Die Gartenlaube (1861)/Heft 7

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Das Leben einer Frau.

Von R. Godin

Eine laue, wohlige Julinacht voller Sterne breitete ihre Dämmerung über eine Gegend aus, die dazu geschaffen schien, in dieser zitternden Beleuchtung gesehen zu werden. An der fernen Grenze des Horizontes blitzte zuweilen ein flüchtiges Wetterleuchten auf und erhellte mit seinem ungewissen Strahle eine einzeln stehende Mühle, deren Hintergrund, eine hohe, von dunkelgrünen Fichten bekränzte Felswand von rother Färbung, sich scharf von dem hellen Firmamente abzeichnete. Eine hochgewölbte steinerne Brücke, die auf einer Seite ihren Stützpunkt auf dem Felsen hatte, aus dessen Spalten wucherndes Gesträuch hervordrang und sie mit phantastischem Gezweige schmückte, hob sich über den rauschenden Bergstrom, der die Räder der Mühle trieb. Mit Hast wälzten sich seine bewegten Wellen hinab in das anmuthige Thal, das sich vor einem Landhause mit eleganter Façade ausbreitete. Vom Strahl des Mondes versilbert, leuchtete dies freundliche Gebäude hell aus der Mitte eines sorgfältig gepflegten Gartens hervor, dessen tausend Blumen sich neigten und wiegten, als wollten sie mit den Sternen Grüße tauschen.

Als ob dies einsame Haus zu der Berauschung, die über der duftenden Sommernacht schwebte, einen neuen Reiz fügen wollte, öffnete sich plötzlich die Glasthüre, die auf den Balcon von Gußeisen führte, und es erschien die Gestalt einer jungen Frau, die hastig unter die blühenden Oleanderbäume trat, die den Balcon zu einer kleinen Laube umschufen. Das Mondlicht enthüllte, indem es auf ihr reizendes Gesicht fiel, den Ausdruck eines leidenschaftlichen Schmerzes, der mit dem Frieden der stillen Landschaft einen grellen Contrast bildete. Sie sank achtlos auf den Sammtsessel und barg ihr bleiches Gesicht in beide Hände; erst die schweren Thränen, die langsam durch ihre schlanken Finger glitten, weckten durch ihre brennende Berührung die junge Frau aus ihrer Betäubung auf.

„Nein, ich darf ja nicht weinen,“ sagte sie leise vor sich hin, „man würde mich fragen, warum?“ Sie fuhr wiederholt mit der Hand über die brennende Stirn und wandte sich, mit gewaltsamer Anstrengung Ruhe erzwingend, wieder der Balconthüre zu. Der erste Blick, den sie auf die Scheiben warf, ließ sie jedoch auf’s Neue zusammenzucken und hielt sie wie festgebannt.

Und doch war das Bild, das sich ihren Augen bot, friedlich und anlockend. Der große Salon trug den Charakter jener absichtslosen Eleganz, die dem höchsten Comfort auch Grazie giebt. Ueberall waltete der Hauch eines wohlthuend guten Geschmackes, und eine Fülle von Blumen vereinigte sich mit trefflicher Beleuchtung, um diesen Raum höchst wohnlich zu machen.

Neben einem geöffneten Fenster, zu dem sich mächtiger Epheu wie ein Vorhang hineindrängte, stand ein Spieltisch, von dessen Inhabern drei, wie es schien, mehr damit beschäftigt waren, ein heiteres Gespräch zu führen, als den Karten in ihrer Hand zu folgen. Besonders schien ein etwas corpulenter Fünfziger in eifriger Verhandlung mit der gegenüber sitzenden Dame, die in ihrem lebendigen Gesicht einen angenehmen Ausdruck herzlicher Heiterkeit trug; die zweite, ältere Dame schien diesem Gespräch mit Antheil zu folgen, während der Vierte der Partie, ein langer, magerer Herr, mit einem starken Ausdruck von Mißvergnügen, die Brille auf seiner spitzen Nase zurecht rückte und mit steigender Ungeduld auf die müßig ruhenden Karten blickte.

In der Mitte des Zimmers stand ein großer Flügel, dessen volle Töne schon seit einiger Zeit unter der Hand eines jungen Mädchens erklangen. Jetzt wanderten die rosigen Finger zerstreut auf den Tasten umher, während ihr hübsches Gesicht einem jungen Manne in Uniform zugewendet war, der sich auf den Flügel lehnte und lebhaft mit ihr plauderte. Sein ausdrucksvolles Gesicht wäre vollkommen schön gewesen ohne den Zug bitterer Ironie, der häufig die feinen Lippen umgab und den sonst edlen Zügen eine unbeschreibliche Härte aufprägte. Seine feurigen, dunkelblauen Augen hafteten mit einer Art von Zerstreuung auf dem frischen Gesichtchen seiner Zuhörerin, obgleich er mit Lebhaftigkeit sprach. Da traf zufällig sein Blick den der jungen Frau, die noch immer regungslos auf dem Balcon stand und den Knopf der Glasthür maschinenmäßig festhielt. Ein schwaches Roth flog über sein Gesicht, seine Lippen zuckten und er verlor für einen Augenblick den Faden des Gespräches.

Sie öffnete die Thür und trat in’s Zimmer, ein Lächeln auf den Lippen, das aussah wie eine Thräne im Auge. Freundlich näherte sie sich dem Spieltische.

„Nun, meine liebe Emilie,“ rief ihr der dicke Herr zu, indem er ihr die Hand bot, „was bringst Du für Neuigkeiten von den Elfen und Feenkindern, die Du gewiß im Mondlicht hast tanzen sehen?“

„Sind Sie wirklich so begünstigt worden, gnädige Frau?“ sprach der junge Officier, indem er sich näherte. „Fast möchte ich es glauben – ich habe einmal ein Märchen gehört von seltsamen Gaben, die die Elfen vertheilen. Doch sagt man, daß sie dafür die Herzen an sich ziehen und denen, die ihnen gelauscht haben, nichts übrig lassen, als ihre Zauberlehren.“

„Als ich noch ein Kind war,“ sagte Emilie träumerisch, „da hat man auch mir ein Märchen von den Elfen erzählt. Da wohnte

[98] in jeder Blumenknospe ein kleines Elfenkind, das webte den Blüthenkelch aus seinen langen, seidigen Haaren, von seinen Wangen giebt es ihm die Farbe, und Glanz und Schmelz von seinen Augen, und wenn es so die Blume aus sich selbst herausgebaut hat, dann weht es ihr mit seinem Athem ihren süßen Duft zu. Wenn aber die Blume welkt, dann ist es der Elfe, der das Köpfchen senkt. Ich konnte dies Märchen nie vergessen, und so oft ich eine Blume breche, sehe ich das kleine Feenkind darin ersterben.“

„Ah, meine gnädige Frau, Sie schwärmen!“ rief Herr von Welly mit einem seltsamen Lächeln. „Wer ließe sich träumen, daß Sie dem Zauberspuk Ihrer Lieblinge so ganz entgangen sind und noch genug von Ihrem Herzen übrig behalten haben, um die Leiden der Blumen mitzufühlen!“ Der höhnische Zug, der ihm eigen war, glitt bei diesen Worten über sein Gesicht, und sein sprechendes Auge traf Emilien mit einem Blick voll Aufregung. Sie wandte sich erbleichend ab und trat an das Fenster.

„Nun, sehen Sie, Herr von Welly, da haben Sie meine Frau böse gemacht,“ sagte Emiliens Gemahl, Herr von Werner, scherzend. „Schnell eilen Sie, sich Vergebung zu erbitten, sonst giebt es einen Friedensbruch in unserm kleinen Hofcirkel, und das würde unsere Königin und Hausfrau nicht gestatten,“ fügte er mit einer Verneigung gegen sein vis-à-vis hinzu.

Welly folgte Emilien in die Fensternische. Ohne ihre Stellung zu verändern, fühlte sie seine Nähe; sie bebte an allen Gliedern, und als seine brennenden Blicke auf ihrem Gesicht ruhten, hob eine magnetische Gewalt ihre Augen zu den seinigen empor. Eine flehentliche Bitte um Schweigen lag in diesen großen, bescheidenen Augen, aber Welly wollte sie nicht verstehen.

„Emilie,“ sagte er in gedämpftem Tone, „wollen Sie mich zur Verzweiflung treiben?“

Sie blieb stumm, während ihr Blick mit einem fast irren Ausdruck auf ihn geheftet war.

„Nun, kaltes Herz,“ sprach er mit Bitterkeit, „so wiederholen Sie denn Ihre früheren Worte, heißen Sie mich gehen, Sie niemals wiedersehn – diesmal werde ich Ihnen gehorchen.“

„Nein,“ erwiderte die junge Frau, während ihre Hand zuckte und ihre Wange todtenbleich ward, „nein, denn ich will und kann Sie nicht verlieren!“

Mit einer stürmischen Bewegung von Glück und Triumph beugte er sich, um seine Lippen auf ihre Hand zu drücken, in diesem Augenblicke ließ sie das Fensterbret los und sank besinnungslos zur Erde.


Die älteste Tochter einer vornehmen, aber mittellosen Familie, war Emilie in ihrem sechzehnten Jahre, zwar ohne Zwang, aber nicht ohne Widerstreben die Frau eines ältlichen Mannes geworden. Einfach erzogen und von ernster Gemüthsrichtung, war ihre Phantasie noch nicht mit selbstgeschaffenen Träumen angefüllt, und sie trug Herrn von Werner, einem bewährten Freunde ihres Vaters, herzliches Vertrauen, selbst Zuneigung entgegen; dennoch fühlte sie, als sie ihr Jawort gab, daß sie damit Vielem entsagte, und die Stimmung, womit sie das elterliche Haus verließ, war keine freudige. Bald aber sollte sie ihr neues Leben lieb gewinnen. Die herzliche Zuvorkommenheit ihres Mannes verschönerte ihre Tage durch viele angenehme Stunden, das Bewußtsein, ihm sein Haus zum angenehmsten Aufenthalt gemacht zu haben, that ihr wohl, sein gebildeter Geist entwickelte den ihren, und sein unbeschränktes Vertrauen gab ihr Zuversicht zum Leben überhaupt. Nur vermißte sie zuweilen mit einem Gefühl von Unbefriedigung bei ihm die Theilnahme für manche Dinge, die einen Theil ihrer inneren Existenz ausmachten – vermißte eben unbewußt die Jugend mit ihrem lebhaften Gefühl, mit ihren süßen Uebertreibungen. Klar, wie ein Thautropfen, lag ihr ganzes Sein und Wesen immer vor dem Auge ihres Gatten, der in ihr den Schmuck seines Lebens sah, ohne jemals ihr und der Welt gegenüber aus der ruhigen Haltung zu kommen, die dem älteren Manne an der Seite einer jungen und schönen Frau so wohl ansteht.

Auf diese Weise waren sechs Jahre vergangen, als diese harmonische Existenz durch einen mächtigen Sturm bedroht ward. Emilie lernte Herrn von Welly kennen, und von dieser Zeit an wich der Friede aus ihrer Seele. Eduard von Welly war einer jener Menschen, denen oft zu begegnen eine gefährliche Sache für eine Frau ist, deren Herz nicht die Liebe zum Wächter hat. Ohne Rang und Vermögen hatte ihm doch seine anziehende Persönlichkeit, sein glänzender Geist und eine unübertreffliche Art sich zu benehmen in der geselligen Welt eine oft beneidete Stellung erworben. Verwöhnt, gesucht, umhuldigt wie eine schöne Frau, hatte ihn dennoch sein scharfer Verstand vor der Klippe lächerlichen Uebermuthes bewahrt, und obgleich der Strudel seines äußerlichen Lebens seine Tage ausfüllte, so war er durch dasselbe keineswegs befriedigt. Eine glühende, wandernde Phantasie, ein schwärmerischer Enthusiasmus, den er vor Aller Augen verbarg wie eine Lächerlichkeit, im Innern seines Herzens aber hegte und pflegte wie ein Paradies, fanden nirgends hinreichenden Stoff. Trotz mancher galanten Verbindungen war sein Herz nie ausgefüllt worden, und er war sich bewußt, in dessen Tiefe Schätze zu tragen, die kein Ungeweihter zu heben fähig war.

Emilie weckte zum ersten Male diese schlummernden Mächte in ihrer ganzen Kraft und Gluth. Sobald er sie sah, liebte er sie. Die klare Lauterkeit, die ihr ganzes Wesen umgab, die ruhige, anmuthige Heiterkeit, die einen Hauptzug ihrer Erscheinung ausmachte, gaben ihm ein süßes Gefühl von Glück und Befriedigung, so oft er in ihrer Nähe war. In der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft ruhte er in dieser wonnigen Empfindung aus wie ein Kind am Busen der Mutter, und forderte vom Leben und von Emilien nichts weiter, als häufig um sie zu sein. Bald aber wurde dies stille Gefühl durch eine Leidenschaft verdrängt, die durch keine Schranke gehemmt ward, selbst nicht durch das Bewußtsein, Emiliens Glück für immer zu untergraben.

