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Die Gartenlaube (1861)/Heft 40

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 40.   1861.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Die drei Großmächte.

Sittenbild aus dem vorigen Jahrhundert.
Von Levin Schücking.


1.

Es war um das Jahr 1760, als zwei junge Wanderer mit dem Ränzlein auf dem Rücken durch die schöne süddeutsche Landschaft schritten.

Der Eine von unseren Wanderern ist der jüngere Sohn eines jüngeren Zweiges eines alten Grafengeschlechtes, das in den fern abliegenden Gegenden Rhätiens daheim war, und dessen Linien sich nach der Farbe ihres Wappenzeichens, einer Fahne, unterschieden; welche berühmten und in allen heraldischen Werken zu findenden Fahnen nur leider in den letztvorangegangenen Zeiten so gar fröhlich und üppig geflattert hatten, daß nach und nach auch der einst große Reichthum des Hauses dahin geflattert und jetzt völlig verschwunden war.

Je stiller und langweiliger unter solchen Umständen mit jedem Jahre das Leben auf seiner väterlichen Burg wurde, desto mehr sehnte der junge Graf Albrecht von Werdenfels sich aus dieser Burg in die Welt hinaus. Die Welt, dessen war Graf Albrecht gewiß, mußte ihm im Vergleich zur Heimath außerordentlich gefallen, und nebenbei war er nicht abgeneigt anzunehmen, daß auch er – solche Eindrücke sind ja gewöhnlich gegenseitig – der Welt gefallen werde. Und Niemand hätte das als eine unberechtigte Eitelkeit auslegen können; weshalb sollte ein junger Graf, der einen Wald von dunkelkastanienbraunen Locken, große, feurige, blaue Augen und einen überaus zierlichen Mund besaß, und auf dessen Wangen der rosige Widerschein seiner heitern rothen Wappenfahne lag – Albrecht gehörte zu der Linie von der rothen Fahne, die immer am fröhlichsten geflattert hatte und deren Burg die verfallenste von allen war – warum sollte er nicht der Welt gefallen?

Die Schwierigkeiten, welche sich einer Reise entgegenstellten, hatte Graf Albrecht besiegt. Er hatte einen kleinen Beutel mit Goldstücken von seinem Vater eingetauscht gegen das feierliche Versprechen, in strengem Incognito als „Albrecht Fels“ reisen zu wollen, damit der Umstand, daß ein Graf Werdenfels als einfacher Fußwanderer durch die Welt gezogen, nicht einen ewigen Schandfleck auf die Linie „von dem rothen Fahn“ und das gesammte Haus der Werdenfels bringe. Auch hatte er versprochen, sobald er auf seiner Reise durch Schwaben und das Donauthal hinunter in die Kaiserstadt Wien gekommen, ein großes Empfehlungsschreiben seines Vaters an den Reichsvicekanzler abgeben zu wollen. Es sollte dann ganz diesem gewiegten und allmächtigen Staatsmann anheimgegeben werden, wie ihn derselbe etwa in kaiserlichen Diensten, z. B. als Oberst eines Reiterregiments, als Feldmarschalllieutenant, Landeshauptmann oder Gouverneur einer bedeutenden Festung, oder in irgend einer andern für einen Grafen Werdenfels passenden Stelle unterbringen wolle.

Albrecht von Werdenfels nahm also vom Vaterhause an einem sehr schönen Sommertage Abschied und wanderte rheinabwärts in die Welt hinein, indem er sich die Zeit damit vertrieb, daß er sich einige alte Volkslieder vorsang, ohne darauf zu achten, daß die düsteren grauen Felsenwände, an denen sein Weg in dem stillen engen Thale vorüberführte, nicht das mindeste Vergnügen darüber verriethen, ja daß sie ihm wohl wie spottend ein Echo zurückwarfen. So oft dies geschah, blieb Albrecht stehen und warf dem tückischen Gesellen, der ihn aus der Klippenwand höhnte, laut und aus voller Brust das Wort seines Liedes zu, das ihn gerate am meisten zu ärgern schien. Nach und nach aber ermattete der junge Mann in diesem Spiele, da er die Erfahrung machte, daß das Echo in einem solchen kleinen Disput immer das letzte Wort behielt.

Der zweite Tag seiner Wanderung führte ihm einen Gefährten zu. Er fand ihn in dem großen Nachen, mit dem er die Ueberfahrt über den Bodensee nach Lindau zu machte. Es war ein junger Mensch von ungefähr demselben Alter, in welchem Albrecht stand, aber einem sehr verschiedenen Aeußeren. Er war mager, äußerst gelenkig und behende, gelb von Farbe wie ein Zigeuner, und während aus seinen schwarzen, schmalgeschlitzten Augen Lebenslust und Keckheit blitzten, zeigte der ziemlich breitlippige Mund ein nur selten und auf Augenblicke schwindendes Lächeln, das bereit schien, bei jeder halbwegs passenden Gelegenheit in ein helles und herzliches Gelächter überzugehen. Da die Fahrt auf dem weiten stillen Wasserspiegel sehr langweilig war, so begannen die jungen Leute eine Unterhaltung, die der Fremde in einem gebrochenen und unendlich komisch lautenden Deutsch führte, welches Albrecht so erheiternd eigenthümlich fand, daß er fortwährend darauf Bedacht blieb, dies Gespräch nicht abbrechen zu lassen. Auf diese Weise wurden sie nach und nach sehr vertraut mit einander, und als mit scheinbarer Offenheit Albrecht mitgetheilt hatte, daß er ein reisender Student sei, der die Hochschule zu Wien beziehen wolle, nachdem er sich auf einer Fußwanderung durch Schwaben im Reiche umgesehen, trug ihm der Andere seine Begleitung auf dieser Reise an.

„Ich bin ein Venetianer,“ sagte er, „und heiße Fano[1] Solari; ich habe also, wie Ihr sehet, ein Vaterland, in welchem junge Leute meiner Gemüthsart immerhin ihren Zeitvertreib und die Befriedigung des natürlichen Wunsches finden können, von der Welt um sie her amusirt zu werden; insofern brauchte ich nicht den [626] Wanderstab zu ergreifen, um in’s Land der Schwaben zu reisen. Es ist etwas Anderes, was mich verführt hat, eine kleine Streiferei in diese dunklen und nebelhaften Gegenden zu wagen; denn, um es Euch mit einem Worte zu gestehen, ich habe vor etwa einem Vierteljahre meine Mutter, Frau Teresa Solari, die bisher allein für mich sorgte, verloren. Und weil es nun nicht gut ist, daß ein Jüngling von meiner Gemüthsart sich ganz ohne elterliche Aufsicht befindet, so habe ich den Entschluß gefaßt, mich aufzumachen, um statt der verlorenen Mutter einen treuen und zärtlichen Vater zu ermitteln. …“

„Das soll heißen?“ fiel Albrecht lachend ein.

„Euer Lachen zeigt mir, daß Ihr verstanden habt, was es heißen soll!“

„Weshalb,“ fuhr Albrecht kopfschüttelnd fort, „wendet Ihr denn just Eure Schritte dahinüber – gewährt es Euch eine besondere Befriedigung, einen Schwaben zum Papa zu bekommen?“

„Nicht eben das,“ entgegnete Fano Solari. „Aber im Nachlaß meiner guten Mutter befanden sich einige Briefe, deren nähere Durchsicht mich vermuthen ließ, daß dasjenige auf meine Verehrung berechtigte Wesen, welches ich daheim in unsrer kleinen Häuslichkeit seit je vermißt habe, aus Schwaben gekommen sei und sich vor dem Zeitpunkt, mit welchem meine Zeitrechnung beginnt, eine Weile in Venedig aufgehalten haben muß.“

„Nun,“ versetzte Albrecht, „dann wünsch’ ich Euch Glück zu der Fahrt. Vielleicht findet Ihr das, was Ihr sucht, in irgend einem Schlosse oder einem schönen, stattlichen Patrizierhaus in dem Lande, welches dort am andern Seeufer vor uns liegt. Denn es ist Jedermann bekannt, daß die reichen und vornehmen Herrn desselben es zu ihrer Ausbildung für nöthig halten, als junge Leute einen oder den andern Winter in dem schönen fröhlich-üppigen Venedig zuzubringen und an seinen Freuden mit dem mehr oder minder größern Erfolg für ihre moralische Vervollkommnung Theil zu nehmen, mit welchem sie dann zurückkehren.“

Fano nickte mit dem Kopfe. „Meine Mutter Teresa Solari,“ sagte er, „war aus einem guten Hause, und ein anderer als ein durch seine Herkunft und seine Stellung empfohlener Herr hätte es nicht vermocht, ihr Herz zu gewinnen.“

„Enthalten denn die Briefe, welche nach Eurer Mutter Tod in Eure Hände fielen, nicht den Namen besten, den Ihr sucht?“

„Nein. Sie sind unterschrieben mit den Buchstaben C.X.X., und die Poststempel der zwei oder drei letzten, welche nicht mehr das Datum Venedig tragen, zeigen den Namen Lindau. Da dies nun die kleine Inselstadt hier vor uns ist, so muß nothwendiger Weise meine Jagdstreiferei auf den treulosen Mann, der sich solcher Hieroglyphen bediente, dort beginnen.“

„C. X. X.,“ wiederholte Albrecht, „das sind nicht gerade Hieroglyphen; als römische Zahlbuchstaben bedeuten sie 120, und wir wollen hoffen, daß sich diese Zahl nicht als eine Art Nummer auf Euch beziehe.“

Beide lachten herzlich über Albrecht’s Einfälle. Der Italiener suchte dann seine Briefe hervor und übergab sie Albrecht, damit er sie durchlese und ihm seine Meinung darüber sage, und Albrecht steckte sie zu sich, um, sobald er Muße finde, des Reisegefährten Wunsch zu erfüllen. Dann zogen sie in die merkwürdige kleine Seestadt Lindau ein, welche jetzt ihr Schiff erreicht hatte. Und am anderen Tage zogen sie in’s hügelige schöne Schwabenland, auf Ravensburg zu, und dann über Ravensburg hinaus, mitten in die fremde Welt mit ihren seltsamen malerischen Städtchen an den Flüssen, ihren alterthümlichen Schlössern und Burgen auf den Felsen und ihren großen Abteien und Klöstern auf den Halden rebentragender Hügel.

Eines Abends hatten sie die Gastlichkeit eines großen und prächtigen Klosterbaus in Anspruch genommen, welches die Abtei Triefalten hieß und von Mönchen bewohnt war, die sich ihr Gelübde, wie es schien, außerordentlich leicht gemacht hatten. Die Herren ließen sich Stiftsherren nennen, trugen sich, wie es ihnen beliebte, und schienen auch zu thun, was ihnen beliebte. Als unsere beiden Reisenden in Erwartung der Abendmahlzeit in den Höfen und Gärten umherschlenderten, sahen sie eine Gruppe derselben in einer schattigen Rebenlaube hinter großen Weinkrügen sitzen; zwei andere waren damit beschäftigt, unfern davon einen unglücklichen Jagdhund zu dressiren, und einer saß in Hemdärmeln an einem Aepfelbaum und blies hier melancholische Weisen auf auf der Flöte, ohne sich durch das Gelächter der Zechenden und das Heulen des geprügelten Hundes stören zu lassen.

Als unsere jungen Leute eine Strecke weit in den großen Klostergarten hineingeschritten waren, kam ihnen seitwärts aus einem Gebüsche einer der Stiftsherrn, ein langer und großgewachsener Mann, entgegen, der im langsamen Auf- und Abwandeln in einem Romane las, den er jetzt zuklappte und in die Tasche seines langen schwarzen Rockes von leichtem Sommerzeug gleiten ließ. Er gesellte sich zu den Fremden, unterhielt sich mit großer weltmännischer Gewandtheit mit ihnen, und endlich forderte er sie auf, am morgigen Tage zu rasten und einer großen Jagd auf Hochwild zuzuschauen, welche ein benachbarter großer Herr, der Reichsgraf von Glimmbach zu Hohenklingen, veranstaltet und wozu er sowohl den ehrwürdigen Vater in Gott, den zeitigen Herrn Prälaten dieses ausgezeichnet fürnehmen und edlen Stifts Triefalten, als auch den regierenden Bürgermeister der nahen freien Reichsstadt Großlingen, seine beiden Grenznachbarn, einzuladen nicht verfehlt habe. So hohe und fürstliche Herren in nächster Nähe, an einem anziehenden Schauspiele sich betheiligend, zu erblicken, war für unsere Wanderer allerdings verlockend; und also beschlossen Albrecht und Fano dem Winke des geistlichen Herrn zu folgen.




2.

Es war ein schöner, warmer Sommertag, als die beiden jungen Leute um eine nicht mehr gar zu frühe Morgenstunde aufbrachen und, nachdem sie ihr leichtes Gepäck dem Bruder Pförtner übergeben, durch das Pförtchen im Thorbau des großen Klosters und reichsfreien Stifts hinausgelassen wurden. Die Landschaft lag in allem Reiz eines duftigen Morgens vor ihnen: Wiesenthäler, waldgekrönte Hügelreihen, Rebengelände und Ackerfluren. Doch herrschte der Wald, der rechts und links die Anhöhen bedeckte, vor; in einer Thalsenkung in der Ferne sah man die Spitzen und Wetterhähne einiger Thürme aufleuchten; es war die, wie der Stiftsherr versichert hatte, berühmte freie Reichsstadt Großlingen.

Eine Höhe rechter Hand, welche der Pförtner des Convents den Galgenberg nannte, war Albrecht und Fano als der Punkt bezeichnet, der das Jagdrendezvous bilde, und wohin sie sich zunächst zu begeben hätten. Als sie auf leicht zu findenden Fußsteigen so dahinschritten und allmählich zu steigen begannen, wurde ihre Heiterkeit vielfach durch die seltsamen Gestalten der Bäuerlein angeregt, welche ihnen begegneten oder auch wohl, mit Klappern und Stecken ausgerüstet, an ihnen vorübereilten, um sich zum Jagdrendezvous zu begeben, offenbar ängstlich, daß sie zu spät eintreffen könnten. Es waren in der Thal eigenthümliche Individuen, die in den großen dreieckigen Hüten und den langen bis an die Knöchel reichenden Röcken nur ein wenig zu gedrückt, trübselig und verwittert aussahen, um den Eindruck einer grenzenlos komischen Gnomenrace zu machen.

Die jungen Leute kamen endlich in den schönen hochstämmigen und dichten Bergwald, durch den allerlei Schneißen liefen, und wo Grenzpfähle mit verschiedenen Wappen standen. Nachdem sie eine Weile unter den hochwipfeligen Stämmen fortgewandert waren, bog der Weg in eine zur nächsten Höhe emporführende Allee ein, und am Ende derselben, auf jener Höhe, nahmen Albrecht und Fano einen Gegenstand wahr, der ihnen zeigte, daß sie nicht irre gegangen waren, als sie sich aufmachten, den „Galgenberg“ zu erreichen.

Jener die Höhe krönende Gegenstand war nämlich in der That das auf drei Beinen ruhende, verwitterte und sehr altersgrau aussehende Ding, welches zu allen Zeiten das Vorrecht gehabt hat, auf’s Vielfachste die Phantasie des Volkes zu beschäftigen.

Unfern, vielleicht einen Steinwurf weit davon entfernt und den beiden Wanderern näher, zeigte sich ein anderes und minder abschreckendes Etablissement. Unter einer großen Buche war eine geräumige und stattliche Jahrmarktsbude aufgeschlagen; hinter derselben stand ein mit einem Fasse beladenes Wägelchen, und ein dürrer ausgespannter Gaul weidete gierig inmitten der Allee das aufgeschossene Gras ab.

„Eine Marketenderbude!“ sagte Fano, „wenn sie auch für die nicht zur Jagd eingeladenen Gäste einen frischen Trunk hat, so bin ich in bester Stimmung ihr Kundschaft zuzubringen.“

„Ihrem Dasein liegt jedenfalls ein menschenfreundlicher Gedanke zu Grunde,“ versetzte Albrecht, „und der Mann, der auf [627] dem umgestülpten Korbe davor sitzt, sieht nicht aus, als würde er einen kleinen Verdienst zurückweisen.“

Der bezeichnete Mann sah allerdings nicht so aus, er hüpfte, sobald er die Fremden ihre Schritte seiner Bude zulenken sah, in die Höhe und kam ihnen entgegen, zum Gruße mit seiner langen blauen Schlafmütze wedelnd. Dabei pries er seinen Land- und Seewein, sein Bier und seine Eßwaren mit vollen Backen an.

„Laß uns erst einmal Deine merkwürdige Bude betrachten,“ sagte Albrecht zu dem geschäftigen Männchen; „Du hast ja alles Mögliche gethan, sie herauszustaffiren.“

Er hatte alles Mögliche gethan. Er hatte sie mit frischen Maien umstellt; er hatte ein sehr reinliches weißes Laken über das Auslagebret geschlagen; er hatte die Vorderseite ausgeschmückt mit drei großen Bildern in schwarzen Rahmen, welche die Conterfeis von drei höchst stattlichen Herrn in gewaltigen, wie eine Welt von Locken und Puder aussehenden Perrücken darstellten; und in die Bude als ihren Hauptschmuck hatte er seine kleine, rundliche, stilllächelnde Frau in einer mit falschem Gold und Silber und noch falscheren Perlen gestickten Sonntagshaube gesetzt; und diese kleine Frau war bei der Annäherung der fremden Herren von dem Schemelchen, auf welchem sie saß, aufgeschnellt und fuhr nun mit einer Hast zwischen ihren Gläsern und Flaschen umher, als ob sie Alles aneinander schlagen und zerstoßen wolle, und ihre flinken Hände zerstießen und zerstörten doch nichts, als höchstens die saubere Ordnung, womit Alles gereiht stand.

