Die Gartenlaube (1860)/Heft 9
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No. 9. | 1860. |
- Keine regenerirende Idee ist gleich fertig, gewappnet aus dem Schooße der Zeit gesprungen; alle Reformatoren haben für Aufrührer, für Unsittliche, für Empörer gegolten; alle neuen Seelen sind verspottet, mißachtet und wo möglich gekreuzigt worden. Geschieht dies jetzt nicht, so ist es wahrlich nicht die Schuld der Einzelnen, deren bestehende Rechte von den Reformatoren angetastet werden. Die Waldenser, Albigenser, die Hussiten, Savonarola und Wiklef mußten mit ihren Anhängern untergehen, ehe Luther das Werk der Reformation vollbringen konnte. Als er die päpstliche Bulle abriß von der Kirchenthüre zu Wittenberg, um sie unter dem Zujauchzen der Studenten auf offenem Markte zu verbrennen, als er, der Augustinermönch, dem Ehelosigkeit Gebot war, die Nonne Katharina von Bora aus dem Kloster führte und sich von einem seiner Freunde als Gattin antrauen ließ, da haben sehr viele diesen Empörer gegen Religion und Staat auch für einen höchst sittenlosen Menschen gehalten und ihm eben solche Gräuel angedichtet, wie den heutigen Reformatoren aufgebürdet werden. Hat doch selbst Christus, der sich mit Handwerkern umgab, der durch ununterrichtete Männer des Volkes die Schriftgelehrten und Pharisäer bekehren wollte, der mit eigner Hand die Geißel schwang gegen die Krämer im Gotteshause, für einen Aufwiegler, für einen Empörer gegolten und ist als solcher gekreuzigt worden. Wie mag man sich denn noch immer wundern, daß man auch jetzt die Menschen verleumdet, welche die Irrthümer, die furchtbaren Widersprüche unserer Zustände aufdecken und danach streben sie zu verbessern? Wie gibt es immer noch Menschen, die sich durch fremdes Urtheil irren lassen und davor erschrecken, daß man sie revolutionair und sittenlos nennt, weil sie den Muth haben, den alten Schlendrian der zur Sitte gewordenen Unsitte, den Schein des zum Recht erhobenen Mißbrauchs dreist und frei von sich zu werfen! Das hat Jeder thun, Jeder dulden müssen, der die Wahrheit gegen die Lüge, und sich selbst gegen das Beugen unter die Lüge vertheidigte, und als Christus den Tempel säuberte, Luther die Bannbulle verbrannte, da ist für den verständigen, für den innerlich freien Menschen auch die Furcht vor dem Götzen „Was wird man dazu sagen?“ verbrannt, der noch immer als erster Gott die Erde beherrscht und für die Schwachen die Stelle sittlicher Ueberzeugung vertritt.
Nach einer Pause fuhr Hedwig in der Weiterlesung von Lothars Bericht fort: „Herr von Rieth bemächtigte sich lachend der einen Hand des jungen Mädchens. – „Warum ich gekommen bin?“
antwortete er. „Natürlich aus Sehnsucht nach Dir, mein Engel, und um mich an Deinem Glücke zu freuen, Deine Talente zu bewundern. Du spielst ganz herrlich Komödie, kleiner Schatz. Aber laß Dir gestehen, daß ich über Deine Wahl erstaunt bin. Dieser trockene Werner, was ist er eigentlich? Mehr Landjunker oder mehr Gelehrter? Ich fürchte, ein schönes Gemisch von Beidem. Du wirst eine langweilige Ehe haben, arme Kleine. Warum hast Du Dir nicht lieber den Lothar gefangen, wenn es einmal ein Guntershausen sein muß? Der ist doch wenigstens ein hübscher, frischer Junge.“
„Sie hatte den Kopf gesenkt; jetzt erhob sie ihn wieder – ihr sonst so liebliches Gesicht war finster, beinahe bös.
„Mach ein Ende!“ sagte sie. „Und kein Wort gegen Werner! Werner ist gut.“ Mit diesen Worten machte sie sich los, nahm Licht und Körbchen wieder auf und eilte zur gegenüber liegenden Thür hinaus.
„Rieth lachte hinter ihr her. „Vortrefflich!“ rief er; „vortrefflich, kleine Komödiantin!“
„Jetzt hielt ich mich nicht mehr. Er sollte wissen, daß ich ihn belauscht hatte, sollte mir Rechenschaft geben. „Herr von Rieth!“ rief ich aufspringend, aber ich bekam keine Antwort, meine Hand griff in’s Leere; er war bereits zur Thür hinaus, und als ich den Gang hinunter eilte, ihm zu folgen, wurden eben die Saalthüren aufgestoßen. Das Weihnachtsglöckchen läutete, die kleine Hedwig stürzte jauchzend an mir vorüber, die Dienerschaft, die plötzlich aus allen Thüren und Winkeln hervorkam, drängte nach – ehe ich mich besinnen konnte, stand auch ich in dem lichtstrahlenden, blumengeschmückten, von würzigem Tannenduft erfüllten Raume und mein Blick fiel auf Isidore, die, auf Werners Arm gelehnt, von den goldglänzenden Locken wie von einer Glorie umwallt, unter dem großen Weihnachtsbaume stand und mit der heitersten, unbefangensten Miene in das fröhliche Treiben sah.
„Alles bewunderte, dankte, fragte wirr durch einander. Tante Ernestine ging mit dem Anstande einer Königin umher, die Huldigungen der Untergebenen in Empfang zu nehmen. Hardorfs Lachen, Hedwigs lustige Stimme ließen sich bald aus dieser, bald aus jener Gruppe hören. Mich überfiel eine Art von Heimweh nach der stillen Weihnachtsfeier beim Onkel Hersenbrook, und so oft ich seitdem in Guntershausen den Weihnachtsbaum brennen sah, hat mich dasselbe schmerzliche Gefühl beschlichen.
„Mit wunderbarer Geschicklichkeit wußte mir Rieth an diesem Abende auszuweichen, so daß wir uns, trotz meiner Bemühungen, keinen Augenblick allein zusammen fanden. In den nächsten Tagen war sein Benehmen gegen mich aber wieder ganz das alte freundlich herablassende, und mehr als einmal kam ich auf den Gedanken, daß ich die Scene im blauen Zimmer geträumt haben müßte. Oder konnte Isidorens übermüthige Fröhlichkeit erkünstelt sein? – [130] Selbst der Zwang, der sie sonst in Gegenwart ihres Vetters bedrückte, war verschwunden – und war es möglich, daß sich beängstigende, beschämende Erinnerungen wohl gar unter diesem Lachen und Necken verbargen? War es möglich, daß ein so junges Wesen – sie war ja noch ein halbes Kind – mit solcher Vollendung Komödie spielte? Bald sprach ich sie frei von allem Verdacht und machte mir bittere Vorwürfe, bald wurde mein Mißtrauen durch ein Wort, einen Blick des verhaßten Rieth auf’s Neue geweckt. Es war ein Zauberkreis, aus dem ich mich vergebens loszureißen suchte – ich sah nichts mehr, dachte nichts mehr als Isidore.
„Dabei hatte ich das unbestimmte Gefühl, daß in unserem Kreise nach und nach eine Verstimmung eintrat. Tante Ernestine sah noch strenger aus, als gewöhnlich; die gute, sanfte Margarethe traf ich mehr als einmal mit rothgeweinten Augen, ohne daß sie mir sagen wollte, was sie betrübte; Anna ging umher wie eine zürnende Göttin; selbst Hardorf war nicht mehr der Alte. Nur, wenn ihn Isidorens Heiterkeit ansteckte – sie schien sich ein Vergnügen daraus zu machen, bald den Einen, bald den Andern von uns mit sich fortzureißen – hörte man ihn lachen, wie sonst. Werner war der Einzige, der sich gleichblieb. Leider war er den größten Theil des Tages durch die Rechnungen zum Jahresabschluß in Anspruch genommen, aber sobald er sich zu uns gesellte, war Alles gut. Er wurde zum Mittelpunkt des verstörten Kreises, die gereizten Gemüther kamen zur Ruhe, und die flatterhafte kleine Fee, die uns Alle verwirrte, schien nur noch für ihn Auge und Ohr zu haben. Herr von Rieth sogar wurde dann vollständig übersehen.
„Aber was in der Tiefe grollte, kam endlich doch zum Ausbruch. Es war am Sylvestertage. Das Wetter war schön, wir wollten eine Schlittenfahrt machen. Als wir uns zur Abfahrt versammelten, fehlte Margarethe. Tante Ernestine trug mir auf, sie zu rufen, und ich fand sie auf ihrem Zimmer in Thränen aufgelöst auf dem Sopha liegend.
„Laß mich,“ schluchzte sie, als ich meinen Auftrag ausrichtete. „Sag, daß man nicht auf mich warten soll, ich kann nicht mitfahren.“
„Was wird Tante Ernestine sagen?“ warf ich ein, „und Hardorf?“
„Margarethe richtete sich auf. „Hardorf!“ wiederholte sie mit einer Heftigkeit, die mir ganz fremd an ihr war. „Hardorf kann desto ungestörter an die bezaubernde Isidore denken.“
„In diesem Augenblicke trat Anna in’s Zimmer. „Margarethe!“ rief sie vorwurfsvoll, „wie kannst Du Dich so vergessen! Sieh doch nur, wen Du vor Dir hast. Diese Männer sind ja alle in das kokette Ding vernarrt – Lothar womöglich noch mehr, als die Andern. Aber ich habe die Geschichte satt und werde einmal ordentlich mit Tante Ernestine sprechen.“ Und ohne mir zur Antwort Zeit zu lassen, rauschte sie hinaus und zog Margarethe mit sich fort.
„Also eifersüchtig war die arme Schwester! Mir fiel es wie Schuppen von den Augen; ich erkannte, daß ihr sowohl Hardorfs wie Isidorens Benehmen Veranlassung dazu gegeben hatte. Aber wie war das möglich, daß auch ich im Verdacht stand, von der Zauberin bethört zu sein? Es fuhr mir siedend heiß durch die Adern bei diesem Gedanken, und ein Gefühl von Erbitterung gegen das schöne Mädchen regte sich in mir, während ich langsam hinunter ging.
„Auf der Treppe kam mir Joseph entgegen. „Es wird nicht ausgefahren,“ sagte er. „Frau Aebtissin Gnaden und der Herr Graf haben Besuch bekommen“ – und nun nannte er mehrere Familien aus der Nachbarschaft.
„Ich war nicht in der Stimmung, mit Fremden zusammen zu sein, beschloß einen Spaziergang zu machen und wollte, um nicht gesehen zu werden, durch den kleinen Thurm in’s Freie gehen. Als ich die Treppe erreichte, hörte ich unter mir im Flur die Stimme des Herrn von Rieth. – „Warum willst Du mir den Wunsch nicht erfüllen?“ sagte er im durchdringenden Flüstertöne. „Die, Schlitten sind noch angespannt.“
„Ich bog mich über das Geländer und sah hinunter. Es war Isidore, die vor dem Sprechenden stand. Was sie erwiderte, hörte ich nicht, aber während ich rasch die letzten Stufen hinunter eilte, fing Rieth wieder an: „Und wenn es wirklich nur eine tolle Laune wäre,“ sagte er, „was geht es Dich an! Wenn ich will,“ – er betonte das Wort in eigenthümlich drohender Weise – „so hast Du zu gehorchen, mein Kind, das weißt Du doch.“ „In diesem Augenblicke stand ich neben ihm. Die Teppiche auf Gang und Treppe hatten meinen Schritt unhörbar gemacht. Ich legte die Hand auf seinen Arm und sagte bebend vor Zorn: „Sie haben hier nichts zu wollen, mein Herr! Ich bitte, daß Sie meine Schwägerin mit Impertinenzen verschonen.“
„Isidore schrie auf und verschwand in der nächsten Thür. Rieth starrte mich im ersten Moment halb erschreckt, halb verlegen an, aber gleich darauf war er wieder Herr seiner selbst. Er tritt einen Schritt zurück, maß mich vom Kopf bis zu den Füßen mit seinem häßlichen, spöttischen Blick und sagte im hochmüthigen Tone: „Nun, Knabe, was hat das zu bedeuten?“
„Das werden Sie wohl verstehen,“ rief ich, kaum im Stande, mich zu mäßigen; „besonders wenn ich Ihnen sage, daß ich Ihre Unterredung am Weihnachtsabende gehört habe.“
„Ei, wir spioniren!“ rief er hämisch.
„Aus Rücksicht für Isidore habe ich geschwiegen,“ fuhr ich fort, „aber nun ist’s aus. Ich verlange Erklärung, Entschuldigung oder Satisfaction. Sie haben meinen Bruder, meine Schwägerin und mich beleidigt.“
„Herr von Rieth lachte. „Satisfaction, mein junger Alexander,“ sagte er, „die sollen Sie haben, sobald Ihnen der Himmel den ersten Flaum um’s Kinn bescheert!“ dabei sah er mich wieder von oben herunter an, in einer Weise, daß ich mir ganz knabenhaft neben ihm vorkam. Aber ich ließ es mir nicht merken. – „Herr!“ schrie ich wüthend, „ich trage des Königs Rock!“
„Und er steht Ihnen gut,“ erwiderte Rieth mit spöttischer Ruhe. Dabei faßte er meine Hände und hielt sie fest, wie in einen Schraubstock geklemmt. „Hören Sie mich an, junger Mensch,“ fuhr er in ernstem, sehr herablassendem Tone fort. „Ich sehe Sie auf dem besten Wege, sich eine große Dummheit, wenn nicht mehr, zu Schulden kommen zu lassen. Daß Sie in die Stricke der kleinen Hexe gefallen sind, mache ich Ihnen nicht zum Vorwurfe – ist es doch mir altem Knaben vor kurzer Zeit nicht viel besser gegangen. Aber hüten Sie sich, mein junger Freund, die traurige Geschichte von der schönen Friederike und den „feindlichen Brüdern“ zu wiederholen, und hüten Sie sich ferner, Ihr gutes Schwert zu mißbrauchen, um einer so durchtriebenen Kokette willen. Sie ist’s nicht werth, glauben Sie mir und beherzigen Sie meinen Rath. Wollen Sie nicht darauf hören, so werden Sie mich bereit finden, wozu Sie immer wollen.“ Mit diesen Worten ließ er mich los, machte mir eine kurze Verbeugung und ging.
„Einen Augenblick war ich wie betäubt vor Schmerz und Wuth. Dann stürzte ich in den Park hinaus und irrte stundenlang in den verschneiten Wegen umher. Als ich endlich wieder heimkam, war mein Entschluß gefaßt. Rieth sollte sich mit mir schlagen, und wenn ich ihn durch eine öffentliche Beschimpfung dazu zwingen mußte. Es war zu spät. Herr von Rieth sollte Briefe bekommen haben, die ihn sofort nach der Hauptstadt riefen, und war bereits seit einer Stunde unterwegs. Mein erster Gedanke war, ihm nachzueilen, aber wie sollte ich das vor Werner motiviren? Ihm die Wahrheit sagen? Welche Gewißheit konnte ich ihm geben, welche Thatsache anführen? Vielleicht lief Alles auf eine kindische Koketterie hinaus – und darum sollte ich des Bruders glückliche Zuversicht stören?
„Während ich noch darüber nachsann, ließ mich Tante Ernestine rufen. Es waren ein paar Freunde des Hauses da, denen ich mich präsentiren mußte. „Bis morgen will ich warten,“ sagte ich zu mir selbst, nahm mich zusammen, so gut ich konnte, versenkte mich in endlose Gespräche mit den Nachbarn, stieß auf alle üblichen Sylvestertoaste an, auch auf den zweifelhaften Wunsch, daß ich bald eben so glücklich sein möge, wie mein Bruder.
„Von ganzem Herzen, guter Junge!“ rief Werner, der mir sein Glas zustreckte. Ich sah zu Isidoren hinüber; sie wurde roth, aber meinen Blick hielt sie aus; es lag etwas wie Vorwurf und Bitte zugleich in den tiefen blauen Augen. „Es ist nicht möglich, sie kann nicht schuldig sein!“ rief es in mir. Aber in demselben Momente tönte mir auch Anna’s Vorwurf und die hämische Warnung des Herrn von Rieth in den Ohren. War ich meiner selbst noch sicher – war mein Urtheil noch ein ungetrübtes, oder konnte mich wirklich das schöne Mädchen verlocken, wohin es ihr gefiel? Das Beste war, mich zu retten aus dieser Atmosphäre voll Leidenschaft, Mißtrauen und Lüge. Ich dachte an Eva, bei ihr mußte ich Erlösung finden.
„Die Umstände sollten meinem Verlangen nur zu gut entgegenkommen. Schon am nächsten Morgen erhielt ich einen Brief, [131] der mich zum sofortigen Aufbruch zwang. Onkel Hersenbrook war gefährlich erkrankt und verlangte so dringend mich zu sehen, daß der Arzt befohlen hatte, mich davon in Kenntniß zu setzen. Kaum eine Stunde nach Empfang des Briefes stand ich reisefertig der Tante Ernestine gegenüber. Sie war mit meinem raschen Entschlusse zufrieden, und als ich ihr zum Abschied die Hand geküßt hatte, hielt sie die meinige fest und sah mir eine Weile forschend in die Augen.
„Dein nächster Besuch in Guntershausen wird zu Werners Hochzeitsfeier sein,“ sagte sie. „Diese Hochzeit wird gefeiert, verlaß Dich darauf! Was mir Anna geklagt hat und was Du gesehen hast – Isidore hat es mir selbst mit tausend Thränen erzählt – sind lauter Kindereien, die nicht mehr vorkommen sollen. Uebrigens wünsche ich nicht, daß Werner etwas davon erfährt,“ fuhr sie fort. „Er hat genug Sorge und Mühe um Guntershausen, laßt ihm sein Herzensglück ungetrübt.“
„Ich verbeugte mich zustimmend und wurde in Gnaden entlassen. Nun noch ein flüchtiger Abschied von den Schwestern, von Hardorf und Isidore, dann führte mich Werner an den Wagen hinunter – noch einmal schüttelten wir uns die Hand. Wer hätte mir damals gesagt, daß es zum letzten Male war! Dann fuhr ich mit sehnsüchtiger Ungeduld der Heimath meines Herzens zu – und als ich zwei Tage später wieder bei Dir war, meine Eva, Deine kleine warme Hand in der meinigen hielt und Dir in die treuen, jetzt so wehmüthigen Augen sah, war jeder Zweifel am eignen Herzen verschwunden, jeder böse Zauber besiegt.
