Aus dem Kirchenstaate

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Autor: Moritz Hartmann
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Titel: Aus dem Kirchenstaate
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aus: Die Gartenlaube, Heft 5, 9, S. 78–80
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[78]
Aus dem Kirchenstaate.
Von Moritz Hartmann.
Nr. 1.
Der Eintritt in den Kirchenstaat. – Bologna. – Die Müßiggänger von Bologna. – Leben der Aristokratie. – Zustand der Romagna. – Eine kleine Geschichte.

Die schmale Panara bildet die Grenze zwischen Modena und der Romagna. Man passirt die kleine Brücke und die großen Zollgebäude, an denen man sonst allerlei Paßplackereien ausgesetzt war, und es ist wunderbar, wie rasch man es fühlt, daß man sich in einem anderen Staate befindet. Boden, Klima, Volk sind dies- und jenseits der Panara dieselben; beide Staaten wurden despotisch regiert – aber der Despotismus hatte verschiedene Formen, und schon das reichte hin, beide äußerlich wie innerlich so sehr zu unterscheiden. Die Straße wird gleich an der Brücke etwas schlechter, und die vielen Ausbesserungen, welche die neue Regierung jetzt vornehmen läßt, tragen für den Moment zum bequemen Weiterkommen nicht viel bei. Die vielen einzeln zerstreuten Häuser und Ortschaften wissen nichts von Fensterscheiben; das Glaserhandwerk scheint hier ganz unbekannt. Die großen leeren Fensterlöcher, die schwarz auf die Straße sehen oder mit Bretern geschlossen sind, lassen jedes Haus öde und verlassen erscheinen. Die Tracht der Einwohner nimmt jenen pittoresk-zerrissenen Charakter an, den die Maler so sehr lieben, der aber zur Erwärmung in kalten Wintertagen, wie sie bereits eingetreten sind, wenig beitragen mag. Die Scheibenlosigkeit der Fenster und diese allgemeine Armuth erinnerte mich lebhaft an das Innere der Türkei; so hatte mich auch schon die kleine Festung Urbano, auf deren Wällen noch vor Kurzem österreichische Schildwachen auf- und abgingen, auf’s Lebhafteste an türkische Festungen erinnert. Ach, wie elend sah sie aus, als ich an ihr vorbeikam! Große Stücke der Mauer waren in die Gräben gefallen und ragten aus den Pfützen derselben wie Klippen hervor. Das Ganze schien sich demnächst in einen chaotischen Erdhaufen verwandeln zu wollen.

Von all diesem Erdenjammer wendete man sich gern dem himmlischen Schauspiele zu, das die Sonne auf den Spitzen und in den Thälern der Apenninen mit Feuersäulen, Wolken, Schatten, vergoldeten Bäumen, Fata-Morganaschlössern, luftigen Rosenbüschen und phantasmagorischen Arabesken und Fabelthieren ausführte. Sie schien es vergessen zu haben, daß sie den Tag hindurch mit verfrühten winterlichen Strahlen geleuchtet, oder wollte es im Augenblicke des Scheidens gut machen. Die Apenninen, so verklärt, rückten uns immer näher, und plötzlich lagen die Hügel mit Madonna di San-Luca und San Michele di Bosco, mit den unendlichen Arkaden, die auf den Hügel führen, und mit der ganzen zaubervollen Decoration von Bologna vor uns.

Die Stadt der Pepoli’s, Bentivoglio’s, Lambertazzi’s, die Stadt Giovanni’s, Caraccio’s, Guido’s, Guercino’s, Domenichino’s, war bei meiner Ankunft noch die Stadt Garibaldi’s. Aber man merkte nicht viel davon. Das eigentliche Lager der italienischen Liga befand sich in Rimini; die Bataillone, die noch in Bologna standen, verloren sich in den unendlichen Straßen der großen Stadt und in den Arkaden, welche keinen Ueberblick gewähren und die Mitte der Straße immer etwas öde erscheinen lassen. Ein Wallensteinsches Lager, oder daß Bologna in dem Momente ein Pilsen war, erkannte der tiefer Eingeweihte nur an den Ottavio’s und Quästenbergen, die daselbst ihr Wesen trieben. Bologna sah wie in den gewöhnlichsten Zeiten aus. Die Arkaden mit ihren Dämmerungen, die an beiden Seiten fast aller Straßen Bologna’s hinlaufen, vereiteln alles Auffallende, das sich im Straßenleben zutragen mag. In ihnen kann sich eine große Volksmenge aufgeregt und wild dahinwälzen, ohne daß man von einem nahen Standpunkte aus in der Mitte der Straße oder an einem Fenster etwas davon bemerkt. Bei schlechtem Wetter wird selbst der Markt leer, und Käufer und Verkäufer verschwinden in den Wölbungen.