„Nur ruhig, liebe Frau, gebe Sie uns einen Trunk von Ihrem Seewein,“ sagte Albrecht. Das Mütterchen schenkte aus einem Kruge in zwei große Stangengläser ein, und der Mann stand lächelnd, zopfwedelnd und so voll Eifer, die Herren rasch zu bedienen dabei, daß es aussah, als sei er entschlossen, sofort selbst in den Krug zu schlüpfen und Händel mit dem Wein anzufangen, weil er aus dem engen Hals nicht schnell genug heraus wollte.

„Welche merkwürdige alte Herren hast Du denn hier vor Deine Bude gehängt?“ sagte Fano.

„O das sind unsere Herren, unsere lieben Landesherren, Ihr werdet sie gleich hier sehen … sie werden gleich hier sein, unsere gestrengen Herren, der Herr Reichsgraf …“

„Das ist wohl der da in dem grünen Rock mit goldnen Schnüren und der großen Meerschaumpfeife in der Hand?“ fiel Albrecht ein.

„Ganz richtig, Herr, ganz derselbe, just wie er leibt und lebt, Seine Erlauchten Gnaden – und der Andere hier, in dem schwarzen Pelzrock mit der güldenen Kette, das sind Seine wohlweisen Gestrengen, der Herr regierende Bürgermeister von Großlingen; und der Dritte, das sind Seine Gnaden, der hochwürdigste Herr Prälat von Triefalten, der mit dem großen Kreuz auf der Brust und der mit der …“

„Langen, schiefen, merkwürdig gescheidten Nase!“ fiel Fano lächelnd ein.

„Ja, sie haben eine etwas länglichte Nase, der hochwürdigste Gnädige; es sind schöne Bildwerke, und weil wir denn heute unsere kleine Bude hier aufschlagen wollten, von wegen der großen Jagd und der paar Kreuzer, die es dabei zu verdienen geben kann, wenn Alles hübsch reinlich und nett und sauber ist, so hat sie uns unser Rentschreiber geliehen, dem gehören sie, dem guten Herrn Rentschreiber, und da habe ich sie denn hingehängt; werden’s auch nicht ungnädig vermerken, die Herrschaften, wenn sie kommen; sie müssen augenblicklich hier sein, auf Hohenklingen ist allbereits vor einem halben Stündchen zum Aufbruch geblasen, man hört’s hier recht gut von drüben herüberschallen, obwohl man das Schloß nicht sehen kann, von wegen der Bäume und auch von wegen der Berge, und weil’s da unten durch den Tobelgrund und dann rechts um die Ecke geht, sonst würde man’s ganz gewiß sehen können, und ich könnt’s den Herrschaften schon zeigen …“

Albrecht unterbrach dadurch, daß er abermals sein Glas zum Füllen hinreichte, den Redestrom des kleinen Mannes und sagte dann: „Ihr lebt wohl recht glücklich hier, unter der Herrschaft so stattlicher Herren?“

Der kleine Mann machte eine ganz unbeschreibliche Miene; es war offenbar, daß diese Frage des fremden Herrn einen tiefen Schatten von Ernst auf seinen Gesichtszügen hervorlockte, und daß er es doch für respectwidrig hielt, den beiden jungen Leuten etwas Anderes als die lautere Freundlichkeit und Heiterkeit zu zeigen.

Mit einem süßsauren Lächeln versetzte er:

„O ja, recht glücklich, wenn Sie’s nicht für ungütig nehmen wollen, recht glücklich, nur thät’s Noth für unser Eins, daß man von Zeit zu Zeit so einen kleinen Schatz von guten groben Münzsorten fände, wie sie sie dazumal in der Schwedenzeit wohl vergraben haben, denn sonst kommt unser Eins wahrhaftig nicht durch, Herr, mit den Renten und den Gülten und Allem; mit den Renten nun einmal gar nicht, und was die andern Steuern sind, die an den Rentschreiber gehn, und was die Abgaben an die Gemeindlade sind …“

„Sind die so schwer und drückend?“

„Schwer, Herr. wenn Sie’s nicht ungütig nehmen, daß ich’s so frei heraussage, Angst und Noch muß unser Eins drum schon schwitzen, und Hunger und Kummer auch ein wenig; aber sonst freilich leben wir hier recht glücklich im Lande, es thut genug wachsen, und der Wein ist auch nicht übel, und das Handwerk könnte seinen Mann nähren, und mit der Robot, nun ja, mit der Robot ist’s wohl ein wenig schlimm, und dann die Zehnten, die Blutzehnten, die Rauchhühner …“

„Um Gotteswillen hört auf.“ rief Albrecht hier, „das ist ja entsetzlich, was Euch Alles aufgebürdet ist!“

„Nun, ein klein wenig schlimm ist’s schon.“ sagte der zopfwedelnde kleine Mann, und seine Freundlichkeit ging immer mehr in einer greinenden Miene unter, „ein klein wenig schlimm ist’s schon, absonderlich Heuer, bei den Kreisumlagen und der Kriegssteuer und …“

„Wahrhaftig, er ist immer noch nicht zu Ende!“ rief Fano aus, „Kriegssteuern, Kreisumlagen, Gülten, Robot, Renten, Blutzehnten, Rauchhühner …“

„Blutzehnten – was ist das?“ unterbrach ihn Albrecht.

„Das will ich Euch sagen. Herr.“ fuhr der Schenkwirth fort.

„Blutzehnten, mit Verlaub zu sagen, das ist der Zehnten von den Lämmern und den Kälbern, die fallen – sehen Sie. wenn Sie’s nicht ungütig nehmen, da hatt’ ich ehedem von meinem kleinen Gehöft, das will sagen zu meines Vaters Zeiten, jährlich an’s Stift Triefalten ein Rauchhuhn zu liefern; aber damit waren die Herren bald nicht mehr zufrieden, und es hieß, es müsse ein fetter Kapaun sein; und als es dann weiter kam, da wurde uns gesagt, der Kapaun sei eine Ehrung für die vier Hochzeiten des Jahres, und so mußten wir jährlichs vier Kapaunen bringen … und das war nun eine gar lästige Sache mit den Kapaunen, denn Kapaunen, mit Verlaub zu melden, sind heiklich aufzubringen und absonderlich im Winter und dann waren sie den Herren immer nicht fett genug, und so riethen sie uns endlich, um unsres eigenen Besten willen, statt der vier Kapaunen jährlich ein Kalb zu bringen, damit wollten sie zufrieden sein, und weil es nun wohl leichter für uns zu beschaffen war, so fingen wir denn nun an, es mit einem Kalb gut zu machen; und das ging denn eine Weile so hin, bis nach etzlichen Jahren das Kalb immer länger gesäugt sein sollte, und so ward ein Rind daraus, und aus dem Rind ward ein Ochse, und jetzt haben wir an das hochwürdige Stift jährlichn einen wohlausgewachsenen fetten Ochsen zu liefern,[2] zu Michelis ist der Termin, wenn Sie’s nicht ungnädig nehmen …“

Fano brach in ein lautes Gelächter aus, und Albrecht schlug die Hände über dem Kopf zusammen:

„Und so haben sie Euch ein Huhn in einen Ochsen verwandelt – das ist ja unerhört – und das duldet Ihr?“

„Ja, liebes Herrle, da macht unser Ein's nichts dawider: wer ein böses Maul hat, der kommt in’s Loch, und wer mit seinen Prästationen in Rückstand bleibt, der kommt um Haus und Hof und hat viel Ungemach!“

„Also so werdet Ihr regiert von Euren Bedrückern, die Ihr noch dazu respektvoll und demüthig da vor Eure Bude hängt, diese abscheulichen Perrücken? An den Galgen dort hängt sie lieber – an den Galgen gehören sie; kommt, Fano, wir wollen ihnen diesen Ehrenplatz geben!“

Fano rieb sich vor Vergnügen die Hände über diesen Einfall.

Zornig und empört streckte Albrecht die Hand nach einem der Bilder aus, ohne sich durch den Schreckensruf und das Abwehren des kleinen Wirths stören zu lassen. Fano blickte umher, ob er nicht etwas wie eine Leiter in der Nähe der Bude entdecke, und da keine da war, nahm er von dem seitwärts stehenden Gefähr die eine Wagenleiter, warf sie auf seine Schulter und eilte damit auf den Galgen im Hintergründe zu. Albrecht folgte ihm nach wenig [628] Augenblicken, die drei Bilder tragend, während der kleine Mann mit dem Zöpfchen allmählich aus dem Zustand äußerster Beweglichkeit und Lebendigkeit in den einer vollständigen Versteinerung vor Schreck und Entsetzen überging.

Fano hatte mit seiner Behendigkeit bereits die Leiter an den Galgen gesetzt und war daran wie ein Eichhorn emporgeklettert, als Albrecht mit seiner Last ihn einholte und ihm eines der Bilder emporreichte. Das Bild hing, bevor eine Minute verflossen war, oben an dem alten Haken, der in dem Querbalken eingeschlagen war.

„Seine Erlaucht der hochgebietende Herr Reichsgraf geruhen zu hängen!“ rief Fano triumphirend aus, während er von der Leiter niederglitt.

Er nahm diese dann wieder auf seine Schulter und stellte sie an der zweiten Seite des dreieckigen Gerüstes auf. Die Reihe zu hängen kam an den regierenden Herrn der freien Reichsstadt Großlingen.

„Seine Wohlweisheit der regierende Herr Bürgermeister, hoch!“ rief der Italiener halb vor Lachen erstickt, als er das zweite Conterfei angehakt hatte.

Es kam die Reihe an den Dritten. Die alten Haken fehlten nirgends. Auch die dritte Seile erhielt bald ihre Zierde. Der Prälat von Triefalten schaute nach kurzer Weile in seiner großen Perrücke finster und melancholisch von seinem hohen Platze herab.

Fano warf nun die Leiter um, klopfte lachend den Staub von seinen Kleidern und sagte dann:

„Der Einfall war vortrefflich – aber es ist jetzt räthlich, an den Rückzug zu denken, denn …“ er unterbrach sich und horchte einen Augenblick, und setzte dann hinzu: „Ich höre Schritte da aus dem Gebüsche her!“ Zugleich eilte er aus der Nähe des Attentats fort, zu der Bude zurück, zog seine Börse, um ein Stück Geld auf das Auslagebret zu werfen, und mit dem Rufe: „Kommen Sie, Albrecht, kommen Sie!“ schlug er eilig den Weg, den sie gekommen waren, ein.

Albrecht hatte erst einen Rundgang um den ganzen Galgen herum gemacht, um noch einmal sich des Total-Eindrucks zu erfreuen, den die Ausführung seines Einfalls hervorbrachte. Als er zu der vordersten Seite zurückgekommen war und einen gerührten Scheideblick auf das ausdruckvolle und majestätisch stirnrunzelnde Antlitz des Reichsgrafen warf, hörte auch er rasche leichte Schritte hinter sich. Er wandte sich um und wurde jetzt durch einen überraschenden und sehr unerwarteten Anblick gefesselt.

Eine junge Dame näherte sich ihm. Ein leichtes coquettes Hütchen von grüner Seide mit Rosabändern auf dem rosigen Haupte, in einer weiten grauen Robe, den Oberkörper in einen grünen Jagdrock gehüllt, der mit goldnen Gallons besetzt war und von goldnen Brandenbourgs zusammengehalten wurde, kam sie auf einem Fußsteige heran und war schon dicht hinter Albrecht. Ihr Antlitz glühte in der frischen Morgenluft und von der Anstrengung des raschen Wandelns den Weg zu der Höhe des Rendezvousplatzes hinauf, und dies rosige Antlitz war so lieblich, so wunderhübsch, und lächelte dem Unglücklichen, der hier oben Henkerarbeiten vollzogen hatte, so freundlich entgegen, daß dieser erstaunt stehen blieb und sich gefesselt fühlte, und daß er für den Augenblick ganz die dringende Nothwendigkeit vergaß, jetzt, bei der Annäherung des Jagdtrosses, die Flucht zu ergreifen – er konnte diesen Jagdtroß bereits im Gebüsche eine Strecke weit hinter der hübschen Jägerin die Höhe heraufkommen hören. –

Und so stand er, in den gefährlichen Anblick verloren, bis die junge Dame, ehe er sich’s versah, ihm freundlich lächelnd mit der Hand einen Gruß gewinkt hatte, der ihn nun vollends festhielt, denn nun konnte er doch unmöglich mehr Reißaus nehmen – im Angesicht der Dame!

Diese wendete sich mit einigen Worten, die sie rasch zu flüstern schien, an einen hinter ihr dreinschreitenden Büchsenspanner, und der Mann antwortete etwas, was Albrecht jedoch ebensowenig wie die Frage verstand.

„Wer sind Sie?“ fragte jetzt das Fräulein mit der freundlichsten Offenheit von der Welt und setzte hinzu: „Ich kenne Sie nicht, und der Andreas hier kennt Sie auch nicht – aber das schadet nicht, wir können doch gute Jagdcameraden werden, wenn mein Vater Sie eingeladen hat – es wird heute ein sehr hübsches Treiben werden.“

Mit einem herzgewinnenden offenen Wesen warf bei diesen Worten die schlanke junge Dame aus den großen braunen Augen einen prüfenden Blick auf die Gestalt des Fremden, und es schien, daß diese edle und anmuthige Jünglingsgestalt vollständig Gnade vor den braunen Augen fand.

Albrecht hatte aber leider in einem Maße, das sehr verhängnißvoll für ihn werden sollte, seine Geistesgegenwart verloren. Er murmelte verlegen einige Worte und wollte mit abgezogenem Hute seinen Rückzug nehmen, als die hübsche Amazone ausrief:

„Was sagen Sie? Sie wollen doch nicht fort? Sie sind nicht geladen? O das schadet nicht … heute ist Alles geladen, bleiben Sie nur – wie heißen Sie? Ich will Sie schon meinem Vater vorstellen; ich höre an Ihrer Sprache, daß Sie fremd sind, und wir lassen Fremde von Distinction … nein, Sie wollen doch gehen, Sie wollen an der Jagd nicht theilnehmen?“

„Entschuldigen Sie mich, meine Gnädigste,“ stammelte Albrecht, „ich bedaure auf’s Tiefste, daß ich leider nicht die Muße habe …“

Er endete den Satz nicht, denn in diesem Augenblicke trat der Büchsenspanner dicht hinter ihn und wies zugleich über seine Schulter fort auf den Galgen hin, wobei er ausrief:

„Schauen die gnädige Comtesse doch einmal da hinauf, was dort hängt,“ sagte der Mensch dabei.

Die gnädige Comtesse warf einen Blick in der angegebenen Richtung – trat darauf erschrocken einen Schritt zurück und sagte erblassend und dann dunkelroth werdend: „Das ist ja … Herr, wer that das?“

Albrecht stand wie mit Purpur übergossen. Er konnte jetzt nicht mehr an Flucht denken – nicht daran denken, diesem schönen und liebenswürdigen Geschöpf gegenüber die Rolle eines ertappten Schulbuben, der sich aus dem Staube macht, zu spielen. Er konnte auch nicht mehr fort, denn um ihn her ergoß sich plötzlich der ganze Schwarm der edlen Waidcumpane. Da waren sie, die hochgemutheten Jagdgäste alle, mit ihren Freunden und Dienern; in ihrer Mitte eine dicke, untersetzte, außerordentlich wohlgenährte Figur in reichem Jagdcostüm und um ihn her viel andere fürnehme, gnädige Herrn, und um diese her, wie die werthlosen Hüllen um den süßen Kern, die dienstbeflissenen Förster, Jäger, Büchsenspanner eine ganze Menschenwoge, die plötzlich theils mühsam keuchend und die Stirnen trocknend, theils leichten festen Schritts, theils lachend und scherzend und theils ehrfurchtsvoll sich zurückhaltend, um den unglücklichen jungen Mann herwogte.


Fortsetzung folgt





Aus den Zeiten der schweren Noth.

Nr. 5.
Buchhändler Palm.
Von Th. Oelckers


Wir sind oft geneigt, fast nur mit einem mitleidigen Staunen an unsere Väter zu denken, wenn wir von „Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung“ zu Anfang dieses Jahrhunderts hören. Man kennt freilich die Thatsachen jener Zeit, sie sind klar und deutlich genug aufgezeichnet, aber man betrachtet sie gleichsam als etwas Fremdes, wie die Ereignisse einer Erzählung aus entlegenen Ländern oder aus grauer Vorzeit, der frische, unmittelbare Eindruck, wie sie ihn auf die Zeitgenossen machen mußten, fehlt, und so versteht man die Lage und die Zustände, die jene Erscheinungen erzeugten, nur unvollkommen, ja, kaum die noch unter uns lebenden Greise, die selbst zu jenen Zeitgenossen gehörten, vermögen sich den Zustand und ihre eignen damaligen Gefühle zum recht klaren Bewußtsein zu bringen. Wir halten jenen Zustand kaum noch für möglich, weil uns der „corsische Tyrann“ bereits zur Mythe geworden

[629]

Palm’s letzte Stunde.
„In der ganzen Umgebung fand sich Niemand, der dem Märtyrer die Fesseln anzulegen wagte.“

[630] und weil wir nicht genug erwägen, daß der noch bei weitem nicht so mächtige gegenwärtige Imperator gleichwohl schon Macht genug gehabt hat, uns aus der Ferne und auf indirectem Wege polizeilich maßregeln zu lassen. Es kann aber nur heilsam sein, sich immer auf’s Neue recht klar zu vergegenwärtigen, was man bereits einmal erleben mußte, um desto bester gewaffnet zu sein, wenn uns ähnliche Gefahren nahe treten. Denn jene frühern traurigen Zustände können, ja, es steht zu fürchten, sie werden wiederkehren, wenn der nicht unmögliche Fall eintritt, daß Deutschland noch einmal – wenn auch nur momentan – von den westlichen Nachbarn überrannt wird. Man täusche sich nicht, die dienstwilligen Werkzeuge jener Tyrannei würden alsbald wieder dastehen wie vor fünfzig Jahren, und – leider müssen wir auch dies noch befürchten – die Niederträchtigkeit, die Feigheit und Feilheit der hohen wie der niedern Verräther in unserer eigenen Mitte würden nicht verfehlen, ihnen die Hand zu bieten, und über Nacht könnte noch einmal verwirklicht sein, was uns jetzt kaum begreiflich dünkt.