Während der ersten Monate ihrer Bekanntschaft, wo Welly sich Emilien mit achtungsvoller Auszeichnung genähert hatte, wo weder Blick noch Wort, man könnte sagen, kein Gedanke seines Herzens ihr Bangigkeit einflößen konnte, überließ sie sich dem Zauber seiner Unterhaltung mit sorglosem Vergnügen. Zwar empfand sie von Anfang an ihm gegenüber eine instinctartige Scheu und Zurückhaltung, die einem weniger arglosen Herzen wohl eine Ahnung von Gefahr hätte geben können. Ihre Gedanken waren aber so entfernt von jedem Unrecht, die letzten Jahre, während welcher mancher vergebliche Versuch gemacht worden war, ihr Herz zu gewinnen, hatten ihr eine solche Sicherheit gegeben, daß sie voll Zuversicht auf ihr eigenes Gefühl geworden war. Ach, sie hatte vergessen, daß das Herz jenem alten Märchen gleicht, wo eine Prinzessin den tausendjährigen Schlaf schlafen muß, bis der Ritter mit der Springwurzel kömmt, die Pforte zu sprengen und sie zu erlösen. Gar Viele kommen gezogen mit dem Glauben zu siegen und finden sich getäuscht. Da endlich erscheint aber der Rechte, der den Zauber besitzt, vor dem die Thüren sich öffnen und der des Schlosses Schätze und der Prinzessin Hand gewinnt. Dies goldne Schloß, was ist es anders als das Herz mit seinen reichen Schätzen, und die Prinzessin drinnen ist die Liebe! Gar Mancher kann an die goldnen Pforten klopfen, fehlt ihm aber der Zauberspruch, der sie öffnet, so zieht er unbefriedigt heim. Aber wenn der rechte Ritter kommt, wenn seine Stimme ruft: Wach’ auf, um mir zu gehören! dann vermögen die alten süßen Wiegenlieder von Ruhe und Glück das erwachte Herz nicht mehr einzuschläfern.

Als Eduard Welly das erste Wort der Leidenschaft vor Emilie aussprach, taumelte sie vor sich selbst zurück, wie vor einem Abgrunde. Ach, Alles, was in ihr schlief, war vor dem Zauber dieser klangvollen Stimme schon längst erwacht, ohne daß sie es wußte, und als er ihr sagte, daß er sie liebte, fühlte sie an dem brennenden Entzücken, das sie umfaßte, welche Riesenschritte sie schon auf dem Wege der Leidenschaft zurückgelegt hatte, doch noch fand sie Kraft genug, ihm nicht zu zeigen, was in ihr vorging. Mit zitternden Lippen und fliegender Farbe, aber mit ernsten Worten hieß sie ihn gehen und nie wagen, ihr solche Worte zu wiederholen.

Er wagte es aber doch. So muthig sie sich zu beherrschen strebte, war ihm doch ihre Aufregung nicht entgangen. All ihre erzwungene Heiterkeit konnte die Blässe ihrer Wangen, die Müdigkeit ihrer Augen nicht verstecken, als sie ihm wieder begegnete. Er fühlte, er wußte, daß er geliebt ward.

Der Anblick dieser zarten Blume, die eben noch so hold geblüht und Jedermann mit den Düften ihres süßen Wesens erfreut hatte, und die nun wie gebrochen schien, hätte ein großmüthiges Herz zur Entsagung bestimmen müssen. Aber Eduard von Welly trug in sich ein Gegengewicht für all seine glänzende Liebenswürdigkeit, das um so furchtbarer war, als er die Geschicklichkeit besaß, [99] es zu verbergen – er war durch und durch Egoist. Kein schonenker Gedanke hielt ihn zurück, mit allen Waffen der Leidenschaft Emiliens widerstrebendes Herz zu bestürmen; in dem Uebermuthe seiner Liebe glaubte er sie für Alles, was sie um ihn leiden würde, entschädigen zu können. Er war nur zu sehr daran gewöhnt, die Frauen, denen er gehuldigt hatte, sich unter seinen Willen schmiegen zu sehen, und so hoch er auch Emilien stellte, zweifelte er doch keinen Augenblick daran, daß sie ihm gehören würde.

Die junge Frau rang indessen mit einer Angst, die sie nicht zu stillen vermochte. Zum ersten Male enthüllten sich ihr die schweren Geheimnisse des Gebens, die Tiefen des eigenen Herzens. Sie faßte nach allen Stützen, die ihr bisher Gleichgewicht gegeben hatten, fand aber jetzt nichts von allem dem, was bisher das Leben selbst für sie gewesen war. Fast alle jungen Herzen bereiten die Liebe durch viel goldene Träume in sich vor; der Mann, der diese knospenden Empfindungen aufblühen läßt, ist nur die bestimmte Form des heimlich gehegten Bildes, der ersehnte Messias, der das übervolle Herz zu erlösen kommt. Emilie war aber so jung, mit so unberührter Seele in die Ehe getreten, daß die erste Einsicht in die Geschichte des Herzens ihr nur durch Andere und erst zu einer Zeit kam, wo ihr klarer hochsinniger Geist sich der angewiesenen Lebensrichtung bereits freiwillig angeschlossen hatte. So mußte denn auch die Liebe, als sie plötzlich und ungerufen kam, alle Stützen ihrer Seele aus den Fugen reißen und sie in eine neue, furchtbare Welt schleudern. Sie fühlte mit schneidender Klarheit, daß die verhängnißvolle Stunde, die allen tieferen Menschen unter Kämpfen und Zuckungen schlägt, für sie gekommen war, daß es jetzt hieß: Stehen oder Fallen – ohne Widerruf. Eine furchtbare Angst ergriff sie. Sie wollte nicht unterliegen, wollte dem Bewußtsein des Rechtes und der Pflicht nicht entsagen – um jeden Preis wollte sie sich selbst treu bleiben, aber mit Grauen begriff sie nach einiger Zeit, daß ihre Kraft schwächer war als ihr Wille. Ihr noch wenig geprüfter Muth erschöpfte sich in dem Bemühen, Welly eine Kälte zu zeigen, die sie weder vor seinen Bestürmungen noch vor ihrem eigenen Herzen zu schützen vermochte.

Als sie anfing, an sich selbst zu zweifeln, suchte sie ihr Heil in der Flucht. Sie überredete ihren Mann, mit ihr der Einladung einer Bekannten zu folgen und einen Theil des Sommers auf deren reizend gelegenem Landsitze zu verleben.

Kaum hatte sie aber angefangen, den wohlthätigen Einfluß dieses Entschlusses zu empfinden und sich zu dem rettenden Verkehr mit ihren Gedanken fähiger zu fühlen, als auch Welly in dieses Asyl eindrang. Sein Erscheinen gab ihr mehr ernsten Muth, mehr Willenskraft, als alle eigenen Anstrengungen vermocht hatten. Ihr Zartgefühl war tief empört, und der Stolz eines unverdorbenen Herzens regte alle ihre Kraft zum Kampfe gegen eine Verfolgung auf, die sie tiefer zu stellen schien, als sie selbst in dem bittersten Bewußtsein ihrer Schwäche es je gethan hatte. Sie empfing ihn mit eisiger Kälte, und das verletzte Gefühl war kräftig genug, um den Gedanken an eine zweite Flucht gar nicht aufkommen zu lassen. Er sollte nicht denken, daß sie ihn fürchte!

Das unerfahrene Herz der jungen Frau traute sich aber größere Festigkeit zu, als es befaß. Der Einfluß seiner Nähe übte langsam, aber stärker als je, seinen verhängnißvollen Zauber, und Emilie widerstand zuletzt demselben nicht mehr. Zwar suchte sie sich stets mit gleicher Festigkeit jedem Alleinsein mit Welly zu entziehen und wich so jeder Erklärung aus, aber ihr Herz war todtmüde, ihre Kraft gebrochen, ihr Muth dahin. Ihr so ergebenes freundschaftliches Gefühl für ihren Mann verwandelte sich in Todesangst vor jedem leisen Zeichen der Zärtlichkeit, das von ihm kam. Unter der grausamen Aufgabe, ihre Aufregung unter einem Lächeln verbergen zu müssen, alle diese Thränen, die ihr das Herz schwellten, nicht weinen zu dürfen, brach ihre Gesundheit. Ihre Wangen erbleichten immer mehr, und ihre langen Nächte ohne Schlaf waren erfüllt von trostlosen Gedanken. Sie konnte das Bewußtsein nicht ertragen, daß ihr bisher so klares Leben jetzt nur eine Lüge war. Und dennoch waren die Thränen, die sie in jenen Nächten weinte, nicht die bittersten ihres Lebens!

Als Welly Monate vorübergehen sah, ohne trotz seiner Ueberzeugung von Emilien geliebt zu sein, ihr auch nur um einen Schritt näher zu kommen, als er sah, wie diese Frau, deren inniges Wesen er richtig beurtheilte, dennoch den Muth fand, ihm mit abweisender Kälte entgegen zu treten, erwachte in ihm der unbändige Stolz, die nachsichtslose Eitelkeit, die so oft die besseren Eigenlasten seines Herzens beherrschten.

Er veränderte sein ganzes Benehmen; kein Wort, kein Blick sagte ihr mehr, wie sonst, daß sie alle seine Gedanken ausfüllte; eine ruhige, gleichgültige Höflichkeit schien an die Stelle der bisherigen Leidenschaft getreten zu sein.

Dies brach ihren Muth. Mag ein Benehmen wie dieses ein noch so abgenutzter Kunstgriff sein, auf ein unerfahrenes Herz wird er doch niemals seine Wirkung verfehlen. Erst jetzt ward Emilie sich bewußt, welches nie eingestandene Glück die Gewißheit seiner Liebe ihr trotz Allem gegeben hatte. Die Qual, die sie bei dieser Veränderung empfand, stieg von Tag zu Tag mit einer Gewalt, die sie um alle Fassung brachte. Bald war sie dahin gekommen, daß ihr alles erträglicher schien, als noch länger diese klangvolle Stimme Andern zugewendet zu hören, diese dunkeln Augen an ihr vorüberstreifen und auf dem Antlitz anderer Frauen ruhen zu sehen. In der Verweiflung solcher Stunden hätte sie ihr Leben darum gegeben, sich ein Glück zurückzuerkaufen, das ihr doch nur Thränen gebracht hatte, so lange sie es besaß. In einer solchen Stunde war es auch, wo Welly einmal wieder die Maske fallen ließ, und ihrem wunden Herzen das Geständniß ihrer Liebe entriß, – ein Geständniß, das sich ihren Lippen entrang, wie der letzte Seufzer eines Sterbenden.

Die junge Frau verlebte eine schwere Nacht. Tausend Leiden, tausend Schrecknisse zeigten sich ihr, wenn sie vorwärts blickte. Jetzt, wo die Macht des Augenblicks ihren so ernsten Willen besiegt hatte, verließ sie das Vertrauen auf sich selbst so gänzlich, daß sie sich selbst verloren gab. Aber nicht lange blieb diese Muthlosigkeit Herr über sie. Noch einmal fragte sie sich, ob Rettung möglich sei. Sie dachte daran, ihrem Mann offen den Zustand ihres Herzens zu bekennen und ihn anzuflehen, sie weit, weit wegzuführen. Während sie aber diesen Vorsatz muthig ins Auge zu fassen suchte, erfaßte sie ein solches Grauen vor der Zukunft, daß sie verzagte. Sie fürchtete sich vor ihrem Manne, sie fürchtete sich vor sich selbst. Seit sie Welly hatte in ihr Herz blicken lassen, begriff sie die Möglichkeit nicht mehr, ihre Liebe zu tödten. Der Fluch, der jede verbotene Leidenschaft begleitet, erfaßte auch sie: ihre Begriffe von Recht und Unrecht verwirrten sich. Sie fragte sich, ob es denn wirllch ihre Pflicht sei, an der Seite ihres Mannes fortzuleben, während sie einen Andern so glühend liebte. Werner’s herzliche Freundlichkeit noch länger hinzunehmen, erschien ihr wie Treubruch und Verrätherei; ach, er war in diesem Augenblicke für sie nichts mehr als ein Verbot, das gebieterisch zwischen ihr und ihrem Glücke stand. Wie sollte sie an seiner Seite bleiben, während jeder Gedanke ihres Herzens ein Diebstahl an seinen Rechten war? wie sollte sie hoffen, ihn noch glücklich zu machen, wenn er einmal wußte, daß sie keinen Gedanken mehr hatte, der für ihn war?

Nein, diese Zukunft schien ihr unmöglich! Die Sophistik ihrer Leidenschaft nannte sie sogar verbrecherisch. Noch keine Erfahrung hatte sie gelehrt, daß die Qual, die in ihrer vollen Kraft ewig und unerschöpflich scheint, nichts Anderes ist als eine hohe Woge des Lebens, daß selbst die Liebe vergänglich ist in all den Beziehungen, die sie zur Leidenschaft ausprägen. Aber diese furchtbaren Zweifel, diese tiefen Irrthümer waren dennoch nicht fähig, ihre Seele ganz zu vergiften. Auch nicht einen Augenblick kam ihr der Gedanke ihren Mann zu hintergehen. Aber es gab einen Ausweg, und ihre vom Sturm umhergeworfene Seele klammerte sich mit der letzten Kraft an denselben an. Wenn es ihr gelänge, sich Freiheit zu erringen! Wenn sie mit dem Opfer der glänzenden Aeußerlichkeiten ihres Lebens sich das Recht erkaufen könnte, wenigstens ihre Gedanken, wenn auch nicht ihre Handlungen von der schweren Pflicht zu lösen, – wenn sie ihren Mann dazu bestimmen könnte, in eine Scheidung zu willigen!

Freiheit! Süßer Gedanke voll Hoffnungen, die sie sich nicht einzugestehen wagte, die aber doch in ihrer Seele aufdämmerten! Und wenn es auch keine andere Zukunft gab als die, ungestört weinen zu dürfen, so schien ihr dies schon ein Paradies gegen die Aufgabe, ein ganzes Leben hindurch ihre Liebe zu bekämpfen und die Wahrheit zu verleugnen.

Als dieser Gedanke Besitz von ihr genommen hatte, ward sie ruhiger. Es schien ihr, als dürfe sie endlich ihr Herz freisprechen, als habe sie den Weg gefunden, der sie wieder mit sich selbst versöhnen konnte. Ach, ein Weg voll Dornen und Abgründe!