„Von den schweren Zeiten, die wir damals am Krankenbette Deines Vaters verlebten, brauche ich Dir nichts zu sagen. Alle die angstvollen Tage und Nächte werden Dir so gegenwärtig sein wie mir – und dann die lange Reconvaleseenz, die mit den ersten Wochen der Frühlingslüfte begann und sich bis tief in den Sommer hineinzog, und dann die traurige Ueberzeugung, daß auf vollständige Genesung noch lange nicht, vielleicht nie mehr zu hoffen wäre. Im Juli war’s, als der Arzt die Bäder von Nizza empfahl, im August mußten wir uns trennen. Wie schwer es mir wurde, hast Du wohl nicht geahnt – aber vielleicht hast Du Aehnliches empfunden. Hätten wir uns damals nicht so gut zu beherrschen gewußt, es wäre wohl Manches anders geworden.
„Ende September sollte Werners Hochzeit sein. Zu Anfang des Monats ging er in die Hauptstadt, um einige Geschäfte zu ordnen, und acht Tage später erhielt ich die Nachricht seines Todes. Er war im Duell gefallen – sein Mörder war Rieth!
„Ich eilte in die Hauptstadt; von Schmerz und Rachedurst getrieben. Rieth war entflohen. Niemand wußte wohin. Ueberhaupt war er seinen frühern „Freunden“ seit längerer Zeit aus den Augen verschwunden, und als ich mich – immer in der Hoffnung seine Zufluchtsstätte zu ermitteln – näher nach ihm erkundigte, erfuhr ich, daß er sich gleich nach seinem Besuch in Guntershausen vor dem Ungestüm seiner Gläubiger in irgend welche Verborgenheit zurückgezogen hatte. Seine Existenzmittel schienen von jeher sehr problematischer Natur gewesen zu sein. Das Spiel, sagten Einige – Andere flüsterten den Namen einer alten, reichen, sehr koketten Präsidentin – der ehemalige Hauswirth des Freiherrn erlaubte sich sogar von Schwindeleien zu sprechen. Und diesen verlornen Menschen hatte der wackere Hardorf ohne Bedenken in unser Haus, in unsern Familienkreis eingeführt. Wochenlang hatten meine Schwestern mit ihm unter einem Dache gelebt – Werner, der edle, ehrenhafte Werner hatte geglaubt, die Beleidigungen dieses Elenden mit dem eigenen Blute abwaschen zu müssen; ich selber hätte sicherlich dasselbe gethan, wenn es mir damals gelungen wäre ihn aufzufinden – und das Alles nur, weil der Mensch zufällig einen Namen von gutem Klange führte, und weil wir in unserer geselligen Trägheit solchen Namen als Gewähr der Sitte und Gesinnung seines Trägers hinzunehmen pflegen.
„Die Ursache des Duells sollte ein Zwist um politische Meinungsverschiedenheiten gewesen sein; ich konnte nicht daran glauben. Unter Werners Papieren war nichts, was mir Aufklärung gegeben hätte. Auf seinem Schreibtisch hatte sich nur ein Billet an mich gefunden, das die wenigen mit Bleistift geschriebenen Worte enthielt:
- „Für den Fall meines Todes laß Dir Isidore und Guntershausen empfohlen sein. Ich hätte gern für Beide gelebt, aber ich verlasse sie in der Zuversicht, daß Du in treuer Sorge über sie wachen wirst.“
„Ein Häufchen Asche im Ofen verrieth, daß Werner noch zuletzt einige Papiere verbrannt hatte. In geschäftlicher Beziehung hatte er Alles bis in’s Kleinste geordnet; so blieb mir, als ich – für den Augenblick wenigstens – der Hoffnung, ihn zu rächen, entsagen mußte, nur die traurige Pflicht, seine sterblichen Ueberreste nach Guntershausen zu begleiten. „Dein nächster Besuch wird zu Werners Hochzeit sein,“ hatte Tante Ernestine gesagt; statt dessen fuhr ich jetzt hinter seinem Sarge in den Schloßhof ein. Auf dem Thurme wehte die Trauerflagge, Gänge und Treppen waren schwarz verhängt, und von Meilen in der Runde waren Vornehme und Geringe zusammen gekommen, dem allgemein Geliebten und Beklagten das letzte Geleit zu geben.
„Auch Tante Ernestine war gekommen. Ich erschrak, als sie mir an der Thür des Saales in ihrer tiefen Trauerkleidung entgegentrat. Sie sah noch strenger und starrer aus, als sonst, und schien in den Monaten unserer Trennung um eben so viele Jahre älter geworden zu sein. Sie reichte mir stumm die Hand und drückte die meinige fest und lange, dann führte sie mich nach dem Hintergründe des Zimmers, wo sich eine zweite, schwarzgekleidete Gestalt vom Sopha erhob. Es war Isidore. Auch sie war sehr verändert, sehr bleich, sehr ernst, aber vollkommen ruhig. Ruhig schlug der Puls der kleinen, kalten Hand, ruhig hoben sich die blauen Augen zu mir auf, als sie ein paar Worte über den schweren, schmerzlichen Verlust sagte, der uns Beide betroffen – und als sie später, beim Anblick des Sarges, in Thränen ausbrach, war’s nicht das bittere Weinen, das uns körperlich und seelisch erschüttert. Die Thränen rannen über ein Gesicht, das nichts von dem schönen Einklang seiner Züge verlor. Mir wurde unheimlich in Isidorens Nähe; ich athmete auf, als endlich mit dem letzten Wagen der Trauergäste auch der Wagen der Tante vorfuhr und ich mit meinem Kummer in dem Hause allein war, das ich fortan besitzen und regieren sollte.
„Es war eine Aufgabe, die über meine Kräfte ging, und ich weiß nicht, wie ich ohne Tante Ernestinens Hülfe im Stande gewesen wäre, sie zu lösen. Aber sie stand mir zur Seite mit einer Bereitwilligkeit und Selbstverleugnung, die ich ihr nie vergessen werde. Sie führte mich in die ziemlich verwickelten Verwaltungsgeschäfte ein, gab mir Aufschlüsse über Charakter und Brauchbarkeit meiner Untergebenen, wußte mich bald anzuspornen, bald zurückzuhalten – kurz sie war die Seele meiner Thätigkeit, und so konnte ich, trotz meines innern Widerstrebens, nicht vermeiden, beinahe täglich, wie mit der Tante, so auch mit Isidore zusammen zu kommen. Aber näher traten wir uns dadurch nicht; im Gegentheil, unser Verhältniß wurde immer gezwungener – ich konnte fast sagen, daß es ein unfreundliches war. Mehrere Monate waren so hingegangen, als mich eines Tages Tante Ernestine durch ihren Besuch überraschte. Sie kam allein, und nachdem wir die vorliegenden Geschäfte beseitigt hatten, fragte sie mich ohne jeden Uebergang und ohne Umschweife, was ich gegen Isidore hätte.
„Ebenso unumwunden war meine Antwort. „Sie hat kein Herz,“ sagte ich; „sie hat meinen Bruder nie geliebt, diesen besten, warmherzigsten aller Männer. Sie liebt überhaupt nichts, als sich selbst.“
„Du thust ihr Unrecht,“ erwiderte Tante Ernestine. „Sie hat Werner tief betrauert.“
„Das heißt, sie hat genau so viel Krepp zu ihrem Anzuge verwendet, als für eine trauernde Braut schicklich ist,“ fiel ich ein. „Sie hat sogar die Flatterlocken zusammengeflochten, und wird sich vor Ablauf des Trauerjahrs wohl nicht erlauben, laut zu lachen.“
„Du bist sehr bitter,“ sagte Tante Ernestine vorwurfsvoll, „Du bist sogar grausam. Eine leidenschaftliche Natur ist Isidore freilich nicht, aber doch eine wärmere als Du glaubst. Und daß sie Niemand lieben soll, als sich selbst – Thor der Du bist! Was kann das arme Herz dafür, wenn es nicht im Stande war, Werners glühende Zuneigung ebenso glühend zu erwidern? Muß es darum todt und kalt sein? Glaube mir, das Kind hat einen schweren Kampf gekämpft und kämpft noch immer.“
„Um Rieth, diesen Elenden!“ schrie ich auf. Tante Ernestine legte die Hand auf meinen Arm und warf mir einen der bezwingenden Blicke zu, die ihr zu Gebote stehen, wie Niemand sonst.
„Den Namen wirst Du nie mehr nennen,“ sagte sie streng. „Ich gebe Dir mein Wort, daß das Verhältniß zu ihm eine Kinderei gewesen ist, das tändelnde Spiel einer kleinen Pensionärin, die sich langweilt. Willst Du aber wissen, welch Gefühl ich meine,“ fügte sie nach einer Pause hinzu, „so merk’ auf, mein Junge, wen [132] ihre Augen suchen, wenn sie sich unbeachtet glaubt. Und dann vergiß nicht, daß Alles, was an Stolz in ihr ist, sich gegen diese Neigung empört, die sie als eine hoffnungslose erkennt und erkennen muß.“ Mehr sagte Tante Ernestine nicht, aber wenn es ihre Absicht war mich aufzurütteln und zu beunruhigen, hatte sie ihren Zweck vollkommen erreicht. Die widerstrebendsten Gedanken und Empfindungen flutheten mir durch Herz und Kopf. Es zog mich nach Fischbach hinüber, wie nie zuvor – natürlich nur aus Neugier, wie ich mir einredete, und um Beweise gegen Tante Ernestines Behauptung zu sammeln.
„Aber diese Beweise fand ich nicht. Im Gegentheil, mehr als einmal im Laufe dieses Nachmittags begegnete mein Blick den auf mich gerichteten Augen Isidorens. Ja, sie waren auf mich gerichtet, diese schönen, blauen Augen, mit jenem zauberhaft verlockenden Schimmern und Funkeln, das an das Hüpfen sonnenbeglänzter Wellen erinnert, Euch nie gestattet in die Tiefe zu sehen und Euch vielleicht gerade deshalb mit doppelter Macht anzieht und festhält. Es drang mir heiß zum Herzen und fluthete durch meine Adern, sobald ich diesen Augen begegnete. Endlich trieb mich ein unaussprechlich peinliches Gefühl – ich nannte es Widerwillen, gekränkte Bruderliebe – aus der Nähe der Sirene fort.
„Aber ich mußte wieder und wieder kommen, der Zauber wurde immer mächtiger, und die Eitelkeit, der wir Männer immer unterliegen, kam ihm zu Hülfe. Gewann ich doch immer mehr die Ueberzeugung, daß ich geliebt war, daß dies stolze Mädchenherz um meinetwillen litt und kämpfte, und daß es nur eines Wortes von mir bedurfte, um dies junge, schöne Wesen an mein Herz fliegen zu sehen. Werners Abschiedsworte: „Für den Fall meines Todes laß Dir Isidore empfohlen sein – ich sterbe in der Zuversicht, daß Du in treuer Sorge über sie wachen wirst,“ klangen mir jetzt wie eine unabweisliche Mahnung, und obgleich ich mir gestand – wenn ich nicht bei Isidore war und zur Einkehr in mich selber kam – daß ich sie nicht liebe, so nahm mich doch, sobald ich ihr wieder gegenüber stand, der Zauber ihres Wesens so gefangen, daß ich dem Wunsche, sie an mein Herz zu ziehen, kaum zu widerstehen vermochte.
„In stillen Stunden, meine Eva, trat freilich noch immer Dein sanftes, klares Bild vor meine Seele – aber liebtest Du mich denn, wie ichs begehrte, gabst Du mir mehr als die ruhige, treue Zuneigung einer Freundin? Und ach! Du warst fern, Isidore sah ich täglich – der Zauber behielt den Sieg.
„Endlich ging das Trauerjahr zu Ende. In klar ausgesprochenen Verhältnissen hoffte ich die Ruhe wiederzufinden, die mir jetzt mehr und mehr verloren ging. Aber eines Tages, als ich von der Erlösungsstunde träumte, wurde ich durch ein Billet der Tante benachrichtigt, daß sie in dringenden Stiftsangelegenheiten auf unbestimmte Zeit in die Hauptstadt reisen müßte. Isidore würde sie natürlich begleiten und hätte ihr den herzlichsten Gruß für mich aufgetragen. Ich flog nach Fischbach hinüber – die Damen waren in den ersten Morgenstunden abgereist, und jetzt war die Sonne dem Untergange nahe. Ich mußte mich gedulden, Guntershausen zu verlassen war mir nicht möglich, ich mußte Einsamkeit und Sehnsucht zu ertragen suchen – und als sich die Rückkehr der Tante von Woche zu Woche verzögerte, mußte ich endlich dem Papier meine Wünsche und Bitten anvertrauen. Die Antwort kam – sie brachte mir Isidorens Jawort, und nun flogen die Briefe hin und her. Aber es war nicht die rechte Freudigkeit, nicht das rechte warme Leben darin. War es die Erinnerung an Werner, die zwischen uns stand, oder der wehmüthige Nachhall meiner Jugendliebe? Die Sehnsucht nach Isidore, das Verlangen sie zu besitzen und ihr zu danken für ihre Liebe war jetzt doch so mächtig, daß jede andere Regung verstummte. Meine Briefe wurden immer glühender, warum blieben die ihrigen so kalt und leer? Ich tröstete mich mit der Hoffnung, daß Alles besser würde, wenn wir uns sähen, aber ich mußte lange warten. Erst vierzehn Tage vor dem zur Hochzeit bestimmten Termine kam Tante Ernestine nach Fischbach zurück.
„Meine Hoffnung erfüllte sich nicht. Statt des innigen Entgegenkommens, wonach ich mich sehnte, fand ich ein kaltes, abweisendes, hochmüthiges Benehmen. Nur wenn ich mich gekränkt zurückzog, wurde Isidore freundlicher, und dann war der alte Zauber wieder da. So ging das fort bis zum Hochzeitstage. Für andere ein Freudenfest wurde er für mich zum schrecklichsten Tage meines Lebens. Gleich nach der Trauung kam es zu einer Erklärung zwischen Isidore und mir. Isidore liebte mich nicht. Tante Ernestine hatte sich anfänglich durch ihr Benehmen täuschen lassen, und als sie die Herzenskälte des Mädchens erkannte, die sich verrieth, sobald Isidore das Ziel ihrer Koketterie erreicht hatte, das heißt, sobald sie mich besiegt und gefesselt sah, hatte Tante Ernestine, anstatt mir die Wahrheit zu sagen, Isidore durch einen Machtspruch vermocht, ihr Jawort zu geben. Sie konnte sich nicht entschließen, der Hoffnung ihres Lebens zu entsagen. Sie wollte Guntershausen in alter Größe sehen und tröstete sich mit der Hoffnung, daß uns die Ehe zur Liebe führen würde. Hatte vielleicht auch Isidore darauf gehofft, als sie einwilligte, mein Weib zu werden? Gethan hat sie nichts, um diesen Traum zur Erfüllung zu bringen.
„Hätten wir uns nur gleich nach jenen schrecklichen Stunden entschlossen, unbekümmert um einander unsern Weg zu verfolgen – aber Isidorens Eitelkeit litt das nicht. So oft sie mich kalt oder nur ruhig sah, wußte sie mich mit unwiderstehlicher Koketterie zu reizen und anzuziehen – aber sobald ich der Lockung vertrauend wärmer wurde, zog sie sich in ihre spöttisch kalte Unnahbarkeit zurück, und dies grausame Spiel hat vom ersten bis zum letzten Tage unserer Ehe gewährt.
„Es war im December, als wir heiratheten – der Januar war kaum halb zu Ende, als wir das Zusammenleben in dem einsamen Guntershausen schon nicht mehr ertrugen. Wir gingen in die Hauptstadt, und nun verdoppelte sich meine Qual, denn wie mit mir, so kokettirte Isidore mit jedem Manne, der ihr nur irgend beachtenswerth schien. Ich war eifersüchtig und hatte nicht immer Selbstbeherrschung genug, es zu verbergen. Das gab Isidoren eine neue Waffe gegen mich in die Hände, und sie hat dieselbe nur zu sehr benutzt. Aber ich will sie nicht anklagen! Das arme junge Weib war vielleicht eben so unglücklich wie ich. Während mich der Wunsch zu vergessen nächtelang am Spieltische festhielt oder tagelang, mit dem Gewehr im Arm, durch Felder und Wälder trieb, versammelte sie – vielleicht in demselben Verlangen – die Bewunderer ihrer Schönheit um sich und betäubte sich in dem Weihrauch, den sie ihr spendeten. Ob sie darin Befriedigung fand, ob das lächelnde Gesicht ein sehnsuchtsvolles, liebedurstiges Herz verbarg, oder ob sie wirklich, wie ich früher zu Tante Ernestine gesagt hatte, nichts zu lieben begehrte, als sich selbst – darüber bin ich niemals zur Klarheit gekommen. Ein ernstes Verhältniß – davon bin ich jetzt überzeugt – hat sie nie gehabt. Im Grunde war sie, trotz aller Koketterie, eine stolze Guntershausen, der ihre Ehre heilig ist, und nie habe ich erfahren, daß sie einem ihrer Verehrer gestattet hätte, die Grenze des Schicklichen auch nur um ein Haar breit zu überschreiten.
„Nur einen Vorfall habe ich mir nicht zu erklären vermocht, und ich kann auch heute noch nicht daran denken, ohne daß mir das Blut siedend zu Kopf und Herzen strömt. Es war im dritten Winter unserer Ehe. Wir waren seit mehreren Wochen in die Hauptstadt zurückgekehrt und gingen ein Jeder auf eigenem Wege unseren geselligen Freuden nach. Einmal komme ich ungewöhnlich früh nach Hause – es konnte ein Uhr Morgens sein. Im Begriff, die Klingel zu ziehen, sehe ich, daß die Hausthür nur angelehnt ist, und wie ich, um dem Portier einen Verweis über diese Nachlässigkeit zu geben, der Gesindestube zugehe, kommt ein Mann aus dem matt erleuchteten Gange so rasch und geräuschlos hervor, daß wir zusammenstoßen. Der Hut fällt ihm vom Kopfe, und ich stehe Auge im Auge dem Mörder meines Bruders gegenüber. Einen Augenblick, einen einzigen, bin ich wie gelähmt, aber es war lange genug, dem Feigling zur Zeit Flucht zu geben. Als ich ihm nachstürze, ist er bereits im Gewirr der angrenzenden Gäßchen verschwunden.