Es läßt sich nicht leugnen, daß keine Nation der Welt so vorzügliches Talent zum Schergendienst entfaltet hat, wie die französische; so offenkundig dies aber auch ist, so gründlich man es auch seiner Zeit unmittelbar hat erfahren müssen, pflegt es doch jetzt nie genügend hervorgehoben zu werden, namentlich auch nicht von den Historikern der napoleonischen Zeit, einer Zeit, die man gleichwohl nur richtig versteht, wenn man sich das Wesen und die Wirkungen jener unerhörten Willkürherrschaft lebhaft vergegenwärtigt, wenn man sich erinnert, daß alle jene vielgerühmten Gehülfen Napoleon’s, und am allermeisten seine Marschälle, willenlose, knechtische Schergen waren; sie waren insgesammt, ohne Ausnahme, vom erbärmlichsten Schergengeiste besessen und während sie sich ihrerseits weit weniger durch den Schimmer jener übrigens sehr puerilen „Gloire“ (die niemals unserm „Ruhme“ entspricht), als vielmehr durch gemeinen Eigennutz und durch Bedientenfurcht vor dem Gebieter leiten ließen, flößten sie leider auch den Völkern, die sie in seinem Namen knechteten, eine Furcht ein, die in erschreckender Weise demoralisirend wirkte. Der Sänger hatte nur allzu Recht und schilderte nur allzu wahr, wenn er in seinem Aufrufe sagte:

„Recht, Sitte, Tugend, Glauben und Gewissen
Hat der Tyrann aus deiner Brust gerissen – –
Das Winseln deiner Greise ruft: Erwache!
Der Hütte Schutt verflucht die Räuberbrut!
Die Schande deiner Töchter schreit um Rache,
Der Meuchelmord der Söhne schreit nach Blut!“ –

Aber es kam dann die Zeit, wo die Wunden vernarbt und beinahe vergessen waren, wo man nicht mehr begreifen mochte, wie die Deutschen den hochgefeierten Helden des Jahrhunderts einen „Wütherich“, einen „Bluthund“ hatten schelten können, eine Zeit, wo man den gerechten patriotischen Haß sogar lächerlich zu machen suchte und zu dem Ende Ausdrücke wie „Franzosenfresser“ erfand. Durch eine solche Selbstverspottung würde sich ein Volk auch nicht einmal dann ehren, wenn sie gerecht wäre.

Der Haß war ein nur allzu gerechter; – nur freilich muß man sich auch erinnern, daß nicht die Fremden allein, sondern daß vor Allem auch die damaligen Machthaber in Deutschland selbst an jener „tiefen Erniedrigung“ schuld waren.

Dem Gegner, der sich 1804 in Frankreich die Kaiserkrone auf’s Haupt gesetzt hatte, würde Deutschland ohne seine unselige Zersplitterung mehr als gewachsen gewesen sein, es würde keiner Coalition bedurft haben, um ihn im Schach zu halten. Die erste Bedingung, damit dies geschehen konnte, wäre gewesen: Einigkeit der deutschen Fürsten unter einander, d. h. sie hätten sich aller Eifersucht entschlagen und ihre eiteln Hausinteressen auf dem gemeinsamen Altare des Vaterlandes zum Opfer bringen müssen; nicht minder dringend nothwendig aber würde gewesen sein eine Appellation an das Volk, also das Zugeständniß, daß die Nation überhaupt eine selbstständige Geltung haben und nicht blos als willenloses Werkzeug dienen, nicht blos schwitzen, zahlen und bluten sollte. Nichts lag den Machthabern jedoch ferner als ein solcher Gedanke; die Dynastenhäuser allein und mit ihnen höchstens noch die Junker waren die Nation. Alle Uebrigen kamen nicht in Betracht und hatten keinenfalls eine Stimme, wenn es sich um das Interesse des Ganzen handelte; alle Uebrigen waren nur Nullen, auch z. B. die Männer nicht ausgenommen, die eine deutsche Kunst und eine deutsche Literatur geschaffen hatten, sie galten den Herren gewissermaßen nur als Spaßmacher und Maitres de plaisir, die man allenfalls einmal, je nach Umständen und je nach der Mode, allergnädigst protegiren konnte. Wenn es dem äußern Feinde zu begegnen galt, dachte man auch damals in Deutschland keineswegs an das Nächste, an die Wehrhaftmachung und Begeisterung des Volks (auch damals hielt man das vielmehr für gefährlich!), man dachte nur an die Herren Vettern, mit denen sich eine Coalition schließen ließe, damit dann ein jeder sein Contingent armseliger Gamaschenknechte in’s Feld schicken könnte.

Deutschland war in der That im Zustande tiefster Erniedrigung und Schmach: durch seine eigenen Fürsten zerrissen, zum Bruderkampfe gezwungen, von den Fremden geknechtet, von den Marschällen des Eroberers ausgesogen, von den französischen Schergen gemißhandelt und zum Schweigen gebracht durch die Furcht, die den ängstlichen Gemüthern eine Unzahl französischer Emissäre und Spione einzuflößen wußten, die unter allerlei Masken das Land überschwemmten. Der Nachbar mißtraute dem Nachbar, der Freund wagte im Briefe an den Freund kein Wort, keine Sylbe über die öffentlichen Zustände einfließen zu lassen, denn überall lauerte der Verrath, der Horcher war nahe, und die Häscher des Tyrannen waren zur Hand.

Aber unter dem Volke, das später, nach siebenjährigen namenlosen Leiden, das Joch brechen sollte, von dem es die Fürsten, die sich, bald eigennützig, bald feig, dem fremden Zwingherrn gefügt, nicht zu erlösen vermocht hatten, unter diesem Volke gab es auch damals noch Herzen, die keine Vergewaltigung einschüchterte, und Zungen, die keine Drohung zum Schweigen brachte. Im Gegentheil, sie waren es, die dem neuen französischen Kaiser Mißbehagen einflößten und Sorge erregten, und daher hatte Napoleon auch schon am 6. Juli 1806 ein außerordentliches Kriegsgericht ernannt, um Verfasser, Verleger, Drucker und Verbreiter von Spottschriften und Caricaturen über ihn und sein Haus zu entdecken und zu bestrafen.

Eine von patriotischem Zorn dictirte Flugschrift oder, wie die Knechte des Machthabers sie bezeichneten, eine „hochverrätherische Schandschrift“ war unter dem Titel „Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung“ im Frühling 1806 erschienen. Diese Schrift ist durch das Schicksal Palm’s berühmt geworden, mag aber, weil man sie in verhältnißmäßig wenig Exemplaren verbreitet hatte, wenig Leser gefunden haben. Der größere Theil der Auflage wurde, so scheint es, vom Verleger und dessen Geschäftsfreunden vernichtet, und das Büchlein gehört daher jetzt unter die Seltenheiten. Ein unlängst erschienenes Schriftchen (J. Ph. Palm etc., von Fr. Schultheis, Nürnberg 1860) bezeichnet als den Verfasser der Broschüre Joh. Konrad von Yelin, Mitglied der Akademie der Wissenschaften in München (gest. 1826 in Edinburg). Die 144 Seiten starke Flugschrift beleuchtet im Eingange die damaligen Zustände Frankreichs, Napoleon’s innere und äußere Politik, und verbreitet sich sodann namentlich über die Ursachen des Verfalls und der tiefen Erniedrigung des deutschen Vaterlandes in treffender Weise und in Bemerkungen, die leider auch für die heutigen Zustände ihre Geltung noch nicht verloren haben. Am schärfsten äußert sie sich über das Gebahren der französischen Truppen in Deutschland und besonders in Baiern, als dessen „Verbündete“ dieselben nach den heillosen Tagen von Ulm, wo die Oesterreicher unter Mack das Gewehr gestreckt hatten, eingezogen waren.

Wir lassen einige Stellen aus der Flugschrift (die übrigens keineswegs einen Aufruf zum Aufruhr oder Meuchelmord enthielt) hier folgen, nicht weil sie an sich einen besondern Werth hätten, wohl aber weil sie insofern interessant sind, als es diejenigen waren, welche die Schrift in den Augen des Zwingherrn und seiner Gehülfen am stärksten gravirten und denen Palm sein Schicksal verdanken sollte.

„Napoleon’s Sprache und Erklärungen an dem Münchener Hofe waren viel zu sanft, als daß ein baierischer Einwohner von seinen bald erfolgenden unerhörten Bedrängnissen sich etwas konnte ahnen lassen. Nie aber wurde die Menschheit, unter dem Ausdruck der Freundschaft, boshafter als diesmal getäuscht; nie das Land eines verbündeten Fürsten schändlicher als diesmal die kurbaierischen Staaten behandelt. Fast gerieth man auf den verzweifelten Gedanken, Maximilian habe seine Erbländer, sich selbst und seinen ganzen Hof Frankreichs unumschränkter Gewalt unterworfen. Ungeheuere Lieferungen waren das erste Wort, womit man Städten und Dörfern in Baiern das Compliment machte. Nach diesem traurigen Willkomm eilte der Soldat wie ein ausgehungerter Wolf auf sein angewiesenes Quartier zu. Sonst pflegt der Hunger keine [631] Speise zu verachten, hier forderte er Leckerbissen zu seiner Befriedigung.“ –

Es folgt nun eine Schilderung der bis zum Ekelhaften getriebenen Böllerei der fremden Söldner, der Mißhandlungen, die sie sich gegen ihre Wirthe erlaubten, ihres an Frauen verübten grauenerregenden Frevels, und dann heißt es weiter: „Im dreißigjährigen Kriege lebte der Oesterreicher unter Tilly und Wallenstein gerade so wie jetzt der Franzose, und wenn sein Kaiser sich aus jenem Kriege nichts anmerkte, so hat er doch die damals übliche Unterhaltungsart eines Heeres genau copirt. Männer, denen aller Glaube beizumessen, haben als reine Wahrheit versichert, daß Frankreichs Oberhaupt, als ihm in München über die unerhörten Drangsale, worunter der baierische Einwohner seufze, die nachdrücklichen Vorstellungen geschahen, mit kaltem Blute sagte: „Das haben meine Leute nicht getan. Es ist Krieg; man lasse mich in Ruhe und störe mich nicht in meinem Plan.“ Schon im Dezember des vor. Jahres wird der Friede in Pressburg unterzeichnet, und von dem Augenblicke an hat Österreich Hoffnung, seine Feinde los zu werden. Hätte Bayern nicht ein gegründetes Recht, die Vorteile dieses Friedens zu genießen? Diese konnten keine andern sein, als daß das französische Heer abgeführt und das Land fernern Bedrückungen enthoben würde. Gerade das Gegenteil erfolgte. Die Franzosen ziehen sich aus den Staaten des deutschen Kaisers, um sich in Bayern festzusetzen und hier bei Fressen und Saufen ein durch Monate fortgesetztes Siegesfest mit dem Untergange aller Einwohner zu feiern. Wenn hier vom Untergänge die Rede ist, so nehme man das Wort in strengster Bedeutung und nicht als einen Ausdruck, der nur die Größe der Leiden, welche die Franzosen über den bairischen Staat herbeigeführt, angeben soll. Noch sind es nicht fünf Jahre, da ein feindliches Heer der nämlichen Nation in diesem Lande den Meister spielte. Und da zweifelt wohl Niemand, daß die damals den Einwohnern geschlagenen Wunden binnen dieser kurzen Frist bei den Wenigsten vernarben konnten. Der Landmann, des benötigten Zugviehes entblößt, hatte kaum angefangen, sich wieder mit Pferden und Rindern zu versehen, als der einem Einfall in allen Stücken gleiche Durchzug der Franzosen demselben diesen wichtigen Teil seiner Habe wieder entzog; Betrug, List, Gewalt boten einander hierin die Hände. Tränen und fußfälliges Bitten um Verschonung wurden mit Hohngelächter oder mit Schlägen abgewiesen. Der Franzose gab sich den Namen eines Retters von Bayern. Wahrlich eine Rettung, jener ähnlich, da der Kranke, welchen dieser Arzt früher in’s Grab geschickt hätte, unter der Hand eines andern blos eines langsamen Todes stirbt. Wenn irgend mit der Freundschaft ein Spott getrieben wurde, konnte er wohl bitterer fein als dieser? Doch es liegt ja in Napoleons Plan, Deutschland so zu entkräften, daß ihm für jetzt und die entfernteste Zukunft von dieser Seite nichts zu befürchten stehe.“

Die Broschüre, deren Verleger und Drucker nicht genannt waren, geriet im Hause eines Pfarrers unweit Nördlingen in die Hände einiger dort einquartierten französischen Offiziere, von denen einer Deutsch verstand. Sie denunzierten ihren Fund beim General Davoust (damals in Oettingen), welcher sofort dem Ursprünge der Schrift nachforschen ließ. Man verhaftete den Nördlinger Boten, der das Bücherpacket an den Pfarrer überbracht hatte. Der Bote behauptete anfangs, es von einem Unbekannten erhalten zu haben, da aber seine Frau plauderte, gestand er, daß es ihm vom Weinhändler Schilderer in Donauwörth übergeben worden. Man erfuhr ferner, daß die Stage’sche Buchhandlung in Augsburg die Broschüre als Neuigkeit versendet hatte, und der Commis dieser Handlung sagte aus, daß sie derselben von der Stein’schen Buchhandlung in Nürnberg zugesandt worden. Besitzer der letztgenannten Buchhandlung war Palm, der sich damals in Geschäften in München aufhielt.

Aus einem in dem erwähnten Schriftchen von Schultheis angezogenen Briefe Palm’s an seinen Buchhalter, sowie aus einem dort gleichfalls mitgetheilten Schreiben des Letztern an Palm läßt sich mit großer Wahrscheinlichkeit schließen, daß Palm die Flugschrift „Deutschland“ nicht blos hatte verbreiten helfen, sondern daß er selber der Verleger war. Der Drucker soll Hessel in Altdorf gewesen sein.

Als Palm Kenntniß von einem Artikel im Journal de Paris erhielt, welcher als den Verleger und ersten Verbreiter der „Schandschrift gegen den Kaiser und die große französische Armee und gegen die Freunde und Alliirten S. k. Majestät“ die Stein’sche Buchhandlung in Nürnberg bezeichnete, wendete er sich an das nürnberg’sche Vormundschaftsamt, die damalige Behörde der Buchhandlungen, und bat um gerichtliche Untersuchung, die jedoch unterblieb, da man die Angelegenheit nicht für wichtig hielt.

Während er sich noch in München befand, erhielt Palm von seiner Frau die Nachricht, daß am 28. Juli vier schwarz gekleidete Herren im Hause erschienen seien, um Nachfrage nach der Broschüre zu halten. Die strenge Haussuchung hatte jedoch ebenso wenig zur Entdeckung des eifrig gesuchten Manuscripts, als gedruckter Exemplare geführt. Der auf’s Aeußerste geängstigte Buchhalter Palm’s erstattete Letzterm in einem vom 7. August datirten Briefe ausführlichen Bericht über die Angelegenheit und ertheilte ihm zugleich nützliche Rathschläge. „ … Der Buchhändler Aussage nebst Protokoll ist bereits an Herrn General Bernadotte abgesandt; daß Sie bei Ihrer Zurückkunft ebenfalls vernommen werten, glaube ich wohl selbst, allein wenn Sie ebenfalls aussagen, daß sie an Unbekannte verkauft … so sehe ich nicht ein, wie man es Ihnen durchaus aufbürden sollte können, daß Sie der Verleger sein müssen, da ja kein einziger Beweis gegen Sie da ist. Sollte auch einer oder der andre ausgesagt haben, daß er es von Ihnen erhalten, so können Sie dies ja leicht einwenden, da ja die Fälle fast täglich vorkommen, daß wir Beischlüsse an andre Handlungen erhalten, die wir nicht sagen können, wo sie her sind, da nicht immer die Namen des Absenders darauf stehen und wir kein Recht haben, die Packete zu eröffnen … In Ihrem ganzen Hause ist kein Papier, das verdächtig machen könnte, alles ist bei Seite … Gehen Sie doch ja nicht nach Augsburg … oder gebrauchen Sie wenigstens alle mögliche Vorsicht. Könnten Sie sich nicht vom König von Baiern ein Diplom als baierscher Buchhändler auswirken … oder einen Rathstitel, wenn es auch etwas Geld kostete, so möchte es jetzt vielleicht sehr dienlich sein und Sie hier bei den Franzosen in Respect setzen … Sie müssen über meine Einfälle nicht lachen, Gott weiß es, daß ich es redlich mit Ihnen meine … Ob Sie durch ein längeres Ausbleiben der Untersuchung ausweichen, zweifle ich, im Gegentheil fürchte ich, Sie möchten sich dadurch erst verdächtig machen … Auf den 15. Juli soll die Uebergabe Nürnbergs an Baiern geschehen, wenn es wahr ist; ob dann die Franzosen fortgehen werden, weiß niemand gewiß …

Ich bin selbst Tag und Nacht in tausend Aengsten und traue mir kaum bei verschlossener Thüre zu schreiben, aus Furcht überfallen zu werden. Sie können daher unbesorgt sein, daß ich Jemand zum Vertrauten des Geheimnisses mache, ja sogar Ihre Briefe verbrenne ich, um alle mögliche Entdeckung zu vermeiden, und bitte dies auch mit meinen zu thun … Von H(essel) in A(ltdorf) haben Sie nichts zu befürchten, der hat keine Gesellen, ich war sogleich selbst bei ihm, um ihn zu warnen. Kurz, ich habe alles Mögliche gethan, was ich thun konnte … Der Himmel gebe mir, daß der Sturm bald vorübergeht, um aus der Seelenangst zu kommen.“

(Schluß folgt.)