[100] Als sie am nächsten Morgen in den gewohnten Kreis eintrat, schwindelte ihr. Alles schien verändert, alles von geheimnisvoller Unruhe und Unstätigkeit befangen. Sie selbst war so anders geworden seit gestern, freiwillig hatten ihre Gedanken ihre ganze Lebensrichtung umgestürzt, und es war nicht der Alp einer schweren Stunde gewesen, nein, noch jetzt im Lichte des Tages, im Angesichte der Menschen hielt ihr Wille dies Alles fest. Als sie Welly erblickte, drohte alle Fassung sie zu verlassen. Er sah, wie sie kämpfte, und zog sich gleich nach der Mahlzeit in sein Zimmer zurück, um Briefe zu schreiben, wie er hinwarf.

Seine Entfernung hob aber nur einen kleinen Theil des Gewichtes, das auf Emiliens Brust lag. Noch war ihr Mann da, dessen Blicke sie stets von Neuem erbleichen, dessen unbefangenste Worte sie zittern machten; noch waren alle die Andern da, die sie fürchtete wie argwöhnische Feinde. Um sich eine einsame Stunde zu sichern, sprach sie die Absicht aus, ihre Mappe mit einem der schönen Punkte zu bereichern, die der anmuthigen Gegend so viel Reiz gaben, und ungestört, wie man wußte, daß sie es bei solchen Anlaß liebte, schlug sie ihren Weg nach der Mühle ein.

(Fortsetzung folgt.)

Bilder aus dem Kaukasus.[1]
Nr. 1
Auf dem Bazar von Eriwan.

Nachdem wir bald in der mit Felsen wie besäeten Steppenfläche angekommen waren, deren Einförmigkeit durch hindurchgezogene Canäle und tatarische Dörfer und Gehöfte wenig unterbrochen wurde, ging es ziemlich rasch auf Eriwan, den Hauptort des russischen Armenien, vorwärts. Die Stadt selbst konnten wir wegen eines vor sie hingelagerten Felsenzuges erst sehen, als wir an das Thor gelangten, doch hielt uns dafür zuerst der als öder Kegel aufsteigende, mit ewigem Schnee bedeckte Akagös, dann aber, nachdem wir die Felsenhöhe von Eriwan erreicht hatten, der große 16254 Fuß hohe Ararat schadlos. Von der grandiosen Majestät, mit der sich dieser Bergriese aus der unabsehbaren Steppenfläche erhebt, vermag kaum ein ausgeführtes großes Farbenbild eine genügende Vorstellung zu geben. Wir halten dazu das Glück, diesen weltberühmten Bergkegel in der günstigsten Herbstbeleuchtung zu sehen, bei der allein es möglich ist, ihn bis zum Gipfel mit voller Schärfe und Klarheit zu überblicken, denn in den andern Jahreszeiten lagern entweder dichte Wolkenmassen, welche ihn wie ein ungestalteter Gürtel umgaben, um die Gegend der Schneelinie, oder es umflattern leichte, weiße Gewölle die zierlich in den Aether sich aufbauende Spitze und beeinträchtigen dadurch den Totaleindruck.

Ich hatte von dem Staatsrathe Grafen Salagub Briefe an den Gouverneur, bei dem ich wohnen sollte, und der mich auch später mit einer solchen Gastlichkeit empfing, daß er mich in Wahrheit sein Haus wie das meinige ansehen ließ. Doch während meines ersten Aufenthaltes in Eriwan trafen wir ihn nicht daheim, weshalb Tscherkow, der Flügeladjutant des Kaisers, mein liebenswürdiger Reisegesellschafter, mich zu dem Prinzen Emil von Sayn-Wittgenstein mitnahm, dem er mich ohne Weiteres vorstellte, obgleich ich noch in meinen unförmlichen Reisepelzstiefeln stak und überhaupt nicht so angethan war, wie es nach europäischen Begriffen für eine erste Staats-Visite unumgängliches Erforderniß ist. Der Empfang war trotzdem ein sehr wohlthuender und vielleicht um so mehr, je weniger das conventionelle Ceremoniell hierbei gewahrt wurde, denn auch der Fürst erschien in weiten Morgenbeinkleidern und einer rothen Jacke. Fieber und Reisestrapazen hatten mich so angegriffen, daß ich mich bald in das mir eingeräumte Schlafzimmer begab, dessen große Spiegel, Mahagonimöbel, schwere Teppiche und Vorhänge wenig an den Kaukasus erinnerten. Nur in dem Bettgestell befanden sich nach hiesigem Gebrauche keinerlei Betten, das harte Holz war Alles, worauf auch ich hätte liegen müssen, wenn ich mit Decken und Kissen nicht selbst versehen gewesen wäre.

Eriwan lernte ich bei diesem ersten Besuche wenig kennen, da ich eilte, in das nahe türkische Gebiet zu gelangen, um möglichst ungestört durch Kriegsgetümmel meine Studien zu machen. Der Fürst, Oberst des Regiments, das vor Bajaset stand, der Adjutant des Gouverneurs und mehrere Andere schlossen sich von Eriwan aus der Expedition an. Da sie zu Pferde reisen wollten, so fuhr ich in meiner Civilkleidung im Tarantast allein voraus und hatte dadurch wieder das Schicksal, Ursache einer komischen Verwechselung zu werden. Die hundert Mann Escorte nämlich, welche dem Prinzen und Tscherkow das Geleit zu geben bestimmt waren, Perser und Tataren in ihren reichen und malerischen Parade-Costümen, darunter Beys und andere Große, hielten mich für den geheimen Oberen unserer ganzen Gesellschaft und umritten auf ihren prächtig aufgeschirrten, flinken Pferden stundenlang meinen Wagen, in welchem ich mich behaglich ausdehnte. Bald kam der, bald kam jener salutirend herangesprengt, und da ich der Sprache nicht mächtig war, so mußte ich mir wohl oder übel die mir widerfahrene Ehre gefallen lassen. Auch war der Anblick der wilden, echt orientalischen Cavalcade für mich als Maler viel zu interessant, als daß ich ihn durch eine voreilige Bescheidenheit unterbrechen konnte. Der Kutscher mit dem ehrwürdig langen Barte und mein verschmitzter Kosak drehten sich wohl einmal mit halbem Lächeln nach mir um, doch wagten sie nicht den Irrthum zu heben und die mir erwiesenen Ehrenbezeigungen dem nachgehenden Fürsten zuzuwenden, dem sie ohne Zweifel viel zu lästig waren, um sie mir nicht zu gönnen.

Wir lassen das Weitere der Reise nach Bajaset unsern Gewährsmann in einer spätern Nummer erzählen und begleiten ihn dafür nach seiner Rückkehr nach Eriwan auf seinen Ausflügen durch die Stadt. Noch vor der Stadt sollte er zu einem Reisegefährten kommen, dessen Bekanntschaft ihm nützlich ward. Er erzählt:

Beim Souper wurde mir ein Armenier vorgestellt, der fließend französisch sprach, angeblich in Marseille gewesen war und, nachdem er den französischen Consul von Tiflis bis zur türkischen Grenze begleitet hatte, sich jetzt in ziemlich armseligen Verhältnissen auf dem Rückwege nach Tiflis befand. Ich nahm den armen Teufel mit in meinen Wagen, da ich mir von ihm, wenn auch nicht gerade die beste Gesellschaft, doch allerlei gute Dienste versprechen durfte. Er war der Landessprache nicht blos mächtig, sondern auch in den feineren Verkehrskünsten seinen Landsleuten gewachsen, so daß ich mit ihm reisend die Hoffnung hatte, weniger geprellt zu werden. Schon die erste Nacht war er mein Stubencamerad, und da entdeckte ich denn auch bald, weshalb manche seiner Bewegungen etwas genirt gewesen waren. „Der Zahn der Zeit hat Ihnen den Boden aus Ihren Unaussprechlichen genagt,“ bemerkte ich ihm. „Ach was!“ versetzte er mit gutem Humor auf meine Bemerkung ein gehend, „sitzen die Zähne der Zeit auf den Rücken der Kameele? Das Reisen und Rutschen auf diesem Wüstenschiffe ist schuld, ich bin leider nicht im Besitz eines besseren Paares, sonst würde ich denselben jetzt den Vorzug geben, selbst meine Wäsche ist gedunkelt, Herr Maler, aber große Geister stört das nicht.“ Damit wünschte er mir gute Nacht. Doch was mußte ich an meinem drolligen Armenier erleben, als es 12 Uhr war? Er erhob sich, zündete

[101]

Basar von Eriwan mit der großen Moschee und dem Ararat.
Nach der Natur aufgenommen von Paul Franken.

[102] Licht, dann – eine Pfeife an und rauchte zwei Stunden. Keine Protestation half. Das sei seine Gewohnheit, betheuerte er mir, er könne nicht leben, wenn er um diese Zeit nicht rauche, ich müsse mir das schon gefallen lassen. „So rauche denn“, erwiderte ich ihm, „doch lösche das Licht aus, damit ich schlafen kann.“ „Herr Maler,“ war seine Antwort, „sie sind kein Raucher, sonst würden Sie wissen, daß man den Dampf auch sehen muß, wenn die Pfeife ein Genuß sein soll.“ Ich ließ ihn nach diesen Argumentationen gewähren und lag bald in gutem Schlafe, war ich doch wieder in Eriwan.

Der erste Eindruck, den diese ehemalige Hauptstadt von Persisch-Armenien macht, ist kein günstiger; die Straßen sind ungepflastert und schmutzig, die Häuser klein und niedrig und noch dazu hinter zaunartigen, lehmfarbigen Mauern versteckt. Kommt man jedoch aus den Ebenen des Araxes oder den eintönigen Weg von Nakschirwan heraus, welches als Grenzort gegen Persien zwei Tagereisen weit nach Südosten liegt, so empfängt man in dem Anblick der in vielen Abtheilungen am Fuße einer Hügelreihe zwischen Gärten herumliegenden Stadt einen sehr wohlthuenden Eindruck, wiewohl der Ruf ihrer Unüberwindlichkeit sich in keiner Weise bestätigt. Die eigentliche Veste ist einige hundert Schritt von der Stadt entfernt und wird an der einen Seite als schroffer Fels von der Sanga bespült, wogegen sie auf der andern nur einen trocknen Graben und eine doppelte Reihe von Erd- und Lehmwällen besitzt, welche durch eine vierundzwanzigstündige tüchtige Kanonade der Erde gleich gemacht werden könnten. Doch hat der dreimalige vergebliche Sturm der Russen, die hier den siebenzigjährigen, aber höchst tapfern Hussein Khan sich gegenüber fanden, sehr viel zu diesem Rufe beigetragen, zumal dem Sieger Paskjewitsch darnach der Name Eriwansky ward. Wo früher die alten Sadare der Grenze in orientalischer Pracht zu schwelgen pflegten, ist von den Russen jetzt ein Lazareth bestellt. Nur ein einziger gewölbter großer Saal, der allerseits mit Spiegelglas ausgelegt ist, erinnert durch seine Bildnisse vieler berühmter persischer Schah’s und Heerführer, sowie durch Wandverzierungen anderer Art, seine rothseidenen Vorhänge und runden, farbigen Glasscheiben an die vormalige Größe seiner Bewohner. Eriwan hat jetzt etwa 15,000 Bewohner.

Am andern Morgen war mein Armenier noch mit einigen Künsteleien beschäftigt, durch die er seine Rockschöße veranlassen wollte, den Schaden, welchen seine Pantalons auf dem Kameelrücken davon getragen hatten, freundnachbarlich jedem neugierigen Auge zu entziehen, als ich mich schon auf den Bazar von Eriwan begab. Die Bazars großer Städte sind meist die Brennpunkte des orientalischen Lebens und zeigen dasselbe in seiner originellsten Weise. Nicht selten sind es vielfach verzweigte bedeckte Passagen, zu deren beiden Seiten Bilden, Schuppen, Magazine und Kaffeehäuser hinziehen, und in denen Alles, was zum Lebensgenuß und Lebensverkehr gehört, zum Verkauf aufgestapelt ist. Die Buden sind eng und schmal; vor ihnen sitzt der Verkäufer mit untergeschlagenen Füßen, die Pfeife im Munde, das Wasserrohr zur Seite. Die Magazine enthalten die verschiedenartigsten Waaren. Eine Menschenmasse treibt sich den ganzen Tag auf dem Bazar herum und liefert die anziehendsten Motive für den Pinsel des Malers. Bey’s und Aga’s in reicher Kleidung, den reichverzierten Säbel an der Seite, den von Diamanten blinkenden Dolch im Gürtel, begeben sich in die Kaffeehäuser, um sich auf die vor denselben ausgebreiteten Divans niederzulassen und rauchend und Kaffee schlürfend einen Theil des Tages zu verplaudern. Hier, sowie nicht selten in den nahegelegenen Moscheen werden auch ganz im Stillen die Revolutionen und Angriffe verabredet, die plötzlich losbrechen und den Orient in Verwicklungen aller Art stürzen. Innerhalb der großen Bazars hat jede Art von Handel und Gewerbe ihr besonderes Viertel. Hier die Waffenhändler mit den schönsten Säbelklingen von Khorassan, dort die Goldschmiedearbeiten, die Juweliere mit Perlen und geschliffenen Steinen, da die Sattlerarbeiten, Sattel in allen Farben und reichster Verzierung, kostbare Schabracken, Zäume und Halsriemen mit Troddeln und endlich außer vielem Anderen die Buden der Eßwaarenhändler.