„Halb wahnsinnig vor Zorn und Schmerz komme ich endlich von meiner fruchtlosen Verfolgung zurück. Dieser Mensch unter meinem Dache! – Vielleicht – ich mochte diesen Gedanken nicht weiter verfolgen – vielleicht mit Isidorens Bewilligung! Das Kammermädchen, das auf mein Klingeln zitternd herbeikam, versicherte freilich, meine Frau wäre noch nicht vom Balle zurück – ihr Wagen fuhr in der That erst eine halbe Stünde später vor. Aufklärung bekam ich nicht. Der Portier versicherte hoch und theuer, daß er die Thür wie immer verschlossen hätte, und von allen Dienern, die ich befragt, wollte Niemand den Fremden gesehen haben. Daß ich wußte, wer er war, sagte ich natürlich den Leuten nicht.
„Erst am folgenden Morgen, als ich mit Isidore am Frühstückstische zusammentraf, kam der verhaßte Name über meine Lippen, und ohne recht zu wissen, was ich sagte, verlangte ich von ihr eine Erklärung über diesen nächtlichen Besuch. Ich werde den Ausdruck [133] von Zorn und Verachtung, womit sie mich bei diesen Worten anstarrte, nie vergessen.
„Ich hätte nicht geglaubt,“ sagte sie, „daß mich irgend Jemand im Verdacht haben könnte, mit dem Mörder des einzigen Mannes, den ich geachtet und geliebt habe, in Verbindung zu stehen.“ Mit diesen Worten stand sie auf und ging, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, zur Thür hinaus.
„Nach der eben geschilderten Scene wurde unser Verhältniß von Tag zu Tage unerträglicher. Mein Haus wurde mir mehr und mehr verhaßt, das ganze Leben war mir verleidet. Dazu kam, daß ich alle Ursache hatte, mit mir selber unzufrieden zu sein. In dem Verlangen nach Zerstreuung hatte ich meine Aufgabe, die Verwaltung der Güter, auf’s Schmählichste vernachlässigt. Kam ich mit Tante Ernestine zusammen – was freilich nicht oft geschah, da wir uns seit meiner Heirath soviel als möglich vermieden – aber kam ich mit ihr zusammen, so las ich einen Vorwurf in jedem ihrer Blicke; sah ich Guntershausen nach längerer Abwesenheit wieder, so fand ich tausend Unordnungen, die mich peinigten, zu deren Abstellung mir aber die nöthige Energie mehr und mehr verloren ging. Wäre Krieg gewesen, so wäre ich wieder Soldat geworden – ich hatte den Abschied genommen, als ich in Besitz der Güter kam – aber dem Auslande dienen? So weit war ich noch nicht herunter gekommen.
„Der Sommer kam, wir gingen nach Guntershausen. In Lindenbad wurde damals eine Spielbank eröffnet, ich ritt häufig hinüber und kam oft wochenlang nicht nach Hause. Bekanntschaften machte ich wenige, denn die Gesellschaft gefiel mir nicht, und so wurde ich wenig beachtet. Eines Tages, als ich einsam wie gewöhnlich unter den Bäumen am Cursaal meine Cigarre rauchte, hörte ich von ein paar Herren am nächsten Tische einen Namen nennen, der mich gewaltsam aus meiner trübseligen Träumerei aufrüttelte.
„Wo bleibt denn Rieth?“ sagte Einer, ein verdächtig aussehendes Subject, das schmutzige Wäsche trug und mit Schmuck überladen war. „Die Spielsäle werden geöffnet, er pflegt doch sonst keine Viertelstunde zu versäumen – und als er gestern ankam, war auch seine erste Frage nach der Bank.“
„Vergiß doch nicht, daß er hier Mr. Jackson heißt,“ erwiderte der Andere, ein schwarzbärtiger Mann mit militairischem Anstande. „Heute wird er übrigens nicht kommen; er macht einen Besuch in der Nachbarschaft. Guntershofen oder Guntershausen heißt das Nest.“
„Mehr brauchte ich nicht zu wissen. Ich eilte in mein Hotel, ließ satteln, steckte meine Pistolen zu mir und jagte Guntershausen zu. Am äußeren Thore trat mir der alte Joseph zitternd entgegen. „Ist meine Frau zu Hause?“ schrie ich ihn an, indem ich vom Pferde sprang.
„Gräfliche Gnaden sind eben von Berndorf zurückgekommen,“ stammelte er.
„In Berndorf war Erntefest, das Jauchzen und Schießen war deutlich zu hören. „Wer ist sonst noch da?“ fuhr ich fort, und als er erbleichend zurücktrat, faßte ich den armen alten Menschen bei der Schulter. „Gesteh’, oder –“ stieß ich hervor.
„Er nannte den Namen, den ich zu hören erwartete. In großen Sätzen sprang ich die Treppe hinauf und eilte Isidorens Zimmer zu.
Ich war wie berauscht vor Zorn und Rachedurst. Die stolzen Worte, womit Isidore vor einigen Monaten meinen Verdacht zum Schweigen gebracht hatte, tönten mir in den Ohren – wie verächtlich war mir dies Weib dies Weib, das meinen Namen trug! Endlich stand ich an der Thür und stieß sie auf. Alles war still; die Läden waren geschlossen, aber trotz der tiefen Dämmerung sehe ich eine große Gestalt aus der gegenüberliegenden Thür treten – es ist Rieth! Bei meinem Anblick weicht er zurück.
„Steh’, Niederträchtiger, oder ich schieße!“ rufe ich, meiner selbst nicht mehr mächtig. Er hört nicht – ich erhebe das Pistol – in demselben Augenblicke stürzt laut schreiend eine weiße Gestalt aus Isidorens Zimmer, umschließt den Bedrohten mit beiden Armen und sinkt von meiner Kugel getroffen in sich zusammen.
„Mit einem Schrei der Wuth faßt Rieth sie in die Arme, trägt sie in ihr Zimmer zurück und wirft die Thür hinter sich in’s Schloß.
Als es mir gelingt, sie zu öffnen, ist er verschwunden – aber die weiße Gestalt liegt mitten im Zimmer am Boden, still und starr. Ich hatte mein Weib erschossen!
„Erlaß mir, weitläufig von den entsetzlichen Stunden zu erzählen, die nun folgten. Ich war wie vernichtet. Joseph und Tante Ernestine traten handelnd, helfend ein, um das Einzige zu retten, was noch zu retten war, die Ehre des Namens, während ich, dem Wahnsinn nahe, in dem kleinen Raume, wo das Gräßliche geschehen war, hin und her rannte, oder am Lager der Gemordeten stand und die kleine, kalte Hand, die jetzt zum ersten Male ohne Widerstand in der meinigen lag, mit Küssen bedeckte. Als ich einigermaßen zur Besinnung kam, gab mir Tante Ernestine ein Billet, das sie in Isidorens Kleidern gefunden hatte. Es war von Rieth am Tage des Unglücks geschrieben und wahrscheinlich erst in Berndorf an Isidore gelangt. Rieth schrieb darin, er wäre erbötig, „seiner theuren Isidore“ gegen Auszahlung einer Summe, die er umgehend brauche, ihre Briefe zurückzugeben. Wolle sie nicht auf seinen Vorschlag eingehen, so sähe er sich genöthigt, diese interessanten Blätter einigen ihrer Verehrer zu überlassen, die darin mit Freuden den Beweis finden würden, daß Gräfin Isidore nicht immer so kalt gewesen wäre, wie es jetzt den Anschein hätte. Auch die Briefe waren da. In einem Päckchen zusammengebunden hatten sie auf dem Tische im blauen Zimmer gelegen. Als ich mich endlich entschleß, einen Blick hineinzuwerfen, fand ich bestätigt, was mir Tante Ernestine über das Verhältniß zu Rieth gesagt hatte. Es war ein tändelndes Spiel, ein kindisches Verlöbniß, das Rieth selbst wohl nie als bindend angesehen hatte, das er aber trefflich zu nutzen verstand, um die Unerfahrene zu ängstigen und zu quälen, und so war das arme Weib demselben zum Opfer gefallen. Oder war sie nicht vielmehr das Opfer meiner Heftigkeit, meines Mißtrauens? Nicht Rieth – ich war ihr Mörder. Diese Last auf der Seele, dies Bewußtsein – und dann leben sollen wie zuvor! Wie oft war ich im Begriff, mich der weltlichen Gerechtigkeit zu überliefern, um der Qual ein Ende zu machen. Aber Tante Ernestine erinnerte mich an meine Schwestern, der Arzt, ein alter Freund der Familie, der uns bei dem Trauerfall hülfreich zur Seite gestanden hatte, that dasselbe – der alte Joseph lag weinend vor mir auf den Knieen und beschwor mich, diesen Mahnungen zu folgen; und so nahm ich die Last auf mich und schwieg.
„Die Todesart Isidorens blieb ein Geheimniß. Die Wenigen, die die Wahrheit kannten, waren treu wie Gold. Es war freilich möglich, daß noch ein Wesen darum wußte – Isidorens Kammermädchen. Joseph hatte sie noch wenige Minuten vor meiner Ankunft im Hause gesehen. Dann aber hatte sie die allgemeine Verwirrung [134] benutzt, um sich mit den Diamanten der Todten, die erst später vermißt wurden, zu entfernen. Daß ich sie nicht gerichtlich verfolgen würde, hatte sie natürlich vorausgesehen, alle Nachforschungen, die ich unter der Hand anstellte, blieben erfolglos, und so darf ich wohl annehmen, daß auch von dieser Seite nichts mehr zu fürchten ist.
„Wie mein Leben seither gewesen ist, wißt Ihr Alle – was ich gelitten habe, weiß nur Gott. Erst seit der Stunde, wo es mir vergönnt war, Dich, meine Eva, aus dem Feuer zu retten, wage ich wieder zu hoffen, daß auch für mich Versöhnung, Vergebung zu finden ist! Ich füge nichts weiter hinzu; Dein Herz, Eva, mag entscheiden.“
Hedwig schwieg und faltete die Blätter zusammen, während Eva Lothars Hand erfaßte und an die brennenden Lippen drückte.
„Es ist entschieden!“ sagte sie dann, schlang die Arme um seinen Hals, legte den Kopf an seine Brust, und er hielt sie fest, als ob er sie nie mehr lassen könnte. Als sie sich endlich aufrichtete, reichte sie Hedwig die Hand und fragte: „Begreifst Du nun, daß ich nicht anders kann?“
Hedwig sah traurig zu ihr auf. „Du hast Recht, Du bist gut,“ erwiderte sie, „aber freuen kann ich mich nicht, denn glaube mir,“ fuhr sie flüsternd fort, „wenn Dir auch Hildegunde nicht erscheint, an den Fluch der Guntershausen wirst Du doch glauben müssen. Isidorens blutende Gestalt wirst Du immer, immer vor Augen haben, und sie wird Euch Beide zu keiner Freude kommen lassen.“
Von Tante Ernestine unterstützt, hatten die Liebenden den Widerstand der Generalin endlich besiegt. Nach kurzem Verlöbniß wurden sie in der Stille getraut, und unter der Leitung der eben so umsichtigen als gütigen Herrin begann für Guntershausen ein neues Leben.
Aber leider nicht für den armen Lothar! Als die erste Aufregung des Glückes vorüber war, kam die alte Schwermuth mehr und mehr zurück, und als das dritte Jahr seiner zweiten Ehe herankam, war er, obwohl sich äußerlich Alles nach seinen Wünschen gestaltete und obwohl sich Eva’s treue Liebe immer gleich blieb, fast noch düstrer und menschenscheuer, als vor der Verbindung mit ihr. Es war fast als sollte Hedwigs Prophezeihung in Erfüllung gehen. Eva litt ebenso viel wie er, aber sie verrieth es nie, sie gestand es sich selber kaum. Ihr einziges Sinnen und Streben war Lothar zu stützen und zu erheitern. Von diesem Wunsche getrieben, eilte sie am Abende eines schönen Octobertages nach allen Seiten ängstlich umherspähend durch den Park von Guntershausen. Sie war sehr mager geworden, die sanften, braunen Augen sahen in dem schmalen, weißen Gesichte viel größer aus als sonst, und trotz der Hast, mit der sie vorwärts eilte, war eine gewisse Ermüdung in ihrem ganzen Wesen nicht zu verkennen. Plötzlich blieb sie stehen, athmete auf, und für einen Moment flog ein Rosenschimmer über ihre blassen Wangen. Am Ende der Allee, in die sie jetzt einbog, hatte sie die gebeugte Gestalt ihres schwermüthigen Gatten erkannt, den sie nie, auch nur auf wenige Minuten, ohne die tödtlichste Angst aus den Augen verlor. Mit langsamen Schritten ging sie ihm entgegen. Als sie in seine Nähe kam, war ein heiteres Lächeln in ihren Augen und auf ihren Lippen.
„So weit ist’s schon gekommen,“ scherzte sie, „daß ich Dir nachlaufen muß, wenn ich mich Deiner Gesellschaft erfreuen will.“ Mit diesen Worten hing sie sich an seinen Arm und ging an seine Seite geschmiegt mit ihm den Gang hinunter.
„Eine traurige Freude!“ erwiderte er, ohne den gesenkten Kopf zu erheben. „Weißt Du, daß ich heute ein Erinnerungsfest feiere?“ fügte er nach einer Pause hinzu, „hast Du vergessen, daß es heute vor drei Jahren war, als Du mir dort oben am Fenster das Versprechen gabst, mich nicht zu verlassen?“
„Und habe ich das so schlecht gehalten?“ fragte sie in dem heitern Tone, der ihr, obwohl erkünstelt, fast zur zweiten Natur geworden war.
„Gutes, treues Herz, ich weiß, daß Du mich nicht verlassen wirst,“ antwortete der Graf. „Darum eben sehe ich kein Heil für Dich und keine Hoffnung!“
„Lothar!“ fiel Eva in beinahe strengem Tone ein; „Lothar, versündige Dich nicht! Wie viel Glück hat uns der Himmel schon gegeben! Oder zählst Du es für nichts, daß wir uns nach so langer Trennung wieder zusammen fanden, daß wir so ganz für einander, mit einander leben? Und kannst Du leugnen, daß ein ganz besonderer Segen auf allen Deinen Arbeiten und Unternehmungen ruht? Und unser Kind! Denke doch an unsern lieben, prächtigen Jungen!“
„Aber trotz Alledem liegts wie ein Schatten auf Guntershausen,“ erwiderte Lothar. „Es ist etwas Lastendes, Kältendes, Drückendes, das die rechte Lebensfreude nicht aufkommen läßt. Isidorens blutige Gestalt geht überall an meiner Seite. Sie steht zwischen Dir und mir – sie beugt sich über das Bett des Kindes …“
Eva war tief erschüttert, aber sie sagte sich selbst, daß sie ihren Empfindungen nicht nachgeben dürfe, und sagte mit erzwungener Mühe: „Du mußt Dich von diesen Phantasiebildern abwenden. Es ist damit wie mit dem Anblick des Wassers. Je länger Du in die rinnenden, hüpfenden Wellen siehst, je mächtiger lockt und zieht es Dich in die Tiefe. Aber nur ein Blick in die Höhe, und der Zauber ist gebrochen.“
„Meinst Du?“ fragte Lothar mit trübem Blick. „Wohin soll ich die Augen wenden? Auf Dein blasses, bekümmertes Gesicht, das mir deutlicher noch, als die Klagen Deiner Mutter, erzählt, wie viel Du schon in Deiner kurzen Ehe gelitten hast? Oder auf mein armes Kind, das doch auch nur geboren ist, um den Fluch der Guntershausen auf sich zu nehmen? Ober wohin sonst? Nein, nein, Eva, für Dich und mich gibt es keine Erlösung, bis sie mich dort unten zur Ruhe legen,“ fuhr er fort, indem er auf die Grabcapelle deutete, deren Mauern zwischen dem Buschwerk sichtbar wurden.
Eva antwortete nicht. Nach einer Pause suchte sie dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, aber Lothar ging nicht darauf ein. Hörte er überhaupt, was sie sagte? Sein Blick war so starr, seine Miene so düster – ließ sich denn nichts, gar nichts finden, was sein Interesse erregte? Unwillkürlich sah Eva umher und bemerkte, daß aus einem der Seitenwege eine unbekannte Frau in einfacher Trauerkleidung auf sie zukam. Das Zusammensein mit Fremden war Lothar in seinen schwermüthigen Stunden im höchsten Grade peinlich, und Eva war im Begriff die Frau durch einen Wink zurückzuweisen, als ihr die tiefe Bewegung in dem bleichen, sorgenvollen Gesicht der Nahenden auffiel. Nun konnte sie es nicht mehr über sich gewinnen, die Fremde ungehört fortzuschicken, blieb stehen und sah ihr freundlich entgegen.
Die Frau mußte früher schön gewesen sein; die großen, dunkeln Augen, das schwarze Haar, die regelmäßigen Züge waren es noch, aber die Gestalt war von Kummer oder Krankheit gebeugt, das Gesicht früh gealtert und jetzt wie verzerrt von Angst und Schmerz. „Ich wünschte den Herrn Grafen zu sprechen,“ sagte sie kaum hörbar und verbeugte sich in einer Weise, die eine gewisse Bildung verrieth; und als Lothar in seiner halb schwermüthigen, halb zerstreuten Weise fragte, womit er ihr dienen könne, trat sie dicht an ihn heran.
„Kennen mich der Herr Graf nicht mehr?“ fragte sie, und in Thränen ausbrechend fügte sie hinzu: „Ich bin ja die Sophie, die Kammerjungfer der seligen Gräfin Isidore.“
Lothar fuhr auf und starrte sie an, als ob er ein Gespenst vor sich sähe.
„Sie erkennen mich nicht,“ fing die Frau wieder an; „ich bin freilich furchtbar verändert, um zwanzig Jahr älter geworden in der kurzen Zeit, aber ich trage mein Kennzeichen an mir. Ich meine die Narbe vom Schuß des Herrn Grafen. Die Kugel ist mir hier oben durch den Arm gegangen.“
Lothar drückte die Hand an die Stirn. Seine Gedanken verwirrten sich. „Der Schuß!“ wiederholt er. Aber schnell besonnen fiel ihm Eva in’s Wort. „Kommen Sie, gute Frau,“ sagte sie. „Setzen Sie sich dort auf die Bank und erzählen Sie uns Alles. Wir haben nie erfahren können, was damals aus Ihnen geworden ist. Auch können Sie uns vielleicht noch einige Aufklärungen über das schreckliche Ereigniß geben.“ Und kaum im Stande, sich selber aufrecht zu halten, führte sie die Zitternde nach der nächsten Bank und blieb auf Lothars Arm gestützt vor ihr stehen.