Die Kunst im Hause

So wenig die Lobredner der sogenannten guten alten Zeit auf irgend einem Lebensgebiete zum Tadel der Gegenwart berechtigt sein mögen, so ist doch eine Erscheinung unsrer Zeit mit aller Entschiedenheit als ein eigenthümliches Gebrechen derselben zu bezeichnen, ihr Mangel an Verständniß für den Einfluß der bildenden Kunst auf die Erzeugnisse des praktischen Lebens. – Würde irgend einer unsrer deutschen Vorfahren vom 13. bis zum 17. Jahrhundert heute lebendig unter uns wandeln dürfen, überall würde er Fortschritt und Entwickelung des äußeren wie des geistigen Culturlebens finden, wäre er aber ein Mann handwerklicher Kunstfertigkeit und vergliche das Treiben unsrer kunstindustriellen Werkstätten mit denen seiner Zeit, er würde darüber erstaunen, daß wir, die wir sonst überall „es doch so herrlich weit gebracht“, so sehr hinter dem zurückstehen, was die Kunstfertigkeit der Vorzeit auf diesem

[632] Gebiete hervorbrachte. Wir brauchen nur einen Blick in die unversehrt gebliebene Einrichtung eines Nürnberger Patrizierhauses zu thun, um uns zu überzeugen, wie von der Gestalt des Bauwerkes, von der Sculpturverzierung der Fluren und Zimmer bis zum Schlüssel und zum gestickten Kissen das Walten einer unerschöpflichen Erfindungsgabe künstlerischer Formen in der Ausprägung eines harmonischen Styles sich ausspricht, während fast jedes beliebige moderne Wohnzimmer eine Musterkarte geschmackloser Formen entwickelt, aus welchen die etwa darin vorhandenen Nachbildungen gediegener moderner Kunstwerke wie wahre Wunderwerke hervorragen. Ganz besonders gilt dies, und die geneigten Leserinnen mögen uns diese Offenheit nicht verargen – von denjenigen Gegenständen häuslichen Zimmerschmuckes, die in das große Gebiet der beliebten „weiblichen Arbeiten“ fallen. Noch in den altmodischen Zimmern, wo von der Urgroßmutter her sich ähnliche Niedlichkeiten


Düsseldorfer Muster.


erhalten haben, gewahrt man mit Vergnügen, wie die wunderlichen Blumen, Schmetterlinge, Muschelverzierungen etc. mit dem Costümschnitt der gepuderten Familienportraits, mit den Ausschweifungen der zierlichen Nußbaummöbel und den Stuckarabesken der Decke harmoniren. Es ist Nichts besonders gediegen schön, doch hat eben Alles einen gemeinsamen Zug von Styl. Dagegen bitte ich die geneigte Leserin in ihrem eignen Boudoir umherzublicken. Der Berliner Ofen wird wahrscheinlich antike oder gar „jothische“ Architekturformen entwickeln, Nähtisch und Causeuse ergehen sich in den breiten Profilen üppigster Renaissance des 17. Jahrhunderts, während der goldne Spiegelrahmen im entschiedenen Rococo und die Deckenmalerei in halb maurischen, halb italienischen Arabesken die Stylmengerei vervollständigen.

In solchen Umgebungen ist es denn nicht zu verwundern, wenn das Canevasmuster, das die geehrte Leserin vielleicht eben mit der Gartenlaube vertauschte, eine der sehr gewöhnlichen ungeheuerlichen Blumengruppirungen ausweist, in welchen die zahllosen farbigglühenden Quadrätchen sich alle mögliche vergebliche Mühe geben, den zarten Linienschwung von Blättern und Blüthen herauszubringen, oder wenn gar die lächelnden Züge einer lithographirten Idealschönheit in viereckige Fadenkreuze übersetzt werden sollen. Weit entfernt sind wir, ihr darüber Vorwürfe zu machen!

Der Gute, zu dessen Ueberraschung die Kreuzchen so unermüdet ausgezählt und ausgetippelt werden, findet die fertige Arbeit sicherlich ganz reizend! Leider müssen wir aber in Vergleichung dieser Arbeiten mit der Kunstfertigkeit früherer Zeiten, ja im Vergleich mit den Webereien und Stickereien, wie sie jede beliebige indische oder arabische Nähmamsell aus freier Hand und eigner Erfindung ausführt, an den meisten Arbeiten unsrer Damen gerade das Beste, nämlich die geschmackvolle Form, um deren willen das Ding doch einzig geschaffen worden, vermissen, und zwar nicht etwa aus Mangel an Begabung, sondern weil unsre ganze Zeitrichtung die Pflege dieses ganzen Gebietes beinahe keiner Aufmerksamkeit im ernsteren Sinne werth hält.

Indessen das Schöne hat mit dem Wahren Eines gemein: nach den Zeiten der Unterdrückung kommen beide siegreich wieder an’s Tageslicht, und schon ein Vergleich von heute und vor zehn Jahren giebt der erfreulichen Wahrnehmung Raum, daß unsre häuslichen Kunstzustände sich entschieden im Stadium der Besserung befinden. Schon verschwinden in den meisten Familien die „prachtvollen englischen Stahlstiche,“ welche sich noch vor Kurzem einer fast unbeschränkten Alleinherrschaft auf deutschem Boden rühmen durften; die gediegenen Leistungen unsrer großen Meister der Gegenwart, vor Allem des unvergleichlichen Ludwig Richter, in ihrer schlichten Holzschnittmanier sind im besten Sinne des Wortes volksthümlich geworden; und wo einmal von einer Seite her die Empfindung sich Bahn gebrochen, daß der Kunst ein tieferer Zweck innewohne, als ein Luxusartikel neben dem Nützlichen zu sein, da läßt sich auch ein weiteres Eindringen des Verständnisses auf allen Gebieten des Lebens verhoffen.

Mit besonderer Freude lenken wir deshalb heute die Aufmerksamkeit der freundlichen Leserinnen auf ein Unternehmen hin, das die Reform künstlerischer Gestaltung der weiblichen Arbeiten sich zum Ziele gesetzt hat. Hand in Hand mit dem Aufschwung der Kunstblüthe unseres Jahrhunderts, die in München, Berlin, Dresden, Düsseldorf und anderen Orten sich theils unter der Protection großherziger Kunstmäcene, theils aus innerer Triebkraft entwickelte, mußte sich eine Anregung derjenigen kunstgewerblichen Zweige kund geben, welche, durch ihre Ornamentik mit Malerei und Baukunst verwandt, den wohlthätigen Einfluß bewährter Meister erfahren konnten, und die Familienkreise unserer Künstler, zumal der Düsseldorfer Schule, boten erwünschte Gelegenheit, künstlerischen Gestaltungssinn auch auf das Gebiet weiblicher Arbeiten zu übertragen. Die Fertigung künstlerischer Stickereien für die stylvoll restaurirten und neu mit Fresken geschmückten Kirchen bot Gelegenheit, reichste Formen für kostbare Ausführung darzustellen, und die geschehene Anregung ging mehr und mehr in größere Kreise über, so daß beinahe [633] im ganzen Rheinlande ein Streben nach stylvoller Formengebung die meisten Arbeiten der dortigen jungen Damen kennzeichnet.

Liegt es schon in der Natur der Sache, daß das Schöne fast immer dem Zweckmäßigen sich anschließt, und bedingt schon die Wahl künstlerischer Motive diejenige eingehende Rücksichtnahme auf die Natur des Arbeitsmateriales, welche der aufgewendeten Mühe den besten Erfolg und unverminderte Arbeitslust sichert, so kann es nicht fehlen, daß bei einiger Anleitung die Principien der „rheinischen Musterschule“ sich im ganzen Vaterlande mehr und mehr Anhängerinnen gewinnen werden, und eine willkommene Vermittelung hierzu scheint uns das Institut von Fräulein Clara Hancke in Düsseldorf zu bieten, von deren kunstfertiger Hand Arbeiten fast in allen bedeutenden Stickereihandlungen Mittel- und Norddeutschlands die verdiente Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. In nebenstehenden Holzschnitten, welche zwei uns von dort her freundlichst überlassene Musterzeichnungen vorführen, fehlt allerdings der Hauptreiz der geschmackvollen Farbenzusammenstellung, indessen wird sich aus ihnen der wohlthätige Einfluß des Princips erkennen lassen, jedem Material nach seiner eigenthümlichen Natur gerecht zu werden. Beide sind Muster für Ruhekissen und in den Formen des für diese Arbeiten so vorzüglich geeigneten arabischen Styls erfunden. Ersterer zeigt einen Stern von rothem Sammt, umgeben von einer schwarzen Arabeske desselben Stoffes, mit Goldfäden auf lichtgrauem Tuche aufgenäht; der andere (nur zu einem Viertel wiedergegeben) bildet ein Canevasmuster, dessen Kante roth in roth schattirt, dessen roth-weißes schachbretartiges Mittelfeld mit ausgeschlagenen Sternchen von naturellfarbigem Leder besetzt ist. Fräulein Hancke’s Musterlager bietet die reichste Auswahl zweckmäßiger Verwendungen fast aller Kunststyle in Tuch, Sammt, Leder, Wolle und Schnurenstickerei.

Was bei diesen Mustern, denen natürlich ein weites Gebiet zur Verwendung offen steht und die mit geeigneter Anpassung an Zweck und Material in den verschiedenartigsten Gegenständen, als: Kissen, Möbelbezüge, Vorhänge, Ofenschirme, Mappendecken etc. praktisch benutzt werden können, das Eigenthümliche und Werthvolle ist, beruht in ihrer wirklich künstlerischen Zeichnung und Farbengebung, die gegenüber den blos mühevoll-künstlichen Arbeiten eine ungemeine Anziehungskraft übt und beweist, daß die Kunst auch im Kleinen eine echte sein kann. – Durch die Verlagshandlung wird auf nähere Erkundigung mit Vergnügen Auskunft ertheilt werden.

A–Z.




Pariser Bilder und Geschichten.

Von Sigmund Kolisch.
Eine Künstlercarriere.

Auf den öffentlichen Plätzen, in Straßen und Höfen von Paris Musik machen zu dürfen, ist eine Begünstigung, die von der Polizei den Armen, den Hilfsbedürftigen gewährt wird, die recht einträglich für die von Haus zu Haus wandernden Virtuosen, eine wahre Plage aber für die Bewohner der lärmenden Stadt ist. Denn diese sind verurtheilt, all das Leiern, Schaben und Zupfen auf den abenteuerlichsten Instrumenten, das Brummen, Krächzen, Quieken und Brüllen verzweifelter Kehlen anzuhören.

Der Franzose ist aber viel zu heiterer Laune, um sich durch die falschen, grimmigen Töne verstimmen zu lassen, und beschenkt reichlich das Elend, welches sich in so zudringlich widerwärtiger Weise an seine Großmuth wendet. Und so ein Straßenkünstler, der es gut anzustellen weiß, um Mitleid zu erregen, den das Schicksal mit einer tüchtigen Gebrechlichkeit bedacht hat, oder der sich durch Jugend, durch Aeußerlichkeit oder ein bischen Fähigkeit empfiehlt, der seine Beine nicht schont, oder dem eine „gute Stelle“ auf einer Brücke, oder an einer Straßenecke zugewiesen wird, kann ein gar hübsches Einkommen, man sagt, zwischen 5 und 25 Franken pro Tag, erzielen. Es giebt in Paris Straßenspielleute, die sich mit dem Ertrage der Mildthätigkeit ein beträchtliches Vermögen gemacht haben und sich im Besitz von Häusern oder Renten befinden, was sie jedoch nicht hindert, ihre ohrenbetäubende Kunst, sei es aus Gewohnheit, sei es aus Gewinnsucht, fort zu treiben.

Diese ehrwürdigen Tonmeister erinnern an Herrn Dupin den Aeltern, den bekannten Orleanisten, welcher, von einem seiner Freunde darüber zu Rede gestellt, daß er die Stelle eines Procurators am Cassationshofe wieder gesucht habe, nachdem er so würdig seine Entlastung gegeben und sich vom Kaiserreiche zurückgezogen hatte, zur Antwort gab: „Was wollen Sie? ich war nahe daran die Zinsen meines Capitals anzugreifen.“

Viele habsüchtige Eltern zwingen ihre Kinder, Knaben und Mädchen, nachdem sie ihnen die Erlaubniß ausgewirkt und irgend ein Liedchen beigebracht, an öffentlichen Orten zu singen, und bringen zu ihrem eigenen Gewinn die armen Kinder um Gegenwart und Zukunft. Herr Felix und Fräulein Rachel haben Glück gehabt. Anders als die Schauspielerin enden sonst die Mädchen, welche in den Straßen mit Guitarren umherlaufen, um den Leuten heisern Gesang und welke Blumen feil zu bieten.

Hier und da, wenn es dunkel wird, sieht man einen schlank gewachsenen blassen Mann von ungefähr 30 Jahren, mit einem dichten schwarzen Bart und langen Haaren, in einem Anzuge zwischen gut und schlecht, den Rock bis zum Kinn empor zugeknöpft, einen Violinkasten in der Hand, auf den Boulevards des Capucines oder der Place Vendome oder sonst an einem belebten Punkte der Stadt plötzlich erscheinen. Während er das Instrument aus dem Kasten nimmt und den Hut vor sich hinstellt, blickt er scheu umher, wie Jemand, der sich vor etwas fürchtet, oder der etwas thun will, dessen er sich zu schämen hat. Nun fängt er an zu spielen, die Elegie von Heinrich Ernst etwa oder ein Adagio von Beriot, kurz ein rührendes Stück, und er spielt rein und mit Ausdruck, gut genug für jeden Salon. Die Menge, welche sich um den Virtuosen gesammelt hat, ist erstaunt und ergriffen. Ein tiefes Unglück bei dem Manne voraussetzend, der sich gezwungen sieht, ein schönes Talent in so kläglicher Weise zu verwerthen, leeren die Zuschauer ihre Taschen. Der Hut, den der Virtuose vor sich hingestellt, ist mit allerlei Münzen voll gefüllt, wenn das Stück zu Ende gespielt ist. Kaum ist der letzte Ton verklungen, so verschwindet das blasse Genie der Straße mit derselben Hast, als es herbeigekommen war.

Das erste Mal, als ich die Scene sah, ging auch ich in die Falle und steuerte über meine Kräfte zur Unterstützung des Künstlers bei, der sich so unglücklich darstellt. Seitdem aber habe ich erfahren, daß derselbe die Geige und zugleich verschämte Armuth spielt und sich bei diesem Gewerbe, wie er weislich berechnet hat, besser befindet, als wenn er Unterricht ertheilte und in irgend einem Orchester mitwirkte. Der Marktschreier!

In den Batignolles, einem Viertel von Paris, läßt sich seit einiger Zeit ein Sänger hören, dessen Aussehen und Auftreten ihn von seinen Cameraden unterscheiden und mit dessen Geschichte mich der Zufall bekannt gemacht hat. Er heißt Gustave Freminet, ist der Sohn eines Tischlers, der in der Rue Rocher wohnte und arbeitete, sich und seine Familie redlich nährte, erzählte mir eine Frau, bei welcher ich zu Besuch war und die sich schnell vom Fenster zurückzog, als sie den herabgekommenen Mann vorübergehen sah, um ihm die Demüthigung ihres Anblicks zu ersparen. Der gute Tischler und seine Frau, vor Allem bedacht, ihrem einzigen Sohne ein glückliches Leben zu bereiten, und von einigen ihrer Bekannten auf die musikalischen Anlagen und Stimmmittel des Knaben aufmerksam gemacht, brachten alle erdenklichen Opfer, um denselben musikalisch ausbilden zu lassen. Die Sache ging leidlich gut. Gustave machte in der Kunst hinreichend Fortschritte, um in einem Alter von 18 Jahren, zur größten Genugthuung seiner Eltern, in’s Conservatorium als Schüler aufgenommen zu werden.

Schmeichelte sich die Familie schon früher mit glänzenden Hoffnungen seine Zukunft betreffend, so galt ihnen die Aufnahme in die erste musikalische Anstalt Frankreichs als eine Bürgschaft der Erfüllung des heiß gehegten Wunsches. Die guten Leute in der Umgebung des angehenden Künstlers, dessen Stimme entschieden den Charakter des Tenors annahm, träumten laut von den vielen, vielen Tausend Franken, die Gustave als Opernsänger gewinnen würde. Mit enthusiastischer Bewunderung nahmen sie jede [634] Gesangsübung auf, die sie von ihm zu hören bekamen. Nichts natürlicher, als daß der junge Mann die Ueberzeugung seiner Eltern und Verwandten theilte, sich zufrieden in seinem künftigen Glücke wiegte und die Aufmerksamkeiten und Huldigungen, welche ihm zu Theil wurden, so wie die schweren Opfer, welche sein arbeitsamer Vater ihm brachte, wie etwas ihm Gebührendes hinnahm. Er erlaubte sich Ausgaben für seine Unterhaltung, von denen ihn die Anstrengungen seines Vaters hätten zurückhalten sollen. Um die Zeit, als der Dünkel Gustave’s und sein Ansehen in der Familie den höchsten Grad erreicht hatten, bezogen Frau Anne Roussel und ihre Tochter Celestine eine Stube, welche der Tischler vermiethete.

