völkerleben zu begeistern strebte, war er nicht minder thätig, durch viele der trefflichsten Geschichtswerke unsere deutsche Literatur zu bereichern und seine tiefen Weltanschauungen durch die Presse zum Gemeingut des Volkes zu machen. Wir nennen zuerst seine „Weltgeschichte in zusammenhängender Erzählung“, deren erste Auflage von 1819 bis 1824 zu Frankfurt in 3 Bänden erschien, während die zweite Auflage vier Theile in 9 Bänden (1839–1841) enthält. Diesem trefflichen Werke folgte (1826–34) die „Universalhistorische Uebersicht der Geschichte der alten Welt und ihrer Cultur“, in welcher er nach Heinrich Kurz’ Worten „ganz besonders [743] mit ausgezeichnetem Scharfsinn und klarem Geiste den Einfluß der rein geistigen Bestrebungen auf die Entwickelung nicht blos der sittlichen, sondern auch der bürgerlichen und politischen Zustände nachweist.“ Wir gedenken ferner seiner so außerordentlich berühmt gewordenen „Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts“, deren erste Auflage 1823 in 2 Bänden erschien, während wir jetzt eine vollständig umgearbeitete und reich vermehrte vierte Auflage davon besitzen, welche zugleich die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts bis zum Sturze des französischen Kaiserreichs enthält; dann die Schrift: „Zur Beurtheilung Napoleons und seiner neuesten Tadler und Lobredner, besonders in Beziehung auf die Zeit von 1810 bis 1813“, welche er in drei Abtheilungen von 1832–35 veröffentlichte.

Schlossers Hauptwerk ist jedoch unstreitig seine „Weltgeschichte für das deutsche Volk“, an welcher sich besonders bis zum achten Bande der bekannte Frankfurter Geograph Dr. G. L. Kriegk, namentlich was die Schreibart betrifft, betheiligt hat. Das war eine deutsche That, wie sie uns nicht leicht ein anderes Volk nachthun wird. Mit ihr hat der hochwürdige Greis, wie Humboldt mit seinem Kosmos, sein Leben zum glorreichsten Abschluß gebracht. In diesem Werke besitzt das deutsche Volk, nach dem wahren Urtheile eines deutschen Publicisten, einen unerschöpflichen Bildungs- und Belehrungsschatz, aus dem es sich, wie aus wenigen anderen Büchern, die politisch und sittlich gesundeste, thatenwirkende Nahrung für seine nationale und geschichtliche Entwickelung ziehen kann. Und wenn wir dereinst wieder den Rang erobert haben, der uns unter den großen geschichtemachenden Nationen zukommt, dann werden wir mit Dank und Liebe uns erinnern, was wir unserm großen Lehrer in der Geschichte zu verdanken haben. – Aus der hochherrlichen Trias Alexander von Humboldt, Ernst Moritz Arndt und Friedrich Christoph Schlosser hat der Tod die beiden Ersten abberufen; auch die Lebenstage des Letztgenannten sind gezählt, wie reich sie immer an wohlverdientem Ruhm und Ehren waren; aber so lange von einem deutschen Volke und von deutscher Sprache geredet werden wird in den fernsten Jahrhunderten, werden die Namen dieser deutschen Geistesfürsten neben den leuchtenden Sternen der deutschen Dichtkunst genannt werden von Volk zu Volk, und das Urtheil der Weltgeschichte, das Urtheil des Weltgerichts, lautet schon jetzt:

„Sie leben unsterblich fort bis an das Ende der Zeiten!“

Damit sich der Leser selbst ein Urtheil über Schlosser’s Anschauung der Geschichte und seine Schreibweise bilden könne, werden wir später einen kurzen Abschnitt aus seiner Geschichte des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts mittheilen.




Der Wald von Bialowicza.
(Schluß.)

Das noch in vielen andern europäischen Waldungen vorkommende urweltliche Thier, der Elenhirsch, glauben wir nicht mit gleicher Ausführlichkeit besprechen zu dürfen, als es bei dem Bison geschehen. Das Elen oder Elch ist sowohl aus Naturgeschichten, als aus zoologischen Gärten und selbst in der Freiheit viel bekannter. Es sei hier nur für die Leser, bei denen unsere Voraussetzung nicht zutreffen sollte, gesagt, daß der Elenhirsch sich von dem Edelhirsch durch seine langen, starken und muskulösen Läufe, durch seinen kurzen Körper, langen Kopf mit hängender Unterlippe und durch seine schaufelförmige Gehörnbildung unterscheidet. Die hängende Unterlippe veranlaßte die alten Völker zu der Annahme, das Elenthier könne nur im Rückwärtsgehen äßen, was natürlich längst widerlegt ist.

Der Elenhirsch hält sich nur in Gegenden auf, in welchen es große Sümpfe gibt, da diese ihm zu seiner Erhaltung nothwendig sind. Morastboden, den weder Mensch noch Thier gefahrlos betreten könnte, durchmißt das plumpe Geschöpf mit Leichtigkeit, ohne einzusinken. Es legt sich dazu auf die Seite und schnellt sich mit den starken Läufen vorwärts. Weil es im Bialowiczaer Walde an Sümpfen fehlt, sucht das Elen dort die benachbarten Gegenden auf, die an tiefen, mit Strauchwerk und Wassergewächsen bedeckten Morästen reich sind. Diese für Menschen völlig unzugänglichen Sümpfe haben eine Ausdehnung von 20–30 Meilen, und theilen sich in mehrere Arme. Mitten in diesem tiefen Moorlande liegt die kleine Stadt Pinsk, auf einer Erderhöhung, zu welcher ein schmaler Damm führt. Sie ist vielleicht eine der unzugänglichsten Festungen, die es gibt, obgleich sie weder von Mauern noch Wällen umgeben ist.

Das Elchwild hat Ende September bis in den October hinein seine Brunstzeit, und es ist dann gefährlich, sich den leicht in Wuth gerathenden Thieren zu nahen. Im Mai setzt das alte Thier 1–2 Junge. Das Elen liebt die Einsamkeil und zieht sich vor den andern Thieren zurück. Unter sich aber lebt es gesellig, wie das Roth- und Damwild, und ist fast immer in größeren Rudeln beisammen zu treffen. In Preußen ist der Haupt-Elchwildstand in dem königl. Forstreviere Ibenhorst bei Memel, wo jetzt wiederum ein Bestand von mehr als 100 Stück vorhanden ist, während ihre Zahl im Jahre der Jagdfreiheit 1848 auf 16 Stück vermindert worden war! Im russischen Litthauen ist dies merkwürdige Thier seit der Regierung Pauls des Ersten seltener geworden. Es wurde ihm damals seiner Haut wegen sehr nachgestellt, aus welcher jener Monarch die Beinkleider für seine schwere Cavallerie verfertigen ließ. Zur Heidenzeit verehrten die Litthauer das Elen als Gottheit und noch heutzutage schreiben sie den geraspelten Hufen dieses Thieres eine heilsame Wirkung gegen epileptische Krämpfe zu.

Wo der Wald ausschließlich zur Holzzucht bestimmt ist, kann übrigens das Elen nicht geduldet werden, da es den Bäumen durch Abschälen der Rinde und durch Niederreiten der jungen Stämme ungeheuren Schaden zufügt. – Die Beschaffenheit und Lebensart aller übrigen im Bialowiczaer Walde vorkommenden Wildarten gibt für den vorliegenden Zweck keinerlei Veranlassung zu weiterer Besprechung, obgleich sie einen Stoff darbieten, der genug des Interessanten enthält, um ihm einen neuen Artikel in diesen Blättern zu widmen. Vielleichl geschieht das gelegentlich einmal!

Die Jagd, wie sie noch heute im Walde von Bialowicza getrieben wird, ist sehr einfach. Man übt sie meist mit Bracken aus, die sehr groß und wild sind, doch ist diese Art der Jagd nicht eben kurzweilig und dem Wildstande überdies nachtheilig. Stundenlang muß man oft bei dieser Gelegenheit auf demselben Posten stehen; man hört die Jagd sich immer weiter und weiter entfernen, und kann nur bei ganz ausgezeichneten Hunden mit einiger Sicherheit darauf rechnen, daß man zu Schusse kommt. Oft treiben die Hunde das Wild meilenweit fort, oder springen von einer Fährte ab, um eine andere zu verfolgen, und bringen schließlich oft gar nichts vor die Büchse des Schützen. Das Pürschenfahren oder Parforce-Reiten verbietet die Beschaffenheit des Waldes; darum ist es das Sicherste, sich an einem gut ausgemachten Wechsel auf den Anstand zu stellen, oder eine Klapperjagd zu veranstalten. Eine solche Klapper- oder Treibjagd im Bialowiczaer Walde gehört unstreitig zu den schönsten und interessantesten Waidmannsgenüssen, und wer einmal das Glück gehabt einer solchen beizuwohnen, dem wird sie stets in der Erinnerung fortleben!

Kaum haben die leicht und vorsichtig angestellten Treiber ihren Marsch durch die Dickung begonnen, so erscheint auch schon, wie aus der Pistole geschossen, der Wolf an der Schützenlinie. Unmittelbar nach ihm sucht Reineke sich durchzustehlen, indem er so lang gestreckt als möglich durch das Unterholz schleicht und nur von Zeit zu Zeit stehen bleibt, um sich zu überzeugen, ob die Treiber noch auf seiner Fährte sind. Dann folgt gewöhnlich das Elchwild in majestätischem Trabe; hier bricht ein Rudel wilder Sauen unter mißvergnügtem Grunzen ob der unwillkommenen Störung sich unaufhaltsam Bahn durch das Dickicht; dort eilt ein flüchtiges Reh vorüber, und an einer andern Stelle sieht man den Bären so schnell als möglich von dannen traben, um sich vor dem bedrohlichen Lärmen in Sicherheit zu bringen. Endlich aber, fast unmittelbar vor den Treibern, die mit allen möglichen Werkzeugen, ihre eigenen Lungen nicht ausgenommen, einen wahren Höllenspectakel vollführen, die Hunde auf seinen Fersen, kommt der Bison schnaufend einhergetrabt. Ab und zu macht er kehrt und bedroht seine kläffenden Verfolger, die vor dieser Senkung seines gewaltigen Nackens und der eisenstarken Hörner die Flucht ergreifen, um, sobald der Bison wieder seinen Lauf fortsetzt, desto eifriger hinter ihm drein zu jagen. Oft freilich geht auch der Bison, trotz aller [744] Anstrengung und trotz des größten Lärmens der Treiber, durch die Linie derselben hindurch und kommt dann nicht vor den Schuß.

Ein Theil des Waldes, der District Nieznanow, ist mit so dichtem Gestrüpp und Unterholz bedeckt, daß ein Eindringen in denselben für ein menschliches Wesen geradezu unmöglich ist. Dieser District dient dem Wilde gewissermaßen als Remise, das heißt: es zieht sich hierher zurück, wenn es verfolgt wird. Hier ist in Folge dessen also die eigentliche Wildkammer des Bialowiczaer Waldes, und wenn große Jagden veranstaltet werden sollen, so sucht man das Wild aus diesem Zufluchtsorte durch alle nur erdenklichen Mittel, wie vieles Schießen, Feueranmachen etc. etc., herauszubringen, um es sodann dem eigentlichen Schauplatze der Jagd zuzutreiben.