Eine Weile schien die Frau nach Fassung zu ringen, endlich sagte sie mit niedergeschlagenen Augen und leiser Stimme: „Es liegt mir vor Allem daran, mich vor dem Herrn Grafen wegen der Diamanten zu rechtfertigen, die damals zugleich mit mir verschwunden sind. In allem Unglück, das mich in letzter Zeit betroffen hat, war es mir ein Trost, daß ich nun wieder in diese Gegend kommen könnte, um mich von dem Verdacht zu reinigen, der doch wahrscheinlich auf mir ruht.“ Sie trocknete sich die Stirn und fuhr nach einer Pause, durch Eva’s Blick ermuthigt, in festerem Tone fort. „Ich kann Ihnen ganz genau erzählen, wie das Unglück geschah. Vor Allem aber muß ich Ihnen sagen, daß ich mit Herrn von Rieth schon lange bekannt war. Wir waren Nachbarskinder, hatten jahrelang täglich zusammen gespielt, und so war’s natürlich, daß wir uns freuten, als wir in der Hauptstadt zusammentrafen. Damals fing er auch an, der Comtesse Isidore den Hof zu machen – es war noch vor der ersten Verlobung der gnädigen Gräfin – und wie er mir sagte, that er das nur, um Gelegenheit zu [135] finden, mich zu sehen. Später habe ich freilich meine eignen Gedanken darüber gehabt. – Aber ich bitte um Verzeihung, wenn ich etwas Unziemliches sage,“ fügte sie verlegen hinzu, „es ist möglich, daß ich das Alles nicht recht verstanden habe.“
„Erzählen Sie weiter!“ fiel Eva ermuthigend ein, indem sie einen flehenden Blick auf den vor Ungeduld bebenden Gatten warf, und die Frau fuhr fort:
„Herr von Rieth kam nach Guntershausen und diesmal wirklich meinetwegen. Er brauchte Gold, ich hatte ihm von meinem kleinen elterlichen Erbtheile und meinen Ersparnissen gesagt – und da ich ihn liebte, war’s leicht mich zu bethören. Das unglückliche Duell mit dem Grafen Werner zwang Rieth, für einige Zeit in’s Ausland zu gehen, aber er schrieb mir und endlich fand er auch Mittel und Wege, mich zuweilen heimlich zu sehen, d. h. im Winter, wenn wir in der Hauptstadt waren. Wovon er eigentlich lebte, erfuhr ich nicht, aber es schien ihm schlecht zu gehen. Er war oft mürrisch und unzufrieden, und mein kleines Vermögen floß nach und nach fast ganz in seine Hände.
„Eines Tages schrieb mir Rieth, er hätte die Absicht, mich in Guntershausen zu besuchen, und bat mich ihm mitzutheilen, wann der Herr Graf wieder einmal verreiste. Vergebens versuchte ich, ihn von diesem Plane abzubringen – er bestand auf seinem Willen, und als ich hörte, wie Ew. Gnaden eines Tages der Frau Gräfin sagten, daß Sie auf acht Tage nach Lindenbad gehen würden, benachrichtigte ich Rieth und schrieb ihm, er möchte an dem Tage kommen, wo die gnädige Gräfin und die Dienstboten, wie ich wußte, nach Berndorf zum Erntefeste gingen. Und in der That schien es, als hätten wir keinen günstigeren Zeitpunkt zu unserem Wiedersehen wählen können. Nur der alte Joseph war zu Haus, bewachte den Haupteingang und hatte keine Ahnung, daß die nach dem Garten führende Thurmpforte für Rieth geöffnet war. Dennoch wartete ich in großer Angst auf Rieth’s Kommen. Unzählige Male schlich ich den Gang hinunter, an die Thurmtreppe und wieder zurück in meine Stube, die neben dem Schlafzimmer der gnädigen Gräfin, hart an der Haupttreppe lag.
„Aber wie soll ich mein Erschrecken beschreiben, als ich plötzlich unten im Flur die Stimme des Erwarteten höre! „Freilich bin ich’s, alter Joseph,“ sagte er in seiner spöttischen Manier. „Gräfin Isidore erwartet mich; wenn sie kommt, könnt Ihr sagen, daß ich da bin – bei der Sophie werdet Ihr mich finden!“ Damit kam er in großen Sätzen die Treppe herauf, schloß mir lachend den Mund, als ich ihn mit Vorwürfen überhäufte, zog mich in’s Zimmer und sah so wild und aufgeregt aus, daß ich mich vor ihm fürchtete und nicht auf eine Erklärung zu dringen wagte. Es blieb mir auch nicht lange Zeit dazu, denn nach wenigen Minuten kam der alte Joseph mit leichenblassem Gesicht und an allen Gliedern zitternd. Die Frau Gräfin wäre da, sagte er, und würde Herrn von Rieth im blauen Zimmer erwarten. Ich hatte mir eingeredet, daß sich Rieth einen Scherz mit Joseph gemacht hätte, aber nun sah ich mit Schrecken, daß es Ernst war. Rieth gab mir den Befehl, in meinem Zimmer zu bleiben und womöglich jede Störung fern zu halten, dann ging er in die blaue Stube hinüber. Aber in mir war das Mißtraum rege geworden. Ich wollte wissen, was Rieth mit der Gräfin in dieser geheimnißvollen Weise zu besprechen hatte, ging in das Schlafzimmer und öffnete leise die Thür.“ Die Frau schwieg und warf einen schüchternen Blick auf Lothar.
„Weiter!“ sagte er. Sie nahm sich zusammen und fuhr fort:
„Was Rieth und die Frau Gräfin sprachen, konnte ich erst nicht so recht zusammen reimen. Sie sagte: er wäre ihr eben so verhaßt, als verächtlich. Schon um ihn für immer aus ihrer Nähe zu entfernen, würde sie gern ein Opfer bringen. Aber sie könnte über nichts verfügen, als über den Schmuck, den solle er haben. Dabei reichte sie ihm das Kästchen, das ihre Diamanten enthielt. Aber Rieth verlangte Gold. Er wisse, daß der Herr Graf vor Kurzem große Summen eingenommen hätte, sagte er. Wenn die Gräfin ihm nichts geben wolle, möge sie ihm nur den Ort zeigen, wo das Geld verwahrt wäre, dann wolle er schon in Besitz desselben gelangen.
„Mein Haar sträubte sich vor Entsetzen, als ich diese ruchlosen Worte hörte, und Gräfin Isidore wurde so zornig, wie ich sie nie gesehen hatte. „Fort, Elender!“ rief sie, nach der Thür zeigend, „oder ich lasse Sie vom Bedienten hinauswerfen!“ Aber er schlug die Arme übereinander, trat dicht vor sie hin, sah ihr spöttisch in’s Gesicht und sagte, sie hätte kein Recht ihn zu bedrohen, denn sie wäre daran schuld, daß er ein Mörder und nicht viel besser als ein Vagabund geworden wäre. Dann flüsterte er ihr etwas zu, was ich nicht verstand, und dabei wollte er den Arm um sie schlingen. Aber nun schrie sie laut auf – in meinem Leben habe ich solchen Schrei nicht wieder gehört – stürzte in ihr Schlafzimmer und riß an der Klingel. Daß ich da war, schien sie gar nicht zu bemerken. Rieth war ihr gefolgt. Roth vor Wuth, mit rollenden Augen stand er auf der Schwelle.
„Du willst mich verrathen!“ zischte er in einem Tone, der mir das Blut gerinnen machte. Wie er das sagte, griff er in die Brusttasche und zog ein Pistol hervor. Gräfin Isidore hatte sich nach ihm umgewendet, in demselben Augenblicke fiel ich ihm in den Arm aber es war zu spät! Der Schuß ging los und ohne einen Laut sank die Gräfin zu Boden. Als ich mich neben ihr niederwarf, war sie schon todt – mir selber war, als ob ich einen Todesstreich empfangen hätte. – Auch Rieth stand wie versteinert da, und eben wollte ich ihn, zwischen Mitleid und Abscheu schwankend, zur Flucht antreiben, als ich draußen im Gange Schritte hörte und gleich darauf die Stimme des Herrn Grafen.
„Jetzt fuhr Rieth empor und eilte in’s blaue Zimmer zurück, das Ew. Gnaden zu gleicher Zeit von der andern Seite betraten. Ich hörte die drohenden Worte: „Steh’, Niederträchtiger, oder ich schieße Dich nieder!“ Wie ich Rieth in Gefahr sehe, ist alles Andere vergessen – ich stürze hinaus und werfe mich sinnlos vor Angst an die Brust des Bedrohten. Wieder fällt ein Schuß, und diesmal bin ich getroffen. Mit einem Schrei der Wuth faßt mich Rieth in die Arme, wirft die Thür des Schlafzimmers hinter sich in’s Schloß, das krachend zuspringt, und eilt mit mir durch meine Kammer, den Gang entlang, die Haupttreppe hinunter und durch den Park in’s Freie, wo Rieth’s Wagen wartete. Er hob mich schnell hinein, die Pferde zogen an – das ist Alles, was ich davon zu sagen weiß.“
Die Frau schwieg; Lothar drückte Eva’s Hand, daß sie kaum einen Schmerzensschrei unterdrücken konnte. Er athmete tief, es war, als ob die Brust, von ihrer Last befreit, sich ausdehnte, als ob die Gestalt sich aufrichtete, als ob urplötzlich ein frisches, warmes Leben durch alle seine Adern fluthete. Eva sah zu ihm auf. Sein Gesicht war traurig – wie konnte das anders sein, wo solche Erinnerungen an ihn herantraten, aber die Starrheit, die sie so oft mit tödtlicher Angst erfüllt hatte, war verschwunden – und er, der sich sonst ganz in seinen Trübsinn verlor, war jetzt am schnellsten gefaßt.
„Und wie haben Sie seitdem gelebt?“ fragte er in so weichem Tone, daß die Frau überrascht empor blickte. „Und was ist aus Rieth geworden?“
„Wo er jetzt sein mag, weiß ich nicht,“ erwiderte die Unglückliche mit thränenvollen Augen. Erst gingen wir nach England. Rieth hatte mich mitgenommen, ob aus Liebe, wie er mir sagte, oder um die einzige Zeugin seines Verbrechens unschädlich zu machen, wage ich nicht zu entscheiden. Im ersten Augenblicke hatten mich Verwirrung, Schrecken und Körperschwäche aller Besinnung beraubt und zu jedem Widerstande unfähig gemacht, und nachher fesselte mich die Erinnerung an das Entsetzliche, das wir mit einander erlebt hatten. Wir wurden getraut, aber Rieth hatte nirgends Ruhe. Es war, als ob ihn das Gespenst der Ermordeten verfolgte. Anfangs zogen wir in England von einem Orte zum andern, dann, als wir von keiner Verfolgung hörten, kehrten wir nach Deutschland zurück, natürlich unter falschem Namen.
„Eine Weile lebten wir in ganz anständigen Verhältnissen – ich habe zu spät erfahren, daß der Schmuck der Gräfin Isidore die Mittel dazu hergab. Aber diese Quelle erschöpfte sich, und nun ging’s in rasender Eile tiefer und tiefer in’s Elend hinein. Rieth suchte sich zu betäuben, er trank. Zuletzt habe ich ihn kaum noch nüchtern gesehen. Er kam überhaupt nur nach Hause, wenn er Geld brauchte. Endlich, als ich zu schwach und krank war, um durch meiner Hände Arbeit so viel zu verdienen, als bisher, hat er mich verlassen, und ich habe nichts wieder von ihm gehört. Ueber ein halbes Jahr habe ich vergebens nach ihm geforscht; jetzt habe ich mir nun so viel erspart, daß ich in meine Heimath zurückkehren kann – und ich habe den Umweg über Guntershausen gemacht, um den Herrn Grafen zu bitten, mich wegen des Schmuckes nicht länger im Verdacht zu haben – die Last, die ich auf der Seele trage, ist ohnedies so groß!“ Sie brach wieder in Thränen aus und verhüllte das Gesicht. Eva legte die Hand auf ihren Arm.
„Beruhigen Sie sich, gute Frau!“ sagte sie herzlich. „Sein Sie überzeugt, daß wir Ihren Worten vollen Glauben schenken. Und nun kommen Sie in’s Haus; Sie müssen ausruhen, und dann wollen wir von Ihrer Zukunft sprechen.“
Die Frau schüttelte den Kopf. „Ich danke Ihnen, gnädige Gräfin,“ erwiderte sie, „aber das kann ich nicht. Hier erdrückt mich Alles, und der Boden brennt mir unter den Füßen. Ich muß mich auch beeilen, [136] daß ich nach Berndorf komme, ehe der Postwagen abfährt.“ Mit diesen Worten stand sie auf. Lothar reichte ihr die Hand.
„Ich danke Ihnen, Sophie, daß Sie gekommen sind,“ sagte er, „und ich hoffe, daß Sie sich an Niemand anders wenden, als an mich, wenn Sie in irgend einer Art Rath oder Hülfe brauchen. Wollen Sie mir das versprechen?“
„Das will ich,“ flüsterte sie in tiefer Bewegung, grüßte wieder und wandte sich dem Ausgange zu, während Lothar und Eva langsam nach dem Schlosse gingen. Beide fanden keine Worte, sich auszusprechen; Beiden war noch zu Muthe, als könnten sie aus einem schönen Traume zu der alten Qual erwachen. Erst als sie in das Zimmer traten, wo Tante Ernestine am Bett des schlafenden Kindes saß, löste sich die Spannung. Während Eva weinend an der Wiege niedersank und den Kopf in die Kissen verbarg, ergriff Lothar die Hände der Aebtissin und erzählte in flüchtigen Worten, mit stockendem Athem und bebenden Lippen, wie er erlöst war. Erst starrte sie ihn an, als ob sie’s nicht fassen, nicht glauben könnte, dann zog sie seinen Kopf zu sich nieder und gab ihm einen Kuß auf die Stirn. „Gott segne Dich, mein Sohn!“ sagte sie mit einer Bewegung, die ihr strenges Gesicht wunderbar verklärte, stand auf und trat an’s Fenster.
Unterdessen war der Kleine erwacht. Eva hatte ihn aus der Wiege genommen und reichte ihn dem Vater zu. „Glaubst Du noch, daß er zum Unglück geboren ist?“ flüsterte sie durch Thränen lächelnd.
Lothar schüttelte den Kopf. „Zu Glück und Segen,“ erwiderte er, indem er die beiden theuern Wesen an die Brust zog.
Tante Ernestine aber stand am Fenster, unfähig sich zu fassen. Es stieg ihr warm vom Herzen in’s Auge, und sie flüsterte vor sich hin: „Mein Gott, wie dank ich Dir! Nun kann ich in Frieden sterben!“
Wenn wir heute von den Mönchen reden, so wollen wir nicht von ihrem Leben und Treiben erzählen, sondern die Kunstliebhaber darauf aufmerksam machen, daß sich im gegenwärtigen Augenblicke in Italien ein schöner Markt aufthut, und daß man viel Gelegenheit findet, werthvolle Bilder und Zeichnungen zu geringen Preisen einzukaufen. Die Mönche fühlen sich nicht sicher und suchen Alles zu tragbarem Gelde zu machen. In mancher Zelle haben sich schöne Sammlungen erhalten, die nun an’s Tageslicht kommen; freilich sind es selten große Bilder, aber sehr oft vortreffliche Zeichnungen der Bologneser Schule, von den Carracci’s, von Guido, Guercino, Domenichino etc., die sich hier, in dem abseits gelegenen Bologna und in den versteckten Klöstern, in außerordentlicher Anzahl erhalten haben. Ein Bekannter hat einen ganzen Carton voll der trefflichsten und interessantesten Zeichnungen, etwa sechszig an der Zahl, einem Mönche um vierhundert Francs abgekauft. In einer versteckten Gasse in der Nähe des Teatro Communale, war ein schöner Engel von Guido Reni, Bruchstück eines großen Oelbildes, um dreihundert Francs zu haben. Der Portier der alten Universität bot mehrere schöne Bilder zu Spottpreisen an; sie sollten einer „herabgekommenen Familie“ angehören – aber „herabgekommene Familie“ bedeutet oft so viel, wie Kloster oder einzelner Mönch.
Bedenkt man, welche ungeheure Fruchtbarkeit die Bologneser Schule entwickelte, welcher Studien und Vorarbeiten nur die Bilder bedurften, die man noch heute in dieser Stadt anstaunt, und daß der ausgesprochene Charakter dieser Schule ihr gegenüber eine gewisse Kennerschaft sehr erleichtert und die Täuschung erschwert, so wird man diesem starkbesetzten Markte gegenüber auch jeden überflüssigen Skepticismus aufgeben. Wohl dem, der jetzt auch nur mit zehntausend Franken in der Tasche durch Bologna reist. Die in so erstaunlicher Anzahl und Größe vorhandenen Fresken, die mit ihrer Fläche ein deutsches Fürstenthümchen bedecken könnten, kann man freilich nicht mitnehmen, aber viele der ersten Gedanken zu diesen Fresken könnte man getrost nach Hause tragen. Aber nur so viel von Kunst, über die man in Bologna dicke Bände schreiben könnte. St. Michele in Bosco, ein ehemaliges Kloster, später, bis vor fünf Monaten, die Residenz des Legaten, und überhaupt eine der schönsten Residenzen der Welt, St. Michele in Bosco allein mit seinen Hallen, Sculpturen, Mosaiken, Oel- und Freskomalereien könnte ganze Bücher füllen. Es ist eines der glänzendsten und schönsten Denkmale klerikaler Pracht und pomphaften Büßerlebens. So zu büßen, wie die Mönche hier gebüßt haben, jeder mit einem fürstlichen Einkommen in schönster Natur und unter Werken der Kunst, mit dem Blicke in das gartengleiche, beherrschte Land, würde sich jeder Sünder gern bereit erklären; wie gern würde Jeder solche Wege zur Heiligkeit wandeln!
In letzter Zeit wohnte Cipriani, der Dictator von Bologna, hier, den man allgemein für eine Creatur Bonaparte’s hielt. Garibaldi wohnte unten in der Stadt in einem alten Palaste, aber nur weil es schwer ist, hier nicht in einem alten Palast zu wohnen. Sein Leben war nicht palastartig, denn um Garibaldi herum wird es immer lagerhaft und bivouakmäßig. Man verpflanze ihn in königliche Gemächer, sie werden sofort den Charakter von Lagerzelten annehmen. Er kann nicht anders als einfach leben, wie ein Spartaner. Ein kalter Nordwind wehte, die Bologneser schlichen classisch bis über das Kinn in den Mantel gehüllt durch die Straßen. Ich kam zu Garibaldi; kein Feuer brannte in seinem Kamine, und er saß in seiner Stube von einem dicken, groben Soldatenmantel bedeckt. Er hat keinen Sinn für die Bequemlichkeiten des Lebens, oder will ihn nicht haben, um sich nicht in die Abhängigkeit von Bedürfnissen zu begeben. Seine Kleidung ist die einfachste und, den Mantel ausgenommen, Sommer und Winter dieselbe. Er ißt sehr wenig und trinkt nur Wasser. Schon vor zehn Uhr liegt er im Bette, um sich gegen vier Uhr zu erheben und sogleich an die Geschäfte zu gehen. Er arbeitet vom frühsten Morgen an, empfängt nur Visiten, die mittelbar oder unmittelbar mit seiner Sache zusammenhängen, und geht fast gar nicht aus. Umsonst stehen die wartenden Gruppen fortwährend vor seinem Thore; sie werden ihn nicht zu sehen bekommen. Er flieht die Liebesbezeigungen des Volkes, weil sie ihn in Verlegenheit bringen, und hält sich darum so viel als möglich in seinen Zimmern.