Wie sonst saßen die Müßiggänger Bologna’s in den Kaffeehäusern und bei den Friseuren, denn Bologna ist nicht nur die Stadt der Caracci’s, sie ist heute vor Allem die Stadt der Müßiggänger und der Friseure. An der Stelle des Wortes Libertas, das groß und breit und seit Jahrhunderten wie ein Hohn im Wappen der Stadt prangt, sollte das Wort Otium stehen und zwar sine dignitate. Es ist die zahlreiche Aristokratie Bologna’s und das päpstliche Regiment, welche das Heer von Müßiggängern schufen und den Müßiggang zur normalen Beschäftigung der Bologneser Jugend machten. Die Aristokratie mit so großen Namen wie Pepoli, Bentivoglio etc., die ihre Stammbäume bis in die ältesten Zeiten der Longobarden zurückführt, die in den frühesten Kämpfen der Welfen und Ghibellinen, der Geremei und Lambertazzi eine Rolle spielt, konnte sich nach dem Falle Bologna’s und dem Verfalle Italiens nicht entschließen, von ihrem Piedestale herabzusteigen. Ihre Söhne hatten diese Stadt oft unumschränkt beherrscht, wie sollten sie jetzt ruhige Bürger und nützliche Menschen werden? Die Paläste, obwohl sie verfallen und zum Theile öde stehen, die unzähligen Thürme, von denen aus sie einander bekriegten und die über die Stadt drohen, wie aufgehobene Arme, obwohl sie heute Ruinen gleichen, erinnerten sie allzulange an die entschwundene Größe. Im Kriegsdienste des Papstes mit dem Schlüssel auf der Uniform war nicht viel Ruhm und Ehre zu holen, so blieben sie daheim und lebten von einem Tage zum andern von den Resten der Besitzthümer ihrer Ahnen und von schalen Erinnerungen. Die Besitzthümer verfielen, die Renten verschwanden, aber der Müßiggang blieb, und mancher Träger großen Namens lebt so fort von dem Miethzins, den ihm ein noch halb und halb bewohnbarer Theil seines großen Palastes abwirft, oder von der Villa, deren prächtiger Garten in einen Gemüsegarten oder in Ackerland verwandelt und verpachtet wurde. Hätte die päpstliche Regierung irgend welche Bildung oder Unterricht aufkommen lassen, hätten Gesetze und Zustände nicht die hiesige Jugend vom Rest der Welt abgeschnitten: in mancher jungen Seele wäre wohl mit der Erinnerung an alte Zeiten und mit den Pflichten, die diese auferlegt, ein neues Streben erwacht; so aber erstarben alle Keime in Herz und Geist, und was aufwuchs, war Müßiggang.

Dem Adel wie dem strebsamen Bürgerlichen waren auch alle Staatsämter verschlossen, da diese nur mit geweihten Häuptern, nur vom Clerus besetzt wurden, und so lagen, dem Staate gegenüber, bürgerlicher und adliger Geist gleich einem Brachfelde da, und die Unfruchtbarkeit solchen Lebens war durch das Dasein und Beispiel der Canonicate und zahllosen Klöster sanctionirt und vom Staate gern gesehen. Der Bürgerliche hätte sich in moderner Zeit wohl aufgerafft, wie in andern Ländern, wenn unter pontificalen Zuständen an ein modernes Regen, an Handel und Industrie zu denken gewesen wäre. Das Land, das ein Garten Gottes und von einem bis acht Fuß dicken fruchtbaren Humus bedeckt ist, bringt gerade so viel hervor, als der Bewohner braucht, um zu leben; denn warum sollte er sich um mehr bemühen, da er mit dem Producte nichts anzufangen weiß, da es ihm an Märkten und Verbindungswegen fehlt und da das rohe Material zu Hause nicht verarbeitet wird? Die Hauptproducte des Landes, welche allein es bereichern könnten, sind Flachs und Seide, und siehe da, es besteht in der Romagna nicht eine einzige Spinnerei, geschweige eine Weberei! Die Ausfuhr dieser Producte und einigen Weines bringt einen gewissen Geldverkehr hervor, der in Bologna mehrere reiche Banquierhäuser geschaffen. Aber die Sache ist so einfach, die Beschäftigung ist so gering, daß der Banquiersohn und Commis mit einer und zwei Stunden Arbeit des Tages hinlänglich auskommt, und da er hier, wie überall, gern den Patrizier nachahmt, vermehrt er das große Contingent der Müßiggänger, und so entsteht das faule Heer, als dessen Eigenthum wir die alte Stadt bezeichnet haben.