Der Bazar von Eriwan unterschied sich wesentlich von dem von Tiflis und nahm mein Interesse im höchsten Grade in Anspruch, sowohl wegen der malerischen Motive, an denen er überreich ist, als auch wegen der ganz vorzüglichen Früchte, die hier feil geboten wurden. Mehr als durch die unvergleichliche Augenweide wurde ich durch den über alle Beschreibung süßen und aromatischen Geruch entzückt, den die hoch in Körben und auf dem Boten aufgestapelten Pfirsichen und Melonen (Dutma), verbreiteten. Es ist viel gesagt, aber wahr, daß ihr Duft trotz der vielerlei unangenehmen Dünste dieses, wie wohl jedes Bazars, der vorherrschende war und mich noch mehr, als ihr liebliches Aussehen, zu verlocken drohte, den dringenden Warnungen meines Freundes Hofrath Dr. Roth in Tiflis ungehorsam zu werden und diese für den Fremden so gefährlichen Leckerbissen zu versuchen. Doch ich widerstand den Versuchungen siegreich und freute mich der Pracht der herrlichen Früchte. Trauben zur Kelterung werden hier, wo der Islam dem Weinbau entgegen ist, nur wenig gezogen; was ich sah, waren Tafeltrauben, aber welche Trauben! Jede Beere groß wie eine Pflaume und in allen Farben: weiß, gelb, violett, röthlich, schwarz und von der zartesten, wie mit Duft und Schmelz überzogenen Haut. Dieses herrliche Obst bildet mit einem trefflichen Brode die Hauptnahrung der Bevölkerung von Eriwan. Schwerlich kommt auf die Tafeln unserer Fürsten so liebliches Obst. Das Brod ist dem jüdischen Osterkuchen ähnlich, aber wohlschmeckender, weil es gesalzen und frisch genossen wird.

Der Prinz und Tscherkow, welche auch auf dem Bazar lustwandelten, theilten meine Ueberraschung über das mannigfaltig Interessante des Platzes. Wir mischten uns unter die Gruppen, um sie ungestörter belauschen zu können. Hier Schmaußende, die für ein oder zwei Pfennige nach unserem Gelde ihre Mahlzeit einkaufen; zuerst ein flaches, frisches Brot, dann etwas Obst, das sie malerisch und oft sogar anmuthig daher trugen, um es in irgend einem Winkel niedergekauert zu verspeisen; dort Plaudernde, mit einem Eifer, einem Gebehrdenspiel und einer so lebhaften Gesticulation Plaudernde, als handele es sich um das Heil der Welt; dort Handelnde, denen man ansah, daß, wie bei uns, Käufer und Verkäufer nur darauf bedacht waren, einander gegenseitig zu übervorteilen; da endlich ganze Haufen Indifferenter, Indolenter, Schlafender. Die Buntheit des Marktgewühls wird um so vorstellbarer, wenn ich hervorhebe, daß nicht blos die Früchte und Landeserzeugnisse ziemlich der ganzen Levante auslagen, sondern auch die interessantesten orientalischen Stämme in ihren echten Nationalcostümen vertreten waren, besonders Armenier, Türken und Perser, die zum Theil Eriwaner waren, dann viele Tataren und Kurden, welche das Bedürfniß eines Marktes zum Einkaufen und Verkaufen hergezogen hatte. Eine Kurdenfamilie bot Schafe aus, unter denen ein prächtiges, schwarzes Thierchen, ein sogenanntes Astrachanschaf, besonders ausgezeichnet war. Ich fragte nach dem Preise und erfuhr, daß es sechzig Kopeken, also etwa zwanzig Silbergroschen, kosten solle, während das herrliche Fell allein bei uns mehrere Thaler werth sein würde.

Ich hatte mehr malerische Motive gesehen, als ich zeichnen konnte, und schlenderte deshalb am andern Morgen sofort wieder auf den Bazar. Mein Armenier begleitete mich und führte mich in ein türkisches Kaffeehaus, das sich aber von denen in Constantinopel, die jeder Reisende kennt, wenig unterscheidet. Der edle Trank wird schwarz genommen, die Türken verspeisen auch den Bodensatz und rauchen dazu, meist in stumpfsinnigem Hinbrüten, ihren Stambulk oder Papier-Cigarren. Neu war mir das Innere des Bazars, wo mehr die täglichen Bedürfnisse an Kleidern und Haushaltungsgegenständen auslagen und wo ich meinen Plan ausführen konnte, mir einige echt türkische, tatarische und andere Waffen und Nationalcostüme zu erhandeln, sowohl um sie vor der Hand selbst zu tragen, als um sie für meine Costüme-Sammlung später mit nach Europa zu entführen. In einem Pelzladen erhandelte ich um ein Geringes eine persische und tatarische Pelzmütze, die mir auf meinen späteren Reisen über den Pontus und durch Rußland vortreffliche Dienste geleistet haben; in einem Kurdenzelte echt türkische Jacken, Pantalons, Stiefeln und einen Turban, der, von dem türkischen sehr verschieden, eine zuckerhutähnliche weiße Filzmütze ist, bis an die Spitze mit farbigen Tüchern umwunden. Mir fehlte noch ein Aba, ein Kurdenmantel, und da ich nach einem nagelneuen kein Verlangen trug, weil die steif sind wie Pappe und sich nicht zu malerischer Drapirung eignen, so sah ich mich nach einem schon getragenen um. Und glücklich sehe ich sofort einen Kurden, der einen Mantel trug, wie für eine Costümkammer gemacht, mit einem Armenier im eifrigen Gespräche nahe vor mir. Mein Begleiter mußte ihn fragen, was der Mantel koste. Der Kurde sah uns aber nicht an, und unterbrach sein Gespräch [103] nur dadurch, daß er auf meine Frage „Vier Rubel!“ antwortete. Mein Begleiter versetzte: „Der ist zu theuer, drei Rubel ist genug.“ „Nein, vier!“ war die lakonische Antwort, worauf ich ihm vier Rubel hinreichte. Sie nehmen, prüfen und einstecken, war Eins, und sein Gespräch in eifriger Weise fortsetzend, knöpfte er oben vom Halse den Mantel los, daß er ihm von den Schultern in den Staub glitt. Ich glaube, daß er hieraus auch nicht die geringste Notiz mehr von uns nahm. Langsamer und fast majestätischen Schrittes strich er mit seinem Begleiter zwischen den Kramläden weiter dahin, und wollte ich meinen Mantel haben, so mußte ich ihn selbst vom Boden aufheben. Das that ich dann, reinigte ihn vom Staube und – noch jetzt trage ich das bequeme, warme Kleidungsstück, wenn der rheinische Herbstnebel ernsthafteren Schutz nöthig macht, als ihn ein – deutscher Schlafrock leistet.

Es war Morgens gegen elf Uhr, also die Zeit des zweiten Frühstücks herangekommen, und mein Armenier und ich verspürten dies um so mehr, als uns aus den Garküchen des Bazars ein besonders leckerer Fleischgeruch entgegenkam. Wir machten also Halt und traten an einen der aus Latten und Schilf errichteten Läden, vor denen das Heerdfeuer stets im Gange erhalten wird.

„Macht uns Kebab,“ redete ihn mein Begleiter an, „und gebt uns dazu frisches Brod!“ Geschäftig, aber ohne eine Miene zu verziehen, machte sich der Wirth sofort an das Werk; er war Perser, die Mütze, die er amtsmäßig auf dem Kopfe zurecht schob, war die hohe Persermütze, dann strich er den ebenso wie seine Fingernägel zinnoberroth gefärbten Bart, wusch die Hände und trocknete sie auf’s Sorgfältigste. Aus einer neben ihm stehenden Schüssel nahm er nun das schon zu haché zerhackte und gewürzte Schaffleisch, formte es mit großer Virtuosität zu zwei Finger langen und zwei Finger breiten Stücken und faltete deren etwa je zehn um messerklingenartige Eisenstäbe. Diese legte er über die Steinwände seines Holzkohlenfeuers und während er sie mit der Rechten fleißig hin und her wendete, damit der Kebab auf allen Seiten gleichmäßig gar werde, wedelte er mit einem Fächerchen, das er in der linken Hand hielt, den Dampf des in die Kohlen träufelnden Fettes bei Seite, um jeden brandigen Beigeschmack zu verhüten. In einigen Minuten war der Kebab fertig und wurde uns, auf frischgebackenes Brod gelegt und mit dem säuerlichen Granatenpulver leicht bestreut, zum Verspeisen hingereicht. Wir aßen mit bestem Appetit und nach Herzenslust und ich glaubte, nie etwas Leckereres als Frühstück gehabt zu haben. Bei solchem Kebabmahle aus der Faust dient das Brod nicht blos mit als Speise und als Teller, sondern endlich auch als Serviette, um Mund, Bart und Hände vom Fett zu reinigen. Wer nichts umkommen lassen will, verspeist zuletzt dann also noch Teller und Serviette. Wir aber hatten überhaupt mehr all dieser guten Sachen erhalten, als wir trotz ihres Wohlgeschmacks und unseres Appetites genießen konnten; es blieb noch ein gut Theil übrig, und trotzdem hatte ich nicht mehr als nach unserm Gelde einige Pfennige zu verspeisen gehabt. „Wollt Ihr nun nicht auch noch Ploff?“ fragte der Garkoch und zeigte auf eine Schlüssel mit einer Reisspeise, die auch nicht unappetitlich erschien. Wir dankten aber und setzten unsere Streifereien fort.

Auf einer Ecke des Bazars hatte ein Mirza Posto gefaßt, ein ähnlicher öffentlicher Schreiber wie Bodenstedt’s Mirza Schaffy und kaum unbedeutender als Schaffy, den ich sehr wohl gekannt habe und von dem man in Tiflis so wenig Notiz zu nehmen Ursache hatte, daß er starb und begraben wurde, ohne daß auch nur ein Hahn danach krähte. Wird dem Bodenstedt’schen Schreiber Schaffy ein Platz in der Literaturgeschichte eingeräumt, so wisse also hiermit Jedermann, daß auch dieser Platz Niemandem gebührt, als dem geistreichen Bodenstedt, der den armseligen Schaffy nur benutzt hat, um seine Zuckersachen, die oft über scharfe Pfefferkörner gebacken sind, scheinbar anspruchsloser auf unsern Markt zu bringen. Der Mirza auf dem Bazar von Eriwan trug zum Zeichen, daß er schon nach Mekka gewallfahrtet war, einen grünen Turban und schien überhaupt ein Mann von Welt, denn er hatte in mir gleich den weither gekommenen Ausländer erwittert, lächelte mir freundlich zu und winkte mich endlich an seinen Schreibladen heran. Was er ausbot an Schriftstücken, blieb mir unverständlich, weil es türkisch oder arabisch war, hauptsächlich Koransprüche und einige Lieder. Auch sein russisches Kauderwälsch konnte ich nur mit Mühe verstehen, weshalb ich mich bald von ihm losmachte und in seiner Nähe einen geeigneten Punkt zum Zeichnen aufsuchte. Aber war mir meine europäische Kleidung schon lästig, weil sie die Augen des neugierigen Volkes reizte und mich bei den Vornehmen als hohen Beamten erscheinen ließ, so war mein Zeichnen jetzt vollends Anlaß, daß ich gleich einem Verkäufer umlagert war und vor der Unmasse gaffenden Volkes nicht den geringsten Blick auf die Gegenstände frei hatte, die ich zeichnen wollte. Zum Glück trieb sich auch mein Kosak auf dem Bazar herum. Ich winkte ihn heran und ließ mir von ihm, wie man sich wohl sonst die Mücken verscheuchen läßt, wenigstens so viel freien Raum machen, daß der Blick auf den entfernten Markttrouble, die Festung und den Ararat im Hintergründe frei wurde.

Nachdem ich schließlich noch ein Pulverhorn gekauft hatte, und einen großen Kindschall oder Dolch, persische Strümpfe, Stiefelchen und allerliebste Damenpantöffelchen, ging ich mit meinem Armenier in das Hotel des Gouverneurs zurück. Eben setzte man sich zur Mittagstafel, und mein Armenier zeigte, daß trotz des Kebabs sein Appetit wieder ganz vortrefflich war.


Erlebtes in Friedensjahren und Kriegsmonaten.
Von Fr. Annecke.

Die nachfolgenden Skizzen umfassen Erinnerungen und Erlebnisse aus einem elfjährigen Friedensdienst in der preußischen Armee, der in die dreißiger und vierziger Jahre fällt, und aus dem kurzen, unglücklich pfälzisch-badischen Revolutions- oder Reichsverfassungs-Feldzuge im Jahre 1849. Der Verfasser hat sich bei diesen Aufzeichnungen streng an die Wahrheit gehalten, indem es ihm nicht darum zu thun war, den Lesern dieser Blätter eine aus Wahrheit und Dichtung zusammengewebte Anekdotensammlung vorzulegen, sondern die Absicht ihn leitete, einem größern Publicum ein treues Bild von Zuständen und Vorgängen zu geben, über welche, so sehr sie auch das allgemeine Interesse in Anspruch nehmen, seines Wissens noch niemals mit der Ausführlichkeit und rücksichtslosen Wahrheitstreue geschrieben worden ist, wie sie der Gegenstand verdient. Manches mag dem Leser übertrieben erscheinen, aber es ist nichtsdestoweniger buchstäblich wahr. Ich mache dabei jedoch auf den Umstand aufmerksam, daß die Erinnerungen, so weit sie die Zustände der preußischen Armee betreffen, aus den Jahren 1835–40 stammen und in allen ihren Details nur auf diejenigen Kreise jener Armee passen mögen, denen ich damals angehörte. Seit jener Zeit mag sich Vieles geändert haben. Was die Form meiner Auszeichnungen betrifft, so habe ich statt einer systematischen Abhandlung, die vielen Lesern langweilig sein würde, die ungebundene Form einzelner Skizzen, Schilderungen, Beschreibungen und Erzählungen gewählt, die ich ohne irgend welche logische oder chronologische Ordnung in bunter Reihe auf einander folgen lasse. Ich hoffe, daß es mir dadurch gelingen wird, allen Lesern den Gegenstand genießbar zu machen, ohne seinem Inhalt und Zweck Abbruch zu thun.