Nach alldem wird man sich unter Garibaldi eine spartanische Erscheinung, eine abwehrende Persönlichkeit vorstellen. Er ist das vollkommenste Gegentheil. Alles an und in ihm vereinigt sich, um, je länger man ihn kennt, eine unbeschreibliche, unwiderstehliche Anziehungskraft auszuüben: seine Stimme ist stark und voll Wohllaut, sein Blick energisch, fast scharf und doch milde; sein Körper ist etwas steif, aber die Gesten der Arme scheinen ihm eine starke Beweglichkeit zu geben, wie das bei lebhaften, stämmigen Gestalten oft der Fall ist. Dem hellen Gesichte mit dem beinahe antiken Profil sieht man die vielfachen Erlebnisse nicht an; er hat viel Jugendlichkeit bewahrt, trotz der grauen Haupt- und Barthaare und trotz des tiefen Schattens von Melancholie, der oft, wie eine Wolke über eine schöne Landschaft, darüber hinzieht. Wenn er lächelt – und er lächelt oft und lacht niemals – sollte man glauben, daß dieser Mund eher gemacht sei, Trost- und Liebesworte zu sprechen, oder lyrische Stellen zu citiren – was er auch in der That oft thut – als kriegerische Commandoworte zu donnern. Wahrhaft bezaubernd wirkt er, wenn er, freilich selten, auf die einfachste und anspruchsloseste Weise aus dem reichen Schatze seiner Erlebnisse mittheilt und erzählt; wie gerne würde man dann alle die Leiden und Entbehrungen mitgetragen haben! Die Memoiren, die einer seiner Adjutanten schreibt, wie vortrefflich sie sein mögen, werden schwerlich eine solche Wirkung hervorbringen, trotzdem in ihnen der Held im Vordergrunde stehen wird und Garibaldi in seinen eigenen Erzählungen immer im tiefsten Hintergrunde steht. Ich kam mir vor, wie einer der Söhne des Alkinoos, der die Geschichte des Odysseus anhört, und ich begriff, daß der König der Phäaken den Dulder mit Geschenken überhäufte und daß sich dessen Tochter in ihn verliebte, obwohl er zwanzigjähriges Leiden und Kämpfen auf dem Nacken trug. Aber auch Odysseus’ Hund, den treuen Argos, begriff ich. Was ihn umgibt, hängt, wenn ich ohne Beleidigung so sagen darf, mit Hundetreue, mit der rührendsten [137] Treue an ihm. Seine Diener, seine Adjutanten sind mehr als seine Freunde; sie gehen auf in dem Begriffe Garibaldi, sie geben ihre eigene Persönlichkeit auf, um ein Theil von ihm zu werden, „als wär’s ein Stück von mir“. – So wie Garibaldi sich hinlegen würde und sich ruhig den Hals abschneiden ließe, wenn das zum Heile Italiens nothwendig wäre, so würde sich Jeder aus seiner Umgebung für ihn aufopfern. Hat man einen Blick in diesen Kreis und in die daselbst herrschende Gesinnung gethan, so hält man es für unmöglich, daß hier, unter welchen Umständen immer, Verrath geübt werden könne. Nur seine esoterischen Freunde und neuen Bekannten loben und rühmen ihn, begeistern sich für ihn; seine nächste Umgebung schweigt, wenn von ihm die Rede ist. So oft ich im Palazzo Alprandini oder auch nur in Gesellschaft der nächsten Freunde Garibaldi’s war, kam es mir vor, als befände ich mich in einem eng verbündeten, verbrüderten Kreise, der durch ein ernstes und liebes Geheimniß, etwa durch einen verborgenen Cultus, zusammengehalten würde, und als ob ein Mensch, der mit der Absicht des Verrathes in diesen Kreis träte, aus einem Saulus ein Paulus werden müßte.
Aus dem Munde einer älteren, vielerfahrenen Dame hörte ich, als Garibaldi das Zimmer verließ, den Ausruf: „Endlich ein Mensch, der die Vorstellungen von einem echten Helden nicht täuscht!“ – Garibaldi ist, um es in einem Worte zu sagen, wie ein Mensch aus besseren Zeiten – wenn es jemals solche gegeben. Fabelhafter Muth in der Schlacht, eben so großer Muth den ungeheuersten Schwierigkeiten gegenüber, Ausdauer und Unermüdlichkeit trotz aller Niederlagen, vollkommenste Uneigennützigkeit, Alles für die Sache, die als die gute erkannt ist, und nichts für sich, Verachtung aller äußeren Vortheile, Würden, Ehren und Reichthümer, unbegrenzte Aufopferungsfähigkeit, Stärke im Unglück, Treue und Liebe für die Freunde, Seelengüte, Milde für Andere, Strenge gegen sich selbst – wenn diese Elemente einen großen Menschen machen, dann ist Garibaldi gewiß ein großer Mensch und werden alle Verleumdungen und alle Parteileidenschaft ihm in der Geschichte von diesem Titel kein Jota rauben können. Im Bewußtsein des Volkes lebt er schon als solcher; er ist ihm mit dem Begriffe Italiens oder der Hoffnung Italiens Eins geworden, und es liebt ihn persönlich, als ob es zu jenen Freunden gehörte, obwohl es ihn kaum persönlich kennt, aber instinctmäßig angeweht von der Atmosphäre, die von ihm ausgeht. Garibaldi sterbe heute auf seiner Insel, das Volk wird ihn nicht sterben lassen, er wird ihm weiterleben, wie alle Helden, von denen die Völker Befreiung hoffen. Schon heute ist Garibaldi eine Mythe, die unausrottbar ist.
Ich werde das Bild nie vergessen, das die Straßen vor Garibaldi’s Hause am 17. November Abends darboten. Einzelne Eingeweihte kannten schon die Nachricht von seiner Abdankung, aber Niemand wagte es, sie weiter mitzutheilen, aus Furcht vor dem Ungewissen, das auf diese Mittheilung folgen konnte; hatte doch selbst die Regierung nicht den Muth, die Thatsache in der officiellen Zeitung mit einem Worte zu erwähnen. Doch war die Nachricht zu vielen Einzelnen durchgedrungen; Niemand wollte daran glauben. Vor dem Hause Garibaldi’s aber sammelten sich diese Einzelnen, als ob sie dem Hause die Bestätigung oder Verneinung absehen könnten. Es lag dunkel da in dunkler Nacht; die sonst beleuchteten Fenster waren erloschen, das Thor war geschlossen, in dem es noch gestern so lebhaft gewesen, und die Schildwache hatte sich aus der Straße in den inneren Thorweg zurückgezogen. Das sagte den Fragenden genug. Schweigend, in ihre Mäntel gehüllt bis über’s Kinn, gingen sie auf und ab; manchmal blieben zwei und drei der nächtlichen Wanderer in einem Schatten stehen und sprachen leise. Dann gingen sie wieder auseinander und sahen wieder zu den Fenstern hinauf. Wer aus dem Hause herauskam, wurde fragend angesehen, aber mit keinem Worte gefragt. Nach und nach sammelte sich eine große Anzahl solcher nächtlicher Wanderer, aber die Menge war eben so still und schweigsam, wie es anfangs die wenigen Einzelnen gewesen. So mag es in einer Stadt sein, durch die das Gerücht schleicht, daß in ihren Mauern die Pest ausgebrochen. Diese schweigenden Wandler sagten mir mehr, als das Evviva, das Garibaldi umtobte, wenn er sich in den Straßen zeigte.
Aber man hätte Unrecht, zu glauben, daß Garibaldi eine vereinzelte bedeutende Erscheinung, ein exotisches Gewächs sei im heutigen Italien. Er ist in seiner Art die bedeutendste, vielleicht wohlthuendste, aber er ist nicht eine vereinzelte Erscheinung. Bedeutende Menschen sind immer Bäume, die familienhaft wachsen, sie ragen nur aus der Familie hervor und sie sind immer Produkte der Zustände, des historischen Bodens und vielfacher Factoren. Diese Zustände, dieser Boden, diese Factoren sind für Viele zugleich da und üben ihre Zeugungskraft auf vielfache Weise, an vielen Persönlichkeiten zugleich aus. Wie in Literatur und Kunst, trotz dem Aberglauben des Publicums, das nur das Fertige sieht, kein Genie fix und fertig aus dem Boden springt, sondern aus den Vorbereitungen und geistigen Arbeiten von Jahrzehnten und Jahrhunderten, deren Gesammtheit in einer Person es repräsentirt, hervorgeht, so auch die populären Geister, die das Freiheitsstreben einer Nation in einer Person darstellen. Wie Michel Angelo aus dem ganzen Streben zweier Jahrhunderte seit Giotto, wie Shakespeare aus dem Streben dreier Regierungszeiten nach einer nationalen Bühne geboren wurde, und wie solche Spitzen der Kunstwelt immer von einer überaus zahlreichen Verwandtschaft umgeben sind, welche mehr oder weniger ausgeprägte Familienzüge trägt, so auch die bedeutendsten Menschen lange vorbereiteter und in der Nation und ihren Geschicken begründeter politischer Bewegungen.
Der Verleumdung der Mächte, in deren Interesse es war, sich als die berechtigten Kerkermeister Italiens darzustellen, ist es gelungen, Italien als ein Land der Dummheit, der Kriecherei, als das Land der Intriguanten und Meuchelmörder zu malen, den Italienern die Fehler, die man ihnen mit den sclavischen Zuständen eingepflanzt, als ihrem Charakter natürliche Verbrechen anzurechnen und sie als ein unverbesserliches, jeder Freiheit, jedes besseren Zustandes unfähiges und unwürdiges Volk darzustellen. Der Krieg, den ein Theil Italiens gegen das Gesetz führte, weil dieser Theil durch das Gesetz selbst verderbt, und weil das Gesetz unerträglich und mit dem Despotismus identisch, daher mit ihm verhaßt war, mußte den Beweis liefern, daß Italien von Gesetzlosen bewohnt sei, die man als außer dem Gesetze behandeln müsse. Diese Darstellungen sind im Geiste Europa’s zu Thatsachen, zu Vorurtheilen geworden. Die Masse glaubte, was man ihr seit hundert Jahren planmäßig vorsagte, und immer und immer wiederholte, ohne sich die Geschichte in der Nähe anzusehen, ohne die unvergleichliche Schaar großer Menschen, die auf diesem Boden gewachsen, zu berücksichtigen, ohne das seit fünfzig Jahren ununterbrochene, unermüdliche Streben nach einem besseren Zustande, ohne die ungeheuren Opfer und Martyrien zu beachten. Die Menge ist zu entschuldigen, da es der Verleumdung gelungen ist, jene Vorurtheile selbst den gebildeten Menschen einzuimpfen.
Berliner Bilder.
Gewöhnlich vermitteln alle geselligen Spiele an öffentlichen Orten die nähere Bekanntschaft der Theilnehmer und veranlassen nicht selten die Entstehung von wahren Freundschaften, die bis an den Rand des Grabes und in der Erinnerung bis darüber hinaus dauern. Nur das Schachspiel rückt die Menschen einander nicht näher. Schachziehende Menschen können täglich zusammenkommen, um an einem neutralen dritten Orte tiefsinnig ihre Hölzer zu schieben, ohne daß es ihnen jemals einfallen wird, im Schachspieler auch die menschliche fühlende Creatur neben dem kalten berechnenden, den Untergang des Gegners ausstudirenden Phantom zu suchen. So hatte auch ich fast zwanzig Jahre lang monatlich mehrmals mit einem Herren Schach gespielt, aber selbst im Traume waren wir Beide nicht auf den Gedanken gekommen, einen genaueren Umgang anzuknüpfen, und wir wußten von einander wenig mehr, als Stand und Namen. Wir liebten oder haßten einander nur als Schachspieler.
[138] Wie überrascht mußte ich daher sein, als mein alter Gegner, wie ich ihn wohl nennen darf, wenn ich nicht die Jahre seines Lebensalters, sondern die unserer Kriegsdauer zähle, nach einem hartnäckigen Gambit die Figuren mit einiger Verlegenheit in die Schachtel packte und folgende, für einen Schachspieler sehr seltsame Worte sprach: „Mein werther Herr, erlauben Sie mir, eine Bitte an Sie zu richten!“
Natürlich machte ich jenes huldvolle Zeichen der Gewährung dieser Erlaubniß, da ja die Bitte selber dadurch noch nicht gewährt ist.
„Mein Bruder, der, wie Sie vielleicht wissen werden, viele Jahre lang eine Schuhfabrik in Paris gehabt, sich aber jetzt aus dem Geschäft zurückgezogen hat, ist mit seinem neuen Hausbau fertig und würde es sich zur Ehre anrechnen, wenn Sie sein Besitzthum in Augenschein nehmen wollten.“
Dergleichen Bitten werden an Publicisten zu oft gerichtet und sind mit dem Lebensfaden aller Zeitungen zu genau verknüpft, um abgeschlagen werden zu können. Ich glaubte daher in dem Wunsch des Schusters von Paris die Sehnsucht zu erkennen, sein Haus öffentlich erwähnt zu sehen, und versprach meinem Schachgegner, der seines Zeichens ein Architekt war, also auch wohl seinen eigenen kleinen Ehrgeiz dabei haben konnte, gelegentlich das neue Haus zu besichtigen. Es vergingen indessen einige Wochen, und es bedurfte noch einer schmerzlichen Mahnung durch den Architekten, ehe ich mich bei dem schlechten Wetter entschließen konnte, den ziemlich weiten Weg anzutreten.
Der Herbst hatte eben mit starkem Regenwetter begonnen, und ich kam etwa um halb sieben Uhr, eine Stunde vor Eintritt der Dunkelheit, an. Nach dem üblichen Ceremoniell erkundigte ich mich zunächst nach dem Besitzer des Hauses. Der listig aussehende Knabe, welcher mir die Thür geöffnet hatte, behauptete mit geheimnißvoller Miene, sein Gebieter sei augenblicklich nicht zu sprechen, aber sein Herr Bruder, der Architekt, werde sich ein Vergnügen daraus machen, mich zu empfangen. Zugleich setzte sich der listig aussehende Knabe an die Spitze des Zuges, ich folgte, und wir begaben uns in den rechten Flügel des Hauses, der baulich noch sehr roh aussah, nach Mauerwerk und Tapetenkleister roch, aber in einigen großen Gemächern doch schon mit Möbeln, namentlich mit auffallend viel Stühlen versehen war. In einem geräumigen Saale fand ich meinen Schachspieler, den Architekten. Er stand auf einem Theater, an welchem noch von zwei Tischlergesellen gezimmert wurde (wenn es nicht Zimmergesellen waren, wie ich zur Beruhigung des Berliner Gewerberathes und zur Vermeidung möglicher Zwistigkeiten unter den Innungen hinzufügen will), und leitete einen jugendlichen Tapezierer an, einige bunte Drapirungen zu befestigen. Ich fühlte mich verlegen und näherte mich nur schüchtern. Zu welchem Feste rüstete man sich hier? war es nicht am passendsten für mich, augenblicklich wieder fortzugehen? Mir blieb indessen keine Zeit dazu. Der Architekt hatte mich nicht so bald gesehen, als er rasch von der Leiter stieg, mich zärtlich, aber heftig bei den Schultern ergriff und den conservativsten Theil meines Leibes mit solcher Schnelligkeit auf den nächsten hölzernen, eigentlich nicht zum Sitzen bestimmten Gegenstand, eine Trittleiter, drückte, daß ich einen höchst empfindlichen Schmerz an dem heiligen Bein (os sacrum) empfand. In der freudigen Aufregung beachtete der liebenswürdige Mann weiter nicht meine schiefen Gesichter, sondern sagte: „Mein Bruder wird entzückt sein, Sie bei uns zu sehen! Sie konnten in keinem glücklicheren Augenblicke bei uns eintreffen.“
„Aber Sie scheinen im Begriff zu stehen, eben ein Fest zu feiern!“ bemerkte ich etwas verlegen.
„Um so besser, daß Sie gekommen sind!“ antwortete der Architekt.
„Aber ich habe durchaus nicht die nöthige Toilette gemacht!“
„Wir feiern ein Fest, bei dem es bekanntlich niemals auf die Toilette ankommt – einen Polterabend. Die Tochter meines Bruders verheirathet sich mit dem Sohne eines reichen Rentiers – Sie haben gewiß von Kohlwurst gehört – dem reichen Kohlwurst?“
Gewiß hatte ich von dem reichen Kohlwurst gehört; er war, was man nach Analogie der Ausdrücke: Pferdezüchter, Schweinezüchter u. s. w. einen Hauszüchter nennen könnte. Mit vieler Arglist pflegte er immer in schlechten Zeiten kleine alte Häuser in guten Stadtgegenden so billig als möglich aufzukaufen, drei bis vier Stockwerke aufzusetzen, sie leichtfertig und mit oberflächlicher Eleganz auszubauen, und dann mit vielem Vortheil im richtigen Momente an einen Menschen, der gerade in der betreffenden Gegend wohnen oder ein Geschäft etabliren wollte, wieder zu verkaufen. Aber Kohlwurst baute auch an verschiedenen Stellen der Stadt neue Häuser, die er, sobald sie unter Dach und Fach standen, stets mit einigem Gewinn zu veräußern wußte. Von den achtungswerthen Züchtern lebender Wesen unterschied er sich nur in dem wesentlichen Punkte, daß diese Herren ihren Ehrgeiz darein setzen, durch die Eigenschaften ihrer Zöglinge alle Nebenbuhler zu verdunkeln, wenn die Preise derselben dadurch auch namhaft erhöht werden, Kohlwurst aber seine Häuser so schlecht und billig aufzubauen suchte, als die polizeiliche Bevormundung der neueren Zeit es irgend zuließ. Neben dieser einträglichen Speculation beschäftigte der weise Mann sich jedoch noch mit der rationellen Zucht seiner Persönlichkeit, und der Anblick derselben konnte einen Jagdliebhaber von Schwarzwildpret an verschiedene schlagende Bezeichnungen erinnern, welche das Jägerlexikon für ungemein große, reichlich durch Eichelkost genährte Exemplare jenes Thieres aufbewahrt, welches, wie Mose sagt, die Klauen spaltet, aber nicht wiederkäut. So war der große Kohlwurst beschaffen, dessen Sohn die Tochter des berühmten Pariser Schuhfabrikanten ehelichen sollte.