Das Leben eines solchen noblen Lazzarone ist sehr einfach und einförmig, ob er nun große oder kleine Renten habe. Er erhebt sich gegen zehn Uhr aus dem Bette, wäscht sich wenig oder gar nicht, wirft einige Fetzen um und geht in der nachlässigsten Toilette von der Welt zum Friseur. Er hat sich beim Friseur nicht zu geniren; dieser ist sein Freund, sein Vertrauter; die Boutique ist seine Heimath, und die er dort findet, sehen so aus wie er und sind wie er. Der Friseur ist der Angel- und Mittelpunkt des Faulenzerlebens. Er hat gestern Abend so und so viel Damen frisirt, mit so und so vielen Kammerkatzen geplaudert; er hat heute Morgen schon so viele Köpfe unter seiner Hand gehabt und er weiß Alles, was in Bologna und Umgegend, vielleicht was in Rom und Paris vorgeht und vorgehen wird, und er hat die Gabe, sich lebhaft und verständlich mitzutheilen. Seine Zunge ist in fortwährender Bewegung [79] und ruht nur aus, wenn ein Neuangekommener seinen Schatz von Neuigkeiten bereichern kann. Während er die dunkle Mähne des einen Löwen mit Kamm und Eisen bearbeitet, sitzen die andern mit ausgestreckten Beinen, die Cigarre im Munde, auf Sophas und Stühlen und warten ruhig ab, bis die Reihe an sie kommt. Theaterklatsch, Liebesgeschichten, Raub und Mordthaten und dergleichen Dinge füllen ganze Stunden aus und sind so anziehend, daß der Löwe, selbst frisirt, noch die Boutique nicht verläßt, sondern seinen Kaffee aus dem nahen Kaffeehause herüberkommen läßt, um ihn in der wahlverwandten Gesellschaft langsam hinabzuschlürfen. Einige schöne Tagesstunden werden auf diese Weise glücklich todtgeschlagen. Dann erhebt man sich und, bedeckt vom stolzen römischen Mantel, der manche Aermlichkeit verhüllt, macht man in Gruppen einen Spaziergang durch die eleganten Arkaden bei S. Petronio, bleibt vor den Auslegekasten stehen und blickt den vorübergehenden Schönen unter den Hut.

Gegen drei Uhr kehrt man auf seine Stube zurück, die selten ein fremder Fuß betritt und die darum mit einer Matratze, einem dreibeinigen Stuhl und dergleichen Einrichtung hinlänglich möblirt ist. Vor einem blinden oder zerbrochenen Spiegel wird der Hemdkragen umgebunden, der ein reines Hemd heuchelt, wird die Toilette überhaupt in diesem Geist und Systeme fortgesetzt und vollendet. Als ziemlich stattliche Figur tritt man wieder in die Straße, um in dem oder jenem Palazzo einen Besuch zu machen, eine Dame über ihr gestriges Aussehen im Theater zu becomplimentiren, Schmeicheleien zu sagen und die Neuigkeiten anzubringen, die man beim Friseur an bester Quelle geschöpft hat. Dann geht es zu Tische, dann wieder in’s Kaffeehaus, dann in’s Theater. Da gibt es große Löwenhöhlen, d. i. große Logen, die aus drei und vier vereinigten Logen bestehen, deren Zwischenwände gefallen und die mit glänzenden Tapeten ausgelegt und auffallend hell erleuchtet sind. Die Löwen associiren sich und pachten diese Logen für die ganze Staggione um einen Spottpreis. Herrlich beleuchtet, geben sie da ihre Schönheit zum Besten, ziehen die Aufmerksamkeit durch lautes Plaudern auf sich, entscheiden das Geschick der Sängerinnen und zertheilen sich in den Zwischenacten in die andern Logen, um den Hof zu machen.

Die Bedürfnisse eines solchen Löwen können selbst bei kleiner Rente befriedigt werden, da das Leben in Bologna für den Einheimischen sehr billig ist. Nur die äußere, sichtbare Toilette verursacht einige Kosten; auf die unsichtbare wird wenig verwendet, sowohl was die Näherei, als was die Wäscherei betrifft. Der Müßiggänger ißt und trinkt wenig, wie jeder Italiener, und erschrickt nicht vor der kleinsten, schmutzigsten Trattoria, wo er zu zwei Paoli seinen Leib ernährt. So ist es Jedem leicht gemacht, in den Orden zu treten, und so erklärt sich auch die große Anzahl seiner Ordensbrüder.

Im vorigen und noch zu Anfang dieses Jahrhunderts, hatte das Müßiggängerthum Bologna’s etwas Romantisches und Classisches zugleich. Der Patrizier, wie einst der römische, hatte seine Clientel, die aus ärmeren Patriziern und Plebejern bestand. Er war ihr Haupt und Schützer, und sie hingen ihm treu an. Von ihnen umgeben und gefolgt zeigte er sich unter den Arkaden, durchzog er das Land, machte er sich der Polizei, in politischen Dingen manchmal selbst der Regierung, und immer den Vätern, Ehemännern und seinen Feinden und Nebenbuhlern furchtbar. Nur wenige Patrizier brauchten sich zu verabreden, um einen großen Tumult, eine Demonstration, selbst einen Aufruhr hervorzubringen; sie versammelten ihre Clienten und zogen auf den Markt. Viele dumme und manche kecke und romantische Streiche wurden da aufgeführt. Im Jahre 1848 hat sich die Erinnerung an jene Zeiten geltend gemacht, und unternehmende Revolutionäre warben solche Clientelen mit Hülfe ihrer Beredsamkeit. Heute ist von dieser aus altpatrizischer, guelfischer, vielleicht römischer Zeit stammenden Institution wenig oder nichts mehr zu merken; der junge Mann aus dem Volke ist ernster und strebsamer geworden, und der elegante Müßiggänger steht allein da, ohne Classicität und Romantik, langweilig, platt, nichtssagend, wie in allen andern Ländern der Welt, selbst jener Philosophie baar, die den neapolitanischen Lazzarone auszeichnet.