Die Jagd auf Bären geschieht gewöhnlich in der Art, daß einige Jäger mit Hunden, womöglich nach einer „Neuen“, d. h. nach frisch gefallenem Schnee, den Bären aufspüren, ihn durch die Hunde zum Stehen bringen und dann ihm die tödtliche Kugel zusenden. Eine Gefahr ist nur selten mit dieser Jagd verknüpft, da selbst bei einem schlechten Schusse der Bär gewöhnlich lieber das Weite sucht, als sich gegen seine Angreifer zur Wehre setzt. Thäte er dies aber auch, so ist es dennoch bei einiger Gewandtheit durchaus nicht schwer, sich vor den Verfolgungen des gereizten Thieres zu retten und den rechten Augenblick wahrzunehmen, um ihn mit einem besser gezielten Schusse zu erlegen.

Die Auerhahn-Balz, welche hier sehr großes Vergnügen gewähren müßte, ist den Jägern von Bialowicza völlig unbekannt. Dieser edle Vogel wird nur bei zufälligen Begegnungen geschossen, und müßte sich demnach bis in’s Unendliche vermehren, wenn nicht, wie allbekannt, die Auerhenne eine der dümmsten und ungescheidtesten Mütter wäre, welche weder die Eier, auf denen sie brütet, noch die jungen Vögel gegen ihre vielen Feinde zu schützen und zu vertheidigen weiß. –

Das edle Waidwerk hat seine Glanzzeit hinter sich! Noch vor hundert Jahren wurde dasselbe mit weit größerer Pracht und bedeutungsvollerem Ernst betrieben, als es heutzutage der Fall ist. Der Wald von Bialowicza hatte seine Glanzepoche zu der Zeit August’s III., Königs von Polen, der bekanntlich ein leidenschaftlicher Jäger war. Auf seinen Befehl und in seinem Beisein fanden daselbst die größten und berühmtesten Jagden statt. Schon Monate vor dem Termine zum Beginn einer solchen Jagd wurden viele Tausende von Leibeigenen aufgeboten, um das Wildpret von allen Seiten des damals noch viel bedeutenderen Waldes nach dem zur Jagd bestimmten Districte heranzutreiben. Ein Terrain von wenig hundert Morgen beherbergte dann am bestimmten Zeitpunkt eine unglaubliche Anzahl des verschiedenartigsten Wildes. Dasselbe wurde hier zuerst „eingelappt“, d. h. der ganze Ort wurde mit Stricken, an welchen Lappen nur lose befestigt waren, die sich beim geringsten Windzuge hin und her bewegten, umschlossen. Dies genügt, um das scheuere Wild, für einige Zeit wenigstens, von dem Durchgehen zurückzuhalten. Hinter diesen Lappen stellte man die Jagdnetze, starke, von Hanf geflochtene, acht Fuß hohe Netze mit großen Maschen, welche an fest eingegrabenen Pfählen befestigt wurden. Beide Einhegungen reichten aber noch nicht hin, um den Bison für längere Zeit festzuhalten. Der ganze Raum wurde daher schließlich noch mit einem hohen und festen Holzgatter umfriedigt. Brincken, welcher sich eine solche Jagd von einem Augenzeugen beschreiben ließ, erzählt, daß dicht vor den Umhegungen eine Art von Pavillon errichtet worden war, in welchem der König mit den vornehmsten seiner Gäste Platz genommen hatte. Etwa zwanzig Schritte von diesem Pavillon entfernt war eine Lücke in den Umhegungen gelassen, nach welcher hin alles hier eingeschlossene Wild getrieben wurde. Nur die Mitglieder der königlichen Familie waren mit Büchsen versehen und schossen. Die Königin erlegte zwanzig Bisons und fand noch so viel Zeit und Seelenruhe, sich die Pausen durch Lectüre zu verkürzen. Sie fehlte nicht ein einziges Mal. Eben so gut schoß der König selbst. Sobald ein Bison stürzte, bliesen die Piqueure auf ihren Halbmonden Fanfaren. Nach der Jagd wurde das Wildpret gestreckt, d. h. nach Gattung und Größe neben einander am Erdboden ausgebreitet, worauf es von dem ganzen Hof und allen Anwesenden unter schmetterndem Hörnerklang besichtigt wurde. Alsdann wog man es und vertheilte es unter die Bauern. Zur Erinnerung an diese Jagd, welche eine der ergiebigsten gewesen zu sein scheint, ließ der König ein Denkmal in der Nähe des Jagdschlosses Bialowicza errichten.

In ganz früher Zeit – das darf hier wohl noch eingeschaltet werden – jagte der gemeine Mann den Bison zu Fuß, mit Lanzen. Zwei Menschen genügten hierbei. Der Eine ging dem Bison, sobald die Hunde denselben gestellt hatte, mit eingelegter Lanze kühn zu Leibe und suchte ihm einen tödtlichen Stoß beizubringen; der Andere aber trachtete darnach, durch Schreien und durch Schwenken rother Tücher die Aufmerksamkeit des Thieres von dem Angreifer ab und auf sich zu lenken. Die Hunde trugen das Ihrige zu dieser Jagd bei, und in den allermeisten Fällen gelang die Erlegung des wüthenden Bison. Sigismund der Große von Litthauen, gest. 1440, ließ einen Verbrecher ganz in rothe Stoffe kleiden und in einem Circus mit einem eingefangenen Bison kämpfen, welcher sein unglückliches Opfer trotz der heldenmüthigsten und verzweifeltsten Gegenwehr bald übermannte und zerstampfte.

Um einen Bison lebendig einzufangen, bediente man sich des Mittels, daß man eine junge, schlanke und biegsame Birke mit ihrem Wipfel zur Erde bog und dort lose befestigte. Eine starke Schlinge von Draht oder Stricken wurde daran angebracht, und der Bison durch duftiges Heu oder eine sonstige „Körnung“ angelockt. Bei der ersten Berührung dieser Lockspeise schnellte die Birke in die Höhe und machte das Thier trotz der gewaltigsten Anstrengungen zum Gefangenen.

Das Resultat der heurigen Jagd am 18. October 1860 war folgendes: der Kaiser schoß 4 Auerochsen, 2 Elen, 3 Rehe, 4 Wölfe, 2 Füchse, 1 Eber; der Großherzog von Weimar 2 Auerochsen, 1 Wolf; Prinz Karl von Preußen 4 Auerochsen, 1 Wolf; Prinz Albrecht von Preußen 1 Auerochsen, 1 Dachs; Prinz August von Württemberg 2 Auerochsen, 1 Schwein, 1 Hasen etc. Das Resultat der zweiten Jagd am 19. October war: der Kaiser 2 Auerochsen, 1 Kalb, 6 Damhirsche, 1 Dachs, 1 Fuchs, 1 Hasen; der Großherzog von Weimar 1 Auerochsen, 2 Wölfe, 2 Rehe, 1 Sau, 1 Ueberläufer; der Prinz Albrecht 1 Keiler, 1 Dachs; der Prinz August 1 Schwein, 1 Wolf und anderes Wild; der Prinz von Hessen 2 Auerochsen, 1 Sau etc. Im Ganzen an diesem Tage: 13 Auerochsen, 8 Damhirsche, 9 Rehe 7 Sauen, 3 Dachse, 2 Hasen, 8 Wölfe.




Reisebriefe.
Von Fr. Gerstäcker.
Nr. 1.
San Lorenzo am Pailon in Ecuador, 27. Juni 1860.     

„Sehr werthe Gartenlaube!

Deine Leser mögen auf der Karte suchen so viel sie wollen, den Platz hier finden sie nicht, und – aufrichtig gesagt – hat es Mühe gekostet, bis ich ihn selber gefunden habe. Merkwürdig bleibt es aber doch, wie sich die Verhältnisse der Menschen ändern, denn vor sieben Wochen saß ich noch gemüthlich in der wunderschönen Rosenau und im Kreise der Meinen, und jetzt – bin ich Hausbesitzer in Lorenzo in einem der entferntesten Winkel des Erdballs, sehe die Fluth vor meiner Thür – eine Thür habe ich eigentlich nicht – steigen und fallen – koche mir meinen eigenen Kaffee, fange mir meine eigenen Fische, und thue genau so, als ob ich auf der ganzen Welt keinen Menschen weiter hätte, der mich nur im Geringsten etwas anginge.

„Aber wo ist denn Lorenzo?“ – Das will ich Ihnen sagen. San Lorenzo ist genau der nämliche Fleck, den Du vor noch gar nicht so langer Zeit so ganz entsetzlich als „Neu-Deutschland“ herausgestrichen hast, verehrte Gartenlaube, und um mir die Sache einmal selber mit anzusehen, bin ich eben hierhergegangen. Daß ich mir dabei eine ganz besondere Suppe eingebrockt, die es Monate lang gebrauchen wird auszuessen, ist eine Privatsache. Jedenfalls bin ich in das tollste Leben, das ich jemals geführt, mit beiden Füßen wieder mitten hineingesprungen, und das Einzige, [745] was ich jetzt thun kann, ist, so lange ich darin stecke, den größtmöglichsten Nutzen daraus zu ziehen.

Ueber das Land selber, in dem ich mich befinde, kann ich allerdings noch nicht urtheilen, denn wir wohnen hier gerade unter einer Dachtraufe. Das soll mich aber nicht abhalten, Dir wenigstens den kleinen Ort so gut als möglich zu beschreiben, und jetzt, wo die Eindrücke noch frisch sind, geht das am Besten.

San Lorenzo liegt am Pailon, etwa 1° 30′ nördl. Breite und circa 78° westl. Länge von Greenwich – denn ich bin einmal nicht mehr gesonnen, mich dem alten deutschen und faulen Schlendrian zu fügen und nach Ferro zu rechnen, das nur noch die deutschen Kartenkünstler kennen. Soweit die Länge und Breite. Sonst liegt San Lorenzo in der Mündung eines kleinen Stromes, der in seinen Biegungen die verschiedensten Namen trägt; die Wasser desselben kommen vom Chimborasso, von Quito und überhaupt den westlichen Hängen der Cordilleren herunter, und es hat den reichsten und fruchtbarsten Boden um sich her, den man sich auf der Welt nur denken kann. Es liegt aber an der Grenze der Manglarensümpfe die seine es vom Meere trennenden Inseln füllen, und am Rand erhöhten ebenen Bodens, der sich nach den nicht sehr fernen Bergen hinüber zieht und mit einer Vegetation bedeckt ist, durch die man weder hinkriechen, noch die man beschreiben kann.

Hier mögen die Leute herkommen, die Urwald zu sehen wünschen oder gar eine Sehnsucht haben im Urwald „spazieren“ zu gehen. Ich bin doch wahrhaftig schon in mancher Wildniß umhergewandert, man kann die Romantik aber auch übertreiben, und so etwas von Wurzeln, Stämmen, Dornen, Schlingpflanzen, Sumpflöchern und Lagunen ist mir noch nicht leicht vorgekommen.