„Nicht wahr, Sie bleiben bei uns? es versammelt sich eine ganz zwanglose Gesellschaft, auf dem Theater werden kleine Scherze aufgeführt, dann tanzen die jungen Leute – Sie bleiben doch bei uns?“ fuhr der Architekt mit so gutmüthigem Lächeln fort, daß ich seine Einladung nicht abschlagen konnte. Der Angabe nach versammelte sich die Gesellschaft erst um acht Uhr, ich beschäftigte mich daher gemeinsam mit dem Architekten bei der Vollendung des Theaters, und es gelang mir sogar, die wesentlichsten Dienste zu leisten, als die Tischlergesellen einmal das Bauwerk aus Ungeschicklichkeit ein wenig in Brand gesteckt hatten. Einige Minuten vor acht Uhr erschien der Hochzeitsvater. Sein Haar, offenbar kunstvoll gefärbt, war obendrein zur Feier des Tages durch heiße Eisen in mehrere Hundert kleine Löckchen gekräuselt, er trug einen Pariser Frack vom modernsten affentheuerlichst verzerrten Schnitte, und suchte durch seine Haltung darzuthun, wie überzeugt er von seiner Schönheit und ihrer ästhetischen Wirkung auf seine geschmackvollen Zeitgenossen sei. Sobald er mich zu Gesichte bekommen, und der Architekt, das directe Gegentheil seines komischen Bruders, mich ihm vorgestellt hatte, ging er rasch auf mich los, breitete beide Arme aus und drückte mich so kräftig an sein Herz, daß mir fast der Athem verging. „Endlich sehe ich diesen Mann bei mir, den ich seit Monaten bei Tage und bei Nacht kennen zu lernen wünschte!“ so schrie er während der Ausübung des ersten Foltergrades der Begrüßung, dann ließ er mich los, griff abermals rasch nach meinen Schultern und hielt mich in einiger Entfernung von seinem Antlitz fest, um anscheinend meine Gesichtszüge für immer seiner Einbildungskraft einzuprägen. Unwillkürlich mußte ich an die Schließer in den englischen Schuldgefängnissen denken, die jeden neuen Ankömmling „portraitiren“, d. h. so lange anstarren, bis sie seiner Physiognomie dauernd sicher zu sein glauben. Diese billigste Gattung von Kunstwerken der Daguerrotypie schien der Schuhfabrikant auch von meinem Gesichte besitzen zu wollen. Während des beschriebenen Actes sah er leider wie ein „falscher Biedermann“, ja wie ein Charlatan aus. Zuletzt schrie er mit Vehemenz, als wollte er mich für die ausgestandenen Folterqualen der Begrüßung entschädigen: „He! Jean! ein Glas Sect für den Herrn Redacteur!“ Ich lehnte diese Erquickung ab und suchte dem gastlichen Hochzeitvater begreiflich zu machen, daß mir eine Tasse heißen Thee’s viel mehr wohlthun dürfte; ich wurde nicht gehört. Thee, hieß es, sei nur für die Frauen und Mädchen gut; von Männern dürfe an einem solchen Festtage der Familie nur Sect getrunken werden. Alsbald erschien auch Jean, jener listig aussehende Knabe, ließ den Pfropfen der Flasche prahlerisch gegen die Decke springen und goß mir schwungvoll ein großes Glas des belebenden Saftes ein, in dem meine unglücklich kritisch organisirte Zunge sofort das Product vaterländischer Industrie, ja den ausgepreßten Saft von Baumfrüchten erkannte, die als Compot und gehörig versüßt zu den nothwendigsten heimischen Zuthaten eines Hasenbratens gehören. Da dem Gastgeber aber mein Mienenspiel, nachdem ich das Glas geleert, nicht zu gefallen schien, befahl er seinem Handlanger nicht wieder es zu füllen, sondern ließ mich endlich in Ruhe. Inzwischen trafen ziemlich gleichzeitig zahlreiche Gäste ein. Es fiel mir [139] auf, daß sich darunter viele Polizeibeamte in Uniform befanden, die freilich von ihren weiblichen Ängehörigen begleitet wurden, aber doch nach und nach der Gesellschaft einen gewissen officiellen Anstrich verliehen, bei dem einem bürgerlichen Menschen unmöglich wohl werden konnte.
Da war zuerst ein Polizeirath in Civil und dann noch ein Zweiter, welche Beide dem Schuhfabrikanten durch ihre Anwesenheit außerordentlich wohl zu thun schienen. Er eilte auf sie zu, als sie eintraten, küßte Beide, reichte ihnen Prisen, drückte ihre Hände, kurz er that alles unter deutschen komischen Männern Uebliche, um ihnen seine Freude über ihr Erscheinen darzuthun. Wenn auch nicht ganz so zärtlich, doch immer liebevoll genug, benahm sich der Hochzeitsvater gegen die zahlreichen uniformirten Beamten. Er umarmte Einige, klopfte Anderen freundlich auf die Schultern und zwang Alle, ein Glas Sect oder nach Umständen auch mehrere zu leeren. Da die Herren von der Schutzmannschaft keine verwöhnten Zungen zu besitzen schienen, so ließen sie sich die gastliche Anfeuchtung mit großer Zufriedenheit gefallen. Ich sah diesen Begrüßungsceremonien mit einiger Verwunderung zu, als der Architekt sich mir leise näherte und sagte: „Sie wundern sich gewiß über die eigenthümliche Bekanntschaft meines Bruders, aber schließen Sie daraus auf nichts Arges; es ist bei ihm nur reine Liebhaberei!“ Eine derartige Liebhaberei kam mir denn doch etwas sonderbar vor. Es ist nichts Neues, daß namentlich unter Frauenzimmern eine unerklärliche Vorliebe für militairische Personen herrscht, daß viele Fürsten eine ebenso räthselhafte Neigung verrathen, sich mit Priestern zu umgeben, daß Hypochonder viel mit allerlei Aerzten verkehren; aber eine solche Schwärmerei für eine Classe nothwendiger Beamten, denen jeder physisch und organisch normalmäßig construirte Mensch lieber aus dem Wege, als entgegen geht, war mir überraschend und unheimlich. Nur indem ich annahm, daß der Schuhfabrikant in Paris gegründete Veranlassung gehabt, sich ein solches Steckenpferd anzueignen, vermochte ich mich zu beruhigen. Im Verlaufe des Abends wurde die Nähe der Herren für einen unbescholtenen Privatmann immer unheimlicher. Für ein Talent, das sich mit Taschendiebstahl oder einer ähnlichen freien Kunst beschäftigt, liegt sicherlich etwas Aufregendes und Pikantes darin, der Aufmerksamkeit so vieler ausgezeichneten Beamten, die von dem Princip leben, jeden Menschen so lange für bescholten zu halten, als seine Unbescholtenheit nicht durch gerichtliche Untersuchung festgestellt ist, ausgesetzt zu sein; wer sich jedoch in jenen freien Künsten noch nicht versucht hat, geht in solcher Genossenschaft moralisch vollständig zu Grunde. Beim besten Willen war mit den Herren keine Unterhaltung anzuknüpfen. Sie sprachen vielmehr fast ausschließlich unter einander von Personen, welche nicht die geachtetste Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft zu behaupten schienen und die Aufmerksamkeit der Herren vielfach in Anspruch nahmen. That ich Unrecht, diese Personen für Spitzbuben und, insofern sie nicht männlichen Geschlechtes waren, für Wesen zu halten, denen kein Abbruch an ihrer Unschuld und Ehre mehr gethan werden konnte? Es mußte bei diesen Vermuthungen bleiben, da die Herren Beamten sich in ihren halblauten Besprechungen einer mysteriösen Redeweise bedienten, die dem Laien zum größten Theile unverständlich war.
In sehr gedrückter Stimmung suchte ich mich dem Brautpaare zu nähern, da ich mich durch die Nähe von Jugend und Natur aufzurichten hoffte. Wie fühlte ich mich getäuscht, als ich den Bräutigam und die Braut erblickte! Das arme Paar war augenscheinlich nur auf Befehl der beiden Väter zusammengekoppelt worden. Zwei weniger entwickelte junge Leute erinnere ich mich nicht, jemals gesehen zu haben. Aus dem kleinen Kohlwurst hätte durch gute Pflege wohl noch etwas werden können, da die Gliedmaßen bei seiner Jugend noch zurückgeblieben waren, hätte ihm nur nicht der unverkennbare Blödsinn auf dem Gesichte gelegen! Die Tochter des Schuhfabrikanten war aber ohne alle Einrede eine Homuncula. Sie gehörte zu der Species jener sogenannten chinesischen Zwerge, welche vor einem Jahre bei Kroll gezeigt wurden und offenbar künstlich verkümmerte Menschen waren. Wer sie für ein kleines, aus feinem Schafleder verfertigtes, mit Brillanten und Spitzen besetztes Frauenzimmer halten wollte, dürfte nur schwer zu widerlegen sein. Meine dargebrachten Glückwünsche verstand das Paar kaum und setzte, ohne mir zu danken, sein Geplauder mit anderen jungen Leutchen von ähnlichen Geisteskräften fort.
Nicht um ihm meine Huldigungen darzubringen, sondern nur um mein Skizzenbuch durch eine neue Studie und Charaktermaske zu bereichern, näherte ich mich jetzt Kohlwurst, dem Vater und Hauszüchter. Auch für diese Vermessenheit sollte ich gebührend bestraft werden. Als ich mich dem großen Manne vorstellte, erhob er sich und sagte: „Es ist mir lieb, daß ich Sie kennen lerne. Ich habe gern mit der Presse zu thun, und schon so Manches als „civis“ in die Vossische und Spenersche Zeitung einrücken lassen. Sie werden etwas über dies Haus in Ihrer Zeitung sagen – Sie thäten mir den Gefallen, wenn Sie auch über mein neuestes Haus etwas schreiben wollten. Vermiethet sich leichter an die Ladenbesitzer. Ja, ja, keine Frage, sehen Sie mich nicht so an; die Leute sind nun einmal argwöhnisch und glauben nicht eher an Etwas, als bis es ihnen von den Zeitungen vorgekäut wird. Kenne selbst politische Redacteure, habe das oft genug mit ihnen durchgesprochen. Gleichviel ob es sich um Verfassungen, Braunschweiger Wurst, Bücher, Schnaps oder Häuser handelt; nur besprochen muß Alles ordentlich werden. Wäre es möglich, einigten sich heute die Zeitungen, sie könnten einen berühmten Kaiser mausetodt schweigen. Aber um wieder zur Sache, auf besagten Hammel zu kommen: ich habe in der Friedrichsstraße Nr. 411 ein prächtiges Haus gebaut, unten Bazars, erster Stock wirkliche Geheimrathswohnungen oder Quartiere für Generäle, zweiter Stock für nette Leute, oben für ansehnliche Ouvriers, Hofschneider ohne chambre garnie, gothischer Styl, vier Zinkpuppen auf den Dachecken, auf dem Schornsteine eine Figur, ein kupferner Jäger, der sich nach dem Winde dreht. Besuchen Sie mich bald! Sollte Ihnen der Weg zu weit sein, so bezahle ich gern die Droschke! Daß ich für die Insertionskosten aufkomme, versteht sich natürlich von selbst.“ – Ich war noch ungewiß, was ich auf diese unverschämte und zum Ueberfluß frech vorgetragene Zumuthung: für den argen Geldbroz eine Reclame zu schreiben, antworten sollte, als die Theaterklingel erschallte und die Versammlung durcheinander lief und ihre Sitze einzunehmen suchte.
Die dramatischen Leistungen waren nicht die starke Seite dieses Polterabendes; das leuchtete mir nach Verlauf einer Viertelstunde ein. Mit Ausnahme einer Scene, welche von einem begabten Polterabendsliteraten verfertigt schien, wurde fortwährend nach den Nummern jener poetischen Werke declamirt, die eigens dazu bestimmt sind, den literarischen Verlegenheiten dieses liebenswürdigen Festes abzuhelfen. Nur in zwei Punkten beschäftigten mich die Vorgänge lebhaft. Erstens erschien mein Schachfeind, der Architekt, als Herold in einer Art Waffenrock, auf dem allerlei Embleme der Baukunst als Wappen prangten, und führte jede einzelne Person redend ein, was streng genommen ganz unnütz war, da das, was die Ueberbringer von Gratulationen und Geschenken zu sagen hatten, mit dem, was er selber hinzufügte, nicht den mindesten Zusammenhang besaß, auch mehr guten Willen für das Haus seines Herrn Bruders, als Anlage zur Poesie verrieth. Mit der Würde seinen dichterischen Amtes war jedoch so viele Selbstzufriedenheit vereint, daß man ihm seine vergängliche Herrlichkeit gern gönnte. Zweitens wurde der Leidenschaft des Hochzeitsvaters für den geselligen Umgang mit Polizeimännern durch eine eigenthümliche Schlußscene eine artige Huldigung gebracht. Nachdem bereits eine beträchtliche Menge von Geschenke überbringenden Personen das Brautpaar und die beiden verbundenen Häuser, deren publicistische Verherrlichung man mir im Stillen zugedacht hatte, gefeiert, nachdem Jean und mehrere gemiethete Lakaien, in Folge des von ihnen eben so fleißig, als von den Gästen genossenen Sectes, uns mit den Erfrischungsapparaten und Theebretern vor lauter Diensteifer fast die Rippen eingestoßen hatten, und der deutsche Sect nachgerade selbst bei den ältesten Polizeimannen seine Wirkung zu äußern begann: erscheint plötzlich auf der Schaubühne Freund Architekt mit einem wirklichen Constabler im lebhaftesten Wortwechsel.
Es war der Helm, die Uniform und die mit Buchstaben und Ziffern signirten Achselklappen dieser gefürchteten Mannschaft, und selbst die zahlreichen Herren Beamten lächelten verlegen und spitzten die Ohren.
„Meine Pflicht zwingt mich,“ sagte der erwähnte Constabler, „diese Versammlung, so leid es mir thut, aufzulösen. Der Herr Wirth hat unterlassen, dem Polizeipräsidium die gesetzlich vorgeschriebene Anzeige zu machen.“
Diese Worte wirkten im ersten Momente auf die gedankenlose Versammlung so verwirrend, daß ein verlegenes Murmeln entstand, und einige kleine Knaben, die bisher nur mit Mühe abgehalten [140] worden waren, sich am allgemeinen Sectgenuß zu betheiligen, in großen Aengsten unter die Stühle krochen. Der Hochzeitsvater und der große Kohlwurst schwelgten in Entzücken, man las in ihrem listigen Lächeln, daß sie den feinen, höchst zeitgemäßen Spaß ersonnen hatten.
„Ich bitte Sie, zu bedenken, mein Herr,“ warf der Architekt ein, „daß wir hier keine politische Versammlung abhalten.“
„Sie mögen sich allerdings zu keinem politischen Zwecke vereinigt haben, aber politische Anspielungen genug sind heute hier vorgekommen. Wir sind durch einen der im Saale anwesenden Herren Beamten davon genau unterrichtet worden.“
So sprach der Constabler mit ernstem Gesicht und schien mit den Augen den Verräther an der Gesellschaft unter den anwesenden Uniformen zu suchen.
„Sie werden sich erweichen lassen!“ meinte der Architekt, „zunächst kann ich Sie aber nicht trocken stehen sehen. Befehlen Sie Bowle, oder ein Glas Sect?“
Der würdige Beamte entschied sich auffallender Weise für Bowle. Sofort langte der Herold nach einem in der Nähe stehenden großen Glase und reichte es gefüllt dem Constabler. Da dieser es mit vieler Geschicklichkeit und Eile leerte und dasselbe Experiment noch zweimal hintereinander ebenso geläufig wiederholte, athmete die bedrängte Gesellschaft auf. Der Architekt faßte daher wieder Muth, dem durstigen Beamten mitzutheilen, daß man nichts als einen Polterabend feiere und sich von allen illoyalen Kundgebungen durchaus fern halte. Hatte die kräftige Feuchtigkeit der Bowle oder diese unschuldige Mittheilung den strengen Mann erweicht, genug, er sagte, daß es ihm leid thue, den Frohsinn der Gesellschaft gestört zu haben, noch mehr aber, nicht mit einem Geschenke für das Brautpaar versehen zu sein. Um aber doch seinen guten Willen zu bezeigen, griff der kühne Mann mit echt polizeilicher Dreistigkeit in die Bowle, belegte den schweren silbernen Löffel – der dazu natürlich längst bereit gehalten war – mit Beschlag und überreichte ihn, sich vor den jungen Leuten verneigend, als Hochzeitsgeschenk.
Diese dichterische Pointe bildete den Culminationspunkt des Abends, alle Anwesenden erhoben sich, die kleinen Knaben krochen beruhigt unter den Stühlen hervor, und der große Kohlwurst führte den von zwei Polizeiräthen geleiteten nachgemachten Constabler in einen Nebensaal, um ihn dort nach den gehabten Anstrengungen mit – Sect, dem Localfluidum, zu erquicken. Da indessen schon eine etwas bacchantische Begeisterung zu bemerken war, mehrere Executivbeamte auch schon heiße Thränen vergossen, und durch den Hauszüchter Kohlwurst nur mit Mühe beruhigt werden konnten: beschloß ich, mich mittelst des bekannten polnischen Abschiedes sachte zu entfernen. Ich entkam glücklich, und der Festabend galt mir für eine so goldene gesellige Lehre, daß ich nie mehr weder ein neues Haus besehen, noch mit dem Architekten Schach gespielt habe.