Man fühlt sich von Ekel erfüllt, wenn man in einer Zeit, wie die jetzige, diese gesunden, kräftigen Gestalten nach wie vor beim Friseur und im Theater sieht, während sie in Rimini unter Waffen stehen sollten. Es ist das eine der schönen Erbschaften der klerikalen Herrschaft, die darauf ausging, die Fäulniß jeder jungen Kraft zu beschleunigen, und der neuen Regierung ist es schwer, hier zu helfen, da ihr kein Gesetz zur Seite steht, das sie zur Benutzung dieser brachliegenden Kräfte anwenden könnte. In Modena und Parma hat sie die Conscription bereits eingeführt; in der Romagna soll es jetzt geschehen, aber zur Zeit ist das eine pure Unmöglichkeit, da kein Geburtsregister, kein état civil, überhaupt keine Einrichtung besteht, die der Behörde einen Blick in Bevölkerungs-, Alters- und Vermögensverhältnisse erlaubte; auch in dieser Beziehung hatte die Regierung des Papstes die größte Ähnlichkeit mit der Regierung des Großtürken. Doch muß dieser Relation Bologneser Müßiggängerthums zur Steuer der Wahrheit beigefügt werden, daß sich ein bedeutender Theil der bisherigen Faulenzer freiwillig aufgerafft, daß ihn der Patriotismus erhoben und daß der Bewegung aus seinen Reihen manche Kraft zu Gute gekommen. In den Bureaux wie in der Armee der Liga findet sich heute mancher junge Mann arbeitend und begeistert, der noch vor wenigen Monaten mit Seinesgleichen zu verfaulen drohte. Das ist einer der Anfänge des Freiheitssegens.

Von Bologna als der Stadt der Müßiggänger sprechend, könnte ich jetzt noch Manches von den zahllosen Mönchen, Nonnen, Klöstern und Canonikern erzählen, aber das sind bekannte Leiden. Auch macht sich dieser Theil der Bevölkerung im jetzigen Augenblick weniger geltend. Die Bettelmönche, mit ihren großen weißen, über die Schulter geworfenen Bettelsäcken, gehen zwar noch von Haus zu Haus; aber die anderen, besonders die politischen, wie z. B. die Jesuiten, halten sich stille, wenn auch wahrscheinlich nicht unthätig, in ihren Klausen und Hallen und Sälen. Die Dominikaner haben dieser Tage einen tiefen Seelenschmerz erlitten, indem der Dictator Farini durch ein Decret die Inquisition aufhob, jenes Institut, mit dessen Ruhm vorzugsweise der historische Glanz dieses Ordens zusammenhing. Liest man dieses und die vielen anderen Aufhebungsdecrete, die alltäglich die Straßenecken bedecken, so glaubt man von alten Zeiten zu lesen oder im 15. Jahrhundert zu leben, und ist erstaunt, wie Vieles die neue Zeit noch zu thun und zu vernichten hat. Wenn die jetzige Bewegung glückt und Italien zu einiger Freiheit gelangt, werden nur böswillige Verleumder den Muth haben, auf die schlimmen Zustände aufmerksam zu machen, die sich selbst unter der Freiheit noch lange, lange Zeit erhalten werden, denn es ist unmöglich, in kurzer Zeit das Unkraut auszujäten, das eine der unglücklichsten Regierungen der Welt nicht nur aufwuchern ließ, sondern systematisch pflegte und aussäte. Man lese nur diese Decrete des Dictators, der sehr gut weiß, daß man mit Decreten nicht an einem Tage abschafft, was durch Jahrhunderte verderbt ist, der aber auf die innere Verfassung aufmerksam und die Nothwendigkeit einer radicalen Reform durch Bloßstellung der Schäden klar machen will; man lese das Circulaire des Marchese Pepoli und die angehängten officiellen Documente, um sich einen Begriff von der Justiz zu machen, die bisher im Kirchenstaate geherrscht und welche die türkische beschämt; man lese endlich im Monitore di Bologna die Correspondenz der Cardinäle und Legaten, um sich zu überzeugen, wie bewußt dieses System der Gewaltsamkeit, der Verfolgung, der summarischen Justiz, der Verdummung etc. aufrecht erhalten worden, ja, wie es den Regierenden noch nicht genügt und wie sie sich als tiefe Psychologen über fernere und gründlichere Ausbildung dieses Systems berathen. Wie eigenthümlich klingen diesen Thatsachen gegenüber die Klagen Roms über die Undankbarkeit der Völker! Die Undankbarkeit! Wir wollen hier nur eine kleine Geschichte erzählen.