1. Der „verehrte Herr“.

Gegen Ende der dreißiger Jahre wurde in K. ein Garnison-Auditeur angestellt, der bei dem Officiercorps nur unter dem Namen „der verehrte Herr“ bekannt war. Dieser Name wurde ihm deshalb beigelegt, weil er die Subalternofficiere nie anders, als mit dem stereotypen Titel „verehrter Herr“ anredete. Die preußischen Militair-Auditeure vereinigten damals in ihrer Person die dreifache Function des Untersuchungs- oder Verhörrichters, des Anklägers und Vertheidigers. So verschiedenartige und sich widersprechende Funktionen zu erfüllen, ohne wenigstens die eine oder die andere derselben über’s Knie zu brechen, dazu gehören jeden falls ausgezeichnete Juristen und ausgezeichnete Menschen, Männer von gründlichen Kenntnissen, scharfem Verstande, tiefem Rechtsgefühl und unbefangenem Urtheil. Unser „verehrter Herr“ besaß diese Eigenschaften nicht, wie ich denn überhaupt unter denjenigen [104] preußischen Auditeuren, die ich kennen gelernt, keinen gefunden habe, der seiner schwierigen Aufgabe gewachsen gewesen wäre. Der „verehrte Herr“ betrachtete sich lediglich als Inquisitionsrichter und Ankläger. Er hielt jeden Angeschuldigten, wie das bei dem Inquisitionsverfahren so häufig der Fall ist, von vorn herein für einen Verbrecher und erkannte seine Aufgabe darin, möglichst viel aus den Angeschuldigten heraus und in sie hinein zu inquiriren und Alles, was ihm in die Hände fiel, wo möglich zu spießen, zu köpfen oder zu hängen. Mancher arme Teufel, der nichts verbrochen hatte, hat Monate lang in Untersuchungshaft sitzen müssen, blos damit der „verehrte Herr“ sein Inquisitionstalent an ihm üben konnte.

Alle Vergehen und Verbrechen preußischer Soldaten, Officiere und Militairbeamten, welcher Natur sie auch sein mochten, wurden ausschließlich von Militärgerichten abgeurtheilt. Für diejenigen Mitglieder der Armee, welche nicht Officierrang hatten, gab es zwei Classen von Gerichten, Standgerichte und Kriegsgerichte, für Officiere und ihnen im Range gleichstehende Militairbeamten nur Kriegsgerichte. Das Standgericht bestand aus je zwei Mitgliedern jeder Charge, von der des Angeklagten an aufwärts bis zu der des Oberlieutenants einschließlich, und hatte einen Capitain zum Präsidenten, das Kriegsgericht für Soldaten und Unterofficiere aus je drei Mitgliedern jeder Charge bis zu der des Capitains einschließlich, mit einem Major als Präsidenten. Kriegsgerichte für Officiere waren in derselben Art, wie die für Soldaten und Unterofficiere, zusammengesetzt und standen, je nach der Rangstufe des Angeklagten, unter Vorsitz eines Stabsofficiers oder Generals.

Die Standgerichte hatten über geringere Vergehen abzuurtheilen, deren höchstes Strafmaß nicht über die verschiedenen Classen des Militairarrestes – es gab gelinden, Mittel- und strengen Arrest – und dessen längst vom Gesetz erlaubte Dauer hinausging, die Kriegsgerichte über alle schwereren Vergehen und Verbrechen. Die Präsidenten und Beisitzer dieser Gerichtshöfe wurden von den „Gerichtsherren“ – je nach Umständen die Regimentscommandeure, Divisionsgenerale oder Festungscommandanten –, denen auch die Bestätigung des Urtheils oblag, oder vielmehr von deren Adjutanten für jeden einzelnen Fall commandirt.

Das Gerichtsverfahren war folgendes. Nachdem der Auditeur die inquisitorische Untersuchung geschlossen, rapportirte er darüber dem Gerichtsherrn, worauf dieser je nach Umständen ein Stand- oder Kriegsgericht verordnete. War das Gericht versammelt, so vereidigte der Auditeur die Richter und las in Gegenwart des Angeklagten die Untersuchungsacten vor. Der Präsident richtete dann nach einem alten Herkommen an den Angeklagten die Frage, ob er noch etwas zu seiner Vertheidigung anzuführen habe. Es läßt sich leicht denken, daß von diesem beschränkten Vertheidigungsrecht, und ein anderes existirte nicht, bei der Unfähigkeit der meisten Angeklagten, eine Rede zu halten, bei ihrer Unkenntniß der Acten und dem gänzlichen Mangel an Vorbereitung fast nie Gebrauch gemacht wurde. Ich habe manchen Stand- und Kriegsgerichten beigewohnt, habe aber nur ein einziges Mal erlebt, daß ein Angeschuldigter sich der Vertheidigungs-Erlaubniß bediente. Der Fall war dieser: Ein liederlicher Kanonier hatte seine Schuhe an einen Cameraden verkauft und den Erlös verjubelt. Er wurde deshalb zur Untersuchung gezogen und auf Grund eines Paragraphen der „Kriegsartikel“, wie das preußische Militair-Strafgesetzbuch genannt wurde, verurtheilt. Der untersuchende Auditeur – es war nicht der „verehrte Herr“ – wußte aus dem preußischen Landrecht, welches für den Soldaten ebenfalls Gültigkeit hatte, so weit es den Kriegsartikeln nicht widersprach, daß, wo ein strafbarer Verkauf vorliegt, in vielen Fällen auch der Kauf strafbar ist. Er zog deshalb den Käufer der Schuhe ebenfalls zur Untersuchung. Als derselbe nach Vorlesung der Acten von dem Präses des Standgerichts in üblicher Weise gefragt wurde, ob er noch etwas zu seiner Vertheidigung anzuführen habe, erwiderte er: „Ja, Herr Hauptmann, ich habe ja nicht gewußt, daß ich die Schuhe nicht kaufen durfte; er sagte mir, er brauchte sie nicht, und ich hatte sie verdammt nöthig.“ Der Angeklagte wurde nach dieser kunstlosen Rede freigesprochen, obschon der Auditeur ihm gern einige Wochen Arrest anhängen wollte.

Hatte nun der Angeklagte entweder seine Vertheidigungsrede gehalten oder nichts zu seiner Vertheidigung anzuführen gewußt, so wurde er wieder in Arrest gebracht, und der Auditeur hielt dann seinen Vortrag über den Inhalt der Acten, gab sein Gutachten über Schuld oder Unschuld ab, las die nach seiner Meinung anwendbaren Paragraphen der „Kriegsartikel“ oder des „Landrechts“ vor und stellte seinen Antrag auf Freisprechung oder auf diese oder jene Strafe. In den meisten Fällen wurden die Anträge der Auditeure angenommen, wenn sie nicht gar zu sehr der gesunden Vernunft Hohn sprachen. Die verschiedenen Richterclassen, das heißt, die Mitglieder einer jeden in dem Stand- oder Kriegsgericht vertretenen Charge mußten hierauf unter einander berathen, die Officiere im Gerichtszimmer, Unterofficiere und Gemeine draußen auf dem Flur, auf der Treppe, oder wo sie sonst einen Winkel fanden, und nach beendigter Berathung classenweise ihr Votum abgeben, von der niedrigsten Classe anfangend. Berathungen der verschiedenen Classen mit einander waren verboten; dissentirende Vota innerhalb der Classen waren zwar erlaubt, wurden aber höchst ungern gesehen. Der Auditeur bildete dann aus allen diesen Voten das Urtheil. Stimmte eine Mehrheit für Freisprechung, so wurde der Angeschuldigte freigesprochen; stimmte eine Mehrheit für Bestrafung, so wurde er bestraft. Als Maß der Strafe galt das arithmetische Mittel aus den bisweilen sehr abweichenden Abstimmungen der Classen.

Ich kehre nach dieser nothwendigen Auseinandersetzung zu unserm „verehrten Herrn“ und seinen Thaten zurück. Eines Tages stand ein Bombardier vor dem Kriegsgericht, gegen welchen der „verehrte Herr“ eine Anklage auf „Diebstahl unter erschwerenden Umständen“ erhoben hatte. Der Angeklagte war ein hübscher, junger Bursche, kaum siebenzehn Jahre alt, mit offenen, einnehmenden Zügen, aus denen Niemand den Dieb herausgelesen hätte. Seine Vorgesetzten gaben ihm das beste Zeugniß. Der Thatbestand war den Acten gemäß dieser. Bombardier Frei war zu dem Dienst des Wallpatrouillirens commandirt und hatte sich während der vierundzwanzigstündigen Dauer dieses Dienstes, in so weit er nicht auf den Wällen sein mußte, auf der nächsten Thorwache aufzuhalten. Gegen Abend kam ein Bauer mit einem Tragkorbe voll Waaren, die er am folgenden Tage zu Markte bringen wollte, zu dem wachthabenden Unterofficier und bat ihn um Erlaubniß, den Korb bis zum nächsten Morgen in die Wachtstube stellen zu dürfen. Die Stadt K. hatte damals nämlich Schlacht- und Mahlsteuer, so daß Nichts ohne Visitation einpassiren durfte, und der Bauer hatte nicht Zeit, auf die Rückkehr des gerade abwesenden Zöllners zu warten. Der Unterofficier der Wache erklärte ihm, er könne den Korb nicht unter seine Obhut nehmen, habe aber nichts dagegen, daß derselbe im Vorhaus des Wachlocals hingestellt werde. Dies that der Bauer, da er seine Waare dort für vollkommen sicher hielt. Während der Nacht machte der Bombardier Frei einigen Soldaten der Wache den Vorschlag, dem Bauer einen Possen zu spielen. Unter dem Inhalte des Tragekorbes war ein Topf mit Butter. Diese Butter sollte herausgenommen, der Topf dann mit Asche gefüllt und die Asche mit einer Lage Butter bedeckt werden. Der Streich wurde so ausgeführt, und die Soldaten ließen sich die Butter zu ihrem Commißbrod wohlschmecken. Am nächsten Morgen holte der Bauer seinen Korb ab und trabte damit, nichts Böses ahnend, wohlgemuth zu Markte. Dem Bombardier, der nicht die Absicht gehabt hatte, dem Bauer Schaden zuzufügen, wurde jetzt angst und bange wegen der möglichen Folgen seines Streiches.

Er eilte so schnell, als sein Dienst es ihm erlaubte, zum Markte hin, um den Bauer aufzusuchen. Dort angekommen, erfuhr er, daß der Posten entdeckt worden und der Bauer zum Commandanten gegangen sei, um Klage gegen die Butterdiebe zu führen. Bombardier Frei verfolgte seine Spur, und es gelang ihm endlich nach vielem vergeblichem Hin- und Herlaufen, den Gesuchten aufzufinden, worauf er ihm sofort den doppelten Werth seiner Butter bezahlte. Aber diese Sühnung kam zu spät: die Klage war einmal anhängig gemacht, und der Proceß nahm seinen Gang, trotzdem der Bauer wieder zum Commandanten hinlief, sich für vollständig befriedigt erklärte und um Niederschlagung der Untersuchung bat.

Auf diesen Thatbestand nun gründete der „verehrte Herr“ den Antrag, den Bombardier Frei wegen „Diebstahls unter erschwerenden Umständen“ zur Degration zum Gemeinen, zur Versetzung in die zur Prügelstrafe unterworfene „zweite Classe“ des Soldatenstandes und zu dreimonatlicher Einstellung in eine Strafsection zu verurtheileu. Die meisten Mitglieder des Kriegsgerichts fühlten auf der Stelle, daß eine solche Verurtheilung eine empörende Ungerechtigkeit sein würde. Die Ober- und Unterlieutenantsclasse einigten sich ohne Schwierigkeit dahin, daß von dem Verbrechen [105] des Diebstahls hier gar nicht die Rede sein könne, sondern nur von einem muthwilligen Streich, und daß acht Tage Arrest als Zugabe zu der von dem Angeklagten schon ausgestandenen Angst und der erlittenen Untersuchungshaft eine hinlängliche Strafe sei.

Als die Bombardierclasse von ihrer Berathung auf dem Hausflur in das Gerichtszimmer zurückkam, gab sie das Votum „acht Tage Arrest“ ab. Der „verehrte Herr“ gerieth fast außer sich vor Erstaunen und erklärte, er könne ein solches Votum nicht zu Protokoll nehmen. Der Präsident des Kriegsgerichts aber schnaubte die Richter-Bombardiere an: „Wie können Sie sich unterstehen ein solches Urtheil abzugeben? Der Herr Auditeur hat Ihnen das Gesetz vorgelesen, und es ist Ihnen nicht erlaubt, in Ihrem Votum unter das Minimum der gesetzlichen Strafe herabzugehen. Scheren Sie sich augenblicklich wieder hinaus und berathen noch einmal.“

Diese Art und Weise, mit Richtern umzugehen, hatte uns alle empört, und kaum hatten die Bombardiere das Zimmer wieder verlassen, so gab ein alter Oberlieutenant unserm Unwillen Ausdruck, indem er sich mit den Worten an den Präses wandte: „Herr Major, wie können Sie sich erlauben, einen so ungesetzlichen Einfluß auf das Urtheil der Richter auszuüben?“

„Herr Lieutenant,“ erwiderte der Major, „ich verbitte mir solche Vorhaltungen. Ich weiß, was ich als Präses des Kriegsgerichts zu thun habe. Es ist meine Pflicht, darüber zu wachen, daß die Richter in den Schranken des Gesetzes bleiben.“

„Herr Major,“ entgegnete wieder der Oberlieutenant, „sie sind in den Schranken des Gesetzes. Sie fühlen, daß der Antrag des Auditeurs ein schmähliches Unrecht in sich schließt, wissen sich aber nicht geläufig darüber auszusprechen. Jeder Mensch von gesundem Verstande muß einsehen, daß hier gar kein Diebstahl vorliegt.“

Der „verehrte Herr“ fiel dem Oberlieutenant in die Rede: „Aber um’s Himmelswillen, verehrter Herr, was liegt denn sonst vor?“

„Nichts, gar nichts liegt vor,“ lautete die Antwort des Lieutenants, „als ein Scherz, eine Kinderei,“ und zur Bekräftigung seiner Behauptung fügte er hinzu: „Ich versichere Ihnen, Herr Auditeur, wenn ich beim Manöver im Bivouac liege, muß mir mein Bursche jeden Tag ein Huhn schaffen, oder ich hauche ihm ein tausend Donnerwetter an.“

„Nun, natürlich doch gegen Bezahlung?“ bemerkte der „verehrte Herr“.