Mein Wohnhaus in San Lorenzo.

Ganz anders soll sich das freilich in den Hügeln und Bergen gestalten, wo der trockene Boden dieser Vegetation schon nicht solchen Vorschub leistet. Außerdem ist jetzt auch gerade das Ende der Regenzeit – wenn ich auch noch kein Ende davon sehen kann – und der Boden deshalb getränkt mit Nässe, die Luft so feucht, daß ich meine Büchse gar nicht geladen unter Dach halten kann, sondern zweimal den Tag mit Oel auswischen muß, um den gröbsten Rost herauszuhalten.

Doch ich wollte ja nur von der Stadt und ihren Bewohnern reden, und die ist interessant genug, eine halbe Stunde einmal darauf zu verwenden – will ich selber doch meinen Aufenthalt hier für Monate nehmen.

San Lorenzo hat etwa 18 Häuser auf einem Plan zerstreut, der mit mäßiger Eintheilung recht gut zweihundert tragen könnte. Dabei ist der Zwischenraum aber keineswegs mit Gärten, sondern nur mit Kühen, Hunden, Schweinen, Hühnern und halb oder ganz nackten Kindern ausgefüllt, die sämmtlich rücksichtslos durch den nassen Boden herüber und hinüber waten. Einzelne Fruchtbäume stehen allerdings hier, besonders viele mit delicaten Früchten bedeckte Orangen. Sonst ist aber nur eine einzige tragende Cocospalme auf dem ganzen Platze zu finden, weil die Leute zu lästerlich faul sind, selbst um eine Nuß in die Erde zu graben; keine Banane wächst dazu um die Häuser, denn dazu müßten sie den Platz einzäunen, die Schweine und Kühe davon abzuhalten, und doch leben die Bewohner fast ausschließlich von Bananen, die hier, noch nicht völlig reif, gebacken zu täglichem Brod, Gemüse und Fleisch verwendet werden.

Die Häuser sind so einfach wie dem Klima angemessen gebaut und stehen alle auf sechs bis acht oder zwölf etwa zehn Fuß hohen Pfosten, und Bambusleitern oder noch viel häufiger nur eingekerbte Stämme, die an dem schwankenden Fußboden lehnen, dienen Menschen, Kindern und Hunden zur Treppe die bel étage zu erreichen. Es ist besonders erstaunlich, welche Geschicklichkeit die Hunde entwickeln, an diesen Beförderungsmitteln nicht allein herauf, sondern auch wieder herunter zu laufen. Ich würde sagen, sie klettern wie die Katzen, wenn eine einzige Katze im ganzen Ort wäre, einen solchen Vergleich zu gestatten. Die menschlichen Bewohner sprechen Spanisch, lassen sich aber sonst von jeder nur erdenklichen Race ableiten, und hätte jeder Farbenton auch einen Klang, so könnte das volltönendste Instrument daraus zusammengestellt werden. Jedenfalls trägt die Kaukasische, Aethiopische und Amerikanische Race die Urschuld an der jetzigen Bevölkerung. Doch auf die Bewohner kommen wir später zurück, und wollen uns jetzt erst einmal eine der Wohnungen etwas näher betrachten.

Vorsichtig auf in den Schlamm festgetretenen Stücken Bambus und Holz, Cocos- und Calebassenschalen und Rindenstreifen haben wir die Treppe – d. h. den eingekerbten Baumstamm erreicht, und singen nun erst unten Ave Maria oder etwas Aehnliches, worauf von oben die Antwort purissima oder eine andere Gebetformel folgt, was theils als Gruß, theils als Erlaubniß gilt, den Platz zu betreten.

Mit der Erlaubniß sind wir aber noch nicht oben, denn der Pfahl ist nichtswürdig schlüpfrig und liegt nicht einmal fest, so daß schon eine Art Turner dazu gehört, glücklich hinauf zu kommen. Oben angelangt steigen wir nun zuerst über zwei oder drei kleine Kinder hinweg, die nackt und ungewaschen überall herum liegen, und hier kann ich nicht umhin zu bemerken, daß ich in meinem ganzen Leben nirgends – selbst nicht im sächsischen Erzgebirge – mehr kleine Kinder gesehen habe als in San Lorenzo. Weniger als fünf findet man in keinem Haus, und das Wunderbare dabei ist, daß sie alle von einem Alter scheinen. Wenn das so fort geht, nicht mehr als die übliche Zahl stirbt, und keine bedeutende Auswanderung stattfindet, so kann man recht gut berechnen, daß in hundert Jahren San Lorenzo etwa 250,000 Einwohner zählen [746] muß. Kinder liegen überall, kriechen am Boden, schaukeln in Hängematten, saugen an ihren Müttern oder an den eigenen Fingern, werfen Calebassen mit Trinkwasser um, ärgern die Hunde und liegen fortwährend am äußersten Rand des Bodens, wo es aussieht, als ob sie jeden Augenblick hinabstürzen müßten. Selbst in den nur aus Palmenrinde gelegten Fußböden sind überall Löcher, durch die sie mit größter Bequemlichkeit rutschen könnten, und die Leiter oder der Baumpfahl scheint eben so bereit zu ihrem Gebrauch wie für den der Hunde und Erwachsenen. Nichtsdestoweniger kümmert sich kein Mensch um sie, man hört auch nie, daß eines wirklich hinab gefallen sei – oder wenn das wäre, daß es Schaden genommen hätte, und die Mütter gehen zum Wasserholen oder fahren in die Bai hinaus, Austern zu suchen, und überlassen die Würmer ruhig sich selbst und ihrem Schutzgeist, der hier jedenfalls alle Hände voll zu thun hat.

In der Stube selber – die das ganze Haus einnimmt – sieht es wunderlich genug aus. An ein Ameublement ist natürlich nicht zu denken, man müßte denn hie und da einen niedrigen Tisch und ein paar Stücken Holz dazu rechnen, die zu Sitzen dienen. Wände existiren ebenfalls nur in einzelnen Fällen, und dann zwar aus gespaltenen Bambus oder eben solcher Palmenrinde. Die Luft hat überall freien Durchgang, und nur das Dach ist mit festzusammengeschnürten Palmenblättern fest und dicht gedeckt, um nicht auch noch den fluthenden Regen von oben hereinzulassen.

Auf ein paar Querstangen von Bambus, in der Mitte des Hauses, liegen einige Harpunen und Angelruthen, auch wohl ein paar breit geschnitzte Ruder, dazwischen steckt eine macheta – ein langes breites Messer, das zum Lichten der Waldung und verschiedenen anderen häuslichen Bedürfnissen dient, drei oder vier Hängematten schwingen überall im Wege, einige sehr kleine Holzkisten stehen an den Seiten, und die innere Einrichtung, mit einem eisernen Topf und sechs bis acht Calebassen, die auf einem rohen Kochheerd ihren Platz haben, ist fertig. Eine Art Balken darf ich aber nicht vergessen zu erwähnen, der, kunstlos bis zum Aeußersten, zu Jedem dient, was in irgend einer Haushaltung vorkommen kann. Dort liegen Calebassen- und Austerschalen, Bananenreste, getrocknete Fische, Orangenschalen, Nachttöpfe, Wischtücher und v orräthige Früchte in malerischer Unordnung durcheinander, und – aber es geht wahrhaftig nicht – ich kann mich nicht weiter auf diese Schilderung einlassen. So viel darf ich aber sagen, daß mir der Schmutz und Unrath in diesen Wohnungen menschlichen Fleißes zu arg wurde, und ich mich den Nächten mit Kinderschreien, Hundebellen und allen möglichen anderen Aufregungen dadurch entzog, daß ich mir ohne Weiteres ein eigenes Haus kaufte.

Ich brauchte dadurch auch meine Casse nicht besonders anzustrengen, denn für 25 Dollars bekam ich ein solches – allerdings nur Dach und Pfahlwerk mit einer außergewöhnlich kleinen Einfriedigung darum – zu Kauf. Ich will versuchen eine Zeichnung beizulegen, an der ich besonders die Treppe Deiner Aufmerksamkeit empfehle.

Nun war ich mit einem Engländer, Mr. Wilson, dem Chef der Ecuador-Gesellschaft in diesen Breiten, und einem Arzt aus Ecuador hierhergekommen. Um aber unsere Briefe auf die Post zu geben, mußte Mr. Wilson vor sieben Tagen in unserem offenen Boot wieder in See gehen und ist heute noch nicht zurückgekehrt. Indessen – bis er zurückgekehrt und wir uns dann in unsern vier Pfählen selber kochen lassen – „speise“ ich noch bei der Familie, bei der wir zuerst eingekehrt, und da ich das Essen nicht zubereiten sehe, mag es derweile gehen. Aber selbst das Essen ist eine Qual. Ich verlange wahrhaftig keine aussuchte Kost für mich und bin mit Allem zufrieden, was man nur eßbar verzehren kann, aber diese Unreinlichkeit des Volkes widert mich unsagbar an. Das widerliche Aufstoßen der Amerikaner, das so gesund sein soll und so schweinisch ist, haben diese Söhne Ecuadors fast in noch ärgerm Maße; heute Morgen lag neben mir beim Frühstück mit einem Theil bloß, den man nicht einmal nennen kann, ein halbwüchsiger Neger; die Kinder, die ebensowenig einen Begriff von einem Taschentuch wie von einer Eisenbahn haben, richten sich an dem modernen Tisch auf und langen nach den Speisen oder liegen in den Hängematten und – apropos kennen Sie die Anekdote: „Kindern ist mit einer Kleinigkeit eine Freude gemacht“? – Nun, es schadet Nichts – genug und genug des Jammers, und ich will aus mehr als einem Grunde hochaufathmen, wenn ich aus diesen Verhältnissen wieder herauskomme. Jedenfalls bessert es sich, sobald wir unsere eigene Wirthschaft führen.

Uebrigens setzte ich die Eingebornen in Erstaunen, als ich mein eignes kleines Haus bezogen und meinen Schreibtisch hergerichtet hatte, denn dort drüben wäre es nicht möglich gewesen, auch nur eine Zeile zu schreiben. Da die Burschen auf der Gotteswelt nichts zu thun haben, als die Woche vielleicht zweimal Bananen zu holen und eine Stunde des Tages Fische oder Austern zu fangen, war ihnen meine Arbeit etwas Neues, und sie machten Anstalt, sich bei mir stetig einzuquartieren. Daß sie mir dabei überall den Boden bespuckten, verstand sich von selbst, und ich überraschte sie in etwas, als ich sie ohne Weiteres zur Bude hinausjagte. Ich erklärte ihnen dabei, daß ich dies Haus genommen habe, um vollständig allein zu sein, und wenn sie mich besuchen wollten, möchten sie einmal kommen, wenn ich nicht zu Hause wäre. Als ich das mit drei oder vieren gemacht, ließen sie mich in Ruh. Es ist schlimm genug, auf einem rollenden Faß zu sitzen und seine Gedanken zu sammeln, es fehlte noch, daß man sich über die faulen Bengel ärgerte.