Frau Roussel hatte schwere Kämpfe mit dem Schicksal bestanden. Früh verwittwet und auf sich allein angewiesen, war sie außer Stande, für ein kleines Kind, die Frucht ihrer Ehe, zu sorgen, an dem sie liebend hing. Zu ihrem Schmerze mußte sie sich von ihrem Kinde trennen. Sie that es in ein Unterstützungshaus (Salle d’asile), wo die kleine Celestine bis zu ihrem zwölften Jahre blieb und in allen einem Weibe nöthigen Kenntnissen und Fertigkeiten unterwiesen wurde. Nachdem später das Kind aus der Anstalt getreten war, lernte es künstliche Blumen machen und fand kurz darauf in dem bekannten Hause Labitte, Rue Richelieu, das dergleichen Blumen, die keinen Frühling kennen, verkauft, als Ladenmädchen ein vortheilhaftes Unterkommen. Nicht lange, so schwang sie sich zur ersten Verkäuferin auf und erhielt nebst der Verköstigung 100 Franken monatlich. Da sie sich in ihre Aufgabe trefflich zu schicken wußte, sich thätig und eifrig im Geschäfte erwies, die Käufer aus allen Weltgegenden mit Takt zu behandeln und einzunehmen wußte, worauf die Handelsleute zu Paris einen besonders großen Werth legen, wurde sie von den Eigenthümern des Geschäftes mit Geschenken und Aufmerksamkeiten aller Art überhäuft und hatte eine Stellung, die Vielen beneidenswerth erschien.

Ohne schön zu sein, war Celestine um die Zeit, als sie mit ihrer Mutter die Stube beim Tischler bezog, eine angenehme frische Erscheinung mit lebhaften schwarzen Augen und von aufgewecktem Geiste. Sie befliß sich, ja sie befliß sich zu sehr eines feinen, ausgezeichneten Benehmens und redete in Ausdrücken, wie sie in Eug. Sue und Balzac gelesen.

Sprachen Gustave und Celestine mit einander von Kunst und Künstlern, von Dingen, die er aus dem Verkehr mit den andern Zöglingen des Conservatoriums oder durch die Vorträge der Professoren, sie aus ihren Romanen kannte, dann horchte die schlichte Gesellschaft beim Tischler mit einer um so größeren Bewunderung auf die Bemerkungen von beiden Seiten, je unverständlicher sie ihnen waren. Und in den Blicken der guten Leute sprach sich die Ueberzeugung aus, daß die Zwei für einander wie geschaffen seien.

In der That wirkte der angehende Künstler von vortheilhaftem Aeußern, der so selbstbewußt auftrat, dessen Fähigkeit von seiner ganzen Umgebung angestaunt wurde, auf die Einbildung des Ladenmädchens, das sich ihn zu einem Romanhelden ausdehnte und ausschmückte. Andrerseits wurde sie von dem Zögling des Conservatoriums einiger Aufmerksamkeit würdig befunden, weil sie sich von den Anderen im Hause durch Eleganz und Bildung vortheilhaft unterschied und weil er doch, wie er sich in seiner Selbstüberhebung ausdrückte, mit ihr reden konnte. Seine Hinneigung zu Celestinen ging so weit, daß er, freilich nur auf Augenblicke, den Vorzug des Künstlers, dem Tausende entgegenwinken, vor einem Ladenmädchen vergaß, das für 1200 Franken jährlich Blumen anrühmt und verkauft.

Mit lebhafterer Theilnahme als alle Anderen beobachtete und verfolgte Frau Roussel die Entwickelung eines innigeren Verhältnisses zwischen Gustave und ihrer Tochter. Anne hatte nämlich in früheren Jahren den Soufleur der großen Oper bedient, der äußerst redselig der staunenden Frau von den Schätzen erzählte, „die in den Kehlen der Sänger und Sängerinnen stecken,“ und der häufig, wenn er seiner Baarschaft beim Weinhändler arg zugesetzt hatte und sich in Geldverlegenheit befand, zu der Aufwärterin darüber klagte, daß ihn Gott nicht mit einer Tenorstimme gesegnet habe, die ihm, wie etwa Herrn Roger, 100,000 Franken jährlich einbrächte und es ihm möglich machte, sorglos seinen Vergnügungen nachzugehen.

Auf Erden aber ist kein Glück und selten eine Hoffnung ungetrübt. Vor dem Sonnenschein im Hause des Tischlers schwebte eine düstere Wolke; an die glänzenden Erwartungen hängte sich eine ernste Besorgniß. Einige Monate vor den Prüfungen im Conservatorium finden auf dem Stadthause die Rekrutenverloosungen statt. Und Gustave war dasselbe Jahr zu ziehen verpflichtet. „Wie, wenn ihm der Zufall ein schlimmes Loos in die Hände spielte? Wer wird ihm bei den beschränkten Vermögensverhältnissen seiner Eltern einen Stellvertreter kaufen, um ihm die Unterbrechung der vielversprechenden Laufbahn zu ersparen?“ lauteten die quälenden Fragen, die man in dem Kreise stellte, dessen Mittelpunkt der junge Sänger war. Gustave selbst, obgleich sonst leichtfertig und ernsten Gedanken wenig zugänglich, zeigte sich bekümmert, wenn von seiner Militärpflichtigkeit die Rede war.

Je näher der Tag rückte, an welchem das Loos über das Schicksal des angehenden Künstlers entscheiden sollte, desto stiller wurde es in dem Hause des Tischlers, desto gespannter wurden die Gemüther daselbst.

Auf den 30. März war die Rekrutenverloosung, auf den 12. Juli die Untersuchung der dem Militärdienst Verfallenen und zugleich die Gesangprüfung im Conservatorium festgesetzt.

Als am Morgen des 30. März 1853 Gustave aus dem Hause ging, um sich zur Ziehung zu begeben, konnte der Tischler vor Aufregung gar nicht arbeiten, mit zitternder Hand legte er den Hobel bei Seite. Klopfenden Herzens, eine Thräne im Auge, unbeweglich sah der Arbeiter seinem dahinschreitenden Sohne eine Weile nach. „Möchte es gelingen!“ murmelte er vor sich hin. Und als der Sohn ihm aus dem Gesichte war, suchte er sich zu fassen und fing wieder zu Hobeln an. Frau Freminet betete und weinte im Verborgenen.

Gegen 1 Uhr Nachmittags kehrte Gustave zurück, mühsam sich dahin schleppend, als trüge er ein Kreuz, er sah blaß, sein Auge blickte düster, man konnte ein leises Zittern seiner Lippen bemerken. In seinen Zügen stand es geschrieben, daß er ein schlechtes Loos gezogen hatte.

„Du hast Unglück gehabt, Gustave!“ sagte der Tischler, als der junge Mann in die Werkstatt trat. Er legte das Werkzeug, mit dem er gearbeitet hatte, wieder aus der Hand und indem er sich den Schweiß vom Gesichte wischte, setzte er sich auf einen Stuhl, was er niemals während der Arbeitszeit that. Die Tischlerin entfernte sich, um ungestört zu weinen.

Kaum jedoch war die Heftigkeit des ersten Eindrucks überwunden, als schon die Betrübten nach einem Trost, nach einem Mittel zur Abhülfe suchten. Es wurde darüber Rath gehalten, wie das Geld zum Ankauf eines Stellvertreters herbeigeschafft werden könnte. Der Eine schlug eine Bittschrift an den Kaiser vor, der Zweite machte auf die Hülfsvereine aufmerksam, die doch unterstützen, wo sie können, der Dritte stimmte für einen Anfruf in den Zeitungen an Freunde und Beschützer der Künste etc. Zuletzt nahm Frau Roussel das Wort, welche vorher den Gegenstand mit dem Soufleur der großen Oper besprochen hatte. „Nach der Ansicht eines Sachkenners,“ sagte sie, „könnte Herr Freminet, der doch ein Künstler ist, nichts Besseres thun, als sich an Seinesgleichen, d. h. wieder an Künstler, mit der Bitte wenden, daß sie in einem Concert mitwirken, dessen Ertrag zu seiner Befreiung vom Militärdienst anzuwenden wäre.“ Der Vorschlag wurde von der ganzen Gesellschaft, ganz besonders aber von Gustave vortrefflich befunden und einstimmig angenommen.

Nach einigen Wochen fand das Concert in der That statt, und da sich musikalische Berühmtheiten zur Mitwirkung herbeiließen, wurde die erforderliche Summe geliefert.

Seit dem Tage, als Gustave das verhängnißvolle Loos gezogen hatte, und seine Hülflosigkeit ihm deutlich wurde, konnte man an ihm mehr Ernst und weniger Selbstvertrauen denn bis dahin bemerken. Als er am 12. Juli endlich vor den Untersuchungsrath trat und zum Militärdienst tauglich erklärt wurde, fiel aber sein ganzer Stolz zusammen. Er hatte von dem aus den Concerten gewonnenen Geldern bedeutende Summen zu allerlei Ausgaben verwendet, er wußte nicht, wie das Deficit ersetzt werden sollte, und ging trübe gestimmt und sorgenvoll direct vom Stadthause in das Conservatorium, wo heute die Hauptprüfung stattfinden sollte.

War die trübe Aussicht, war Müdigkeit, war Unsicherheit der Stimme überhaupt daran schuld: die Töne, welche Gustave vorbrachte, waren klanglos, schwankend, falsch sogar; er hörte es und rang nach besserer und richtigerer Anstimmung; allein [635] die Anstrengungen, die der Zögling machte, um seiner Stimme Nachdruck und Genauigkeit zu geben, verschlimmerten noch die Sache. Ein Lächeln des Spottes malte sich auf den Gesichtern der Zuhörer, und Herr Auber, der berühmte Director der Anstalt, richtete an den Schüler die vernichtenden Worte: „Wie wenig Verstand, wie wenig Musikkenntniß, ja selbst nur musikalischen Instinct muß man haben, um so schwach und unfähig, wie Sie, eine Prüfung bestehen zu wollen!“ So rücksichtslos wurde dem armen jungen Manne seine schönste Hoffnung getödtet zu Füßen geworfen.

Beschämt, verletzt, außer sich vor Schmerz, verließ er hastig den Saal und jagte, als würde er verfolgt, durch die Straßen nach Hause, wo man ihn mit zweifacher Spannung erwartete. Er lachte, als er in die Stube trat, wo er seine Eltern fand, und als diese wie mit einer Stimme frugen, wie es ihm ergangen sei, gab er zur Antwort: „Ich bin General und habe den Feind geschlagen, weil die Trompeten so falsch bliesen. Die Terz muß sterben, denn sie ist an Allem schuld.“

„Gustave!“ rief der Tischler, indem er seinen Sohn am Arme faßte, „was sprichst Du? Wir fragen Dich, wie es Dir auf dem Stadthause und im Conservatorium ergangen ist.“

Der junge Mann stierte seinen Vater mit großen Augen an und sprach mit Heftigkeit: „Kein Quartier! Nieder mit ihnen. Sie taugen Alle nichts, weder die Infanterie, noch die Cavallerie, denn sie bleiben keinen Augenblick im Takt.“

„Er ist von Sinnen!“ sagte der Tischler mit verloschener Stimme zu seiner Frau, indem er mit dem Ausdrucke des tiefsten Schmerzes auf den Sänger zeigte. Dann machte er noch einen Versuch, seinen Sohn aus der „Nacht der Gedanken“ zu reißen, und als auch dieser mißlang, sagte er kein Wort mehr, sondern führte oder trug vielmehr den Unglücklichen in dessen Stube, entkleidete ihn und brachte ihn zu Bette, in der Hoffnung, daß Ruhe und Schlaf vielleicht dem jungen Manne das verlorene Licht des Geistes zurückgeben werde. – Wohl entschlief Gustave, wohl erwachte er; doch das Licht seines Geistes kehrte nicht zurück. Nach einigen Tagen wurde er in die Irrenanstalt von Bicêtre gebracht, wo ihm die erforderliche ärztliche Pflege zu Theil wurde und wo er einige Monate blieb.

Als er aus dem Krankenhause kam, war sein Vater der schweren Arbeit und dem noch schwereren Grame erlegen und auf dem Friedhofe von Montmartre begraben worden. Seine Mutter hatte die Wohnung in Rue Rocher aufgegeben und sich eine kleine Stube rue de l’Imperateur gemiethet; in einem vorgerückten Alter mußte sie das Gewerbe der Frau Roussel ergreifen, um sich kümmerlich durchzubringen. Von ihr konnte er keine Unterstützung erwarten.

Ohne Celestinen und Frau Roussel hätte es ihm an einem Obdach und an den dringendsten Lebensbedürfnissen gefehlt; diese aber nahmen ihn gastlich auf, und ihr Haus wurde dem vom Schicksal Heimgesuchten eine wahre Zufluchtsstätte. Celestine gefiel sich in der Rolle einer Retterin und glaubte an ihre Liebe zu dem jungen Manne, den das Verhängniß seiner Verfolgung würdig erachtete. Was Frau Roussel betrifft, hätte sie es nicht über sich vermocht, einem Wunsche ihrer Tochter, der so lebhaft auftrat, zu widerstreben; dazu kam, daß ihr Orakel, der Soufleur, das sie um Rath gefragt, den Ausspruch that, daß ein junger Mann, wie Gustave, die Stimme wiederfinden könne, wenn er sie durch irgend eine äußere Einwirkung verloren habe, und daß sie folglich die Hoffnung auf eine glänzende Laufbahn des jungen Mannes nicht aufgab.

Aus dem Zusammenleben der jungen Leute entwickelte sich denn auch ein förmliches Liebesverhältniß, und dieses führte zur Ehe. Einige Monate, nachdem Gustave ein Hausgenosse der beiden Frauen geworden war, fand die Vermählung statt, geräuschlos, im Beisein nur der nächsten Verwandten des Brautpaares.

Die Honigmonde vergingen, wie alle Honigmonde, unter Lust und Glück, unter Vergnügen und Zärtlichkeit; doch folgte ihnen der Jammer auf dem Fuße. Celestine arbeitete und erwarb; Gustave genoß und verthat. Dieser Abstand zwischen den Eheleuten gab, nachdem die schöne Zeit der Schattenlosigkeir verflogen war, zu Reibungen Anlaß, die von Tag zu Tag zunahmen. Celestine hatte als Romanleserin einen Anflug von Schwärmerei, als Ladenmädchen aber war sie äußerst praktisch und berechnend, voll Ehrfurcht vor dem zählbaren Ergebniß der Mühe und Arbeit. Sie sei bereit, sagte sie, auf die Rückkehr der Tenorstimme ihres Mannes zu warten; doch sei diesem dafür die Pflicht auferlegt, sich der äußersten Sparsamkeit zu befleißen und die Befriedigung seiner vornehmen Gelüste bis zu einer Zeit aufzuschieben, da er ihnen aus selbsterworbenen Mitteln würde Genüge thun können.

Wie bitter aber auch die ausgesprochene Zumuthung Celestinens war, sie blieb doch ohne Wirkung auf das fernere Benehmen ihres Gatten. Statt ihn zu überzeugen, reizte sie ihn; und das Recht, welchen das französische Gesetz dem Ehemanne einräumt, mißbrauchend verfuhr Gustave ohne Schonung mit dem Einkommen seiner Frau. – Kaum drei Jahre zählte die Ehe, welche mit einem kleinen Mädchen gesegnet war, als sie schon durch dauernden Hader vielerlei Störungen erfuhr.

Die Geduld, mit welcher Mutter und Tochter auf die Rückkehr der abhanden gekommenen Tenorstimme warteten, riß endlich auch, und sie drängten den Künstler ohne Kunst zur Annahme einer Commisstelle in einem Laden, die sich „glücklicher Weise darbot“, damit er ein wenig die Lasten des Haushalts tragen helfe, statt sie übermäßig zu vermehren; denn man müsse nehmen, was man findet, wenn man nicht finden könne, was man sucht. Gustave mußte nachgeben. Er trat als Commis in einen Laden, wurde aber durch die ihm „aufgedrungene Erniedrigung“, wie er es nannte, so erbittert, daß der Hausfriede durch die Anstellung eher verlor, als gewann. Ungewohnt außerdem der Ordnung und geregelten Thätigkeit, ohne Lust und Geschick zu dem neuen ihm fremden Berufe, erfüllte er so wenig die Wünsche seines Vorgesetzten, daß er nach Kurzem entlassen wurde.

Von da ab wurde ein Krieg ohne Waffenstillstand und von einer beispiellosen Heftigkeit von Celestinen und ihrer Mutter gegen Gustave geführt. Das Haus wurde ihm zur wahren Hölle gemacht. Was er sagte, wurde entweder mit schmollendem Schweigen oder mit grollender Mißbilligung aufgenommen; was er verlangte, wurde verweigert; was er zurückwies, wurde ihm aufgedrungen. Nie trat ihm ein Lächeln, nie ein gütliches Wort, ein freundlicher Blick der Frauen entgegen. Und was er auch anwenden mochte, Sanftmuth oder Ungestüm, um sein Ansehen geltend, um den Feindseligkeiten ein Ende zu machen, blieb erfolglos. – Gereizt, gequält, müde gehetzt, verließ er das Haus, verließ er Weib und Kind.

Er trat auf einem Provinzialtheater als Sänger auf, fiel durch und wurde von der Direction fortgeschickt. Andere ähnliche Versuche auf Provinzbühnen lieferten dasselbe Ergebniß. Nach Paris zurückgekehrt, nimmt er eine Anstellung im Chore der großen Oper an, deren Ertrag aber nicht hinreicht, die dringendsten Lebensbedürfnisse zu decken. Er treibt sich in schlechter Gesellschaft herum, sinkt immer tiefer und tiefer. Nach einiger Zeit erfährt Celestine, daß er mit einer zweideutigen Frauensperson zusammen wohnt, und gründet auf diesen Umstand ihr Ansuchen um gerichtliche Scheidung von ihrem Manne, die denn auch erfolgt.