„Bezahlung, Bezahlung?“ entgegnete der Oberlieutenant, „das wäre lächerlich. Von Bezahlung kann keine Rede sein. Der Kerl muß es schaffen, wenn er keine Hiebe haben will; wo er’s hernimmt, mag er sehen.“

„Mein Gott, verehrter Herr,“ rief der Auditeur entsetzt aus, „da müssen Sie ein sehr weites Gewissen haben.“

„Ja, Gott sei Dank, kein so verzwicktes, wie Sie,“ lautete die Erwiderung des Oberlieutenants.

Mittlerweile kehrten die Bombardiere von ihrer zweiten Berathung zurück und gaben dasselbe Votum ab, wie zuvor: „Acht Tage Mittelarrest.“ Mit dem Beistand eines Officiers motivirten sie ihre Abstimmung dahin, daß das Vergehen des Angeklagten nicht als Diebstahl zu betrachten sei. Dann kam die Unterofficiersclasse und stimmte ebenso, und so ging es der Reihe nach fort bis hinauf zum Präses des Gerichts. Der „verehrte Herr“ mußte zu seinem großen Leidwesen das Urtheil formuliren: „Acht Tage Mittelarrest wegen eines muthwilligen Streiches.“

Ein anderer Fall, in welchem der „verehrte Herr“ mit seinen Köpf- und Hänge-Gelüsten glänzend triumphirte, ohne jedoch schließlich Ehre damit einzulegen, war etwas ernsterer Natur. Der Angeschuldigte war ebenfalls ein Bombardier; die Anklage gegen ihn lautete auf „thätliche Widersetzung gegen einen Vorgesetzten“, ein Verbrechen, welches nach den preußischen „Kriegsartikeln“ unter allen Umständen mit dem Tode bestraft wird. Der Thatbestand war in wenigen Worten dieser. Bombardier Peter ging in eine Casernenwirthschaft, die von der Frau eines Unterofficiers gehalten wurde, trank dort etwas über den Durst und erlaubte sich schließlich Rohheiten gegen die Frau, welche in Kurzem ihrer Entbindung entgegen sah. Sie rief ihren Mann zu Hülfe. Dieser kam und packte den Bombardier beim Kragen, worauf sich eine Rauferei entspann, in welcher der Unterofficier Sieger blieb und den Bombardier zur Thüre hinauswarf. Hieraus formulirte der „verehrte Herr“ eine Anklage auf „thätliche Widersetzung gegen einen Vorgesetzten“ und beantragte, gestützt auf den so und sovielten Paragraphen der Kriegsartikel, daß das Kriegsgericht den Bombardier Peter zum Todtschießen verurtheile.

Unter den Richtern, welche aus Mitgliedern verschiedener Truppentheile bestanden, befand sich auch ein Artillerie-Officier. Dieser machte darauf aufmerksam, daß der Bombardier den Rang des Unterofficiers in der Armee habe und nur dann Untergebener des Unterofficiers sei, wenn dieser durch sein dienstliches Verhältniß in die Stellung des Vorgesetzten zu ihm trete. Der „verehrte Herr“ aber, dem hier zum ersten Mal in seiner Praxis ein Todtschießungsfall vorkommen mochte, und der vor Begierde brannte, endlich einmal die ganze Strenge des Gesetzes in Anwendung bringen zu können, erklärte, davon stehe nichts in den Kriegsartikeln, und er könne auf eine solche bloße Privatmeinung eines einzelnen Richters nicht Rücksicht nehmen; jedenfalls müsse er darauf bestehen, daß das Gericht den Angeklagten zum Todtschießen verurtheile, wenn auch nur versuchsweise; sollte dann wirklich die Ansicht des Artillerie-Officiers richtig sein, so werde „höhern Ortes“ schon eine bestimmte Erklärung über die Stellung der Bombardiere erfolgen. Die Mehrheit des Kriegsgerichts ging auf den Antrag des „verehrten Herrn“ ein und verurtheilte den Bombardier Peter versuchsweise zum Tode durch Pulver und Blei. Auf den Antrag des General Auditoriats wurde dieses fabelhafte Urtheil vom König, dem in Friedenszeiten allein die Bestätigung von Todesurtheilen zusteht, cassirt; das Kriegsgericht, insbesondere aber der „verehrte Herr“, erhielt eine ellenlange „Nase“, und ein neues Kriegsgericht wurde angeordnet, welches den Bombardier Peter schließlich wegen eines rohen Angriffs auf eine schwangere Frau zur Degradation und dreimonatlicher Einstellung in eine Strafsection verurtheilte.




Vorlesungen über nützliche, verkannte und verleumdete Thiere.
Gehalten in Genf während des Winters 1860-61.
Von Carl Vogt.[2]

Seit längeren Jahren schon werden in Genf allwinterlich öffentliche Vorlesungen verschiedenen Inhaltes für Leute aller Stände in dem Saale des großen Rathes gehalten, zu welchen beide Geschlechter Zutritt haben. Auf den Antrag eines seiner Mitglieder, des Herrn A. Carteret, den das demokratische Genf mit Liebe als einen seiner Vorkämpfer nennt, beschloß der große Rath einstimmig, der Regierung alljährlich einen Credit zu solchen Vorlesungen zu eröffnen, der genügend sei, die Professoren für ihre Mühe und Aufwand zu entschädigen. Den Unterzeichneten traf im Winter 1855–56 das Loos, diese Vorlesungen mit Vortragen über die Geologie zu eröffnen. Die Stunde wurde so gewählt, daß die Arbeiter nach Schluß ihrer Werkstätten, die Geschäftsleute nach Beendigung ihrer Tagesarbeit sich in den Hörsal begeben konnten. Der Anfangs gewählte Saal, die Aula, war bald zu klein – die erste Serie der Vorlesungen mußte schon in einem größeren Locale, dem jetzt gewählten Saale des großen Rathes, in welchem 5–600 Personen Raum finden, wiederholt werden.

Die Einrichtung dieser Vorlesungen ist anders, als in den meisten deutschen Universitätsstädten, wo einzelne akademische Vorträge über einen isolirten Gegenstand, meist sogar gegen Eintrittsgeld, Statt finden. In Genf werden dem Vortragenden zehn bis zwölf Vorlesungen eingeräumt – er kann also einen Gegenstand erschöpfend behandeln und dem Zuhörer nicht nur ein einzelnes [106] wissenschaftliches Portrait, sondern ein ganzes compenirtes Bild vorführen. Das Programm dieser Vorträge wird mit der Direction des öffentlichen Unterrichts vereinbart, von welcher auch meist die Initiative ausgeht; man sorgt dafür, daß jeden Abend von 8–9 Uhr eine Vorlesung Statt habe und daß in der Wahl der Stoffe naturwissenschaftlichen, politischen und literarischen Inhaltes die nöthige Abwechslung gegeben sei. Zum Verständniß dieser Einrichtung erlaube ich mir hier, das Programm der diesjährigen Vorlesungen mitzutheilen – vielleicht, daß auch anderwärts das Streben Genfs Nacheiferung findet.

Erste Serie. Vom 10. November bis 22. December 1860 Montags und Donnerstags. Professor Privat über Experimentalchemie. Zehn Vorlesungen. Dienstags und Freitags. Professor Dameth, Geschichte des Handels. Zehn Vorlesungen. Mittwochs und Samstags. Doctor Claparède. Physiologie des Menschen. Zehn Vorlesungen.

Zweite Serie. Vom 7. Januar bis 9. Februar 1861. Montags und Donnerstags. Professor Vogt über nützliche und schädliche Thiere. Zehn Vorlesungen. Dienstags und Freitags. Professor Amiel über Philosophie der Muttersprache. Zehn Vorlesungen. Mittwochs und Samstags. Professor Humbert über die französischen Moralisten. Zehn Vorlesungen.

Man kann sagen, daß diese Vorlesungen jetzt, nach mehrjähriger Uebung, eine Gewohnheit des Volkes, der höheren Stände wie der Arbeiterclassen, geworden sind. Das durch Maueranschläge, Anzeigen in allen Journalen und besonderen Blättern veröffentlichte Programm detaillirt den Gegenstand jeder einzelnen Vorlesungsstunde und läßt Jeden zum Voraus wissen, worüber der Vortragende sprechen wird. Man bemerkt sehr bald, daß sich für jeden Vertrag ein besonderes Publicum bildet, welches für den besprochenen Gegenstand ein specielles Interesse zeigt und häufig durch Briefe und Anfragen nach der Vorlesung seine Sympathie oder seinen Widerspruch zu erkennen giebt. Der Eifer, womit man sich zu den Vorlesungen drängt, das Interesse, womit dieselben in der Presse, in öffentlichen und Privatcirkeln besprochen werden, zeigen jedenfalls, daß die Einrichtung an und für sich keine verfehlte, der Einfluß derselben ein bedeutender sei.

Die ersten Vorlesungen, welche ich vor einigen Jahren über allgemeine Geologie hielt, liegen schon seit längerer Zeit gedruckt vor mir in Gestalt eines elegant ausgestatteten Buches in französischer Sprache, dessen Erscheinen leider durch widrige Verhältnisse bis jetzt verhindert wurde. Zur Bearbeitung der nachfolgenden Vorlesungen in deutscher Sprache, also in Uebersetzung (denn trotzdem, daß Genf denselben Reichsadler im Wappen führt, ist es doch in Sitten, Leben und Sprache eine französische Stadt), gab der Verleger und Herausgeber der Gartenlaube, durch eine Freundes-Aeußerung bestimmt, die Veranlassung. Wenn auch das Niederschreiben eines durchaus frei gehaltenen Vortrages einige Schwierigkeiten haben mag und das Fehlen der Illustrationen, die in den Vorlesungen selbst durch große Wandmalereien ersetzt sind, einen Reiz weniger veranlassen mag, so hoffe ich doch für die Vorträge in dieser Gestalt eine eben so vortheilhafte Aufnahme, als die gesprochenen Vorlesungen bis jetzt in der freilich sehr zu ihrem Vortheil geänderten Stadt Calvin’s gefunden zu haben scheinen.

Genf den 22. Januar 1861.

Carl Vogt.




Erste Vorlesung.

Meine Herren!

Vor etwa zehn Jahren wurde ich in Nizza von einem befreundeten Abbé gebeten, die Verwüstungen eines großen Artischockenfeldes zu untersuchen, das von einem Raupenheere auf die jämmerlichste Weise zugerichtet wurde. Wir fanden den Besitzer mit seinem ganzen Hausstande in einer Art von Verzweiflung; die Hälfte der Ernte eines wenigstens vier Morgen großen Feldes war schon unrettbar verloren! Ich erkannte die Raupe auf den ersten Blick an ihrer braungrauen Farbe und den weißen verästelten Dornen als diejenige des Distelfalters (Vanessa cardui), die ich in meiner Jugend öfters zum Schmetterlinge erzogen hatte. Auf der einen Seite eines trockenen Grabens, der das Feld in der Mitte durchschnitt, standen nur noch die Rippen der verdorrenden Artischocken empor, von Tausenden emsig fressender Raupen besetzt; über den Graben hinüber waren die Raupen noch nicht gelangt. Ich rieth, denselben sogleich voll Wasser zu pumpen, um auf diese Weise dem Weitergreifen der Verwüstung ein Ende setzen und dann sich mit der Vertilgung des Geschmeißes im angegriffenen Theile beschäftigen zu können. Mit Achselzucken erklärte der Landwirth, man könne wohl nichts Verkehrteres ersinnen; – die Würmer seien vor acht Tagen etwa als ganz kleine Dinger mit einem starken Südwinde über das Meer aus Afrika herübergekommen und würden sich also nicht durch einen Wassergraben, der einige Fuß breit sei, abhalten lassen. Ich gab mir vergebliche Mühe, dem Manne den Zusammenhang zwischen einigen verblaßten Distelfaltern, die noch umher flogen, und diesen Würmern klar zu machen. Er blieb hartnäckig bei seiner Ansicht von der afrikanischen Abstammung und der Unmöglichkeit der Eingrenzung durch Wasser, ließ einige Messen gegen die teuflische Wirthschaft der Würmer lesen und sah mit der gläubigen Ergebung des duldenden Christen der Verwüstung der zweiten Hälfte des Gutes ruhig zu, ohne irgend welche Gegenmaßregeln zu ergreifen.