Die kleine Stadt hat übrigens den Vortheil, daß in ihr nicht ein einziger Laden, überhaupt gar nichts auf der Welt für Geld oder gute Worte zu haben ist – agua ardiente ausgenommen, die ein Menschenfreund von Temaor von Zeit zu Zeit herüberschafft, und für einen Viertel-Dollar drei Viertel-Flaschen verkauft. Die Leute leben dafür aber auch wirklich wenig besser als die Indianer, und daß sie dem Namen nach Christen sind, macht darin natürlich keinen Unterschied. Die Banane ist das tägliche Brod, das auf die verschiedenste Weise zubereitet wird; dazu essen sie dann und wann etwas Reis, wenn sie ihn haben, Fische, Austern, Muscheln und was sie sonst an Wild mit ihren Schrotflinten erlegen können – und das ist wenig genug. Sie halten sich allerdings Hühner, das scheint aber nur mehr zum Staat zu sein, denn einen wirklichen Nutzen habe ich noch nicht daraus ziehen können. Natürlich lebe ich jetzt so einfach wie sie: Morgens Austern und Reis zusammengekocht, was gar nicht so übel schmeckt, dazu eine gebackene Banane und eine Tasse Chocolade. Der Cacaobaum wächst wild in Ecuador – wild aber natürlich nur sehr vereinzelt, und zur Anpflanzung dieses nützlichen Baumes haben es erst sehr Wenige gebracht. Zuckerrohr, Kaffee, Vanille, die verschiedensten Arten von Gewürzen, kurz Alles, Alles, was die Vegetation nur Kostbares auf der Erde erzeugt, könnten sie hier mit der größten Leichtigkeit bauen, und thun gar nichts auf der Gotteswelt, als daß sie sich, vom Hunger getrieben, ein paar Fische fangen. Es ist das traurige Bild einer heruntergekommenen Race, die, wenn es auch hier nicht den Anschein hat, als ob sie ausstirbt, doch jedenfalls dereinst einer anderen weichen muß, denn ebenso viel Recht wie diese Menschen hat auch der Indianer der Wälder, das Land für seine Jagdgründe zu beanspruchen, und welcher civilisirte Staat nimmt noch auf einen Indianer Rücksicht?

Ich sagte vorher, daß die Häuser hier keine Gärten haben, darin finden jedoch Ausnahmen statt, d. h. hier und da ist auf Pfählen ein altes, unbrauchbar gewordenes Canoe aufgestellt und mit Erde gefüllt worden, in dem einige Zwiebeln und dann und wann auch ein paar Bäume wachsen. Weder Zwiebeln noch Blumen sollen nämlich, einer Unzahl kleiner Ameisen wegen, hier in der Erde gezogen werden können. Hängende Gärten der Semiramis – spreche Einer von den sieben Wundern der Welt, der Ecuador noch nicht gesehen hat!

Was den Gesundheitszustand in Lorenzo betrifft, so kann ich darüber noch nicht urtheilen. Wer aber gestern hierher gekommen wäre, würde fest überzeugt gewesen sein, daß dieses kleine Nest der ungesundeste Ort der Erde wäre. In allen Häusern lagen, sonderbarer Weise, nur die Männer krank am Fieber nieder, und mit verbundenen Köpfen und geschlossenen Augen schienen sie ihrer Auflösung geduldig entgegen zu harren. Heute sind sie Alle wieder gesund und frisch wie die Fische, und noch gestern Abend sah ich drei der am schwersten Kranken mit fabelhafter Schnelle über die Bai und in das Gewirr von Lagunen hineinrudern. Das Räthsel ist leicht gelöst, denn wir hatten hier Revolution.

Ich will damit nicht gesagt haben, daß irgend Einer der hier wohnenden Leute auch nur die geringste selbstständige Meinung von Politik hätte, denn Zeitungen existiren nicht, politische Nachrichten dringen nur dann und wann, und dann selbst in ihrer rohsten Form und entstellt hierher; nicht einmal eine Postverbindung besteht, ebenso wenig wie eine Kirche oder Schule, oder polizeiliche Aufsicht, und daß die Leute ohne alles das bestehen können, [747] ist eben eins der unbegriffenen Räthsel der Natur. In Ecuador hatten sich aber in den größeren Städten zwei Parteien gebildet, und während General Franco in Guayaquil herrschte und drohte Quito zu überfallen und zu nehmen, regierte in Quito selber, der Hauptstadt des Landes, ein „provisorisches Directorium“, dessen militärische Spitze, General Flores, dieselben Absichten gegen Guayaquil hatte.

Esmeraldas an der Nordküste gehört nun vor der Hand politisch zu Guayaquil, der Pailon dagegen zu Quito, und General Flores, hieß es, werde von Tamaco aus 200 Mann nach Pailon schicken, um, mit den hiesigen Bürgern vereinigt, Esmeraldas mit Sturm zu nehmen und der provisorischen Regierung zu unterwerfen.

Mir gerade gegenüber, in einem auf Pfählen errichteten Haus ohne Wände, Thüren und Dach, lagerte und exercirte die Truppe von sieben Mann und einem Officier, warb für die gute Sache und wartete auf die Unterstützung von Tamaco. Die Leute hier hatten aber nicht die geringste Lust, nach Esmeraldas in die Schlacht zu ziehen, und als gütliches Zureden nichts half, wurden sie ernstlich krank. Wie die Fliegen lagen sie umher, und erst als die sieben Soldaten sämmtliche Canoes des Ortes zusammenholten und unter ihrem Fort auf’s Trockne zogen, wurden sie für ihre Sicherheit besorgt. Einzelne flüchteten in den Wald, den Abmarsch der kriegerischen Schaar zu erwarten, Andere griffen zu einem noch verzweifeltern Mittel und stahlen ihre Canoes unter den Augen der Schildwacht selbst fort, und als gestern Abend Ordre kam, daß die Verstärkung vom Pailon zur Hauptmacht stoßen solle, waren nur noch fünf Mann, den Officier eingerechnet, übrig, und eben genug, eine zum Proviant bestimmte Kuh mit fortzuführen. Die Berichte, die wir dazu von der Mündung erhielten, wo ein paar Häuser, San Pedro genannt, liegen, lauteten ebenfalls nicht ermuthigend, denn statt der erwarteten 200 Mann waren nur 12 Mann eingetroffen. Was sie jetzt anfangen, ist unbestimmt; jedenfalls werden sie vor allen Dingen die Kuh verzehren und dann wieder zu ihrem friedlichen Nichtsthun in den Schooß der Ihren zurückkehren. Jetzt treffen auch die Buschflüchtigen, ohne ein Zeichen von Fieber, langsam wieder ein, und die Zahl der Kranken reducirt sich auf ein paar Kinder, die frostschüttelnd unter der Tropensonne liegen.

Das kalte Fieber herrscht allerdings hier, aber nicht so arg, wie in den Missisippisümpfen, und scheint auch hier lange nicht so bösartig. Es soll sehr leicht zu heilen sein und keine bösen Folgen zurücklassen, wie dort die sogenannten „Fieberkuchen“ nur zu deutlich zeigen.

Eben, während ich schreibe, kommt ein besorgter Familienvater und fragt bei mir an – er hatte gerade gehört, daß sämmtliche Soldaten hierher kommen würden – ob er mir denn, so lange sie hier wären, nur seine Familie in das Haus bringen dürfte, eine Frau, zwei Töchter und drei schmutzige Jungen. Bei dem Fremden fühlen sie sich sicher, und in dem Fall könnte ich hier eine schöne Colonie von hülfsbedürftigen Frauenzimmern herbekommen. Die Frauen befinden sich in der That in der furchtbarsten Aufregung, denn eine alte Negerin, die eben in einem Canoe hier eingetroffen, muß schreckliche Nachrichten gebracht haben. Sie verschwand wieder wie sie kam, unter einem Regenschirm mitten im Canoe sitzend, das zwei gelbbraune Jungen ruderten.

Uebrigens spiele ich auch hier den Arzt und curire kaltes Fieber und Kolik wahrhaft meisterhaft mit Brechweinstein, Chinin und Opium, warte aber in der That nur auf die versprochene trockene Jahreszeit, um meine Büchse zu schultern, besonders wenn die Soldaten wirklich wieder hierher kommen, die den ganzen Tag nach einem Stein, nicht weit von meinem Haus, wie nach der Scheibe schossen. Das konnte mir unmöglich eine Beruhigung sein, daß sie den Platz nie fanden, wo die Kugel eingeschlagen.

So ist San Lorenzo, und von hier oder doch der Nachbarschaft aus soll sich die englische Ecuador-Niederlassung entwickeln und ausbreiten. Es kann aber nicht im Interesse der Gesellschaft liegen, diesen Hafenplatz, der stets von einer tropischen Niederung umgeben bleibt, zu einem Ziel für deutsche Auswanderung zu machen – und das ist auch nicht der Fall. Hinter dem Pailon dehnt sich das Land nach den Cordilleren empor und alle Berichte darüber lauten gleich, daß jene Höhen dem europäischen Arbeiter vollkommen zusagen werden. Ist doch um Quito herum eins der gesündesten Klimate der Welt.

Doch das habe ich Alles noch nicht gesehen, noch nicht selbst durchwandert, und will und werde nie etwas berichten, wofür ich nicht auch mit gutem Gewissen einstehen kann. Möglich ist es dann auch, daß ich einige gute Jagden mache, denn man erzählt hier viel von einer kleinen Art wilder Schweine, wie von Truthühnern und Auerhühnern – den Beschreibungen nach. Im Inneren soll es dazu Guanacos und Hirsche geben, und die Phantasie schmückt den Wald auch mit dem gefleckten amerikanischen Tiger aus. Bis jetzt habe ich noch nichts gesehen, als diese sogenannten Truthühner, die aber viel kleiner als die unsrigen und von weitem schwarz sind, auch einen langen Schwanz haben. Sie sind also gerade so wie die Truthühner, nur ganz anders. Wahrscheinlich geht es auch mit dem Uebrigen ebenso; rostet mir aber meine Flinte nicht ganz ein, und in diesen ewigen Regengüssen sind dazu alle Aussichten vorhanden, so denk’ ich dem ecuadorischen Urwald doch einigen Tribut abzuzwacken und dann erzähle ich Dir vielleicht davon.

Jetzt bin ich einmal wieder draußen, mitten in der weiten wilden Welt – um mich rauschen die Manglaren und Palmen, und schütteln ihre zarten Zweige, über mir schaut das Südenkreuz still und geheimnißvoll herab – wenn der Himmel nicht eben so voll Wolken hängt, daß man weder Kreuz noch Halbmond sehen kann – und eine neue lange Wanderschaft steht mir bevor. Aber das Herz gehört deshalb doch der Heimath, das Herz zieht es doch dorthin zurück, und wenn ich hier Abends an meinem wunderlichen Tisch sitze, die Bai vor mir, das raschelnde Palmendach über mir, die fremden wunderlichen Töne des Waldes um mich her, und mir von meiner alten, treuen Cither vorplaudern lasse, fühle ich doch nur immer mehr, daß ich – ein Deutscher bin – eine Sache, wegen der ich manchmal nicht umhin kann, mein tiefes inniges Bedauern gegen mich selber auszusprechen. Aber à la comida – ein kleiner brauner Mulattenjunge ruft mich eben zum Essen: Reis und Austern und nachher eine Tasse Kaffee mit einer Esmeralda-Cigarre. Die Welt ist doch schön!“




Bilder aus dem Leben deutscher Dichter.
Nr. 4. Ein Dichter-Asyl.
Mit Benutzung neuer Mittheilungen des Herrn Archidiaconus A. W. Müller in Meiningen, von A. Diezmann.
(Schluß.)