Ohne Energie, ohne Existenzmittel, aus dem Chore der großen Oper wegen Unpünktlichkeit gestoßen, ist Gustave auf den Erwerb durch Gesang auf den Straßen angewiesen, zu dem ihm aber die vorgeschriebene Befugniß fehlt. Schon ist die Polizei hinter ihm her, um ihn für die Uebertretung zur Rechenschaft zu ziehen.

Welches Ende steht dem Künstler bevor?




Hamburger Bilder

Von E. Willkomm.
Nr. 1. Hohes Wasser.

„Wenn es noch ein paar Stunden so fortweht, giebt es Hochwasser.“ Diese oder ähnlich klingende Worte hört man in Hamburg und weiter elbabwärts im Frühjahr, Herbst und Winter zu verschiedenen Malen. Selbst die Sommermonate bleiben nicht immer ganz davon frei. Der Bewohner des Binnenlandes fragt mit Recht: Was hat man darunter zu verstehen? Auch bei uns, und zumal in gebirgigen Gegenden, giebt es zuweilen Hochwasser, der Wind aber hat damit nichts zu schaffen. Plötzlich hereinbrechende [636] Unwetter, Wolkenbrüche mit Hagelschlag verbunden machen die Gießbäche und Wildwasser anschwellen, und die reißend aus Bergschluchten und Thalklüften hervorstürzenden Gewässer überschwemmen dann binnen wenigen Stunden fruchtbare Saatfelder, Wiesen, Dörfer und Städte, und verbreiten weithin Schrecken und Verderben.

In Hamburg, wie überhaupt in den Niederungen zwischen Ems, Weser, Elbe und Eider hat das Wort „Hochwasser“ eine andere Bedeutung. Für gewöhnlich flößt dasselbe, wie oft es auch gebraucht werden mag, Niemand Furcht ein. Man ist daran gewöhnt und weiß, wie man zu sagen pflegt, Bescheid damit. Allein es treten doch Fälle ein, wo auch dem Erfahrensten die Haare vor Angst zu Berge steigen, und wo im drängenden Augenblicke der furchtbarsten Gefahr selbst der Gleichgültigste und Phlegmatischste nur an die Rettung des eigenen Lebens und der ihm Angehörigen denkt. Hamburg würde entweder gar nicht gegründet worden oder bis auf den heutigen Tag ein ganz unbedeutender Ort mit Fischerei und dürftigem Handel geblieben sein, wenn nicht Fluth und Ebbe den Unterbau seiner Häuser bespülte. Fluth und Ebbe sind auch die Grundursachen des Hochwassers, von welchem ein beträchtlicher Theil der gewaltigen Stadt alljährlich zu verschiedenen Malen heimgesucht wird, das aber, wenn es die gewöhnlichen Marken der Hochfluthen nicht übersteigt, mehr Anlaß zu heitern Auftritten als zu haarsträubenden Schreckensscenen giebt.

Zweimal innerhalb des kurzen Zeitraumes von vierundzwanzig Stunden ebbt und fluthet die Meereswoge. Unter normalen Witterungsverhältnissen dauern im Allgemeinen Ebbe sowohl wie Fluth etwa sechs Stunden, doch darf man diese Frist nicht gar zu buchstäblich nehmen. Die Dauer von Ebbe und Fluth hängt mehr oder weniger von örtlichen Verhältnissen, und insbesondere von geringerer oder weiterer Entfernung eines Ortes von dem Weltmeere ab. An den Küsten des großen atlantischen Oceans steigt die gewöhnliche Fluth doppelt so hoch, ja an einzelnen Stellen noch höher, als etwa bei Cuxhaven. In Hamburg und den zunächst gelegenen Orten der Niederelbe schätzt man die Höhe einer gewöhnlichen Fluth auf fünf Fuß, und die Zeit des steigenden Wassers wird auf reichlich fünf Stunden berechnet, während die Ebbe oder die Zeit des fallenden Wassers sieben Stunden dauert. Ohne dieses regelmäßig sich wiederholende Anschwellen und Sinken der Meereswoge, das hier nicht weiter erklärt werden soll, würde die Schifffahrt auf der Elbe gleich Null sein, das Flußbett des Stromes trotz seiner großen Breite und seiner gewaltigen Wassermasse in wenigen Jahren versanden und seine Mündung höchst wahrscheinlich sich in ein aus zahlreichen Inseln bestehendes, von Sümpfen umgebenes ungesundes Delta verwandeln. Fluth und Ebbe allein sind es, denen Hamburg seine Größe, seine Handelsblüthe, seinen Reichthum, seine Wichtigkeit als Welthandelsstadt verdankt. Die mit steigender Fluth aufrollende Meereswoge trägt die schwerbefrachteten Handelsflotten auch ohne Mithülfe des Windes den Strom hinauf und läßt sie ungehindert die Untiefen passiren, die sich in großer Menge in der Elbe vorfinden und das Ab- und Aufsegeln stark beladener Seeschiffe erschweren. Die Ebbe leistet ähnliche Dienste, indem sie das Auslaufen der Schiffe aus dem Hafen erleichtert und die enormen Massen von Sand und allerhand faulen Stoffen dem Meere zuführt, das sie in seinem ewig bewegten Wallen und Sieden zu Atomen zerschlägt.

Heftig wehende oder lange anhaltende Winde bleiben niemals ohne Einfluß auf Ebbe und Fluth. Starker Ostwind schwächt z. B., wenn er längere Zeit in gleicher Richtung fortweht, in Hamburg die Fluth dergestalt ab, daß sie sich nur wenig bemerklich macht. Die Wassermasse der Elbe ist zu solchen Zeiten mächtiger als die aus der Nordsee heraufrollende Fluthwoge, die ihrerseits von der Gewalt des Ostwindes zurückgehalten wird. Sie kann den Ebbestrom nicht überwältigen und kämpft so lange mit ihm, bis dieser die Fluth überwindet und sie in’s Meer zurückdrängt.

Zu solchen Zeiten, die häufiger im Sommer als im Winter eintreten, sind die zahlreichen Fleethe (Canäle) Hamburgs fast wasserlos, und der Verkehr zu Wasser im Innern der Stadt, so wichtig für die handeltreibende Bevölkerung derselben, wird in höchst empfindlicher Weise gestört. Der Kaufmann kann weder Waaren vom Bord der Seeschiffe auf leichte Weise mittelst großer, flacher Kähne, Schuten genannt, in seine an den Fleethen gelegenen Speicher schaffen lassen, noch durch dieselben Vehikel Schiffe mit Kisten und Ballen, die in den Speichern aufgestapelt liegen, befrachten.

Das umgekehrte Verhältniß tritt ein, wenn der Wind in entgegengesetzter Richtung, also aus Westen weht. So lange er eine gewisse Stätigkeit behält oder, wie der Seemann sich ausdrückt, „frische Brise“ bleibt, wirkt er wohlthätig auf Schifffahrt und Handelsverkehr. Unter frischer Brise aus Westen ist die Elbe lebhaft bewegt; sie rollt und wogt, und trägt auf ihrem breiten Rücken zahlreiche Nachen, Jollen, Ewer, kleinere und größere Seeschiffe mit und ohne Segel. Die Fleethe wimmeln von sich durch einander drängenden Schuten; viele tausend Hände sind auf den Fahrzeugen wie in den Speichern beschäftigt, und im Hafen, wie am Hafenquai herrscht vom grauenden Morgen bis in die sinkende Nacht hinein lebhafte Thätigkeit und fröhlichstes Leben.

Unbequem und nicht selten zum Verderben wird aber der West- und insbesondere der Nordwestwind, sobald er sich zum Sturme steigert. Dann thürmen sich die Wogen der Nordsee zu Bergen auf, und bei steigender Fluth treiben sie die Gewässer der dem Meere zustrebenden Flüsse mit solcher Gewalt zurück, daß sie, in ihrem naturgemäßen Laufe behindert, sich ebenfalls aufstauen und nunmehr zugleich mit den eindringenden Meereswogen rückwärts fluthen. In solchen Fällen wächst die Fluth zur Sturmfluth, die Sturmfluth aber erzeugt immer hohes Wasser. Wie die Bewohner der Alpen mit Lawinen, so sind die Bewohner Hamburgs vertraut mit hohem Wasser. Heißt es doch sogar im Sprüchwort, es dürfe nicht zuwintern, ehe die Keller gespült seien!

Was ein solches „Kellerspülen“ sagen will. das muß man mit ansehen, um sich einen Begriff von der Herrlichkeit desselben machen zu können. Wir nehmen an, es tritt Hochwasser ein oder das Kommen desselben wird erwartet. Die ganze Nacht schon wehte es stark, d. h., wie man im Binnenlande sich ausdrückt, es stürmte, daß die Wetterhähne umknickten, von den Firsten der Dächer Ziegelsteine herabprasselten, und hie und da ein alter Baumstamm, der das Beugen und Nachgeben verlernt hat, mit sammt dem Wurzelwerk aus dem Erdboden gerissen ward. Das nennt man an den Seeküsten „starkes oder hartes Wehen“.

Trotz des furchtbaren Tobens in der Luft aber war die Sache nicht bedenklich, und kein Mensch kümmerte sich um das Pfeifen und Heulen des Sturmes. In einer der niedrigsten Straßen der Stadt im St. Katharinenkirchspiel befindet sich eine sehr besuchte Barbierstube. Fünf Sandsteinstufen, jede beinahe einen Fuß hoch, führen von der engen Straße zu derselben, doch muß der Eintretende, der hier Geschäfte hat, zuvor die „Diele“ (Hausflur) eines Mannes passiren, der mit alten Mobilien handelt. Zum Zeichen seines Geschäftsbetriebes hat der Mobilienhändler auf eine der Steinbänke an den Seiten der Treppe zwei alte Stühle über einander gestellt. Die Hausthür selbst steht offen. Durch dieselbe erblickt man im dunkeln Innern der Diele allerhand Urväterhausrath: eine Kommode mit Messingbeschlag; darauf eine Stutzuhr, die nicht mehr geht; einen Spiegel mit halb blindem Glas; eine Moderateurlampe, die man aufpumpen kann, so viel man will, ohne den Docht darin zum Brennen zu bringen. Tief im Hintergrunde Kleiderschränke von unsicherer Farbe, und ganz vorn im hellsten Tageslicht, schräg an die Kommode gelehnt, das Portrait einer ehrsamen Bürgersfrau, das hierher gewandert ist, weil beim letzten Umzug der Familie in dem neu gemietheten Logis kein Platz zu finden war, um es aufzuhängen. Unter der Barbierstube, fünf Stufen tief, ist der Eingang zu einer jener zahllosen Kellerwohnungen, welche Hamburg eigenthümlich sind. In dieser wohnt ein gealterter Schuhmacher, Meister Pech sen.. Er wohnt schon lange in diesem engen, dunstigen Keller; denn es lebt sich da gut, weil er eine starke, viel verbrauchende Kundschaft hat, die, was in Hamburg über Alles geliebt wird, prompt bezahlt und gar nicht dingt. Fast sämmtliche Arbeitsleute aus den nächsten sechs bis sieben Straßen, eine Menge Ewerführerknechte und andere Personen, die starkes Fußzeug brauchen, laßen bei Meister Pech sen. arbeiten, und allen diesen strammen, wohlgenährten Leuten fehlt es nicht an Geld. Bei ihnen gilt an jedem Sonntage und nicht selten auch nach Feierabend in der Woche der Grundsatz: „Geld spielt gar keine Rolle!“ In gewöhnlich verständliches Deutsch übersetzt heißt das: es kommt uns nicht darauf an, einen Thaler mehr oder weniger auszugeben. Gehen sie etwas spät vergnügt nach Haus, so trösten sie sich wohl gegenseitig mit den Worten: „Wat deiht’s, wi hebbt et man ja!“

Zwischen zehn und elf Uhr Vormittags springt ein Küper eilig die fünf Stufen zur Hausflur hinauf, tritt in die Barbierstube [637] und setzt sich zurecht. „Man flink!“ ruft er dem Dienst habenden Gehülfen zu, der schon Seife in seinem Messingbecken zerschlägt. „Ich habe an den „Vorsetzen,“ am „Baumwall“ und am „Stubbenhuk“ zu thun, und muß mich eilen. In zwei, drei Stunden giebt’s Hochwasser.“

Der Gehülfe hält dem Eiligen das Becken schon unter das Kinn, da kracht ein Kanonenschuß von der Bastei Erikus, daß die Scheiben klirren. Diesem folgt gleich darauf ein zweiter und dritter. Der Gehülfe vergißt das Einseifen.

„Man flink!“ wiederholt ungeduldig der Küper. „Ick heff’ keen Tid to verleeren! Der Wind is umloopen; weiht Nordwest zu Nord!“

Beim Hochwasser in Hamburg.
Nach der Natur gezeichnet von Julius Geißler.

Der Barbier beeilt sich, daß der Küper unter dem flimmernden Wasser mit den Augen blinzelt. Der geschickte Mann aber versteht sein Geschäft, und glatt, wie er es nur wünschen kann, steht der Eilige auf und wirft seinen Doppelschilling auf den Tisch.

„Wird’s schlimm?“ fragt der neugierige Gehülfe und wirft einen Blick auf die Straße, die sich bei den Kanonenschüssen mit höchst unnützen Jungen von neun bis zwölf Jahren füllt, die alle in Holzpantoffeln über das schlechte Pflaster klappern und dabei ununterbrochen in den jauchzenden Jubelruf ausbrechen:

„Hurrah! Hochwater, keen School! Hurrah! Hochwater, keen School! Een, twee, dree, Hurrah!“

Meister Pech sen., den Knieriemen in der Hand, die Mütze stark nach hinten gerückt, taucht aus seiner Kellerwohnung auf und sieht sich mit bedenklichen Blicken um. Die jubelnden Jungen sind verschwunden. Man hört nur noch das Geklapper ihrer Pantoffeln und unarticulirte Töne aus der Ferne. Sie haben den kürzesten Weg zum nächsten Fleeth eingeschlagen, wo sich ein Fluthmesser befindet, um zu sehen, wie hoch das Wasser steht und wie hoch es wohl bis zu Eintritt der Ebbe noch steigen könne.

Da die wilde Jugend der Keller, Gänge und Sähle nicht mehr zu sehen ist, richtet Meister Pech sen. seine Augen nach dem Himmel, wo die dunkelgrauen, fliegenden Wolken, die von Nordwest in rasender Eile über die spitzen Giebel fortziehen, ihn höchst nachdenklich stimmen. Er kehrt sich um und ruft seiner Frau zu, in möglichster Schnelligkeit Betten und Alles, was keine Nässe vertragen kann, nach „bawen“ (nach oben) zu schaffen, ehe das Wasser komme. Gleichzeitig zeigt sich die klappernde und schreiende Jugend wieder in der Straße, unter der sich auch ein hoffnungsvoller Enkel des gut situirten Meisters befindet. Der Großvater jagt ihn mit einem Hieb seines Knieriemens in den Keller, ruft ihm zu: „Hilf Großmutter aufpacken!“ und springt dann selbst nach in die dunkle, halb unterirdische Wohnung.

Die Alarmkanonen krachen auf’s Neue, und in den Rinnsteinen der niedrigsten Straßen, beim Zippelhause und seiner nächsten Umgebung zeigt sich urplötzlich Wasser, als ob verborgene Quellen der Erde sich öffneten. Nun beginnt ein Laufen und Rennen, ein Eilen und Hasten, als gälte es, einem grausamen Feinde zu entfliehen. Alles, was niedrig wohnt, besonders die Inhaber zahlloser Keller, räumt aus. Wer nicht ausräumen kann, schiebt die größeren Mobilien zusammen und improvisirt auf diesen inmitten des Zimmers einen erhöhten Wohnraum. In Straßen, welche bei gewöhnlicher Sturmfluth – und eine solche ist im eiligsten Anzüge – wasserfrei bleiben, während sich die tiefer gelegenen Kellerwohnungen mit dem fatalen Element füllen, retten sich die Leute mit ihren besten Sachen auf das Pflaster und führen hier, so lange das Hochwasser andauert, ein ganz zufriedenes Lagerleben, wobei es an Scherz- und Witzworten selten fehlt.

In der ersten Zeit der steigenden Hochfluth giebt es Vergnügen und Lust die Menge. Die unbändige Jugend sammelt sich an den zunächst vom Wasser bedrohten Orten, springt über die mit jeder Minute breiter werdenden Bäche, lärmt, schreit, balgt sich und durchwatet zuletzt die ganz überfluthete Straße, bis die Bewegung [638] des Wassers selbst unheimlich wird, und auf der Oberfläche des jetzt zum Strome angeschwollenen Baches die Spuren einer Wellenbildung sich zeigen. Spurlos zerstreut sich der lärmende Schwarm, und an die Stelle der lauten Lust tritt jetzt die Ruhe des bittersten Ernstes. Gurgelnd, schäumend, brausend ergießt sich die Hochfluth aus allen Fleethen durch jeden Spalt, jede kleinste Oeffnung in die angrenzenden Wohnungen. Der Strom zieht mitten durch Hausfluren, durch bis vor Kurzem bewohnte Zimmer, und auf Straßen und Plätzen, wo noch vor wenigen Stunden Kinder spielten, gleiten jetzt Nachen und Jollen, geführt von stämmigen Männern, die zum Schutz gegen die Wuth des rasenden Nordweststurmes den echten Hut des Seemannes, den wetterdichten Südwester, tragen.

Je höher das Wasser steigt, desto störender wirkt es auf den Verkehr ein. An allen lebhaften Uebergangspunkten bilden sich Gruppen harrender, unruhiger, oft verdrießlich werdender Menschen. Viele lockt nur die Neugierde herbei, Andere aber haben jenseits des heftig durch die Straßen wogenden Stromes unaufschiebbare Geschäfte und wissen nicht, wie sie über das zwei bis drei Fuß tiefe Wasser kommen sollen. Eine Zeit lang behilft man sich mit Wagen. Aber diese Wagen müssen mit einer hinreichenden Anzahl Menschen besetzt sein, damit sie der Kraft des Stromes Widerstand leisten können. Später, wenn die Fluth immer mehr anschwillt, kann die Verbindung der überflutheten Straßen mit den vom Hochwasser frei gebliebenen nur noch durch Kähne vermittelt werten.