Ich muß gestehen, daß dieser Vorfall mich aufmerksam machte. Die Unkenntniß des italienischen Landmanns ist allerdings bedauernswerth; allein können wir, die wir uns höherer Civilisation rühmen, jenem Nizzarden gegenüber unser Haupt so stolz erheben? Leben nicht unzählige Vorurtheile überall, unter dem Volke, wie unter den Gebildeten fort, und thut nicht der Landmann, der mit höchster Befriedigung einen Bussard oder eine Eule an sein Scheunenthor nagelt und dem Maulwurfsfänger einige Groschen für jeden gefangenen Maulwurf bezahlt, sich noch obenein einen directen Schaden an, indem er den Feind seiner Feinde aus dem Leben schafft, während der Italiener doch nur einem wirklichen Uebel gegenüber eine ohnmächtige Hülfe anrief, die er in seinem naiven Glauben für wirksam hielt?

Indem ich hier von den schädlichen und nützlichen Thieren reden will, fasse ich diese Begriffe ganz im Sinne des hausbackenen menschlichen Egoismus, ohne mich weiter um die große Frage des Guten und Bösen in der Natur in irgend einer Weise zu bekümmern. Ich beschränke mich durchaus auf die Beziehung der Thiere zu dem Menschen, den ich als unbeschränkten Tyrannen der Schöpfung de facto anerkenne und sage: die Feinde unserer Feinde sind unsere Freunde – die Freunde unserer Feinde unsere Feinde – die Freunde unserer Freunde unsere Freunde – wie das alte französische Sprüchwort sagt: Alles was uns zuwider ist, ist schädlich; Alles was uns direct oder indirect durch Vertilgung unserer Feinde Beistand leistet, nützlich.

Auf diesen letzteren Punkt möchte ich namentlich aufmerksam machen. Die wirkliche Natur ist ein beständiger Kriegszustand, ein unablässiger Kampf um das Dasein gegen Feinde und Concurrenten, dem nur stellenweise durch den Winter das beschränkte Halt! eines zeitlichen Waffenstillstandes zugerufen wird. Wenn wir vom Frieden in der Natur sprechen, so tragen wir nur unsere augenblicklichen Gefühle in dieselbe über und geben uns einer durch unsere innere Stimmung motivirten Täuschung hin. Es mag uns sehr friedlich und behaglich stimmen, im frischen Waldesgrün, am Ufer eines murmelnden Baches, im schwellenden Moose zu lagern; aber nichtsdestoweniger lauert überall um uns her, in der Luft, in dem Grase, in der Erde und in dem Wasser, die Vernichtung und spinnt sich der beständige Krieg um die Existenz zwischen all’ den großen und kleinen Thieren fort, deren Bewegungen unser Auge mit Wohlgefallen folgt. Jenes Vögelchen, das so graziös von Zweig zu Zweig hüpft und zuweilen seinen Gesang ertönen läßt, hegt während seiner scheinbar friedlichen Beschäftigung nur Mordgedanken gegen die Fliegen, die sich auf den Blättern des Baumes sonnen; der Specht, den wir in der Ferne hämmern hören, klopft Käfer und Larven zu seinem Mittagsmahle hervor; die Schlupfwespe, welche von Blume zu Blume wippt, sucht ein unglückliches Opfer, auf dessen Kosten sich ihre Nachkommenschaft ernähren soll. Der Mensch steht mit seinen Culturen, mir seiner Sorge um die eigene Existenz, die er nur auf Kosten der übrigen Geschöpfe erhalten kann, mitten in diesem Kampfe, und wer darin sein Bundesgenosse ist, wenn auch diese Bundesgenossenschaft nur aus rein egoistischen Absichten hervorgeht – den nimmt er nicht nur an, [107] sondern schützt und verehrt ihn sogar, je nach der Culturstufe, auf der er sich befindet, ohne Rücksicht auf die sonstigen moralischen Eigenschaften, die man dem Bundesgenossen etwa zuschreiben könnte. Ist der Ibis, den die alten Aegypter verehrten, oder der Storch und die Schwalbe, die wir in Deutschland und der Schweiz schützen, sind diese nützlichen Thiere, die sich nur von anderen lebenden Thieren nähren, etwa weniger grausam, als der Hühner- und Taubenhabicht, die wir in jeder Weise verfolgen?

Ich beschränke also den Gegenstand dieser Vorlesungen durchaus auf die dem Menschen nützlichen und schädlichen Thiere; aber auch hier muß ich den Stoff, der über die Kürze der zugemessenen Zeit weit hinaus gehen würde, noch weit enger umgrenzen. Ich schließe die Schmarotzerthiere des Menschen, sowie die sämmtlichen Hausthiere aus; ich beschäftige mich nicht mit den jagdbaren Thieren; ich überlasse diejenigen Bestien, welche im Walde hauptsächlich ihr Wesen treiben, den Forstmännern, welche ihr Beruf zwingt, sich damit abzugeben. Ich fasse hauptsächlich nur diejenigen Thiere in das Ange, die für Feld- und Gartenwirthschaft im weitesten Sinne Interesse haben.

Selbst in so enge Grenzen eingeschlossen, ist der Gegenstand noch außerordentlich weitschichtig und erlaubt nur mehr aphoristische und willkürliche Behandlung. Es ist unmöglich, in dem Raume weniger Vorlesungen alle großen und kleinen Freunde und Feinde der Landwirthschaft auch nur zu nennen und kurz zu charakterisiren. Ich bin also genöthigt, eine Auswahl zu treffen, welche mir, auch abgesehen von den speciellen Verhältnissen unserer Umgegend, noch wesentlich durch einige besondere Betrachtungen aufgenöthigt wird.

Es geht in der Thierwelt wie in der menschlichen Gesellschaft: es giebt Thiere, welche besser sind, als ihr Ruf; es giebt andere, welche mit Unrecht geschätzt und geschützt werden und die Pflege oder Schonung nicht verdienen, welche der Mensch ihnen angedeihen läßt. Ich werde ganz besonders auf die verleumdeten Thiere Rücksicht nehmen, welchen ihr geheimnißvolles nächtliches Treiben, ihre häßliche Gestalt, ihr unangenehmer Geruch oder selbst die Fortspinnung alter, aus anderen Ländern und von anderen Arten übertragener Legenden und Sagen grundlosen Abscheu und unberechtigte Verfolgung zugezogen hat. Ich werde nicht minder das Vorurtheil des Guten zu zerstören suchen, das andere Thiere unverdienter Weise sich zu erwerben das Glück hatten. Trotz aller Belehrungen, die seit Jahrzehnten ausgestreut wurden, ist hier dennoch stets fort ein reiches Feld für denjenigen, der sich bemüht, die Thatsachen, welche die Wissenschaft beobachtet hat, in das Volksbewußtsein überzuführen.

Es gilt mir mehr darum, die Selbstbeobachtung zu wecken, als Beobachtetes mitzutheilen. Wer einmal den eigenthümlichen Reiz kennen gelernt hat, welchen Beobachtungen über das Leben und Weben der kleinen Geschöpfe gewähren, die im Feld und Garten sich umhertreiben, der wird nicht leicht von solcher Beschäftigung sich wieder abwenden, wenn sie gleich schwierig und zeitraubend ist. Geduld ist hier die erste Eigenschaft, mit welcher sich der Beobachter waffnen muß; Geduld, um stundenlang regungslos in glühender Sonnenhitze dem rastlosen Treiben eines unmherschwirrenden Insectes zu lauschen; Geduld, um ein Käferchen, das sein Ei in die Schosse einer Pflanze unterzubringen sucht, bei der Beobachtung mit der Lupe nicht zu stören; Geduld und kritische Sichtung des Beobachteten, das durch Vernachlässigung scheinbar geringfügiger Nebenumstände zu einem der Wirklichkeit gerade entgegengesetzten Resultate führen kann.

Die größte Gewissenhaftigkeit des Beobachters kann selbst solche Fehler nicht verhindern, die aus der mangelhaften Kenntniß der Naturgeschichte hervorgehn. Ein eifriger Landwirth findet an gewissen Gartengewächsen, die ihm lieb sind, Auswüchse und Knollen, die von Larven und Würmchen bewohnt sind. Um das Uebel in seinem ganzen Umfange kennen zu lernen, pflegt er seine Knollen sorgfältig bis zur Verpuppung der Würmchen und hat endlich die Freude, ein herrliches, goldschimmerndes Wespchen aus diesen Puppen zu erzielen. Welcher Schluß ist gerechtfertigter, als der, daß dieses Wespchen es gewesen sein müsse, welches durch seinen Stich den Auswuchs erzeugt und in das Innere desselben seine zu Würmchen und Püppchen entwickelten Eier abgelegt habe? Und dennoch ist dieser Schluß durchaus falsch in dem speciellen Falle. Das erzogene Wespchen gehört in die Gattung der Schlupfwespen, welche ihre Eier in die Eier und Larven anderer Insecten legen, damit sie sich auf deren Kosten schmarotzend ernähren. Die Mutter des erzogenen Wespchens hat mittelst ihres langen Legestachels, von unserem Beobachter unbemerkt, nicht nur den von einer wirklichen Gallwespe erzeugten Auswuchs, sondern auch die darin lebende Larve des rechtmäßigen Besitzers angebohrt, in die sie ihr Ei gelegt, und so ihre Nachkommen statt derjenigen der Gallwespe zur Entwicklung gebracht.

Darf man sich bei solchen nur allzu häufig unterlaufenden Verwicklungen noch wundern, wenn selbst die Lebensgeschichte ganz gewöhnlich vorkommender Insecten, die durch ihre Verwüstungen bedeutenden Schaden anrichten, nur unzureichend gekannt ist, und wenn aus dieser Unkenntniß als nothwendige Folge für den Menschen die Ohnmacht hervorgeht, diesen Feind zu bekämpfen? Von hundert und aber hundert Arten kennt man hier nur die Larve, dort nur das vollkommene Insect oder selbst nur eines der verschieden gestalteten Geschlechter. Die Lebensbedingungen der meisten Arten in diesem oder jenem Zustande ihrer Verwandlung sind durchaus nur unvollständig gekannt. Von dem gemeinsten unserer kleinen Feinde, dem Maikäfer, weiß man an dem heutigen Tage noch nicht mit vollständiger Gewißheit, ob der ganze Umlauf seines Lebens eine Periode von drei oder vier Jahren umfaßt, oder ob er in der republikanischen Schweiz ein Jahr früher zur Reife und Zeugungsthätigkeit gelangt, als in dem monarchischen Deutschland, wo seine Entwicklung unter hoher obrigkeitlicher Vormundschaft vielleicht längerer Zeit bedarf.

Sie sehen also, es ist noch viel zu thun auf diesem Gebiete, und jeder Einzelne, der ein Stückchen Feld oder Garten begehen kann oder auch nur einige bescheidene Topfgewächse an seinem Fenster cultivirt, ist im Stande, wenn er nur Zeit und Mühe daran wenden will, seinen Beitrag zur Bereicherung der Wissenschaft zu liefern.

Ich habe für meine Vorträge die Reihenfolge der zoologischen Classification gewählt und setze die bekanntesten Thatsachen derselben auch in der That als bekannt voraus, indem es bei dem beschränkten Raume, der mir zugemessen ist, unmöglich wäre, in die naturgeschichtlichen Einzelnheiten einzugehen, welche ja ohnedem in jedem Handbuche zu finden sind. Indem aber das natürliche System, auf die Gesammtorganisation gegründet, diejenigen Thiere als verwandte zusammenstellt, welche die größte Summe von Eigenthümlichkeiten mit einander gemein haben, nähert es auch nothwendiger Weise diejenigen Thiere, deren Leben und Treiben in seinen allgemeinen Zügen mit einander übereinkommt. Denn dieses Leben ist ja nur ein Resultat der gesammten Organisation, nur der Ausdruck derselben in der Ausübung der verschiedenen Thätigkeiten. Was also in den Einzelheiten des Körperbau’s mit einander übereinstimmt, muß auch nothwendiger Weise übereinstimmende Lebensweise und gemeinsame Züge der geistigen Functionen besitzen. Ich gestehe zu, daß es für Manchen vielleicht angenehmer wäre, den Stoff vielleicht nach den verschiedenen Pflanzen, die man cultivirt, oder nach besonderen vorstechenden Gewohnheiten der Thiere vertheilt zu sehen. Allein dieser Eintheilung stellen sich um so mehr Schwierigkeiten entgegen, als einerseits sehr verschiedene Thierarten auf einer und derselben Pflanze hausen können und wiederum dieselbe Thierart einen höchst mannigfaltigen Wirkungskreis besitzen kann. Die Werre und der Engerling nagen alle Pflanzenwurzeln ohne Unterschied an, und die deutsche Eiche, dieser knorrige Sumpfbaum, hat mehr Schmarotzer, als alle übrigen Gewächse unserer Zone zusammengenommen.

Ich werde nur wenig von den zahlreichen Vorbeugungs- und Vertilgungsmitteln reden, mit welchen häufig ein unbegreiflicher Köhlerglaube die Welt beglückt hat. Kennt man die Thiere und die Eigenthümlichkeiten ihres Lebens einmal genau bis in die kleinsten Einzelheiten, so ergeben sich die Vertilgungs- und Pfegemittel gegen Feinde und für Freunde bei einigem Nachdenken ganz von selbst. Kennt man dieselben nicht, so wird man stets mit der Stange im Nebel herumfahren und bester thun, sich zu resigniren, als ungeschickte Mittel anzuwenden. Es ist unglaublich, wieviel in dieser Hinsicht schon gesündigt wurde und noch täglich gesündigt wird. Man wird einen Landwirth, der Maulwurfsfallen an den Aesten der Bäume befestigte, in der Hoffnung, daß die Maulwürfe dem dort aufgehängten Köder nachfliegen würden, unbedenklich für einen Narren erklären. Aber man macht mit großem Ernste den Vorschlag, die Erdflöhe dadurch von den jungen Saaten abzuhalten, daß man die Beete mitten in Grasplätzen anlegt, in welchen [108] die Erdflöhe sich verirren und, durch die Grashalme aufgehalten, nicht weiter kommen sollen; während die einfachste Beobachtung uns zeigen kann, daß die Thierchen nach dem Zerfressen eines Beetes in Schaaren ausfliegen, um sich ein anderes Feld zur Befriedigung ihres Appetites zu suchen. Eine Menge von solchen Mitteln sind auch unwillkürlich der menschlichen Natur angepaßt und sehen gerade darnach aus, wie wenn man Schmeißfliegen, Aaskäfer und Raben durch den Geruch faulenden Aases verjagen wollte.