Nachdem Frau von Wolzogen am 24. Januar 1783 über Bamberg nach Stuttgart zurückgereiset war, begann für Schiller wiederum eine öde, trübe Zeit, zumal nachdem am 1. Februar der Winter von Neuem mit aller Macht einzog. Er zählte sehnsüchtig die Tage, die vergehen mußten, ehe er Charlotte wiedersehen konnte. „Ich wünsche,“ schrieb er, „daß die Zeit alle ihre Geschwindigkeit bis auf den Mai zusetzte, damit sie hernach desto ermatteter ginge.“

Den armen Dichter drückte freilich gar Vieles: zuerst seine Liebe zu Charlotte, obwohl er damals noch nicht wußte, daß das Mädchen bereits leidenschaftlich einen Andern liebte; dann erfuhr er, daß seine Mutter ernstlich erkrankt sei, und er mußte fürchten, daß die unmöglich ausbleibende Entdeckung von den drängenden Schulden, die er in Stuttgart zurückgelassen, auf ihren Zustand nachtheilig einwirke, und endlich befand er sich auch in Bauerbach in den drückendsten Geldverlegenheiten, so daß er sich Vieles versagen mußte, selbst den so geliebten Schnupftabak, und sich nur zeitweilig durch kleine Anleihen bei seinen Bekannten hinhalten konnte. Kein Wunder also, daß er an Reinwald schrieb: „Wie sehnlich erwarte ich die Zeit, da die Schwalben an unsern Himmel und die Empfindungen in unsere Brust zurückkommen! Einsamkeit, Mißvergnügen über mein Schicksal, fehlgeschlagene Hoffnungen, vielleicht auch die veränderte Lebensart haben den Klang meines Gemüths verfälscht und das sonst reine Instrument meiner Empfindung verstimmt … Mühsam und wirklich oft wider allen Dank muß ich eine dichterische Stimmung hervorarbeiten, die mich [748] sonst in zehn Minuten bei einem denkenden guten Freunde von selbst anwandelt, oft auch bei einem vortrefflichen Buche oder unter offenem Himmel.“

Trotz alledem war er so fleißig als möglich, namentlich überarbeitete er nochmals seine „Louise Millerin“ und bot sie – vergebens – dem Buchhändler Wergand in Leipzig an. Dies neue Mißlingen würde ihn sicherlich noch tiefer verstimmt haben, wäre nicht gleichzeitig, ganz unerwartet, ein Brief von Talberg aus Mannheim eingegangen, der wohl endlich fühlen mochte, wie sehr er sich an Schiller vergangen, wie sehr er aber auch zugleich sich und seiner Bühne dadurch geschadet, daß er versäumt hatte, einen so hochbegabten Geist, wie den jungen Dichter, der sich ihm vertrauensvoll die Arme geworfen, fest an sich zu binden, nun wieder gut zu machen suchte und um Zusendung des neuen Stückes bat.

Reinwald’s Gartenhaus.

Schiller war klug genug, die ihm dargebotene Hand nicht hastig zu ergreifen, sie aber auch nicht von sich zu stoßen. Das letztere um so weniger, als eine Mittheilung der Frau von Wolzogen ihn von Neuem in die Besorgniß versetzte, er werde nicht lange mehr in Bauerbach bleiben können. Sie schrieb ihm nämlich, ein Herr von Winckelmann (aus Meiningen gebürtig und Officier der Nobelgarde des Herzogs von Würtemberg) wolle sie auf ihrer nächsten Frühjahrsreise nach der Heimath durchaus begleiten. Schiller kannte jenen Herrn recht wohl von Stuttgart her, und der wunderbare Instinct der Eifersucht ließ ihm überdies – mit Recht – in demselben einen Nebenbuhler um das Herz Charlottens ahnen. Er schrieb deshalb an seine mütterliche Freundin einen Brief, in welchem sich der ganze Schmerz seiner Seele offenbart: „Wenn sich Herr von W. mit Ihnen in Meiningen einfinden sollte, so ist es durchaus unmöglich, daß ich Ihre Ankunft erwarten kann. Ganz Meiningen weiß, daß sich ein Würtemberger in Bauerbach aufhält, daß dieser ein sehr guter Freund von Ihnen ist und daß er sich mit Schriften beschäftiget. Ganz Meiningen vermuthet, daß dieser „Ritter“ nicht der ist, für den er sich ausgibt; daß er vielleicht Verdruß in seinem Vaterlande gehabt hat und darum seinen Namen verschweigen muß. Man war schon lange begierig, diesem verkappten Ritter auf die Spur zu kommen, man hat sogar auf den Wahren gerathen. Lassen Sie nun besagten Herrn nach Meiningen kommen. Wird man nicht die erste Gelegenheit ergreifen, nach mir zu forschen? Zweifeln Sie, daß W., wenn ihm alle jene Umstände, mit meiner Figur verbunden, gesagt werden, den Augenblick auf mich fallen wird? Ich gebe Ihnen zu bedenken, ob eine Person, die so wie jener Herr von unserem Thun und lassen unterrichtet, die mehr als tausend Andere neugierig und vorzüglich neugierig auf mein Schicksal ist, bei der ausgestreuten Erdichtung stehen bleiben werde? Ob Sie selbst Gewalt genug über sich haben, das Gegentheil auf seine zudringlichen Fragen mit unveränderter Stirn zu behaupten? Ob er der Mann ist, der in das Geheimniß gezogen werden darf? Ich erkläre Ihnen entschlossen und offenherzig, daß ich das letztere niemals zugeben werde. Ich will ihm duchaus nichts von seinem Werthe nehmen, denn er hat wirklich einige schätzbare Seiten, aber mein Freund wird er nicht mehr, oder gewisse zwei Personen müßten mir gleichgültig werden, die mir so theuer als mein Leben sind. Weil ich also eine Entdeckung auf dieser Seite unmöglich Gefahr laufen kann, so muß ich einen Schritt thun, der mir von allen meines Lebens der schmerzlichste ist, – ich muß Sie verlassen; ich muß Sie zum letzten Male gesehen haben. Es kostet mich viel, es Ihnen zu sagen. Ich kann nicht bergen, daß ich dadurch manche schöne, herrliche Hoffnung aufgeben muß, daß es vielleicht einen Riß in mein ganzes künftiges Schicksal zurückläßt; aber die Beruhigung meiner Ehre geht vor und mein Stolz hat meiner Tugend schon soviel Dienste gethan, daß ich ihm auch einmal eine Tugend preisgeben muß. Es wäre eine unverzeihliche Eitelkeit von mir, wenn ich verlangen könnte, daß Sie um meinetwillen einen Menschen, der sich durch Bande der Verwandtschaft und Liebe an Sie attachirt bat, verstoßen sollten. Nein, es wäre ein ungerechtes Zumuthen, wenn ich prätendirte, daß Sie mir, der kein Verdienst um Sie hat, als Freundschaft, eine Person [749] aufopfern sollten, die keinen Fehler hat, als das; ich sie nicht liebe. Ich würde Ihre und Ihrer guten Lotte Ankunft in Bauerbach nicht ertragen kennen, wenn mir einfiele, daß ich Sie eines Freundes beraubte.“

Es war ein Glück für den Gepeinigten, daß unterdeß der Frühling kam, der es ihm möglich machte, durch Umherstreifen in der wiedererwachenden Natur und durch neu angeknüpfte Bekanntschaften seinen Mismuth zu zerstreuen.

Ein Schritt aus dem Hause und dem Dörfchen brachte ihn in’s Freie, und die Tradition weiß heute noch seine Lieblingswege in der ganzen Umgegend anzugeben. Gleich über dem Dorfe liegt der Fritzenberg, zu dem vom Herrengarten aus der jetzt sogenannte Schillerpfad hinaufführt. Auf der Höhe stand zu seiner Zeit ein von Buchen umgebener Tisch mit Bänken, wo er oft rastete, oft auch seinen Kaffee trank. Von da wendete er sich häufig abwärts durch eine schöne Buchenwaldung, der Tiegel genannt, zu dem waldeinsam liegenden Schlößchen Sophienlust, das die Herzogin Elisabeth Sophie von Meiningen erbauen ließ und das jetzt Amalienruh heißt.

Die Schiller-Hütte bei Bauerbach.

Wollte er von da aus einen noch weitern Weg gehen, so begab er sich durch Still und weiter über die Dreißigackerer Höhe nach Walldorf oder über die Spießenleute nach Reinwald’s Gartenhause bei Meiningen, das in einem sogenannten Berggarten, oben am Ende des Berges, am Saume eines Kiefernwaldes steht, von einer höchst malerischen Baumgruppe umgeben, ein höchst einfaches Häuschen, von dem aus man aber eine reizende Aussicht hat, welche ein Höhenzug des Thüringer Waldes abschließt. In diesem Häuschen fand er häufig die rechte Stimmung zu poetischem Schaffen, und einige Scenen des „Don Carlos“ sind darin entstanden. Nicht selten bestieg er auch den Gipfel der Eulskoppe, die auf guten Wegen leicht zugängig war, um die Aussicht von da zu genießen, die bis zum Inselsberg reicht, während sich im Westen ein Hügel mit den Ruinen der Stammburg der Grafen von Henneberg zeigt. Oder er wanderte auf einem schönen Waldpfade, abwechselnd durch Buchenwald und Tannendickicht, nach dem Spatel, einem wohlgepflegten, von Wiesen begrenzten Waldtheile, in dessen Mitte sich Wege kreuzten und eine von Tannen und Eichen gebildete Laube mit einer Rasenbank zum Ruhen einlud, vielleicht von da noch weiter durch die Bibraischen Büsche nach Bibra selbst, dem Stammsitze des alten Geschlechts der Freiherrn von Bibra. Auch bog er auf einem Punkte dieses Weges wohl ab, um nach Nordheim im Grabfeld zu wandern, und er machte da der Familie von Stein einen Besuch oder noch öfter seinem Leib- und dem von Stein’schen Garderobeschneiter Valentin Kümmel, der ein weitgereister, über seinen Stand gebildeter, weltgewandter Mann war, eine kleine Restauration hielt, die durch ihren trefflichen Kaffee in der ganzen Umgegend berühmt war, und überdies zwei reizende Töchter hatte, die den empfänglichen Dichter wohl auch anzogen. Einst, als er von Nordheim ziemlich spät zurück in die Nähe von Bauerbach kam, hörte er von einer nahen Wiese her ein klägliches Geschrei. Er eilte sofort dahin und fand den Haus- und Hofjuden des Herrn von Stein, Jonas Oberländer, der sich in Bauerbach betrunken hatte und in einen tiefen Wassergraben gefallen war. Der Dichter zog den Betrunkenen glücklich an’s Land, und der Gerettete, der erst vor wenigen Jahren gestorben ist, segnete dankbar bis an sein Ende den Dichter, der ihn aus Todesgefahr befreit. Ein anderes Mal hatte er sich unter einen Birnbaum an der Straße nach Walldorf gelagert und sah von da aus ein Mädchen herankommen, das sich offenbar scheute in seine Nähe zu gelangen. Es war die in der Erziehung sehr vernachlässigte Tochter einer unglücklich verheiratheten Schwester der Frau von Wolzogen, welche diese zu sich genommen hatte. Schiller stand auf und hielt die Kleine an, die Heimweh bekommen hatte und fliehen wollte. Er beruhigt sie, führte sie nach Bauerbach zurück und unterhielt sie den ganzen Abend dadurch, daß er ihr Bilderchen zeichnete, Figuren ausschnitt etc.