Auge des Waldes, wie fesselst und bewegst du mit deinem feuchten Blick das Innere des Menschen! Von deiner Wunderkraft angezogen, wogt die Seele dessen, den dein schwimmendes Antlitz gemahnt, in bangem, süßem Ringen dir entgegen. Ja, ein Wunderauge bist Du, denn du schauest nicht nur – du singst dem Menschen auch tief in’s Herz hinein! Die Lichtschwingungen der Sonne tönen nur in unserer Vorstellung; aber deine Blickeswellen, die kosend deine Augenlider – die Ufer – umspielen, sind wirklicher und doch wieder so geheimnißvoll zauberhafter Gesang, der, wenn rollend sein Gottesathem über dich hinhaucht, im Schilfe – deinen Wimpern – und in den mächtigen, dich umstarrenden Waldriesen, den Tannen und Fichten – deinen Brauen – sehnsüchtige und Sehnsucht erweckende Weisen anstimmt oder zu orgeltonbrausendem Psalm sich erhebt. Kommt, der Tag ist schön und mild, begleitet mich nach dem erst kürzlich gewichenen Winter hinaus. Noch ist in den an den See grenzenden, aufwärts liegenden Waldschluchten der Schnee nicht gänzlich zerronnen. Das offen liegende Gewässer, von dürrem braunem Geröhricht umkränzt, hat zu solcher Zeit, wo die Natur noch ringsum schläft, etwas tief Melancholisches, aber doch auch Etwas, das zu sagen scheint: Glaube an mich! – Gleichsam wie ein bereits abgeschlossen gewesenes Leben, dem noch einmal die Hoffnung zu neuem Schaffen winkt, erscheint uns an einem solchen Vorfrühlingstage das seiner starren Fesseln ledige, lebendige Element. Dunkel sehen sich die finstern Tannen in dem düstern Spiegel, der selbst den blauen Frühlingshimmel wie nächtlich verwandelt. Dennoch mahnt uns das wieder offene Wasser, das so lange starr unter schneeiger Decke eine einförmige Fläche gebildet, prophetisch an die Kraft des nahen, belebenden Frühlings, von dem das immergrüne Nadelholz mit seinem dämmerigen, anheimelnden Schatten zu träumen nie aufhört.
Ein solcher sonniger Vorfrühlingstag im Walde ist von unnennbarem Reiz. Mehr als je ist man empfänglich, Lebendiges zu betrachten; jede Ameise, die die warme Witterung bereits aus ihrem Bau herausgelockt, und die nun wieder ihre alte Straße in geschäftiger Eile wandelt, bald hier, bald da einer ihrer kleinen Genossinnen ausweichend, erlabt das Auge und Gemüth. Zu vollendetem Gesang werden die einzelnen Zwitschertöne der überwinterten Vöglein, und mit angehaltenem Athem lauscht man dem Klopfen des Spechtes, der dann mit weithin gellendem Pfeifen zum nächsten morschen Stamme fliegt, um dort sein Zimmerhandwerk fortzusetzen. Aber auch verschiedenes Wasser- und Strandgeflügel ist bereits rege. Weit drüben auf dem stillen, blanken Spiegel schwimmen, nur als Punkte erscheinend, ein paar Taucher, durch eigenthümlichen, wie fernes Bellen klingenden Laut sich kund gebend, mit dem das Männchen seiner Erkornen zärtliche Hingebung zu bezeigen sucht. Dort reihen [1] sich mehrere Entvögel[2], ebenfalls in erwachender Liebesgluth, hinter einer einzelnen Ente, bis diese in eine kleine busch- und rohrumstandene Lache in der Nähe des Sees einfällt, während an dessen Ufer die triste Bläßente nickend und kläglich seufzend durch das trockene Schilf raschelt. Hoch oben in der Luft aber schwebt ein einzelner Reiher, jedenfalls als Quartiermeister für die nachkommenden Schaaren. So ist überall, wo wir hinblicken, schon Leben, obgleich es nur die Vorläufer der Massen sind, die noch folgen sollen, um hier ihr Asyl aufzuschlagen. Eine gewisse Oede herrscht freilich immer noch am See im Vergleich zu späteren Zeiten, deren mannichfaches Treiben wir ein ander Mal zu erleben gedenken. Zuvörderst wählt unsere Betrachtung aus den verschiedenen Wasser- und Sumpfvögeln, die uns zur Schilderung anregen, die wilden Enten, als die massenhaftesten Vertreter jenes Geschlechts, heraus, und unter ihnen nimmt vor allen die bei uns am häufigsten vorkommende und vom jägerlichen Standpunkte besonderes Interesse bietende unsere Aufmerksamkeit in Anspruch, nämlich:
Als Strichvogel ist sie das ganze Jahr bei uns, wo sie nur irgend offene Gewässer findet, es sei auf strömenden, nicht zufrierenden Flüssen und Bächen, oder auf warmen Stellen von Seeen, Teichen und Gräben. Werden mit dem weichenden Winter die Gewässer überhaupt eisfrei, so suchen sie ihre alten Brutstätten an schilfreichen Weihern, oft auch an kleinen Teichen und Lachen wieder auf, wo sie sich dann zu paaren anfangen. Ehe dies jedoch geschieht, werden von den Entvögeln erst erbitterte Kämpfe ausgegefochten, nachdem sie, wie wir bereits zu beobachten Gelegenheit hatten, irgend einer Schönen im nacheilenden Wettfluge den Hof gemacht, bis die Bestürmte in ein schilf- und buschumgebenes, stilles Wasserplätzchen einfällt. Dorthin folgen ihr die Anbeter, um entweder zu siegen oder – zu weichen.
Hat der Stärkste die Schwächern glücklich abgeschlagen, so ist es des Bevorzugten Aufgabe, durch liebenswürdiges Kosen, gehorsames Folgen und sanftes Schmiegen die volle Gunst der Ente zu erringen. Mit anerkennenswerther Beharrlichkeit bleibt ihr dann der Gatte treu, freilich nur so lange, als bis die Jungen ausgekommen, von welchem Zeitpunkte an er sich weder um diese, noch um die frühere Angebetete kümmert, vielmehr sich wieder zu seinen
[141]Geschlechtsgenossen hält. Mit echt mütterlicher Sorgfalt sorgt dagegen die Ente für die Kleinen, die sie sofort, wenn sie aus dem Ei geschlüpft sind, an’s Wasser führt oder, wenn sie hoch genistet hat, wie auf einem Baume, hinabträgt in ihr Element. Hier lehrt sie die junge Brut, beschützt sie vor Gefahren, entweder durch muthige Bekämpfung des nicht etwa allzu überlegenen Feindes oder durch List, die sie dem Stärkeren, mit dem sie im Kampfe augenscheinlich unterliegen müßte, entgegensetzt. Nehmen wir zu solcher Zeit, wenn die jungen Enten noch unmittelbar unter dem Schutze der Mutter stehen, das Gewehr und streifen an den See hinaus, uns durch den Augenschein vom Gesagten zu überzeugen und dabei vielleicht einen guten Schuß zu thun. Gibt es doch am Wasser das ganze Jahr über etwas zu jagen. Ein prachtvoller, lachender Morgen im nun schon vorgerückten Frühlinge gibt uns hierzu willkommene Gelegenheit. Mit gutem Winde und vorsichtig schleichen wir uns hinter Bäumen bis an den Rand des See’s vor, um uns einer Kitte[3] Enten zu nähern. Ruhig schwimmt oder vielmehr schaukelt inmitten ihrer Jungen die alte Ente auf den sanft wogenden Wellen, die, von der Frühsonne beschienen, rosig und silbern glitzernd im Schilfe plätschern. Hier und da hört man das „Quak, quak“ anderer Enten, die im Schilfe verborgen liegen, das unsere Beobachtete wie zu irgend einer Verständigung beantwortet. Dann sich manchmal stürzend[4] ist sie doch sofort nachher doppelt aufmerksam, ob sich etwas Verdächtiges kund gebe, um nöthigenfalls einer Gefahr rechtzeitig ausweichen zu können, was ihr auch meistens gelingt, da die Enten vorzüglich scharf äugen, vernehmen und winden.[5] Irgend etwas ihr nicht Geheueres oder die zu weit vorgerückte Tageszeit läßt unsere Ente in das Schilf hineinsteuern, so daß sie uns bald aus dem Auge verschwunden ist; nur die sich neigenden und schwankenden Spitzen der Schilfstengel, welche die Kitte im Schwimmen berührt, bezeugen den Pfad, den sie genommen. Ein hinter uns aufsteigender Entvogel veranlaßt uns aber jetzt, vom Gewehre Gebrauch zu machen und ihn herunter zu schießen.
Da er in die Gegend der Ente niederfällt, so gibt der darnach einspringende Hund Veranlassung zu einer neuen Beobachtung. Die alte Ente nämlich, die ihre Jungen bedroht glaubt, flieht vor dem Hunde in einer Weise, daß man darauf schwören möchte, sie sei flügellahm geschossen, und könne sich nicht mehr erheben; denn nur flatternd streicht sie kurz vor dem Hunde her, der sich wirklich dadurch täuschen läßt, sie für den heruntergeschossenen Entvogel zu halten, und sie zu fangen und zu apportiren sucht. Die Ente aber hat ihren Zweck erreicht, den Hund von ihren Jungen zu entfernen, die sich unterdessen dicht am Ufer in das Gras gedrückt haben. Natürlich pfeifen wir, den Irrthum bemerkend, den Hund ab, um ihn nicht auf dieser trügerischen Spur fortarbeiten zu lassen, Ehe er aber zu uns zurückkommt und auf weiteren Befehl wieder in’s [142] Wasser geht, hat die Ente die Stelle, wo sie ihre Jungen verließ, mehrmals quakend umkreist und diese in ihrer Sprache hinweg und dahin, wo sie selbst eben einfällt, gelockt, um ihre Kinder im Schutze von Gras und Schilf auf das Land zu führen und erst nach eingetretener Ruhe mit ihnen in’s rechte Fahrwasser zurückzugehen. Unser Hund aber, nicht mehr irre geleitet, hat bald den geschossenen Entvogel gefunden und herbeigebracht. Der Schuß hat aber noch manches Andere rege gemacht, so daß nicht nur Massen von Enten hoch über uns pfeifend hinschwärmen, um weit draußen auf der Blänke des See’s wieder einzufallen, sondern auch Reiher, die theils auf den den See überschattenden Bäumen, theils unten im Schilf gestanden haben, aufgescheucht worden sind und, nachdem sie sich schwerfällig emporgehoben haben, hoch in den Lüften mit unbewegten Fittigen, wie im blauen Aether schwimmend, umherkreisen, während die kleinen Belferer, die Rohrsperlinge, lästernd und scheltend, daß Jemand sie zu stören gewagt, im Schilfe herumspektakeln.
Ein Taucher, der weit über gewöhnliche Schußweite hin ruhig auf dem klaren Spiegel schwimmt, verführt uns mit dem Büchsenrohre des Doppelzeuges zu schießen; aber ehe die Kugel ihn erreicht hat, die dann tanzend auf dem Wasserspiegel vielfach aufschlägt, ist er untergetaucht und kommt nach Minuten, wohl mehrere hundert Schritt weit von dem Flecke, wo wir ihn zuerst sahen, wieder heraus, bald darauf abermals tauchend und so fort, bis er im schützenden Schilfe des jenseitigen Ufers verschwindet. Doch schießen wir im Laufe des Vormittags noch mehrere Entvögel, ohne die immer schußgerecht dahinsegelnden Bläßenten zu beachten, die mit ihrer melancholischen Stimme und ihrem düsteren Aussehen Einem im Voraus den Appetit nach ihrem Braten verderben, der nur zur Osterzeit von den Katholiken, als erlaubte Fastenspeise, gesucht und gern gespeist wird. Ich meinerseits würde lieber fasten, als diese trauerblödige, dickhäutige, thran’ge Creatur zu genießen, die, was Widerwärtigkeit betrifft, für mich in der Vogelwelt das ist, was die Ratte unter den Säugethieren. Vielleicht thue ich ihr Unrecht; denn jedenfalls ist sie ein recht gutes Thierchen, aber hübsch ist sie nicht. Wie sich jedoch sehr oft Contraste begegnen, so sind die Jungen dieser unansehnlichen Enten, eigentlich richtiger Wasserhühner, mit ganz brillantem Gefieder ausgestattet. Durch eine eigenthümliche, von der Regel abweichende Federschmückung, durch lange, glänzendrothe Mietzel, die Kopf und Hals überdecken, bekommen die kleinen Geschöpfe ein auffallend ungewöhnliches Ansehen. Diese Erscheinung ist seltsam genug, da unter den Vögeln sonst nicht die alten, sondern die jungen unscheinbar aussehen.
Die eigentlichen Entenjagden werden wir erst in vorgeschrittener Jahreszeit, im Sommer – Monat Juli – wo die Jungen dann flug- und jagdbar werden und die Alten in der Mauser liegen, mitmachen können. Noch später, im Herbst, setzen wir uns dann zur Dämmerstunde auf den Einfall, welches eigentlich, wenn auch nicht die lohnendste, so doch anregendste Jagd ist. Bei diesen Gelegenheiten wird es nicht blos Enten zu jagen geben, sondern, hoffen wir, noch manches andere Wassergeflügel und sonstiges Flugwild uns vor das Auge kommen, das werth ist, näher betrachtet zu werden. Auch was sonst am See lebt und webt und von seinen kühlen Fluthen angezogen wird, soll nicht unbeobachtet bleiben.
Doch diese segensreiche Wirksamkeit Dinter’s sollte weitere Kreise ziehen. Erziehen und Unterrichten war von jeher seine Leidenschaft. Schon in Kitscher nahm er heranreifende, talentvolle Knaben und Jünglinge in sein Haus und bildete sie zu Schullehrern. Daß sie treu und gewissenhaft unterrichtet wurden, bedarf nicht der Erwähnung, allein Dinter that noch mehr. Einer seiner Lieblingsschüler, der als pädagogischer Schriftsteller, wie als Bildner von mehr als hundert Lehrern bekannte Bauriegel in Pulgar bei Leipzig, mag es uns erzählen: „Alle Zöglinge Dinter’s waren arm, oft sehr arm, Dinter nahm sie in sein Haus und sein Institut auf, meist vier bis fünf, da ihm für mehr der Raum fehlte, und reichte ihnen Allen – Wohnung, Heizung, Kost, Unterricht, Bücher, Kleidung, ja selbst Taschengeld. Nicht ein einzigen Mal ließ er bei den vielfachen Geldausgaben einen Unwillen merken, im Gegentheil war er stets heiter, wenn er Geld zu Kleidungsstücken hergeben mußte. Endlich bekam jeder Zögling von Dinter noch jährlich zehn Thaler, damit er beim einstigen Eintritt in ein Amt die erforderlichen Ausgaben für Amtskleidung bestreiten könne. Ich selbst, der ich nur 11/4 Jahr bei Dinter war, erhielt zwanzig Thaler“. Merke, Leser: dies that für arme Jünglinge und durch sie für die Menschheit der Mann, dem die Frommen und Gläubigen unserer Tage die Christlichkeit absprechen, den sie selbst Jugendverführer nennen!
Die tüchtige Bildung dieser jungen Leute machte Aufsehen, ja Dinter war durch seine uneigennützige und segensreiche Wirksamkeit dem berühmten Theologen und Kanzelredner Reinhard in Dresden bekannt geworden, und erhielt von ihm die Mittheilung, daß man geneigt sei, ihm das Seminar-Directorat in Friedrichstadt-Dresden anzuvertrauen. Diese Anstalt befand sich, als Dinter sie untersuchte, in einem erbärmlichen Zustande, und Reinhard verbarg ihm die Lage der Dinge nicht. Der siebenunddreißig Jahre zählende Dinter sagte zu seinem Gönner: „Herr Oberhofprediger, je größer die Schwierigkeiten, desto größer die Freuden des Sieges.“ Man legt ihm seinen Geschäftskreis vor: „Gott sei Dank, zweiunddreißig Stunden wöchentlich Unterricht und Aufsicht über fünf Schulclassen! Dies war Trost für mein Herz. Desto schlimmer stand’s um meine Besoldung.“ Der Pfarrer zu Kitscher konnte dem Oberhofprediger vorrechnen, daß er als Pfarrer gegen 1000 Thaler, als Seminardirector aber nur 700 Thaler Einkommen habe. „Sie machen,“ sprach Dinter zu demselben, „heute eine sonderbare Besetzung. Ich erhalte 250 Thaler weniger, als ich habe und verdoppelte Arbeit dazu; aber ich komme doch.“ Dinter ging nach zehnjähriger Wirksamkeit zum Leidwesen seiner ganzen Gemeinde 1797 nach Dresden als Seminardirector und setzte hier als Jugendlehrer – er war zugleich Rector einer Bürgerschule – und Lehrerbildner sein Lehramt fort. Wir werden ihn besonders in letzter Eigenschaft kennen lernen.
Seinem im kleinen Kreise befolgten Grundsatze: „Bei dem Seminaristen macht nicht die Menge der Kenntnisse den Mann, sondern die Klarheit, die Bestimmtheit und die Gewandtheit“ blieb er auch hier treu. Nie kam es ihm darauf an: Wie viel in einer Stunde? er ging nicht eher weiter, bis das obere Drittel seiner Seminaristen das Vorgetragene bestimmt, vollständig und in gutem Deutsch wiedergeben konnte. Er bekam hierdurch nicht die gelehrtesten Seminaristen, aber gute und gewandte Lehrer. „Der Seminarist bedarf nirgends das vollständige, Alles bis in’s Kleinliche durchführende System. Er muß als gebildeter Dilettant überall das Wichtigste haben und geben können. Wenn er bei der Candidaten-Prüfung das formosanische Teufelchen, das Armadill und dergleichen nicht genau kennt, so zürne ich nie, oder frage vielmehr nicht nach solchen Dingen, aber Unbekanntschaft mit dem Baue des menschlichen Körpers würde ich nie verzeihen.“ Gleich wichtig, wie Dinter’s Unterricht, war auch sein Umgang mit den Seminaristen. Dieselben waren ihm nicht Knaben, sondern Jünglinge, die nach wenigen Jahren Lehrer sein sollen. Nie despotisirte er den Jüngling, wußte er doch, daß er diesen dadurch reizte, ihn zu betrügen. „Lieber, mach’s so, es gereicht zu Deinem Besten.“
Freiheit, Arbeit und Liebe waren nächst dem religiösen Sinne die Hauptmittel, durch welche der große Lehrerbildner seine Schüler zu führen suchte. Nie sagte er außer der Lectionszeit: „Wo seid ihr?“ Nur gegen neun Uhr mußten seine Leute zum Abendgebete zu Hause sein, wer nach dieser Zeit nochmals ausging, mußte um zehn Uhr zurück sein. Nach dem Gebete blieb Dinter meist noch eine Stunde im Auditorium, bald studirend, bald am Ofen stehend, die Seminaristen in freundschaftlichem Gespräch um ihn herum. Da gab es bald heitere, bald ernste Dinge, und Schreiber dieses, welcher viele Schüler Dinter’s persönlich gekannt (sie sind fast alle todt) und als tüchtige Männer im Amt und Haus schätzen gelernt hat, sah, wie sich das Auge der Greise verklärte, gedachten sie jener Tage. Mit innigster Liebe hingen sie noch dem Manne an, der ihnen einst väterlicher Freund und Bildner zum Schulamte war und nun längst im Grabe ruht.