Im Jahre 1857 kam Pius IX. dessen persönliche Herzensgüte man auch hier rühmend anerkennt, nach Bologna. Eine Deputation der Stadt erlangte endlich Gehör und sie bat Se. Heiligkeit, doch einige kleine Reformen einzuführen, Reformen, welche er doch selbst in seinem Motuproprio aus Portici versprochen hatte. Nachdem die Deputation sich in Bitten und Vorstellungen erschöpft, antwortete ihnen der heilige Vater, er sehe wohl, wie sehr sie vom bösen Geist verblendet seien, und er wolle Gott, seinen Sohn und die heilige Jungfrau um Erleuchtung der Verblendeten bitten. Doch hat Pius IX. Bologna nicht verlassen, ohne drei Gnaden über die Bevölkerung der Legation auszugießen: er verordnete, daß aus seiner Casse eine gewisse Summe zum Ausbaue der Façade von S. Petronio, der großartigen Kirche Bologna’s, beigesteuert werde, daß der Flecken Crevacuore den besser klingenden Namen Buonocuore, der Flecken Malalbergo den ebenfalls gemüthlicheren Namen Buonalbergo erhalte.

Die ausgesetzte Summe Geldes ist bis auf den heutigen Tag nicht angekommen, und wäre sie gekommen, der Papst hätte sich die Dankbarkeit der Bevölkerung schwerlich damit erworben. [80] Jedermann sah ein, daß ein Klerus, der in dem kleinen Kirchenstaate liegende Güter im Werthe von fünfhundert Millionen besitzt, dem außerdem vom Staate jährlich ein Budget zugewiesen wird und der sich noch dazu der größten Einkünfte an freiwilligen Gaben, Erbschaften, Sammlungen. Gebühren etc. erfreut, eines solchen Zuschusses zum Ausbau einer Kirche nicht bedarf. Was die beiden umgetauften Gemeinden betrifft, so betrachteten sie die Gnade als einen Hohn auf die Gnade und beeilten sich, den Dictator um Rückgabe der schlechtklingenden alten Namen zu bitten.

Noch eigenthümlicher als jene Klagen über Undankbarkeit klingt die römische Versicherung: „das Volk will mich!“ dem Briefe des Cardinal Massimo, Gouverneurs der Provinz Ravenna, gegenüber, in welchem dieser behauptet, daß, „die Greise, die Frauen und die Kinder ausgenommen, der ganze Rest der Bevölkerung vom achtzehnten Jahre aufwärts, der Regierung auf’s Aeußerste feindselig gesinnt sei – ausgenommen etwa noch einige sehr wenige furchtlose Legitimisten“. An andern Stellen wird versichert, daß, nach verläßlichen polizeilichen Berichten, nicht dreißig Personen in der Provinz dem römischen Regimente günstig seien – daß Alles, vom Patrizier angefangen bis zum niedrigsten Knechte, gegen die Regierung conspirire etc. Der Cardinal versichert auch, daß ein nicht kleiner Theil selbst des Klerus unzufrieden sei. Noch schrecklichere Zeugnisse von der Beliebtheit des römischen Regimentes finden sich in dem nicht minder authentischen Auszuge eines politischen Processes, der bereits aus dem Jahre 1840 datirt. Da wird es zu wiederholten Malen ausgesprochen, daß, wenn man die ganze geheime, der römischen Regierung feindliche Gesellschaft arretiren wollte, man den größten Theil der ganzen Bevölkerung verhaften müßte etc. Und „das Volk will mich!“ – In Parma, in Modena liest man auf allen Häusern die Inschrift: „Es lebe Victor Emanuel, unser legitimer König!“, in Bologna liest man auf den Zetteln, die ebenfalls an allen Häusern, und an manchen Häusern unter jedem Fenster angeklebt sind: „Wir wollen Victor Emanuel zum König! Noi vogliamo Vittorio Emanuele[WS 1] per nostro Re!“ Ist dieses „wir wollen“ nicht vielleicht eine absichtliche Antwort auf das „Will“ Roms?



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Autor: Moritz Hartmann
Titel: Aus dem Kirchenstaate. Nr. 2
aus: Die Gartenlaube 1860, Heft 9, S. 136–137
[133]

Garibaldi.

[136]
Nr. 2.
Nachricht für Kunstliebhaber. – Wie schön die römischen Mönche büßen. – Garibaldi. – Wie er lebt und arbeitet. – Wie er geliebt wird. – Garibaldi, das Product des jungen Italiens. – Das verleumdete Italien.

Wenn wir heute von den Mönchen reden, so wollen wir nicht von ihrem Leben und Treiben erzählen, sondern die Kunstliebhaber darauf aufmerksam machen, daß sich im gegenwärtigen Augenblicke in Italien ein schöner Markt aufthut, und daß man viel Gelegenheit findet, werthvolle Bilder und Zeichnungen zu geringen Preisen einzukaufen. Die Mönche fühlen sich nicht sicher und suchen Alles zu tragbarem Gelde zu machen. In mancher Zelle haben sich schöne Sammlungen erhalten, die nun an’s Tageslicht kommen; freilich sind es selten große Bilder, aber sehr oft vortreffliche Zeichnungen der Bologneser Schule, von den Carracci’s, von Guido, Guercino, Domenichino etc., die sich hier, in dem abseits gelegenen Bologna und in den versteckten Klöstern, in außerordentlicher Anzahl erhalten haben. Ein Bekannter hat einen ganzen Carton voll der trefflichsten und interessantesten Zeichnungen, etwa sechszig an der Zahl, einem Mönche um vierhundert Francs abgekauft. In einer versteckten Gasse in der Nähe des Teatro Communale, war ein schöner Engel von Guido Reni, Bruchstück eines großen Oelbildes, um dreihundert Francs zu haben. Der Portier der alten Universität bot mehrere schöne Bilder zu Spottpreisen an; sie sollten einer „herabgekommenen Familie“ angehören – aber „herabgekommene Familie“ bedeutet oft so viel, wie Kloster oder einzelner Mönch.