Häufig machte er die erwähnten Wanderungen, um einen oder den andern Prediger in der Nähe zu besuchen, den er durch Reinwald kennen gelernt hatte. Merkwürdiger Weise lebten in kleinem Umkreise mehrere Geistliche, die nicht blos wissenschaftlich sehr gebildet, sondern zum Theil sogar berühmt waren, wie Rasche zu Untermaßfeld, der als Numismatiker einen europäischen Ruf hatte, Scharfenberg in Ritschenhausen, den seine entomologischen Schriften bekannt gemacht hauen, Sauerteig in Walldorf, die beiden Frießlich, Vater und Sohn, in Bibra, der Diaconus Volkhardt und der Hofprediger Pfranger in Meiningen, der Verfasser des „Mönchs vom Libanon“, eines Seitenstücks zu Lessing s „Nathan“. Der Letztere allein sah in Nathan eine Verherrlichung des Judenthums auf Kosten des Christenthums, alle Andern waren begeisterte Verehrer Lessings und also wohl geeignet und befähigt, den jungen Dichter anzuziehen und festzuhalten. Sie alle, oder doch mehrere, kamen auch mit Schiller, namentlich in der Zeit als er in Meiningen entdeckt zu werten fürchtete, in dem Volkhardt’schen Gartenhaus Nachmittags und Abends zusammen, wo die Unterhaltung oft sehr lebhaft gewesen sein soll. Der Pfarrer Pfranger, Sohn des genannten Hofpredigers, erzählt: „Als im Jahre 1829 der würdige Pfarrer Sauerteig zu Walldorf sein 50jähriges Amtsjubiläum gefeiert hatte, saß ich am Abende darauf traulich mit ihm an einem Tische zusammen, und er äußerte damals: „Diesen Tisch sollst Du einmal von mir erben. Er ist um dreier Ursachen willen merkwürdig, erstens weil er von mir selbst gefertigt wurde, zweitens weil er mit mir zugleich sein 50jähriges Jubelfest gefeiert, und drittens –? weil Schiller, als er eines Tages von Bauerbach aus mich besuchte, an diesem Tisch eifrig an seinem Don Carlos arbeitete, während ich ihm gegenübersaß und an einem Leichensermon schrieb. Nachdem wir so eine Zeit lang still gearbeitet hatten, forderte Schiller mich auf, ihm etwas von dem vorzulesen, was ich unterdeß geschrieben. Ich that es, und Schiller las mir dann mit großem Pathos die Scene vor, welche ihn eben beschäftigt hatte. Ich war so erstaunt über das, was ich vernahm, daß ich unwillkürlich bemerkte: „unsere Werke von heute werden wohl ein sehr verschiedenes Schicksal haben.““

Nach einer andern Tradition, welche sich in Walldorf erhalten hat, kam Schiller eines Tages mit dem Hofprediger Pfranger in Streit über Lessing’s „Nathan“, den er gegen den Vers des „Mönchs vom Libanon“ warm vertheidigte. Da bemerkte Pfranger: „Sie sind am Ende auch der jetzt überhandnehmenden Freigeisterei zugethan, welche nichts für überflüssiger hält, als die christliche Kirche?“ – „keineswegs,“ soll Schiller geantwortet haben, „im Gegentheil, ich ärgere mich darüber, daß Viele sich so wenig aus ihrer Kirche machen, während, wie ich in Bauerbach und Walldorf sehe, die Juden sehr eifig in ihrem Gottesdienst sind. Ich ärgere mich namentlich darüber, daß es in Bauerbach eine so schlechte Kirche gibt, die man viel eher für einen Holzschuppen, [750] als für ein Gotteshaus halten konnte. Ich habe darum auch Frau von Wolzogen mehrfach ersucht, für eine neue Kirche sorgen zu wollen, ja mich erboten, ein Trauerspiel zu schreiben und den Ertrag für den Kirchenbau zu bestimmen.“ Und allerdings schrieb er später aus Mannheim an Frau v. Wolzogen einmal: „Könnte ich doch, wenn ich wieder nach Bauerbach komme, den Grundstein zur neuen Kirche gelegt finden! Es bleibt dabei, daß ich Etwas darein stifte.“ Auch ist es bekannt, daß er jedesmal in der kleinen Kirche zu Bauerbach war, wenn der Pfarrer Frießlich von Bibra, dessen Filial Bauerbach war, darin predigte. Nur ärgerte er sich über das im Dorfe gebräuchliche alte Gesangbuch, weil es viele geschmacklose Lieder enthielt, und er ruhete nicht, bis dasselbe abgeschafft und durch ein anderes ersetzt wurde, das namentlich viel Gellert’sche Lieder enthielt. Er veranlaßte Frau v. Wolzogen, eine namhafte Summe für den Ankauf des neuen Gesangbuches zu bewilligen, und besorgte denselben selbst.

Als eine seiner Eigenthümlichkeiten, die er schon als Kind gehabt hatte, ist seine bewundernde Vorliebe für Gewitter zu erwähnen, die sich auch in Bauerbach geltend machte, denn man erzählt, er sei bei jedem Gewitter, wenn die Leute in die Häuser geeilt, regelmäßig, selbst im stärksten Regen, hinaus ins Freie und namentlich auf den Fritzenberg gegangen. Indeß sagt man, er habe bei seinen Spaziergängen meist ein paar Blätter von einem Baume gepflückt und sie den ganzen Weg über in der Hand gehabt. Gewöhnlich ging er allein, tief in Nachdenken versunken, und blieb gelegentlich stehen, um etwas in ein Notizbuch zu schreiben. Nur bisweilen ersuchte er den schon erwähnten Juden, ihn zu begleiten. Sonst hielt er sich auch im Frühjahr ziemlich fern von den Leuten in Bauerbach; nur einigemal nahm er am Kegelspiel Theil und an den Sonntags-Abenden, wenn die jungen Burschen und Mädchen unter der Dorflinde zusammenkamen, erschien auch er erst, sprach freundlich mit ihnen und bat, sie möchten ein Lied singen. Gefiel ihm eins besonders, so klatschte er lebhaft Beifall so lange, bis es wiederholt wurde. Unternahm er keinen Gang in’s Freie, so saß er in der schon erwähnten Laube oder Hütte im Hofe unter Linden und las oder schrieb eifrig.

Einmal wurde die Ruhe und Stille seines Lebens in Bauerbach durch einen Tumult gestört, bei dem er sich mit einer gewissen Autorität zu benehmen wußte. Das Dorf und das Gut standen nämlich fortwährend in Fehde, die bei jener Gelegenheit gewaltsam losbrach. Er selber schrieb darüber an Frau von Wolzogen: „Ihr ganzes Bauerbach ist gegenwärtig in Unruhe, welche nur durch Ihre persönliche Autorität gestillt werden kann. Der ewige Groll der Gemeinde gegen den Verwalter äußert sich täglich mehr. Kürzlich entstand ein Streit zwischen den beiden Parteien wegen der Schafe. Voigt und Consorten verboten, das Vieh auf die Wiesen zu treiben. Der Wirth und Andere prätendirten das Gegentheil, die Gerichte sprachen zweimal für den Verwalter und demungeachtet trieben die Letzteren die Schafe auf die Wiesen; Ihre eigenen wurden nicht geschont. Ich kam zu einer Scene, die, so verdrießlich sie mir im Grunde war, den besten Maler verdient hätte. Voigt und Consorton kamen mit Knitteln, die Schafe wegzutreiben; die Andern wehrten sich, man sagte einander Grobheiten, Wahrheiten und dergl. Des Wirths Sohn hetzte den Hund an den Verwalter, welcher, in Gefahr Schläge zu kriegen, die Glocke ziehen ließ und das ganze Dorf aufforderte. Nun ist durch den Gerichtshalter jede gewaltsame Execution des Verbots untersagt und für morgen ein Termin angesetzt. Meine Meinung ist (ich habe beide Parteien gehört), Sie souteniren ihren Schulzen, der doch immer Ihre Person vorstellen muß, gegen das respectswidrige Betragen der Nachbarn. Die Gemeinde aber müssen Sie auch gegen diesen in Schutz nehmen. Rein ist er nicht. Geben Sie ihm Gewalt, aber behalten Sie sich vor sein Verhalten zu untersuchen.“

Es war dies kurz vor der erwarteten Ankunft der Gutsherrin, und Schiller veranlaßte die Gemeinde, ihre unveränderte Liebe und Verehrung für Frau von Wolzogen durch einen recht feierlichen Empfang derselben kund zu thun. Er selbst hatte 9–10 Tage mit allerhand Kleinigkeiten zu thun, da er über sich genommen, Haus und Garten in Stand zu setzen. „Vor dem äußersten Ende des Dorfes“, schreibt er, „ließ ich eine Allee von Maien bis an das Herrenhaus anlegen. Im Hofe des Hauses war eine Ehrenpforte von Tannenzweigen errichtet. Vom Hause ging es unter Schießen in die Kirche, die überall mir Maien vollgestellt war. Wir hatten artige Musik mit Blasinstrumenten, und der Pfarrer hielt eine Einzugsrede, was ich erwähne, weil ich es interessant fand, daß in dem „barbarischen Bauerbach“ dergleichen geschehen ist.“

Was er später so unvergleichlich von „der ersten Liebe goldner Zeit“ gesungen hat, empfand er nun im vollsten Maße, denn seine Leidenschaft für Charlotte loderte in hellen Flammen auf, so daß Frau von Wolzogen es gerathen fand, auf seine Abkühlung bedacht zu sein. Sie zeigte ihm deshalb das Tagebuch ihrer Tochter, aus welchem hervorging, daß sie den Herrn von Winckelmann liebte. Wer weiß, welche Wirkung diese plötzliche niederschlagende Enthüllung auf den Dichter gehabt, wenn er nicht zugleich einen Brief von dem Bruder des Mädchens, seinem Freunde Wilhelm von Wolzogen, erhalten hätte, der ihm eine ähnliche Mittheilung machte, ihn um seine Meinung über Winckelmann bat und ihm seine Schwester empfahl. Das war ein Aufruf an sein edles Herz –, das sich denn auch vollständig bewährte. Er antwortete dem Freunde: „Sie haben mir Ihre Lotte anvertraut. Ich danke Ihnen für diese große Probe Ihrer Liebe zu mir. Noch ganz wie aus den Händen des Schöpfers, unschuldig, die schönste, reichste, empfindsamste Seele und noch kein Hauch des allgemeinen Verderbnisses am lauteren Spiegel ihres Gemüths – so kenne ich Ihre Lotte, und wehe demjenigen, der eine Wolke über diese schuldlose Seele zieht! – Ihre Mutter hat mich zum Vertrauten in einer Sache gemacht, die über das ganze Schicksal Ihrer Lotte entscheidet. Ich kenne den Herrn von Winckelmann, er ist Ihrer Schwester nicht unwerth …“