[143] In Bezug auf Glaubens- und Sittenlehre blieb Dinter, was er in Kitscher gewesen war, evangelischer Christ, ohne in’s Schwärmerische überzugehen. In verfänglichen Punkten stellte er beide Meinungen neben einander, jede mit ihren Gründen, ohne sich für die eine oder andere zu entscheiden. Während des Gesprächs am Ofen, wo es jedem Seminaristen frei stand, sich unbefangen zu äußern, sagte einmal einer derselben: „Ja, Herr Director, Allem was Sie sagen, kann man nachschreiben, aber Gesicht und Ton nicht, mit dem Sie es sagen.“ „Und doch,“ erwiderte Dinter, „würden auch diese mich nicht verwerflich machen.“ Auf Bibellectionen verwendete Dinter als echter Lutheraner viel Zeit und Kraft. Sein von den Orthodoxen und Hochkirchlichen geschmäheter und verworfener Hauptgrundsatz stand schon damals fest: „Die Glaubenslehre muß aus der Bibel geschöpft, nicht aber die Bibel nach der Norm bestimmter Formeln erklärt werden. Vernünftige Bibelerklärung muß die Seele der lutherischen Schule bleiben.“
Was für Leute unter Dinter in Dresden gebildet wurden, hat das allgemeine Aufblühen der sächsischen Schule in seiner Zeit auf’s Klarste dargethan. Deshalb baten städtische wie ländliche Schulpatrone um Dresdner Seminaristen. Es waren frische, kräftige Leute, deren Geist nicht durch strenge Seminarclausur und Gedächtnißkram gedämpft worden war. Dinter lebte des Glaubens: „Wer vom Jüngling zwischen 17 und 22 Jahren zu viel Ernst verlangt, ist wenigstens kein Menschenkenner; Possenmachen ist ihm Bedürfniß. Befriedige ich nun dies Bedürfniß auf geniale Weise, so bewahre ich ihn vor Abwegen. Es ist besser, ich scherze mit den Seminaristen, als ein Spötter des Heiligen, der Gottheit, der Bibel, der Tugend. Meine Absicht wurde erreicht, die jungen Leute waren in den Freistunden gern bei mir, und da sie unter meinen Augen fröhlich sein durften, so suchten sie die Freude nicht in der Ferne.“
Der Erfolg hat seine Bemühungen vollständig gerechtfertigt. In dem von dem gelehrten Reinhard abgehaltenen Examen ging’s trefflich, denn auch dieser hielt auf Kraftbildung mehr, als auf die Masse der Kenntnisse. Die Kühnheit, mit welcher die Seminaristen zuweilen Reinhards Einwendungen beantworteten, mit der sie gegen ihn disputirend auftraten, wurde von Manchen gemißbilligt, ja von den Autoritätsmenschen für gefährlich angesehen. „Gott, was wollen das für Schullehrer werden! Sie widersprechen dem Oberhofprediger,“ sagte Reinhards Küster. Dinter erzählte dies Reinhard bei einem Abendbesuche. „Sehen Sie,“ erwiderte dieser, „es ist doch gut, daß der Küster nicht Oberhofprediger ist, und ich Küster. Dieser hätte Ihrem Schütz offenbar den Repuls gegeben, bei mir erhält er die Eins.“ Dinter, von der allgemeinen Gunst getragen, trat gegen Vorgesetzte beherzter auf, als mancher Andere es gethan hätte. Man verzieh es ihm, da man seine Tüchtigkeit und seine Erfolge nicht ableugnen konnte. Einer von denen, die ihm zunächst standen, wollte ihm in einer Sache, die er verstehen mußte, Vorschriften machen. „Sie müssen –“ fing er an. Dinter unterbrach ihn: „Ich bin nach Dresden gekommen, nicht weil ich Dresden brauchte, sondern weil Dresden mich brauchen zu können glaubte. Ich muß nichts, als was ich will.“
Gleichwohl verließ Dinter 1807 nach zehnjährigem Aufenthalte aus Gesundheitsrücksichten Dresden. Man trug ihm eine Superintendentur an, doch schlug er sie aus und bat Reinhard um die eben erledigte Pfarrstelle zu Görnitz bei Borna. Am Abende des entscheidenden Tages fragte er bei diesem an, ob er Görnitz erhalten habe. Reinhard, äußerst gütig: „Nur mit Mühe haben Sie es erhalten, man schämte sich fast, Ihnen nichts Besseres zu geben.“ Allerdings betrug das Einkommen dieser Stelle nur 500 Thaler. Der Abschied von Dresden war schmerzlich, viele seiner Seminaristen begleiteten ihn bis Meißen. Dinter’s Wirksamkeit in Görnitz ward durch den Brand der Pfarrwohnung, sowie 1813 durch eine Plünderung durch Kosaken getrübt. In beiden Unfällen zeigte ihm die allgemeine Liebe, wie sehr man ihn ehrte. Er war zweimal um Alles gekommen, und Alles ward ihm, soweit es möglich war, von Freundeshänden bald ersetzt. In Görnitz begründete er eine höhere Bürgerschule und ein Gymnasium, verweilte aber daselbst nur bis 1816, in welchem Jahre er als Schul- und Consistorialrath nach Königsberg berufen ward. Wir haben nun Gelegenheit, ihn als Leiter und Vorgesetzten der Lehrer kennen zu lernen.
Dem um Preußen hochverdienten Oberpräsidenten von Vincke in Münster gebührt das Verdienst, sein Vaterland auf Dinter, der um jene Zeit bereits als pädagogischer Schriftsteller glänzte, aufmerksam gemacht zu haben. Der Staatsrath Nicolovius änderte den Plan und bestimmte Dinter für Königsberg, doch nicht als Regierungs-, sondern als Schulrath. Der Vater des Dichters Körner, mit Dinter von Dresden aus bekannt, führte die Correspondenz und schrieb ziemlich ängstlich, er werde die Sache ja nicht rückgängig machen, weil er nicht den Titel als Regierungs-, sondern nur als Consistorialrath erhalte. Dinter antwortete: „Man nenne mich doch, wie man will, das ist mir gleich viel; man thue nur in Schulsachen, was ich will.“ Die Sache war abgemacht. Man ließ Dinter aus Sachsen ungern ziehen, doch gab es damals noch nicht ähnliche Stellen. Dinter langte den 9. December 1816 in Königsberg an und schwur den 16. December dem neuen Vaterlande Treue. Damals schrieb er dem Minister Altenstein: „Ich will jedes preußische Bauernkind für ein Wesen ansehen, das mich bei Gott verklagen kann, wenn ich ihm nicht die beste Menschen- und Christenbildung schaffe, die ich ihm zu schaffen vermag.“ Er hat redlich Wort gehalten, die Annalen des ostpreußischen Schulwesens können Zeugniß ablegen.
Das Schulwesen Ostpreußens lag noch tief darnieder. Den Armen nach Jesu Vorbild das Evangelium zu predigen, war Dinters Wahlspruch. Kurz nach seiner Ankunft revidirte er auf einer Reise 43 Landschulen und zwei Stadtclassen, und – in keiner von ihnen war auch nur Ein Kind, das einen Brief selbstständig aufsetzen konnte. Nach Königsberg zurückgekehrt, klagte er darüber in der Session. Einer der geistlichen Räthe erwiderte: „So etwas muß man aber auch nicht von Bauerjungen fordern.“ Dinter: „Ich hab’s als Pfarrer in Sachsen gefordert. Ich werd’s als Rath in Preußen auch verlangen.“
Zwölf Jahre später, als er seine Biographie niederschrieb, hatte er 2175 Meilen Wegs auf Revisionsreisen zugebracht, hatte sämmtliche rein deutsche Schulen revidirt und konnte mit Stolz sagen: „Ich hab’s errungen. Auf meiner letzten Revision fand ich unter 67 Schulen nur 7, wo es die fleißigen Schuljungen nicht konnten.“ Seine neuen Landsleute mußten von dem vormaligen sächsischen Dorfpfarrer gar manches bittere Wort hören, wenn sie sich ihres Schulwesens rühmten. Einem angesehenen Geistlichen sagte er in seinem gewöhnlichen Freimuthe einmal geradezu: „Das hiesige Schulwesen hat mich überzeugt, daß es keine Erbsünde gibt.“ „Wie so?“ fragte man. Er: „Wenn es eine Erbsünde gäbe, so müßte das preußische Volk aus lauter Dieben, Räubern, Brandstiftern, Ehebrechern und Mördern bestehen, denn mit eurem Schulwesen habt ihr sie wahrlich nicht abgehalten, dies alles zu werden.“ Seine Vorgesetzten, darunter die berühmten Patrioten aus Preußens großer Zeit: v. Schön und v. Auerswald, sahen seinen Eifer und unterstützten ihn auf das Bereitwilligste. Nicht vier Schulstellen sind in zwölf Jahren wider seinen Willen besetzt worden. In den ersten Jahren erklärte ihm Auerswald: „Sie tragen zu viel vor, Sie müssen Kleinigkeiten gleich selbst abmachen, nur das Wichtige vortragen, um die Session nicht aufzuhalten.“ Dinter: „Excellenz, ich trage jetzt fast Alles vor, damit Sie nach drei Jahren sagen sollen: Dinter trägt zu wenig vor.“ Rechtschaffenheit und Freimuth wußte Dinter allezeit nach oben, väterlichen Ernst und herzliche Liebe nach unten, gegen die ihm untergebenen Lehrer, zu zeigen, sobald diese ihre Pflicht redlich erfüllten. Den Unbrauchbaren und Faulen war er ein Mann des Schreckens. Er kannte alle Lehrer und hatte sie in fünf Classen rubricirt, davon die letzte: Menschenverderber. Keiner verstand so wie er die Geister zu sondiren, Parademänner in den Classen konnten ihn ebenso wenig täuschen, wie einzelne, besonders gepflegte Unterrichtsgegenstände, zumal wenn diese außer dem Kreise des Volksschulunterrichtes lagen, das Wesentliche dagegen fehlte. Zu diesem letzteren rechnete er aber: klare Erkenntniß des Christenthums, ausdrucksvolles Lesen, Briefschreiben, Preisberechnung, Gesundheitslehre und Naturkunde zur Verhütung des Aberglaubens.
Durch Herstellung guter Seminare, unter denen die zu Kleindexen und Mühlhausen seine besondere Freude, sein Stolz waren, gelang es ihm, Musterlehrer zu bilden, welche er in der Provinz vertheilte. Sie wurden die Bildner ihrer Umgebung; sein Umgang mit solchen Lehrern war ein väterlicher. In welcher Weise er mit trefflichen Lehrern verfuhr, mag Folgendes zeigen: Ich nenne alle meine preußischen Seminaristen, so lange ich mit ihnen zufrieden bin „Du“. Wenn ich einen „Sie“ nenne, so ist dies [144] eine bedeutende Strafe. Mein S. war zu gelinde, er konnte kein Kind ernst tadeln. Seine Schule war daher bei der ersten Revision nicht, was eine Seminaristenschule sein soll. Ich nannte ihn bei der Revision „Sie“. Er weinte und schwieg. Nach einiger Zeit besuchte er mich. Ich: „Was wollen Sie bei mir?“ Er: „Ich wollte Sie bitten, meine Schule wieder zu revidiren.“ Ich: „Daß ich mich noch einmal ärgere?“ Er: „Nein! Ich will mir nur das „Du“ wieder verdienen!“ Er verdiente sich nicht nur das Du, sondern auch eine bessere Stelle. Einem jungen Lehrer schrieb er: „Du siehst, ich alter Mann kam heute bei stürmischem Wetter und schlechtem Wege zu Dir. Warum? Weil ich glaube, ich bin Gott für jeden preußischen Bauerjungen Verantwortung schuldig, wenn ich nicht Alles thue, was ich zu thun vermag, um ihn zum Menschen, zum Christen zu bilden. Denke Du auch so! Du hast’s bei Gott zu verantworten, wenn Du nur in einer Stunde eines Deiner Kinder vernachlässigst, nicht Alles an ihm thust, was Du für seine Menschen- und Christenbildung mit angestrengter Kraft zu thun vermagst. Junger Mann, das Vaterland hat Dir ein Werk anvertraut, das kindlichen, das männlichen Sinn fordert. Habe jenen, strebe nach diesem, so wird sich herzlich freuen Dein väterlich gesinnter Freund Dinter.“
So redete ein Dinter mit seinen strebsamen Lehrern; ist’s zu verwundern, daß diese das unmöglich Scheinende leisteten, ihn liebten und ihre Liebe in seiner Weise, in der Beförderung von Menschenwohl darzulegen bemüht waren? Dabei suchte der Freund ihre äußere Lage zu verbessern, wann und wo er konnte. Doch wir müssen hiervon schweigen, und wollen nur noch erwähnen, daß er als Professor der Theologie sich gleicher Liebe von den Studenten zu erfreuen hatte. In seinem Hause lebten acht Studenten und Gymnasiasten, die er zum größten Theil auf eigene Kosten oder gegen ein billiges Kostgeld erhielt, ja selbst studiren ließ; außerdem zahlte er mehrere baare Stipendien an arme Studirende. Es war Junggesellensteuer, zur Strafe dafür, daß er nie geheirathet. Er selbst lebte einfach, trank zu Hause nie ein Glas Wein, kleidete sich einfach, fast zu einfach, wohnte nicht herrlich. „Lachet nur,“ rief er Denen zu, die darüber spotteten! „Meine armen Jungen lachen auch, wenn ich noch einige Thaler zum Weihnachtsgeschenke habe, oder zum Jahrmarkte.“ Wöchentlich arbeitete er 83 Stunden und stand im hohen Alter noch stets früh fünf Uhr auf. Ohne Furcht sah er der Zukunft entgegen. „Sterben?“ spricht er, „nun wahrlich, davor fürchte ich mich nicht. Das Einpacken mag kein angenehmes Geschäft sein, aber Reisen ist wahrlich schön, zumal Reisen in’s Vaterland, zum Vater. Ein Gott, der mir’s hier so wohl gehen ließ, macht alle guten Geister in seinem Himmel glückselig, mich auch. Und wenn er mich droben wieder zum Schulmeister macht, und mir ein Heer Geisterchen für seinen Himmel zu bilden anvertraut, so erfüllt er den heißesten meiner Wünsche, macht mich so selig, daß ich selbst Gabriel und Raphael um ihre Herrlichkeit nicht beneide.“
Und diese Stunde schlug ihm nach einem rastlos thätigen, zum Segen der Menschheit vollbrachten Leben, ganz wie er sich’s immer gewünscht hatte, ohne langes Krankenlager. Den 19. Mai 1831 unternimmt er noch einige Revisionsreisen, kommt den 21. Mai Abends zu einem befreundeten Pfarrer, legt sich zur Ruhe und schläft ungewöhnlich lange. Doch um acht Uhr wacht er auf und arbeitet dann an der damals von ihm herausgegebenen Bibel als Erbauungsbuch. Es zeigen sich Anfälle von Schwindel. Gleichwohl revidirt er noch einige Schulen, will sein Werk in einem dritten Kirchspiele fortsetzen, doch es geht nicht mehr. Man holt ihn nach Königsberg zurück. Ein Nervenfieber gesellt sich zu seinem abgematteten Zustande, nach drei Tagen, den 29. Mai früh sechs Uhr, ist er ein Raub des Todes. Er schlief ruhig und zufrieden ein.
Er ruhe sanft. Er war ein arbeitsamer, guter, religiöser Mensch, ein Christ in des Wortes tiefster Bedeutung. Die deutsche Volksschule hat ihm viel zu danken, jede seiner einundfünfzig zum Theil bändereichen Schriften ist ein Denkmal seines praktischen Geistes. Die theologische Tagesmeinung suchte sie nach Preußens Vorgange vor mehreren Jahren nicht nur aus den Schulen, sondern, Gott sei es geklagt, selbst aus den Lehrerbibliotheken zu entfernen. Die Zeit bricht schon an, wo man rufen muß: „Ist kein Dinter da?“ Mögen die, welche aus seiner Schule hervorgegangen, ihm geistesverwandt sind, fest an seinem Grundsatz halten: „Durch den Kopf zum Herzen, keine Wärme ohne Licht!“
H. L. in Dresden. Wir haben für derartige Spielereien – denn als solche sehen wir die gewünschten Briefe an – keinen Platz in der Gartenlaube.
R. R. in Kronstadt. Von den österreichischen Buchhandlungen wird unsere Zeitschrift, so viel wir wissen, mit 1 fl. 15–20 kr. verkauft, doch können die traurigen Coursverhältnisse der neuern Zeit wohl eine Preiserhöhung herbeigeführt haben. Außerdem sprechen in Kronstadt die theueren Fracht- und Postspesen etwas mit.
S. in Pulsnitz. Ihre Auflösung des Räthsels hat durch ihre geistreiche Form sehr angesprochen.
Hbgr. in Kolomna (Gouvernement Moskau). Wenn die russische Postbehörde in Moskau den Abonnementspreis für die Gartenlaube einstreicht, so ist sie auch verpflichtet, den Jahrgang regelmäßig und vollständig in den erscheinenden Wochennummern zu liefern. Wenn briefliche Reclamationen nicht helfen, so nehmen Sie die Presse zu Hülfe, es ist das beste Mittel, Uebelstände bekannt zu machen und zu beseitigen.
A. W. in Oppeln. In der letzten Nummer werden Sie bereits eine Mittheilung gefunden haben.
Nlgn. in Nördlingen. Wir bedauern, auf Ihre Vorschläge nicht eingehen zu können.
C. A. W. in Hamburg. Die Gartenlaube druckt nur Originalbeiträge ab, am wenigsten aber kann sie sich dazu verstehen, aus den leichtfertigen Mühlbach’schen Machwerken nachzudrucken.
B. in O. Die „Blätter aus dem Gedenkbuche der Gartenlaube“ werden, wie Sie in heutiger Nummer ersehen, fortgesetzt. Es freut uns, daß dieselben auch in Ihrer Gegend ansprechen.
Zur Berichtigung. In einem Theil der Exemplare der Nr. 7 sind zwei sinnentstellende Druckfehler stehen geblieben, die wir zu berichtigen bitten. Es muß heißen:
- Seite 103, Spalte 1, Zeile 21 v. u. Beengung des Magens, statt Bewegung des Magens.
- Seite 104 in der Unterschrift der Illustration: s) Milz, statt Milch.
Mit dem 1. Januar begann ein neues Quartal der bei Ernst Keil in Leipzig erscheinenden Zeitschrift:
Wöchentlich ein Bogen mit und ohne Illustrationen. Vierteljährlich 16 Ngr.