Bedenkt man, welche ungeheure Fruchtbarkeit die Bologneser Schule entwickelte, welcher Studien und Vorarbeiten nur die Bilder bedurften, die man noch heute in dieser Stadt anstaunt, und daß der ausgesprochene Charakter dieser Schule ihr gegenüber eine gewisse Kennerschaft sehr erleichtert und die Täuschung erschwert, so wird man diesem starkbesetzten Markte gegenüber auch jeden überflüssigen Skepticismus aufgeben. Wohl dem, der jetzt auch nur mit zehntausend Franken in der Tasche durch Bologna reist. Die in so erstaunlicher Anzahl und Größe vorhandenen Fresken, die mit ihrer Fläche ein deutsches Fürstenthümchen bedecken könnten, kann man freilich nicht mitnehmen, aber viele der ersten Gedanken zu diesen Fresken könnte man getrost nach Hause tragen. Aber nur so viel von Kunst, über die man in Bologna dicke Bände schreiben könnte. St. Michele in Bosco, ein ehemaliges Kloster, später, bis vor fünf Monaten, die Residenz des Legaten, und überhaupt eine der schönsten Residenzen der Welt, St. Michele in Bosco allein mit seinen Hallen, Sculpturen, Mosaiken, Oel- und Freskomalereien könnte ganze Bücher füllen. Es ist eines der glänzendsten und schönsten Denkmale klerikaler Pracht und pomphaften Büßerlebens. So zu büßen, wie die Mönche hier gebüßt haben, jeder mit einem fürstlichen Einkommen in schönster Natur und unter Werken der Kunst, mit dem Blicke in das gartengleiche, beherrschte Land, würde sich jeder Sünder gern bereit erklären; wie gern würde Jeder solche Wege zur Heiligkeit wandeln!

In letzter Zeit wohnte Cipriani, der Dictator von Bologna, hier, den man allgemein für eine Creatur Bonaparte’s hielt. Garibaldi wohnte unten in der Stadt in einem alten Palaste, aber nur weil es schwer ist, hier nicht in einem alten Palast zu wohnen. Sein Leben war nicht palastartig, denn um Garibaldi herum wird es immer lagerhaft und bivouakmäßig. Man verpflanze ihn in königliche Gemächer, sie werden sofort den Charakter von Lagerzelten annehmen. Er kann nicht anders als einfach leben, wie ein Spartaner. Ein kalter Nordwind wehte, die Bologneser schlichen classisch bis über das Kinn in den Mantel gehüllt durch die Straßen. Ich kam zu Garibaldi; kein Feuer brannte in seinem Kamine, und er saß in seiner Stube von einem dicken, groben Soldatenmantel bedeckt. Er hat keinen Sinn für die Bequemlichkeiten des Lebens, oder will ihn nicht haben, um sich nicht in die Abhängigkeit von Bedürfnissen zu begeben. Seine Kleidung ist die einfachste und, den Mantel ausgenommen, Sommer und Winter dieselbe. Er ißt sehr wenig und trinkt nur Wasser. Schon vor zehn Uhr liegt er im Bette, um sich gegen vier Uhr zu erheben und sogleich an die Geschäfte zu gehen. Er arbeitet vom frühsten Morgen an, empfängt nur Visiten, die mittelbar oder unmittelbar mit seiner Sache zusammenhängen, und geht fast gar nicht aus. Umsonst stehen die wartenden Gruppen fortwährend vor seinem Thore; sie werden ihn nicht zu sehen bekommen. Er flieht die Liebesbezeigungen des Volkes, weil sie ihn in Verlegenheit bringen, und hält sich darum so viel als möglich in seinen Zimmern.