Schiller’s mit Gewalt niedergehaltene Liebe fand trotzdem bald wieder Gelegenheit sich frei zu äußern. Jener Herr von Winckelmann schien durch die Liebe Charlottens mehr sich geschmeichelt zu fühlen als sie zu erwidern und hatte einige nicht sehr zarte Aeußerungen darüber an Wilhelm von Wolzogen gethan, der entrüstet und besorgt wegen der Schwester an Schiller schrieb. Dieser aber antwortete: „Wir haben Ihre liebe Schwester in Bauerbach vierzehn Tage bei uns gehabt und mit dem größten Vergnügen beobachtet, daß eine ansehnliche Provinz ihres Herzens dem bewußten Götzen noch nicht angehört. Sie ist nicht so melancholisch, als die Eitelkeit gewisse Personen zu überreden scheint etc.“

Daß er sich nun alle erdenkliche Mühe gab, dies Herz für sich zu gewinnen, wird man eben so erklärlich finden, als die Besorgniß der Frau v. Wolzogen, es könne ihm gelingen, da bei den unsichern Aussichten des Dichters eine Verbindung der Tochter mit ihm in sehr großer Ferne lag. Er bestürmte sie, das Verhältniß zu der Herzogin zu lösen, welche bisher das Honorar für Charlotte in einer Pension bezahlt hatte, in welcher es ihr nicht gefiel, und versprach, aus Freude dann jedes Jahr ein Trauerspiel mehr zu schreiben und darauf zu setzen: „Trauerspiel für Loire“. Um das junge Mädchen aus der Nähe des leidenschaftlichen Dichters zu bringen, gab die Mutter sie zu der Amtmännin in Maßfeld, bei der sie einige Kenntnisse in der Wirthschaft erlangen sollte. Diese Trennung steigerte aber Schiller’s Leidenschaft nur noch mehr, obgleich sie in keiner Weise durch Charlotte’s Benehmen genährt wurde. Er vernachlässigte alle seine Arbeiten, da seinen Geist nichts beschäftigte als die Liebe, ja er kam in eine so gefährlich aufgeregte Stimmung, daß das Schlimmste zu fürchten war. Von seiner ungewöhnlichen Erregtheit zeugt u. A. eine Ahnung, die vielfach erzählt worden ist: „Auf einem unwegsamen Pfade durch den Tannenwald, zwischen wildem Gestein, ergriff ihn das Gefühl, daß hier ein Todter begraben liegen müsse, weil es ihn wie ein Hauch aus einer Todtengruft anwehe. Er blieb stehen, der Verwalter Voigt holte ihn ein, wieß auf eine von zwei sich kreuzenden Wegen gebildete Waldspitze und erzählte: „Hier wurde vor einigen Jahren der Fuhrmann Martin von einem Räuber erschlagen und sein Leichnam eingescharrt.“

Es war offenbar die höchste Zeit, daß etwas geschah, um ihn aus solchen Verhältnissen und Zuständen zu reißen. Er selbst jammerte, „daß es weit und breit Niemand gebe, welcher seiner zerstörten und wüsten Phantasie zu Hülfe käme“. Frau v. Wolzogen faßte endlich einen Entschluß, nachdem sie lange Alles bedacht hatte. Der Herzog von Würtemberg benahm sich fortwährend großmüthig: er that nichts gegen die Eltern Schiller’s, auch nichts gegen diesen selbst; die Mannheimer Freunde forderten den Dichter auf, wieder zu ihnen zu kommen, und die Unterhandlungen mit Dalberg wegen „Louise Millerin“ waren noch immer [751] im Gange. Auf einem einsamen Spaziergange durch den Wald brachte sie alles dies, und was ihn in Bauerbach drückte, so zart und schonend als möglich zur Sprache und endlich rieth sie ihm, – eine Reise nach Mannheim zu machen, seine Angelegenheiten dort zu ordnen und dann, wenn er wolle, zu ihr zurück zu kommen. Welchen Eindruck dieser Vorschlag auf ihn machte, geht aus den Worten hervor, die er ein ganzes Jahr später an Frau v. Wolzogen schrieb: „Nie kann ich ohne Bewegung der Seele an den Spaziergang in Ihrem Walde zurückdenken, wo es beschlossen wurde, daß ich eine Zeit lang verreisen sollte!“ Nach einem starken Kampfe mit sich selbst willigte er in den Vorschlag, gewiß freilich mit der stillen Hoffnung, die Folgen der Reise würden ihn seinem Ziel – der Verbindung mit Charlotten – näher führen, und mit dem festen Vesprechen bald wieder zu kommen. Frau v. Wolzogen sorgte für das nöthige Reisegeld, und am 20. Juli 1783 fuhr er in einer Kutsche seiner mütterlichen Freundin aus Bauerbach fort. Nur das Nothwendigste nahm er mit sich, alles Uebrige ließ er zurück für seinen, wie er hoffte, weiteren Aufenthalt, selbst die von Reinwald geliehenen Bücher. Er sollte aber nicht wieder zurückkehren, obwohl er länger als ein Jahr nach Bauerbach sich zurücksehnte.

Erst nach fünf Jahren, als er in Mannheim, in Leipzig und Dresden gewesen, dann nach Weimar gegangen war, kam er wieder in jene Gegend, wie er an Körner nach Dresden schrieb: „Ich war auch wieder in der Gegend, wo ich von 1782 bis 1783 als Einsiedler lebte. Damals war ich noch nicht in der Welt gewesen; ich stand, so zu sagen, schwindelnd an ihrer Schwelle und meine Phantasie hatte ganz erstaunlich viel zu thun. Jetzt, nach fünf Jahren komme ich wieder, nicht ohne mehr Erfahrungen über Menschen, Verhältnisse und mich. Jene Magie war wie weggeblasen. Ich fühlte nichts. Keiner von allen Plätzen, die ehemals meine Aufmerksamkeit interessiren mochten, sagte mir jetzt etwas mehr. Alles hat seine Sprache an mich verloren. An dieser Wirkung sah ich, daß eine große Veränderung in mir vorgegangen war. Und mußte sie nicht? Wie viele neue Gefühle, Schicksale und Situationen liegen in diesem Zeitraume!“

Und Charlotte? Sie verheirathete sich am 30. März 1788 mit dem Regierungsrath von Lilienstern in Hildburghausen, einem Verwandten der Frau von Lengefeld, Schillers späterer Schwiegermutter, starb aber schon 1794 im ersten Wochenbett. Der Herr von Winckelmann aber ging 1787 „aus Schmerz über so viel zertrümmerte Lebenshoffnungen“ mit Carl von Wolzogen nach dem Cap der guten Hoffnung und zwar als Capitain in dem Regimente, welches der Herzog von Würtemberg der holländisch-ostindischen Compagnie in Sold überließ.


Husar und Pandur.

Erzählung von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


Der Anblick, den Trenck bei Frohn’s Worten darbot, war unbeschreiblich. Die dunkelrothe Seite seines Gesichts war gelbgrau, die schwarze erdfahl geworden; die Augen traten aus ihren Höhlen hervor, und dann ergoß sich wieder ein dunkler Blutstrom über diese häßlichen Züge, und in unbändige Wuth ausbrechend, rief er: „Giftmischer … ich erwürge Dich …!“ und drang mit dem gehobenen Säbel auf Frohn ein.

Dieser hatte jede seiner Bewegungen beobachtet; er hatte seinen eigenen Säbel rasch genug erhoben, um mit demselben, ohne ihn aus der Scheide zu ziehen, Trenck’s Waffe pariren zu können.

„Laß der Oberst die Säbel fort,“ sagte er dann ruhig und gebieterisch, „wir können uns die Mühe sparen, uns die Hälse zu brechen. Uns zu stillen Leuten zu machen, dazu reicht das Gift hin … die Augenblicke sind kostbar, und ich verlange, daß Sie mich anhören. Es gibt eine Rettung für uns!“

Der Oberst von der Trenck ließ sich auf seinen Sessel zurückfallen, warf den Säbel neben sich auf den Boden und horchte auf.

„Es gibt eine Rettung,“ fuhr Frohn fort, sich ebenfalls wieder setzend, „… ich habe dies Gift nicht getrunken, ohne seine Wirkung, wenn ich will, lähmen zu können!“

„Aha, ein Gegengift hat Er bei der Hand … das Ganze ist eine Komödie, die man mit mir spielen will,“ fiel Trenck aufathmend ein.

„Eine Komödie nicht – ich werde mir mein Gegengift abkaufen lassen … beliebt dem Obersten mein Preis nicht, so sterben wir Beide. Ich bin in seiner und seiner Leute Gewalt … ich kann, wenn er’s verhindern will, keinen Schritt thun – das Gegengift einnehmen, ohne es ihm auch zukommen zu lassen, kann ich also nicht. Es ist aber auch dafür gesorgt, daß es ohne meinen Willen nicht in Ihre Hände gelangt, mein Herr Oberst. Lasse der Herr Camerad mich in Stücke hauen, es hilft ihm nichts; er sieht, daß ich zu sterben bereit bin, wenn es sein muß. In meinem Gepäcke ist das Gegengift auch nicht, und nicht in meiner Kleidung verborgen … kurz, mit Gewalt richtet der Camerad nichts aus, darauf gebe ich ihm mein Wort als Officier und Edelmann.“

Trenck sah den Redenden starr an; er schien in Frohn’s Zügen dessen innerste Gedanken lesen zu wollen.

„Verflucht,“ sagte er dann, „… es ist zehn gegen eins zu wetten, daß Er mich belügt, daß in der Phiole da nichts ist, als harmloser Stoff … Wasser … aber der Teufel lasse es darauf ankommen – es ist mir, als fühlt’ ich’s jetzt schon im Magen brennen.“

„Und darum ist keine Zeit zu verlieren,“ fiel Frohn ein, „… es gibt nur ein Heilmittel wider diesen Trank – Ihre Quacksalber, wenn Sie sie rufen lassen, vermögen nichts dawider … kommen wir zum Schluß – geben Sie mir schriftlich Ihr Ehrenwort, daß Sie morgen mit mir nach Wien reiten, dann hole ich das Gegengift herbei.“

„Sie sind ein entsetzlicher Mensch!“ sagte Trenck, düster aber ruhig seine Augen auf Frohn heftend.

„Wer mit dem Obersten von der Trenck zu thun hat, muß schon besondere Mittel anwenden,“ entgegnete Frohn lächelnd. „Aber entschließen Sie sich. Ist Ihnen mein Preis zu hoch? Oder wollen Sie einige Augenblicke länger warten, um erst die Wirkungen des Giftes zu spüren? Es könnte dann leicht zu spät werden.“

„Ich muß mich gefangen geben,“ antwortete der Oberst nach einer Pause, während welcher er Frohn fortwährend angestarrt und unverständliche Worte vor sich hin gemurmelt hatte. „So sei’s denn in des Teufels Namen!“

Er zog aus seiner Brusttasche ein Portefeuille hervor, schrieb mit dem Bleistift einige Worte hinein, riß das Blatt heraus mit überreichte es Frohn.