Bei solchen Vorgängen macht die Spekulation, welche in Hamburg den meisten Menschen angeboren ist, sofort ihre Rechte gellend. Bei jedem Hochwasser, das immer mehrere Stunden lang anhält, ist auf bequeme Weise ein Stück Geld zu verdienen. Droschkenkutscher haben ihre Taxe, die sie einhalten müssen, wenn ihre Passagiere die Sätze derselben ebenfalls ihrem Gedächtnisse gut eingeprägt haben. Zu Fuhren durch’s Hochwasser aber giebt es weder für Droschken noch für Jollen und andere Fahrzeuge festgesetzte Preise. Deshalb wird der Preis nach den Personen, welche übergesetzt zu werden begehren, nach der Eile des Geschäftigen, nach der wirklichen oder vorgeblichen Schwierigkeit der Passage und nicht selten nach bloßer Laune bestimmt.

„Betalen!“ (bezahlen) das ist das Wort, das mit fester Stimme und trotziger Miene von Jedem unzählige Male ausgesprochen wird, der so glücklich ist, an einem der besuchtesten Uebergangspunkte den Fährmann zu spielen. Zu diesem Dienst stellen sich die verschiedensten Individuen ein, und da der Begehr nach beschleunigter Passage allgemein ist, so findet in der Regel Jeder seine Rechnung dabei. Nicht ungewöhnlich ist das Tragen Eiliger durch’s Wasser. Besonders kräftige und schmucke Männer, deren Körperformen die beste Empfehlung für ihre Anerbietungen sind, legen sich vorzugsweise auf das „Uebertragen“. Aus Galanterie bieten sie ihre Dienste natürlich zuerst dem weiblichen Personal an, das ängstlich trippelnd an der schmutzig gelben Wasserfläche, die so ungastlich durch die Straßen fluthet, hin und wieder geht. Junge, hübsche Kleinmädchen und gewandte Köchinnen leisten selten der freundlichen Einladung langen Widerstand. Ist es doch immer besser, einem Einzelnen sich anzuvertrauen, als mit Mehreren zugleich in einem meistentheils zu schwer beladenen Nachen die Ueberfahrt zu unternehmen. Ohnehin hat der stämmige Mann in seinen gewaltig hohen Wasserstiefeln bereits dargethan, daß er an Kraft und Ausdauer dem heiligen Christophorus wenig nachgeben dürfte.

„Was kostet’s?“ fragt eine sauber gekleidete Köchin, die sehr feines Schuhzeug trägt, und die ihre blendendweiße Mütze mit breitem Rosa-Bindeband vortrefflich kleidet, den sie ansprechenden Christophorus.

„Veer Schilling, Köksch (Köchin)“, lautet die Antwort, indem er der ängstlich auf das wallende Wasser Blickenden die offne Hand hinhält.

Die Köchin hat sich verspätet. Das prächtig farbige Tuch, welches den schmalen Korb unter ihrem Arme bedeckt und das ihr die Herrschaft zum Anzüge erst neu gekauft hat, damit sie auf der Straße gehörig damit prahlen kann, streift fast das schmutzige Pflaster. Schnell entschlossen zieht sie das Portemonnaie und entnimmt demselben ein Vierschillingsstück – morgen beim Handel mit der Vierländerin läßt sich die kleine Ausgabe wohl wieder verdienen – und vertrauensvoll reicht sie dem schmunzelnden Manne die Hand.

Ein lautes „Hurrah!“ der gaffenden Menge begleitet den Abzug des Trägers mit seiner schönen Last. Mitten im Strome, der dem starken Manne bis über die Kniee strudelt, seufzt das junge Mädchen ängstlich und klammert sich fest um den Hals des Retters. Christophorus bleibt stehen und blinzelt die Aengstliche mit verliebten Augen an.

„Lüttje Köksch, hat Se Bange?“

„Man to! Man to!“ antwortet die Geängstigte.

„Ick mut erst en Trinkgeld hebben.“

„Drüben … gern,“ stottert das Mädchen.

„Nee, mien lütt Deern, glick up de Stell’!“

Die Köchin will abermals ihr Portemonnaie ziehen, der schreckliche Mann aber lacht kopfschüttelnd und fährt fort:

„Geld hebb’ ich genog, ich will, dat mi de lüttje Köksch enen Söten (Kuß) gift. Will Se oder will Se nich? Veer Foot Water sün hier; ich smiet Se glick dal (nieder).“

Das erschrockene Mädchen faßt sich ein Herz und erfüllt, um wieder auf’s Trockene zu kommen, das Verlangen des Unerbittlichen. Dieser lacht wie ein Kobold und setzt unter lautem Gekreisch der drüben Stehenden die Erröthende auf festem Boden ab.

Scenen solcher und ähnlicher Art kommen bei Hochwasser am hellen Tage häufig vor, in der Nacht ist man weniger geneigt zu Scherzen. Dann überwiegt das Gefühl der Bangigkeit auch bei den an Hochwasser Gewöhnten jede heitere Regung. Man kann nicht wissen, welchen Verlauf die Sturmfluth nimmt, und um sich auch gegen das Schlimmste zu sichern, sind alle Bedrohte nur auf Rettung ihrer Habe und ihrer Familien bedacht. Je häufiger die Lärmkanonen sich hören lassen, die das Wachsen des Wassers verkündigen, desto schweigender arbeiten die Menschen in den überflutheten Quartieren. Man hört nur vereinzelte Zurufe und Commandoworte, und sieht rothen Laternenschein über den zitternden Wellen schimmern.




Blätter und Blüthen.

Der größte Bienenvater der Welt. Wenn man auf der Oberschlesischen Eisenbahn von Osten oder von Westen her auf die Station Brieg gelangt und hier die Oder überschreitet, so ist man im Lande der Wasserpolaken. Hat man hier durch dürftige Sandflächen und düsteres Nadelgehölz noch zwei und eine halbe Meile zurückgelegt, so erreicht man das polnische Dorf Karlsmarkt (Karlowicze). Dies kleine Dörfchen mit seinem unscheinbaren katholischen Pfarrhause ist seit etwa zehn Jahren der Zielpunkt von Reisenden aus allen Gegenden Europa’s, ja selbst aus der neuen Welt; denn von hier aus ging eine Reform in der Bienenzucht, welche diese landwirthschaftliche Branche auf eine nie erreichte Höhe hob.

Der Garten am Pfarrhause ist dicht besetzt mit wohl Hunderten von Bienenwohnungen verschiedenartiger und zum Theil noch nie gesehener Form, und die Luft erfüllt von Tausenden summender Bienen. Unter diesen wandelt im einfachen Hausrocke, ein Käppchen auf dem Haupte, ein schlichter, rührsamer Mann so ruhig umher, als sei er von Baumblüthen umflogen. Die Bienen sitzen ihm auf Hals und Rücken, Brust und Händen, ja in den Aermeln seines Rockes; doch das stört ihn nicht im Mindesten; er nimmt sie von da und dort fein säuberlich herab und läßt sie fliegen und lächelt dabei still vor sich hin, wenn Besucher anwesend sind und vor den Bienen die Flucht ergreifen oder über einen Bienenstich Ach und Weh schreien. Ihn selbst stechen sie fast nie, und wenn es ja geschieht, so achtet er das nicht mehr als einen Mückenstich. Immer ist sein Blick auf die Stöcke und die fliegenden Bienen gerichtet, und wenn seine Besucher Fragen an ihn richten, so sind seine Antworten meist sehr kurz. Man muß schon interessante Fragen zu stellen wissen, wenn er näher darauf eingeben soll. Wer hier von der Bienenwirthschaft etwas profitiren will, der muß insbesondere zu sehen und zu beobachten verstehen, wie der Mann selbst, dessen Gesicht so gutmüthig und gewöhnlich, doch nicht ohne einen sehr geistvollen Zug darin ist, und dessen Wesen eine gewisse Sprödigkeit, fast der Schüchternheit ähnlich, zeigt, so lange er sich nicht besonders angeregt fühlt.

Das ist Dzierzon, der Pfarrer (wie man hier sagt, Curatus) des Orts, durch seinen Namen schon als der polnischen Nationalität angehörig bezeichnet, der die Bienen so genau kennt, als wäre er selbst eine Biene, und der sie förmlich zu dressiren versieht. Was er will, das müssen sie thun: braucht er Honig, so müssen sie Honig fabriciren: bedarf er Wachs, so müssen sie Wachs bereiten: hat er mehr Bienen nöthig, so müssen sie sich mit ihrer Vermehrung beschäftigen. Diese seine Gewalt über die Bienen hat er eben durch seine gründliche Kenntniß ihrer Natur erreicht. Darnach macht er Gebrauch von ihren Trieben und Neigungen, vermeidet Alles, was diesen zuwider ist, schützt sie vor ihren Feinden und vor jedem übeln Witterungseinflusse, pflegt sie in Krankheiten, macht ihnen so zu [639] sagen das Leben behaglich, – und aus allem diesem folgt dann, daß sie im Stande und gewillt sind, für ihn zu arbeiten mit aller Vollkraft, wenn es gilt, gleich wie die Arbeiter eines Fabrikherrn, der für ihr Wohlsein väterlich sorgt. Man muß Dzierzon’s unausgesetzte Ueberwachung seiner kleinen Lieblinge selbst gesehen haben, um ein vollständiges Bild zu haben von dem Bienenvater, wie er sein soll. Ihm entgeht nichts, was etwa an den Stöcken zu thun oder abzuändern ist, wo ihnen Schutz vor Schlagregen oder sengendem Sonnenstich und dergleichen noth thut, und jedes Bienchen, das er ermatten sieht, wird von ihm zart aufgenommen und zu seiner Wohnung gebracht. An kühlen Morgen trägt er ein Weiselhäuschen bei sich, in welchen er erstarrte Bienen von der Erde aufliest und das er, um sie zu erwärmen, an seinem Leibe verwahrt. Seine derartige Thätigkeit ist aber keine geringe, da er außer seinem Bienenstande in Karlsmarkt noch mehrere Bienenstände besitzt und alle mit gleichem Eifer selbst beaufsichtigt. Und bei der Beaufsichtigung nimmt er auch Hammer und Säge, Bohrer und Zange zur Hand und bessert und reparirt an den Stöcken und Geräthen wie der geschickteste Handwerksmann.

So wie Dzierzon die Bienenzucht betreibt und wie sie betrieben werden muß, kann man sie in Wahrheit die Poesie der Landwirthschaft nennen. Wo Bäume und Blumen sind, meint Dzierzon, da sollten auch Bienen sein, um jedes solche landschaftliche Bild zu beleben. Gewiß hat er auch mit seiner Behauptung Recht, daß Umgang mit Bienen den Menschen veredle, ihn zur Ordnung und zum Fleiß anrege und ihn von schlechter Unterhaltung abziehe. Aber abgesehen von dieser immerhin beachtenswerthen poetischeren Seite hat die Bienenzucht einen überaus großen materiellen Werth. Zuerst wird durch sie in unglaublicher Weise die Fruchtbarkeit eines Landes erhöht, indem der Blüthenstaub durch die Bienen gleichmäßiger und anhaltender als durch Winde vertheilt und ausgebreitet wird. Dann aber sind Honig und Wachs so geldwerthe und gesuchte Artikel, daß durch ihre allgemeinere Erzeugung der Nationalreichthum bedeutend erhöht wird, indem ein guter Stock in einem Tage 10 Pfund Honig einträgt und entsprechend Wachs bereitet. Dabei ist zu beachten, daß ein solcher Ertrag reiner Gewinn ist, da man die Bienen nicht wie andere Hausthiere durch Futter zu unterhalten hat.

Scharfsinn und Beobachtungsgabe sind zwei Eigenschaften, die Dzierzon in so hohem Grade wie nur wenige Andere besitzt. Durch sie ist er in das vielfach so geheimnißvolle Bienenleben tiefer als irgend Jemand vor ihm eingedrungen, ja so tief, daß kaum noch Wesentliches darüber zu erforschen übrig geblieben sein dürfte. Er hat diese Eigenschaften zur Ueberraschung der Naturforscher gleich bei seinem ersten öffentlichen Auftreten documentirt, als er seine großen Entdeckungen kund gab: daß die Bienenkönigin nur einmal für ihr ganzes Leben befruchtet werde, und daß sie die einzige eierlegende Mutter im Stocke sei. Jemehr diese beiden Entdeckungen zuerst von vielen Seiten angezweifelt wurden, desto glänzender war Dzierzon’s Ruhm, als er unumstößlich deren Wahrheit durch diejenige oberitalienische Bienenart nachwies, welche von gelber Farbe ist und die schon Virgil besungen hat. Dzierzon führte diese Bienenart im Jahre 1853 bei uns ein, und die aus Italien erhaltene gelbe Königin erzeugte auch unter den deutschen schwarzen Männchen (Drohnen) fort und fort gelbe Bienen, die hierlands gebornen jungen gelben Königinnen aber nach den schwarzen Drohnen mehr oder weniger schwarze Bienen. Die weiteren auf diese Farbenverschiedenheit gegründeten Versuche gewährten alle die vollste Ueberzeugung von Dzierzon’s diesfälligen Behauptungen, so daß jetzt kein Mensch mehr daran zweifelt und Dzierzon als der größte Theoretiker und Praktiker im Bienenwesen dasteht.

Ehe Dzierzon auftrat, bestand die Bienenwirthschaft, mit wenig geringfügigen Ausnahmen, darin, daß man den Bienen so viel als möglich Honig wegnahm, was man ziemlich naiv Berauben nannte, und sie im Uebrigen machen ließ, was sie wollten. Von ihrer Natur und ihren Neigungen hatte Niemand einen rechten Begriff; man fabelte höchstens, daß man es den Bienen sagen müsse, wenn ihr Herr gestorben sei, weil sie sonst eingingen; zu Wohnungen hatte man den armen Thieren die gelassen, in denen man sie wild gefunden hatte: hohle rohe Baumstämme.

Das Alles hat Dzierzon gründlich verbessert. Er lehrt planmäßige Bienenzucht treiben. Nach seiner Methode ist man unabbängig von den Launen der Bienen, kann zur rechten Zeit und in rechter Weise von ihren Diensten Gebrauch machen, kann sich nach Bedarf in wenig Jahren Hunderte von Stöcken erziehen und die Vermehrung wieder beliebig beschränken und destomehr Honig und Wachs gewinnen. Seine Bienenwohnungen sind der Natur der Bienen angemessen und den Betrieb der Bienenzucht erleichternd. Ja, wer sich vor den Bienenstichen fürchtet, dem verschafft Dzierzon die sanften italienischen Bienen, die kaum je stechen und noch fleißiger arbeiten als die unsern.

Wer rechtes Interesse für die Bienenzucht hat und im Stande ist, die Reise nach Karlsmarkt zu machen, der wird sich hoch befriedigt fühlen und von der eignen Anschauung großen Nutzen haben. Zu einer solchen Reise ist die Zeit gleich nach Pfingsten die beste, wo der Bienenbetrieb in voller Blüthe steht und in Karlsmarkt die meisten Kunstschwärme gemacht werden.

Um durch Thatsachen zu beweisen, wie weitverbreitet Dzierzon’s Ruhm ist, sei hier erwähnt, daß die schwedische Regierung Herrn Hanson aus Drammen in Norwegen auf Staatskosten nach Karlsmarkt geschickt hat, um sich an Ort und Stelle zu unterrichten. Der Engländer Bruce hat zum selben Zweck Karlsmarkt besucht. Herr Wagner zu York in Pennsylvanien in Nordamerika hat sich vollständige Dzierzonsche Stöcke mit italienischen Bienen kommen lassen. Herr Kalinski in Bialystock, Gouvernement Grodno, in Rußland, hat zwei italienische Schwärme aus Karlsmarkt bezogen. Bei allen Vieren ist der Erfolg vollständig gewesen wie bei den vielen tausend Andern, die jetzt schon in allen Ländern der Welt nach der einzigen, unübertrefflichen Dzierzonschen Art die Bienenzucht betreiben.