Nach alldem wird man sich unter Garibaldi eine spartanische Erscheinung, eine abwehrende Persönlichkeit vorstellen. Er ist das vollkommenste Gegentheil. Alles an und in ihm vereinigt sich, um, je länger man ihn kennt, eine unbeschreibliche, unwiderstehliche Anziehungskraft auszuüben: seine Stimme ist stark und voll Wohllaut, sein Blick energisch, fast scharf und doch milde; sein Körper ist etwas steif, aber die Gesten der Arme scheinen ihm eine starke Beweglichkeit zu geben, wie das bei lebhaften, stämmigen Gestalten oft der Fall ist. Dem hellen Gesichte mit dem beinahe antiken Profil sieht man die vielfachen Erlebnisse nicht an; er hat viel Jugendlichkeit bewahrt, trotz der grauen Haupt- und Barthaare und trotz des tiefen Schattens von Melancholie, der oft, wie eine Wolke über eine schöne Landschaft, darüber hinzieht. Wenn er lächelt – und er lächelt oft und lacht niemals – sollte man glauben, daß dieser Mund eher gemacht sei, Trost- und Liebesworte zu sprechen, oder lyrische Stellen zu citiren – was er auch in der That oft thut – als kriegerische Commandoworte zu donnern. Wahrhaft bezaubernd wirkt er, wenn er, freilich selten, auf die einfachste und anspruchsloseste Weise aus dem reichen Schatze seiner Erlebnisse mittheilt und erzählt; wie gerne würde man dann alle die Leiden und Entbehrungen mitgetragen haben! Die Memoiren, die einer seiner Adjutanten schreibt, wie vortrefflich sie sein mögen, werden schwerlich eine solche Wirkung hervorbringen, trotzdem in ihnen der Held im Vordergrunde stehen wird und Garibaldi in seinen eigenen Erzählungen immer im tiefsten Hintergrunde steht. Ich kam mir vor, wie einer der Söhne des Alkinoos, der die Geschichte des Odysseus anhört, und ich begriff, daß der König der Phäaken den Dulder mit Geschenken überhäufte und daß sich dessen Tochter in ihn verliebte, obwohl er zwanzigjähriges Leiden und Kämpfen auf dem Nacken trug. Aber auch Odysseus’ Hund, den treuen Argos, begriff ich. Was ihn umgibt, hängt, wenn ich ohne Beleidigung so sagen darf, mit Hundetreue, mit der rührendsten [137] Treue an ihm. Seine Diener, seine Adjutanten sind mehr als seine Freunde; sie gehen auf in dem Begriffe Garibaldi, sie geben ihre eigene Persönlichkeit auf, um ein Theil von ihm zu werden, „als wär’s ein Stück von mir“. – So wie Garibaldi sich hinlegen würde und sich ruhig den Hals abschneiden ließe, wenn das zum Heile Italiens nothwendig wäre, so würde sich Jeder aus seiner Umgebung für ihn aufopfern. Hat man einen Blick in diesen Kreis und in die daselbst herrschende Gesinnung gethan, so hält man es für unmöglich, daß hier, unter welchen Umständen immer, Verrath geübt werden könne. Nur seine esoterischen Freunde und neuen Bekannten loben und rühmen ihn, begeistern sich für ihn; seine nächste Umgebung schweigt, wenn von ihm die Rede ist. So oft ich im Palazzo Alprandini oder auch nur in Gesellschaft der nächsten Freunde Garibaldi’s war, kam es mir vor, als befände ich mich in einem eng verbündeten, verbrüderten Kreise, der durch ein ernstes und liebes Geheimniß, etwa durch einen verborgenen Cultus, zusammengehalten würde, und als ob ein Mensch, der mit der Absicht des Verrathes in diesen Kreis träte, aus einem Saulus ein Paulus werden müßte.

Aus dem Munde einer älteren, vielerfahrenen Dame hörte ich, als Garibaldi das Zimmer verließ, den Ausruf: „Endlich ein Mensch, der die Vorstellungen von einem echten Helden nicht täuscht!“ – Garibaldi ist, um es in einem Worte zu sagen, wie ein Mensch aus besseren Zeiten – wenn es jemals solche gegeben. Fabelhafter Muth in der Schlacht, eben so großer Muth den ungeheuersten Schwierigkeiten gegenüber, Ausdauer und Unermüdlichkeit trotz aller Niederlagen, vollkommenste Uneigennützigkeit, Alles für die Sache, die als die gute erkannt ist, und nichts für sich, Verachtung aller äußeren Vortheile, Würden, Ehren und Reichthümer, unbegrenzte Aufopferungsfähigkeit, Stärke im Unglück, Treue und Liebe für die Freunde, Seelengüte, Milde für Andere, Strenge gegen sich selbst – wenn diese Elemente einen großen Menschen machen, dann ist Garibaldi gewiß ein großer Mensch und werden alle Verleumdungen und alle Parteileidenschaft ihm in der Geschichte von diesem Titel kein Jota rauben können. Im Bewußtsein des Volkes lebt er schon als solcher; er ist ihm mit dem Begriffe Italiens oder der Hoffnung Italiens Eins geworden, und es liebt ihn persönlich, als ob es zu jenen Freunden gehörte, obwohl es ihn kaum persönlich kennt, aber instinctmäßig angeweht von der Atmosphäre, die von ihm ausgeht. Garibaldi sterbe heute auf seiner Insel, das Volk wird ihn nicht sterben lassen, er wird ihm weiterleben, wie alle Helden, von denen die Völker Befreiung hoffen. Schon heute ist Garibaldi eine Mythe, die unausrottbar ist.