„Es genügt,“ versetzte dieser, nachdem er es überblickt, und barg das Blatt auf seiner Brust. „Lassen Sie Ihren Diener kommen und ihn rasch den Wachtmeister von meinen Husaren herbeiholen; auch lassen Sie Wasser herbeischaffen.“

Trenck nahm eine kleine silberne Pfeife, die vor ihm auf dem Tische lag, und lockte einen hellgellenden Ton daraus hervor. Nach wenig Augenblicken trat der Diener in’s Zimmer.

„Schaff’ Er augenblicklich den Wachtmeister von den Husaren herauf und bring’ Er Wasser herbei!“ herrschte der Oberst ihm zu.

„Der Husar lungert schon lang auf dem Gange,“ sagte der Diener, indem er hinauseilte; gleich darauf kam er in der That mit Franzl wieder herein.

„Franzl,“ sagte der Oberwachtmeister, „wir haben Deinen Stiefel nöthig.“

Franzl hockte im nächsten Augenblicke am Boden und zog mit merkwürdiger Behendigkeit eine seiner Tschismen aus; eben so rasch machte er mit einem Taschenmesser einen Einschnitt in das Lederfutter des Schaftes und zog daraus zwei weiße Päckchen hervor. Aber bei diesem Thun verrieth das Zittern seiner Hände die große Aufregung, worin er sich befand. Frohn nahm ihm die Päckchen ab und ließ sich von dem Diener in zwei Gläser ein wenig von dem Wasser gießen, das der Mensch eben aus dem Nebenzimmer herbeigeholt hatte. Die Päckchen enthielt ein gelben Pulver – Frohn schüttete eines derselben in jedes Glas aus,

[752] mischte es mit dem Wasser, und während er Trenck eines der Gläser reichte, leerte er selbst das andere.

„Wir haben nie in unserm Leben eine wirksamere Medicin eingenommen,“ sagte er dann lächelnd. „Der alte Türk, von dem ich dies kleine schätzbare Geheimmittel habe, hat vor meinen Augen damit die merkwürdigsten Versuche an allerlei Thieren angestellt. Ich freue mich, dem Herrn Obersten jetzt eine ruhige Nacht wünschen zu können … außer etwas Kopfweh und ein wenig Appetitlosigkeit wird dem Herrn Cameraden morgen nichts Beschwerde machen!“

„Will’s hoffen,“ sagte Trenck, indem er rasch die kleine Giftflasche Frohn’s, die noch auf dem Tische stand, ergriff und zu sich steckte, „… es wird auch nöthig sein, damit wir morgen mit freiem Kopfe überlegen können, was weiter zu thun. Bis dahin gehabe der Herr Giftdoctor und sein Apotheker sich wohl!“

Trenck sprach diese Worte mit einem lauten Hohn und jetzt wieder zornig aufflammenden Augen, denen Frohn mit dem ruhig’sten Blicke von der Welt begegnete.

„Auf Wiedersehen!“ sagte er und verließ mit seinem Wachtmeister das Zimmer des Obersten.

„Ist Alles bereit?“ flüsterte er dann Franzl zu, während er den Gang vor Trenck’s Wohnzimmer hinabschritt.

„Alles, wie Sie es befohlen haben. Drei von unsern Leuten stehen auf der Treppe vor uns postirt, wenn Sie das Zeichen gegeben hätten, zu Ihrer Hülfe bereit … zwei sind im Stall bei den gesattelten Pferden, und einer wartet, um uns zum Schiffer zu führen, am Eingang vom Flecken.“

„Und mein Mantelsack?“

„Ist schon aufgeschnallt, der Mantel ist auch bei den Pferden, die großen Pistolen sind frisch geladen und stecken in den Halftern.“

„Dann also vorwärts!“ antwortete Frohn.

Sie waren an der Treppe angekommen, schritten die Stufen hinab, und gefolgt von den drei Husaren, welche auf der Treppe bereits ihres Vorgesetzten harrten, verließ Frohn jetzt eilig das Abtei-Gebäude, um sich über den dunkeln Klosterhof nach den Stallungen zu begeben.


5.

„Der Oberstlieutenant de Dolne soll zu mir kommen,“ sagte Trenck zu seinem Diener, nachdem er eine Zeitlang mit finster gerunzelter Stirn Frohn nachgeblickt hatte.

Der Diener eilte fort, und der Oberstlieutenant erschien.

Er fand Trenck heftig auf- und abgehend und zornig halblaute Worte ausstoßend.

„Setzt Euch, de Dolne – ich will Euren Rath hören. Es gehen merkwürdige Dinge vor.“

„Was ist Euch widerfahren, Oberst … hat Euch die Conferenz mit dem Wiener so echauffirt?“

„Echauffirt? Es ist kein Wunder, daß man echauffirt ist, wenn man eine Dosis Höllenfeuer im Leibe hat … dieser Wiener ist ein wahrer Teufel … ich hätte Lust, einmal meine Seressaner an ihm den Versuch machen zu lassen, ob sie noch einen Kerl richtig zu spießen verstehen!“ – und dann erzählte der Oberst dem Baron de Dolne die ganze Scene, die eben vorgefallen war.

„Das ist ja ein ganz verzweifelter Mensch!“ rief der Letztere außer sich vor Erstaunen aus.

„Und wenn man solch einen Cujon mit solchen verruchten Mitteln in Bewegung setzt,“ fiel der Oberst ein, „um den Trenck zu bewegen, nach Wien zu kommen, um ihn herzuschaffen, er mag wollen oder nicht, so muß da nicht viel Gutes für ihn zusammengebraut werden!“

De Dolne nickte mit dem Kopfe.

„Das ist leicht möglich,“ sagte er. „Das ganze Schock dummer und nichtsnutziger Kerle, die Ihr nach und nach cassirt habt, wühlt da gegen Euch, und der Eine hat diese, der Andere jene Connexionen. Der Krieg ist aus, und man braucht Trenck und seine Panduren nicht mehr. Handhaben wider Euch werden sie schon finden; ich habe Euch immer gerathen, es mit dem Rechnungswesen nicht so leicht zu nehmen. Ihr unterschreibt Alles, was man Euch vorlegt, ohne lange zu lesen, und werft dann die Wische den Schreibern vor die Füße – es ist eine böse Menschensorte, die Federfuchser!“

„Deshalb sollen sie mir vom Halse bleiben, wie ich ihnen,“ fuhr Treuck auf. „Ich kehre mit meinen ganzen Corps direct nach Slavonien heim, und dort wollen wir sehen, wer uns was anhaben wird – Ihr macht noch in dieser Nacht die Marschroute und nehmt den kürzesten Weg durch Steyermark und Illyrien …“

„Ihr werdet also nicht nach Wien gehen?“

„Ich werde mich hüten.“

„Aber Euer Ehrenwort, Oberst, das dieser Wiener Major in der Tasche hat …?“

„Brauch’ ich darum nicht zu brechen,“ rief der Oberst mit höhnischem Lachen. „Glaubt Ihr, der Trenck sei so dumm, sich fangen zu lassen? Er hat mein Ehrenwort, daß ich mit ihm nach Wien reisen wolle … mit ihm – versteht Ihr – ich brauche also nur dafür zu sorgen, daß er nicht hinreist!“

„Ja so!“ rief der Oberstlieutenant aus, mit einem etwas gezwungenen Lachen, hinter dem sich ein stiller Zweifel an der Ehrenhaftigkeit einer solchen Auslegung barg … ein Zweifel, den er jedoch Trenck’s gereizter Stimmung gegenüber zu verschweigen für gut fand.

„Was habt Ihr beschlossen?“ fragte er dann.

„Es gibt mehrere Wege,“ antwortete Trenck, „und ich wollte Euren Rath hören, welcher Euch der beste scheine, de Dolne. Es wird Niemand in der Welt leugnen können, daß dieser Oberstwachtmeister von Frohn ein Giftmischer ist?“

„Es läßt sich wenigstens so darstellen,“ sagte der Oberstlieutenant.

„Deshalb kann ich ihn morgen in Eisen legen lassen und vor ein Kriegsgericht aus meinen Officieren stellen! Man schickt dann die Acten nach Wien und wartet ab, was von dort aus befohlen wird. Unterdeß führt man ihn als Gefangenen dem Corps nach, und auf dem Transport …“

„Können mancherlei Umstände und Zufälle eintreten…“

„Man kann ihn auch meinetwegen entwischen lassen – er wird dann wohl mürbe genug geworden sein und sich hüten, erst bei mir anzuklopfen und mich an mein Ehrenwort zu erinnern.“

„Das ist Ein Weg,“ sagte de Dolne.

„Der zweite ist,“ fuhr Trenck fort, „ich reite morgen ruhig mit ihm, bis wir nach Linz kommen. Dort bestehe ich darauf, daß wir uns beim Feldmarschall-Lieutenant Gouverneur melden, was der Wiener nicht ablehnen kann. Dem Feldmarschall-Lieutenant mache ich Bericht von der Sache und liefere ihn als Arrestanten ab.“

Der Baron de Dolne schüttelte den Kopf.

„Wißt Ihr, Oberst, welche Vollmachten er bei sich führt?

Das Ende vom Liede könnte sein, daß der Feldmarschall-Lieutenant Euch wie ihn sofort arretirt nach Wien instradirte.“

„Arretirt? Mich arretiren?“ fuhr Trenck auf. „So weit sind wir hoffentlich nicht!“

„Hoffentlich nicht … aber es wäre möglich!“

„Pah … darauf hin will ich’s wagen!“

„Beschließt, was Euch das Beste dünkt … mir scheint der erste Weg der klügste!“

„Will mir’s überlegen,“ sagte Trenck nach einer Pause – „mir ist der Kopf ohnehin schwer, und das Zeug, was ich im Magen habe, rumort darin, wie wenn ich ein Ratzennest im Leibe hätte.“

„Wollt Ihr nicht nach dem Feldscheer schicken?“

„Der wird den Teufel wissen, was dawider zu machen ist – ich will’s verschlafen!“

„Seid Ihr so sicher, daß Ihr wirkliches Gift und wirkliches Gegengift bekommen habt?“

„Ja – darauf mögt Ihr Euch verlassen, de Dolne, Komödie spielt dieser Frohn nicht! Er ist nicht der Mann dazu, oder ich verstehe mich auf Menschen nicht!“

„Nun wohl, so geht zur Ruhe. Habt Ihr noch sonst etwas anzuordnen?“

„Nein, de Dolne, ich danke Euch – aber es würde nicht überflüssig sein, den Wiener ein wenig überwachen zu lassen – sorgt dafür, daß er im Auge behalten wird und nicht den Hals aus der Schlinge zieht!“

„Wie Ihr befehlt; ich will einige Seressaner dazu commandiren.“

„Thut das. Gute Nacht!“

(Schluß folgt.)

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.