Akademische pädagogische Seminare. Sicherm Vernehmen nach tritt im Laufe dieser Tage in Leipzig ein Verein zusammen, der eine der wichtigsten Fragen der Gegenwart, nämlich die Heranbildung tüchtiger Lehrerkräfte auf den Universitäten, zum Ziele hat. Indem wir diesen Verein, der vor allen Dingen die Herbeischaffung der zu Gründung von pädagogischen Seminaren erforderlichen Mittel sich zur Aufgabe gestellt bat, das beste Gedeihen wünschen und das größere Publicum im Voraus auf dasselbe aufmerksam machen, wollen wir nicht unterlassen, die große Tragweite, welche dieser Verein für das gesammte Schul- und Erziehungswesen haben kann, hier kurz darzuthun. Der Goethesche Spruch:

Man könnt’ erzogene Kinder gebären,
Wenn die Eltern selber erzogen wären,

läßt sich nämlich mit vollem Rechte auch auf unsre Schulen anwenden. Haben wir tüchtige Lehrer, werden wir auch tüchtige Schulen haben. Sind die Lehrer als Lehrer erzogen, werden sie auch mit Erfolg Andere erziehen können. Nun wird aber ein Student nicht zum Lehrer erzogen, wenn er auf der Universität seine gewöhnlichen Facultätsstudien macht und sich in Theologie, Mathematik oder Philologie Gott weiß was für Kenntnisse einsammelt. Er wird auch noch kein Lehrer, wenn er eins oder mehrere Collegien über Pädagogik hört, denn das wäre, wie die jüngst erschienene Schrift über Leipzigs Volksschulen zur Genüge nachweist, dasselbe, als wenn ein „theoretischer Schuster“ Stiefeln und Schuhe machen wollte. Er muß sich vielmehr, wie die schon bestehenden Schullehrerseminare für die Volksschullehrer es verlangen, unter Beaufsichtigung pädagogisch gebildeter Männer längere Zeit einer praktischen Uebung unterziehen, soll er im wahren Sinne des Worts seines Berufes Herr werden. Inmitten einer kleinen Schule, einer Seminarschule, soll sich reger pädagogischer Geist entzünden, im regen Verkehre mit Kindern und mit begeisterten Pädagogen soll die heilige Aufgabe der Erziehung und des Unterrichts jedem klar werden. Nichts Anderes wollen die akademischen pädagogischen Seminare, nichts Anderes der Verein zur Gründung derselben. Und der Erfolg solcher Seminare? Vor allen Dingen würden unsere höheren Schulanstalten endlich einmal pädagogisch gebildete Philologen, Mathematiker u. s. w., unsere Volks- und Bürgerschulen pädagogisch erzogene Theologen erhalten. Aber auch den Volksschullehrern würden diese Seminare zu Gute kommen. Denn die Schullehrerseminare, auf denen sie gebildet werden, würden Männer als Lehrer erhalten, die auf der Universität sich nicht allein eine fachwissenschaftliche, sondern auch eine allgemein philosophisch-pädagogische Bildung erworben und außerdem praktische Geschicklichkeit im Unterrichten bekommen hätten. Daß nun hieraus den Seminaristen ein hoher Gewinn für ihre ganze Lebens- und Berufsanschauung neben praktischer Fertigkeit erwachsen muß, ist außer allem Zweifel. Erfreuen sich aber alle Lehrer eines Landes einer tüchtigen wissenschaftlichen wie praktischen Vorbildung, haben sie alle, bevor sie in’s Amt treten, die ungeheure Aufgabe ihres Berufes in vollem Maße begriffen – und das kann nur geschehen, wenn Jemand mit dem idealen Maßstabe einer Kunst oder Wissenschaft längere Zeit gemessen wird – : dann müßte unser Schulwesen nothwendig auf diejenige Höhe gelangen, die erforderlich ist, soll eine charaktervolle Nation für die Zukunft erblühen. Aber noch mehr! Es gab eine Zeit, wo die Trennung der Schule von der Kirche eine brennende Frage war. Sie wurde vorzugsweise hervorgerufen durch den Umstand, daß viele, ja die meisten geistlichen Schulinspectoren an der Schule deren einzelne Zwecke und Erfordernisse weniger verstanden, als die ihnen untergebenen Lehrer. Vergessen wir nicht: diese Frage kann von Neuem ausfauchen. Sorgen wir bei Zeiten dafür, daß sie nicht zum Unheil der Schule entschieden wird. Wird das aber der Fall sein, wenn die Schulinspectoren, die Pastoren, Superintendenten, Kirchen- und Schulräthe allesammt eine tüchtige pädagogische Bildung durchgemacht haben, wenn sie mit den Lehrern von einem und demselben Geiste der Pädagogik genährt und gekräftigt worden sind? Dieser Sachlage gegenüber ist es in der That zu verwundern, daß man nicht schon längst an Errichtung akademisch pädagogischer Seminare ernstlich gedacht hat. So viel uns bekannt, besteht bis jetzt nur ein einziges derartiges Seminar in ganz Deutschland, und zwar in Jena!




Noch einmal der Secondelieutenant. Die Gartenl. enthält in Nr. 32 unter der Rubrik: „Aus den Zeiten der schweren Noth“ die Mittheilung einer Heldenthat des damaligen Secondelieutenants Hellwig, der am 17. October 1806 mit 50 preußischen Husaren vor den Thoren von Eisenach den von Jena’s Schlachtfelde als Sieger fortziehenden Franzosen 9000 in Erfurt zu Kriegsgefangenen gemachte Cameraden wieder entriß. Dieses Heldenstücklein ist um so höher anzuschlagen, wenn man dabei bedenkt, daß es in den dunkelsten, hoffnungsärmsten Tagen ausgeführt wurde, die unser Vaterland gesehen hat, in Tagen, wo selbst die Besten zagten, in Tagen, wo die mit den höchsten militärischen Ehren bekleideten Officiere der preußischen Armee ehrvergessen dem Sieger die ihnen anvertrauten Festungen ohne weitern Widerstand öffneten. Aus dem Schlusse der interessanten Schilderung scheint mir hervorzugehen, daß dem Verfasser die weiteren Lebensverhältnisse Hellwig’s unbekannt sind, und da dasselbe auch bei vielen Lesern der Fall sein möchte, die den wackeren Soldaten aus der angeführten Episode lieb gewannen, so glaube ich beiden Theilen einen Dienst zu erweisen, wenn ich seine Geschichte hier kurz mittheile.

Rudolph Friedrich Hellwig wurde zu Braunschweig, wo sein Vater, ein noch jetzt im ehrenvollsten Andenken stehender Mann, Professor am Collegium Carolinum war, am 18. Januar 1775 geboren. Früh erwachter Neigung zum Soldatenstande folgend, trat er, eben fünfzehn Jahre alt, durch die Vermittlung Herzogs Ferdinand von Braunschweig in preußische Dienste, und machte, als Cornet beim von Kölerschen Regimente stehend, den Rheinfeldzug von 1792–95 mit. Die Affaire von Eisenach machte den damaligen Secondelieutenant zuerst bekannt; nach der Capitulation von Lübeck, die er durch einen Zufall nicht mit unterschrieben hatte, anfangs mit den übrigen Officieren in Potsdam gefangen, gelang es ihm [640] bald nach Schlesien zu entkommen. Als er von Glatz aus als Courier nach Königsberg kam, da ward ihm auch die vollste Anerkennung für die am 17. Oktober bewiesene Treue und Entschlossenheit. In einer besondern Audienz von der gefeierten Königin Louise empfangen, erhielt er, mit Worten des rührendsten Dankes, aus ihren Händen den Verdienstorden, und Friedrich Wilhelm III. ernannte ihn zum Rittmeister und Escadronchef. Bei der Reorganisation der Armee erhielt er eine Escadron im zweiten schlesischen Husarenregiment, 1812 wurde er Major. – Der Feldzug von 1813 brachte Hellwig Ehre auf Ehre; mit seinem Detachement abgeschickt, die Verbindung zwischen Erfurt und Magdeburg unsicher zu machen, überfiel er bei Langensalza das aus Rußland zurückkehrende, über 2200 Mann starke baierische Contingent unter General von Rechberg und zerstreute es; von der dabei erfochtenen Beute sandte er fünf Kanonen nach Breslau, es waren die ersten Trophäen, welche dem vom Schicksale gebeugten Preußenkönige zu Füßen gelegt wurden – dafür erhielt Hellwig das eiserne Kreuz Zweiter Classe, als zweiter Mann in der Armee, welcher mit diesem eben gestifteten Ehrenzeichen geschmückt wurde; – fünf Tage später, am 17. April, hob er den bei Wanfried stehenden starken Vorposten der westphälischen Truppen auf, wobei von dem Heldenhäuflein 2 Officiere, 80 Husaren und 50 Infanteristen gefangen genommen und 100 Pferde erbeutet wurden; dafür kam ein anderweites Zeichen der Anerkennung für den Major aus Breslau, das eiserne Kreuz erster Classe – und er war noch dazu der Erste, der dieses Wahrzeichen aus schwerer Noth empfing. – Nach der Schlacht von Groß-Görschen und dem Uebergange über die Elbe machte Blücher Hellwig bekannt, daß der König ihm bewilligt habe, ein Freicorps zu bilden, zu dessen Formirung er neben seiner die Escadron von Laroche verwenden, seine Kräfte nach Gelegenheit vermehren und mit denselben nach eigenem Ermessen operiren könne. So entstand das bekannte „Hellwigsche Freicorps“, dessen Cavallerie 1815, zur Bildung des 7. Ulanenregiments, die Infanterie zu der des Füsilierbataillons des 27. Regiments verwendet wurde, als Hellwig zum Chef des 9. Husarenregiments avancirte; als solcher focht er ehrenvoll bei Wavre und Namur und zog am 8. Juli an der Spitze dieses Regiments, dem als besondere Auszeichnung eine neue Standarte verliehen wurde, unter den Siegern mit in Paris ein. – 1830 erhielt er das Commando der 15. Cavallerie-Brigade, wurde 1831 Generalmajor und Ritter des rothen Ankerordens zweiter Classe.

Der unscheinbare Secondelieutenaut von 1806, der sich vor Eisenachs Thoren die Sporen verdient halte, stand 1838 mit Lorbeeren und Ehrenzeichen bedeckt vor seinem Könige, dem er in „schwerer Noth“ treu gedient, und bat um seinen Abschied. Er wurde ihm mit dem Charakter Generallieutenant. Nach sieben Ruhejahren starb er am 26. Juni 1845, zu Liegnitz, das er zu seinem Wohnplatze gewählt hatte, um im Kreise seiner zahlreichen Waffengefährten und Freunde zu leben, und er hatte derselben eine große Menge, „denn wem er Freund war, dem war er es probehaltig und wirklich, und zu allen Zeiten.“

E. St.




Die volta-elektrische Metallbürste von Imme, welche neuerdings mit großem Aufwande in allen Zeitungen annoncirt wird, ist nur eine neue veränderte Auflage der Goldbergerschen Rheumatismusapparate; letztere sind in ihrer Unwirksamkeit längst erkannt, und Verf. muß nach genauer Prüfung auch der Imme'schen Bürste dieses Schicksal prophezeien; da es sich um die Ausgabe von vier Thalern dabei handelt, so scheint es angemessen, leichtgläubige Käufer schon jetzt darauf aufmerksam zu machen.

Die Bürste wird zwar von einem promovirten Arzte, der sich „Ehrenmitglied“ verschiedener imaginärer „Akademieen“ nennt, empfohlen, aber diese scheinbare Wissenschaftlichkeit ist nur ein wenig dauerhafter Firniß, durch welchen einem ganz gewöhnlichen Humbug ein reputirliches Aeußere ertheilt werden soll. Die Bürste stellt allerdings mit einem volta-elektrischen Doppelelemente in Verbindung, welches in der That die Multiplicatornadel um ein Geringes ablenkt, und hieraus legen die Erfinder das größte Gewicht; es ist aber nicht daran zu denken, daß ein so schwacher Grad von Galvanismus auf den Menschen durch das Medium der Oberhaut auch nur die oberflächlichste Wirkung ausübt; dies thut der Galvanismus erst dann, wenn einige Dutzend solcher Elemente zusammengefügt werden, wie Verf. durch eigene Experimente festgestellt hat, ohne diese Einwirkung selbst dann noch als medicinisch verwendbar gefunden zu haben. Die elektrische Wirkung dieses Fabrikates ist demnach eine rein illusorische, seine wahre Wirksamkeit beschränkt sich auf die des mechanischen Frottirens, und dieses ist weder etwas Neues noch etwas so Kostspieliges. Es ist diese „Erfindung“ eine Ausgeburt der oberflächlichsten physicalischen Anschauungsweise und des unwürdigsten Mißbrauchs der Wissenschaft

Dr. P. Niemeyer.




Briefkasten.

A. Holm, Ratzeburg. Vor einer Auswanderung nach Amerika sind bei den augenblicklichen Verhältnissen alle Solche entschieden zu warnen, welche 1) nicht mehrere hundert Dollars Mittel zum sofortigen Ankauf einer cultivirten Farm besitzen, und bei dem Betriebe derselben 2) mehr erwarten als den nothwendigsten Lebensunterhalt zu verdienen. Durch die vollständige Unterbrechung des Verkehrs zwischen Süden und Norden sind die Handwerks- und Arbeiter- Verhältnisse in den nördlichen Staaten in einer Weise gelähmt, daß z. B in diesem Augenblicke sich gegen 30,000 brodlose Arbeiter in New York allein befinden; aber auch der Verdienst der westlichen Farmer, für deren Erzeugnisse der Süden der Hauptabnehmer war, hat sich durch das Verbot jeder Ausfuhr nach dem Süden sogleich Null gestellt, daß z. B. für Kartoffeln der Transport nach manchem Speditionsorte und die Kosten der Säcke sich um einige Cents höher belaufen, als der Marktpreis für die Kartoffeln ist – der Farmer bei einem Verkauf mithin mehr Kosten hat als er einnimmt. Im Uebrigen ist für Den, welcher augenblicklich zufrieden mit der nothwendigsten Existenz ist, die jetzige Zeit sicher die profitabelste zur Ansiedelung, da cultivirtes Land oder auch uncultivirtes Prairieland, wie in Illinois, in unmittelbarer Nähe der Central Eisenbahn, kaum jemals wieder so billig zu haben sein wird und der Kriegszustand für den Nordwesten, wie Wisconsin, das nördliche Illinois, Indiana, Iowa und Minnesota – sämmtlich Staaten, in denen der Ansiedler kaum einen Fehlgriff thun kann, sobald er nur seines Absatzes wegen in der Nähe einer Eisenbahn oder eines großen Flusses bleibt – durchaus keinen andern Einfluß als den der verhinderten Ausfuhr hat, auf welche der junge Ansiedler ohnedies noch nicht rechnen darf.

Alle Ansiedlungsprojecte südlich von den Vereinigten Staaten, wie in Central-Amerika und Brasilien, sind erwiesener Maßen Speculations- Unternehmen gewissenloser Agenten, in denen der Deutsche unrettbar zu Grunde gehen muß. Jeder Vernünftige wird auf den ersten Blick einsehen, dazu, wo noch Millionen Acker fruchtbaren Landes für billigen Preis in einem gemäßigten Klima und unter dem Schutze freier Institutionen zu haben sind, wie in dem Norden der Vereinigten Staaten, Ansiedelungsprojecte in südlichen Klimaten, unter einem Mischlingsvolke und bei völlig unsichern Rechtszuständen eben nur der rücksichtslosen Gewinnsucht entsprungen sein können. Wohl möge aber jeder Auswanderungslustige überlegen, ob seine augenblicklichen Verhältnisse im deutschen Vaterlande so drückend sind, daß ihnen eine mühevolle, oft karge Existenz unter ganz fremden Verhältnissen vorzuziehen ist. Die Zeit, schnell wohlhabend zu werden, ist in den Vereinigten Staaten vorüber, und die Poesie des Farmerleben weicht nur gar zu schnell den Mühseligkeiten und Entbehrungen desselben; besonders möge doppelt mit sich zu Rathe gehen, wer nicht an anhaltende körperliche Anstrengung gewöhnt und Bedürfnisse des Geistes und Gemüths zu den seinigen zählt. Es giebt in diesem Augenblicke Hunderttausende von Deutschen in Amerika, welche ein Jahr ihres Lebens darum geben würden, wenn ihnen die Möglichkeit einer Rückkehr und einer Existenz in Deutschland offen stände.

F. St. in D. Sie haben Ihren Beitrag für die Flotte verweigert, dagegen offen erklärt, sofort zehn Thaler zahlen zu wollen, wenn für einen Proceß gegen den Bundestag gesammelt würde, durch den die Frankfurter Herren gezwungen würden, die verauctionirte Flotte bis auf den letzten Nagel zu ersetzen. Ihr Verlangen ist ein billiges und ganz gerechtes; wollen Sie uns aber gefälligst angeben, wer hier Richter sein und wo die deutsche Nation Gerechtigkeit finden soll?

A. R. Z. in New York. Leider ist das übersandte Manuscript zu sehr im politischen Zeitungsstyle gehalten, auch wohl zu umfangreich im Verhältniß zum Stoffe, als daß es sich in der Gartenlaube verwenden ließe.

M. in Eisl. Der Fähndrich bat als Soldat nur seine Schuldigkeit gethan?

J. in Kbg. Danken freundlichst für gefällige Offerte. Die Schilderung der Krönungsfeierlichkeiten mag für Preußen ein besonderes Interesse haben, unsern vielen außerpreußischen und außerdeutschen Lesern dürften diese theuren Formalitäten ziemlich gleichgültig sein.

C. L. B. in Zürich. Wenn auch warm aus der Seele des Deutsch- Amerikaners entsprungen und mit Fleiß und sichtlicher Liebe bearbeitet, ist doch die Abhandlung zu sehr raisonnirend und docirend, als daß wir den beanspruchten Raum dafür verwenden könnten. Sie wollen gefl. über das Manuscript verfügen.

v. B. in D. sie leiden nicht allein! Werfen Sie den Herren, die Sie im Dunkeln umschleichen, die urkräftigen aber wahren Worte eines Freundes der Gartenlaube entgegen:

                    Visir auf!
Die Stirne frei, das Auge frei!
Aus reinem Herz die Rede!
Der Arglist und der Heuchelei,
Der Horcherei und Kriecherei –

5
Den Schurken gilt die Fehde!

     Zum Teufel mit den tück’schen Katzen,
     Die Jedem nach dem Maule schwatzen
     Und boshaft Jeden darnach kratzen!

Fest im Entschluß, kühn in der That,

10
Für’s Wohl des großen Ganzen!

Pfui ihm, der füßelt feigen Rath,
Und der, so lang er Mark noch hat,
Nicht schaffen mag und schanzen!
     Zum Teufel mit den feigen Hasen.

15
     Die prahlten und sich dicke fraßen,

     So lange sie im Kohle saßen!

Nun merket auf und habet Acht!
Erkennet sie im Lichten!
Damit sie nicht des Baues Pracht,

20
Der goldig uns entgegen lacht,

Zerwühlen und vernichten!
     Zum Teufel mit den Maulwurfsseelen,
     Die sich in schwarzes Dunkel stehlen,
     Statt edles, freies Licht zu wählen!


  1. Stefano
  2. Buchstäblich war.