Ich werde das Bild nie vergessen, das die Straßen vor Garibaldi’s Hause am 17. November Abends darboten. Einzelne Eingeweihte kannten schon die Nachricht von seiner Abdankung, aber Niemand wagte es, sie weiter mitzutheilen, aus Furcht vor dem Ungewissen, das auf diese Mittheilung folgen konnte; hatte doch selbst die Regierung nicht den Muth, die Thatsache in der officiellen Zeitung mit einem Worte zu erwähnen. Doch war die Nachricht zu vielen Einzelnen durchgedrungen; Niemand wollte daran glauben. Vor dem Hause Garibaldi’s aber sammelten sich diese Einzelnen, als ob sie dem Hause die Bestätigung oder Verneinung absehen könnten. Es lag dunkel da in dunkler Nacht; die sonst beleuchteten Fenster waren erloschen, das Thor war geschlossen, in dem es noch gestern so lebhaft gewesen, und die Schildwache hatte sich aus der Straße in den inneren Thorweg zurückgezogen. Das sagte den Fragenden genug. Schweigend, in ihre Mäntel gehüllt bis über’s Kinn, gingen sie auf und ab; manchmal blieben zwei und drei der nächtlichen Wanderer in einem Schatten stehen und sprachen leise. Dann gingen sie wieder auseinander und sahen wieder zu den Fenstern hinauf. Wer aus dem Hause herauskam, wurde fragend angesehen, aber mit keinem Worte gefragt. Nach und nach sammelte sich eine große Anzahl solcher nächtlicher Wanderer, aber die Menge war eben so still und schweigsam, wie es anfangs die wenigen Einzelnen gewesen. So mag es in einer Stadt sein, durch die das Gerücht schleicht, daß in ihren Mauern die Pest ausgebrochen. Diese schweigenden Wandler sagten mir mehr, als das Evviva, das Garibaldi umtobte, wenn er sich in den Straßen zeigte.

Aber man hätte Unrecht, zu glauben, daß Garibaldi eine vereinzelte bedeutende Erscheinung, ein exotisches Gewächs sei im heutigen Italien. Er ist in seiner Art die bedeutendste, vielleicht wohlthuendste, aber er ist nicht eine vereinzelte Erscheinung. Bedeutende Menschen sind immer Bäume, die familienhaft wachsen, sie ragen nur aus der Familie hervor und sie sind immer Produkte der Zustände, des historischen Bodens und vielfacher Factoren. Diese Zustände, dieser Boden, diese Factoren sind für Viele zugleich da und üben ihre Zeugungskraft auf vielfache Weise, an vielen Persönlichkeiten zugleich aus. Wie in Literatur und Kunst, trotz dem Aberglauben des Publicums, das nur das Fertige sieht, kein Genie fix und fertig aus dem Boden springt, sondern aus den Vorbereitungen und geistigen Arbeiten von Jahrzehnten und Jahrhunderten, deren Gesammtheit in einer Person es repräsentirt, hervorgeht, so auch die populären Geister, die das Freiheitsstreben einer Nation in einer Person darstellen. Wie Michel Angelo aus dem ganzen Streben zweier Jahrhunderte seit Giotto, wie Shakespeare aus dem Streben dreier Regierungszeiten nach einer nationalen Bühne geboren wurde, und wie solche Spitzen der Kunstwelt immer von einer überaus zahlreichen Verwandtschaft umgeben sind, welche mehr oder weniger ausgeprägte Familienzüge trägt, so auch die bedeutendsten Menschen lange vorbereiteter und in der Nation und ihren Geschicken begründeter politischer Bewegungen.

Der Verleumdung der Mächte, in deren Interesse es war, sich als die berechtigten Kerkermeister Italiens darzustellen, ist es gelungen, Italien als ein Land der Dummheit, der Kriecherei, als das Land der Intriguanten und Meuchelmörder zu malen, den Italienern die Fehler, die man ihnen mit den sclavischen Zuständen eingepflanzt, als ihrem Charakter natürliche Verbrechen anzurechnen und sie als ein unverbesserliches, jeder Freiheit, jedes besseren Zustandes unfähiges und unwürdiges Volk darzustellen. Der Krieg, den ein Theil Italiens gegen das Gesetz führte, weil dieser Theil durch das Gesetz selbst verderbt, und weil das Gesetz unerträglich und mit dem Despotismus identisch, daher mit ihm verhaßt war, mußte den Beweis liefern, daß Italien von Gesetzlosen bewohnt sei, die man als außer dem Gesetze behandeln müsse. Diese Darstellungen sind im Geiste Europa’s zu Thatsachen, zu Vorurtheilen geworden. Die Masse glaubte, was man ihr seit hundert Jahren planmäßig vorsagte, und immer und immer wiederholte, ohne sich die Geschichte in der Nähe anzusehen, ohne die unvergleichliche Schaar großer Menschen, die auf diesem Boden gewachsen, zu berücksichtigen, ohne das seit fünfzig Jahren ununterbrochene, unermüdliche Streben nach einem besseren Zustande, ohne die ungeheuren Opfer und Martyrien zu beachten. Die Menge ist zu entschuldigen, da es der Verleumdung gelungen ist, jene Vorurtheile selbst den gebildeten Menschen einzuimpfen.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Emanuelle