In den wenigsten Fällen nur kann der Mensch durch seine Arbeit allein wirksam den Verheerungen entgegen treten, welche seine Feinde sich zu Schulden kommen lassen. Meist muß er sich im Gegentheile darauf beschränken, die Hülfsquellen, welche die Natur bietet, entweder nicht muthwillig zu zerstören oder durch sorgsame Pflege selbst zu erhöhen. Sämmtliche Kammerjäger Deutschlands fangen in einem Jahre nicht so viel Feldmäuse, als die Eulen Thüringens in einem Monate, und die Kammerjäger lassen sich bezahlen, während die Nachtvögel es ganz umsonst thun. Wäre es da nicht bester, die Eulen zu hegen, statt sie zu verfolgen, und nöthigen Falls das Geld, welches die Rattenfänger kosten, zur Erziehung der natürlichen Mausjäger zu verwenden?

Bei dem Beispiele, welches ich hier anführe, handelt es sich noch um verhältnißmäßig kolossale Feinde. Wie aber, wenn wir es mit jenen kleinen Feinden zu thun haben, die sich unserem Auge fast entziehen und die wir nur mit größter Anstrengung und nach langem Suchen in unseren Besitz bringen können? Bei jeder Gelegenheit tritt uns hier die Unzulänglichkeit unserer Mittel entgegen. Ein Beispiel. Professor Fabre in Avignon, der mit bewundernswürdiger Geduld das Treiben einer Grabwespe verfolgt hat, und den ich später noch Gelegenheit haben werde anzuführen, hatte beobachtet, daß dieselbe sich stets einen großen Rüsselkäfer, der durch seine schwarze Farbe und seine Länge von 5 bis 6 Linien leicht in die Augen fällt, zum Opfer erkor. Eine Wespe, welcher er ihren Käfer abgenommen hatte, brauchte im Durchschnitte zehn Minuten, um einen frischen Käfer herbeizuschleppen. Er wünscht, um seine Beobachtungen durch Versuche zu vervollständigen, einige lebende Käfer zu haben, welche noch von keiner Wespe gestochen sind. „Weinberge, Kleefelder, Getreidefelder, Hecken, Steinhaufen, Wegränder – Alles habe ich durchsucht,“ erzählt er, „und nach zwei tödtlich langen Tagen, die ich zu diesen Untersuchungen verwandte, war ich im Besitze (kaum wage ich es zu sagen) von drei bestaubten enthaarten Rüsselkäfern, die zum Theil Fühlhörner oder Beine verloren hatten, wahrhaft verstümmelte Veteranen, welche die Wespen vielleickt nicht einmal angreifen werden. In derselben Zeit hätten unsere Wespen Hunderte jener unauffindbaren Rüsselkäfer herbeigeschleppt; sie hätten sie gefunden an denselben Orten, wo ich suchte, frisch, glänzend, ohne Zweifel unmittelbar nach ihrem Ausschlüpfen aus ihren Puppen.“

Dies eine Beispiel mag genügen, Ihnen zu zeigen, wie ohnmächtig meistens der Mensch allein seinen kleinen Feinden gegenüber steht. Handelt es sich um die Zerstörung einzelner Thiere, so ist meistens die aufgewendete Mühe und Zeit nicht im Verhältniß zu dem hervorgebrachten Schaden; gilt es Vertilgung von Massen, wie z. B. bei Maikäferschaden oder Raupenfraß, so gelingt es freilich besser, die verhältnißmäßig groben und plumpen Mittel, über die wir gebieten, in ihrem ganzen Umfange wirken zu lassen – aber dann tritt auch der Uebelstand ein, daß bei der ungeheuern Zahl des zu vertilgenden Ungeziefers eine Menge desselben der Vertilgung entgeht und so den Keim neuen Verderbens durch seine Fortpflanzung legt. Man glaubt dann oft großartige Erfolge erzielt zu haben, sieht in dem Ausbleiben der Plage im nächsten Jahre den deutlichsten Beweis für die Wirksamkeit der getroffenen Vorkehrungen und vergißt, daß der Feind einen dreijährigen Entwicklungskreis in seinem Leben durchmacht und daß erst in drei Jahren eine neue Plage uns zeigen wird, wie viele Eltern der zerstörenden Nachkommen unseren Nachstellungen entgingen.

Doch ich wende mich ab von diesen allgemeinen Betrachtungen, die sich später, wenn wir der sie stützenden Thatsachen Meister geworden sind, von selbst ergeben werten, um zu der speciellen Betrachtung der einzelnen Classen des Thierreiches überzugehen und mit den Säugethieren zu beginnen.

(Schluß folgt.)




Ein Besuch auf Caprera.

Unweit der nordöstlichen Küste der Insel Sardinien, nahe bei der Insel Maddalena, liegt das vielgenannte Felseneiland Caprera, auf welchem der Eroberer zweier Königreiche, Garibaldi, sich in sein ländliches Besitzthum zurückgezogen hat und, ein zweiter Cincinnatus, nachdem er die höchsten Ehren und Würden ausgeschlagen, wieder seine Felder bebaut oder der Gärtnerei, der Jagd und der Fischerei lebt. Als Garibaldi im Mai des Jahres 1855 zum ersten Male auf Caprera landete, fand er daselbst eine wüste Granitmasse, die nur spärlich und an wenigen Stellen mit einer dünnen Erdschicht bedeckt war und kaum einigen aromatischen Pflanzen und beerentragenden Stauden eine dürftige Nahrung zu reichen vermochte. Mit rastlosem Fleiße gelang es ihm jedoch, das störrische Land in einem weiten Umkreise urbar zu machen und sich inmitten desselben ein ganz einfaches Wohnhaus zu errichten, das den bescheidenen Ansprüchen des ehemaligen Dictators von Sicilien vollkommen genügt.

Die Insel selbst hat eine Länge von fünf und einen Umkreis von fünfzehn Miglien (die Miglie ungefähr so groß wie eine deutsche Viertelmeile) und kann sicher noch an vielen Stellen urbar gemacht werden, wenn anders Fleiß und Ausdauer sich vereinigen, um das vulkanische Felsengerölle zu beseitigen. Das einzige stattliche Gebäude auf der ganzen Insel ist bis jetzt jenes Haus Garibaldi’s, von welchem zwar französische und italienische Blätter fabelten, daß König Victor Emanuel, um „dem besten seiner Freunde“ eine angenehme Ueberraschung zu bereiten, es durch eine prächtige Villa auf Caprera habe ersetzen lassen. Das Haus selbst besteht aus einem Erdgeschoß mit neun Räumen, über welches sich nach südamerikanischem Styl ein flaches, mit einer Kuppel gekröntes, nicht zu sehr gegen Wind und Regen geschütztes Dach erhebt. Rechts von dem Flure, der zugleich als Speisezimmer dient, tritt man in das Zimmer Garibaldi’s, das seiner feuchten Lage wegen über der Cisterne äußerst ungesund, aber dem General so lieb und theuer ist, daß keine Macht ihn bewegen kann, dasselbe zu verlassen. Links vom Speisezimmer sind verschiedene Schlafkammern mit Betten. Durchschreitet man sie, so gelangt man in das Zimmer des Pachters oder vielmehr seiner Familie, welche aus diesem, seiner Frau und zwei Söhnen besteht. Hinter dem Zimmer des Pachters liegt die Küche, neben ihr die Speisekammer; aus dieser gelangt man in das hinten hinausgelegene Zimmer Basso’s und anderer Gäste. In der Mitte, hinter dem Flur, befindet sich eine dunkle Kammer mit einer Wendeltreppe, auf welcher man zur macadamisirten Terrasse hinaufsteigt; sie dient zur Aufbewahrung von Kartoffeln und Bohnen. Die Möbel im Zimmer des Generals bestehen aus einer hölzernen Bettstelle mit zwei Matratzen, einem lahmen, mit einem alten grünwollenen Tuche bedeckten Tischchen, welches nächst dem Bette als Nachttisch dient, und einem äußerst reducirten Lehnstuhl vor diesem Nachttisch. Dazu kommen noch zwei Kästen und eine historisch-militairische Bibliothek, in welcher eine Deutsche, die im Jahre 1858 Caprera besuchte, die bedeutendsten Werke, die England über die Nautik und Taktik geliefert, neben den Werken Shakespeare’s, Byron’s und Young’s fand; neben älteren naturwissenschaftlichen Schriften den „Kosmos“ des deutschen Denkers; neben der „Ethik“ Plutarch’s die „Reden“ eines Bossuet und die in die liebenswürdigste Form eingehüllte Moral eines Lafontaine. Diese Bibliothek soll nächstens durch das „Manuale del Coltivatore“ von sieben oder acht illustrirten Bänden vermehrt werden. Ein Bild der Tochter Garibaldi’s im Alter von vier Jahren ist der Hauptschmuck des Zimmers. In einem Medaillon über dem Kopfkissen des Generals befinden sich die Haare Anita’s und seiner Mutter. Daneben das Bild von Vecchi; ein alter Nagel aus irgend einem Kasten trägt zugleich mit diesem Bilde die Taschenuhr Garibaldi’s. Neben dem Fenster hängt ein Spiegel, der noch aus dem Haushalt seiner Mutter herstammt. In den beiden Kästen liegen durcheinander Leintücher, Servietten, Handtücher, von Kugeln durchlöcherte Fahnen, alle Andenken verschiedener Regimenter. Die

[109]

Garibaldi und Mieroslawski auf Caprera.

andern Zimmer sind lediglich mit eisernen Bettstellen möblirt. Der Viehstand der Insel ist gering; er besteht aus einem Stier, acht Kühen mit ihren Kälbern, fünf Eseln und zwei Pferden.

Bis jetzt zählt Caprera nur sechs Grundeigenthümer: den General Garibaldi, einen Mr. C… und vier Hirten, während sich neuerdings noch eine misanthropische Engländerin neben Garibaldi angesiedelt hat. Die Hirten begnügen sich mit einer Art natürlicher Höhle, und so ist Garibaldi’s Wohnhaus das Einzige, was von Gebäuden auf Caprera in Betracht kommt.

In diesem Hause, das neuerdings mehrfach von Gästen des Generals besucht ward, empfing Garibaldi am Ende des verflossenen Jahres einen polnischen General, dessen Name zu seiner Zeit vielfältig in ganz Europa genannt wurde. Es war Ludwig Mieroslawski, welcher Garibaldi einen Besuch abstattete. Sicher genügt es, nur mit wenigen Worten das vielbewegte Leben dieses Mannes zu schildern, um sein Bild in den Augen unserer Leser wieder aufzufrischen.

Im Jahre 1814 zu Nemours in Frankreich von einer französischen [110] Mutter geboren, ging er mit seinem Vater, der unter Davoust ehrenvoll in der Armee des Großherzogthums Warschau gedient, nach den Verträgen von 1815 in sein Vaterland zurück, trat in seinem zwölften Jahre in die Militairschule von Kalisch und hatte im Jahre 1830 kaum seine Studien beendigt, als der große polnische Aufstand ausbrach und ihn in seine wilden Strudel hineinzog. In der Nacht des 29. Novembers 1830 trug er durch seinen Muth zur Einnahme des Arsenals bei, wie er sich überhaupt während des riesigen Kampfes für die Freiheit und Unabhängigkeit seines Vaterlandes rühmlich auszeichnete, endlich aber mit seinen Waffengefährten unterlag und ein Asyl in Frankreich suchen mußte. Um sein Leben zu fristen, veröffentlichte er jetzt in Paris mehrere Werke in französischer Sprache, namentlich eine „Geschichte der polnischen Revolution“ (1835), welche seinen Namen in weiteren Kreisen bekannt machten und seine Ernennung zum Mitgliede des Centralcomité’s der polnischen demokratischen Gesellschaft herbeiführten. Er wurde als einer der Insurrectionschefs von 1848 bezeichnet; aber das Unglück, das sich an alle seine revolutionairen Unternehmungen anheftete, verfolgte ihn auch auf seinem neuen Posten, und kaum war er im Großherzogthum Posen angekommen, als er von den preußischen Behörden verhaftet und alsbald zum Tode verurtheilt wurde.

Mit Talent, Energie und Würde vertheidigte er vor dem Gerichtshof die Rechte seines zerrissenen und zu Boden getretenen Vaterlandes, ja in dem Augenblicke, wo sein Leben auf dem Spiele stand, ließ er in Leipzig eine französische Broschüre unter dem Titel: Débat entre la révolution et la contrerévolution“ erscheinen. Am 19. März 1848 befreite ihn der Sieg des Berliner Volkes über die königlichen Truppen mit seinen Gefährten aus der Gefangenschaft; kurz darauf erhob sich der größte Theil des Großherzogthums Posen gegen die preußische Regierung, und Mieroslawski eilte jetzt, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen. Unter seiner Anführung drängten die polnischen Bauern in den Tagen des 1. und 3. Mai mit ihren Sensen zu Miloslaw und Wrzesnia die viermal überlegenen Truppen der Generale Blumen und Hirschfeld zurück. Aber durch die eigenen Erfolge erschöpft mußten die Posener in einem ungleichen Kampfe capituliren, und ihr Führer wurde zum zweiten Male gefangen genommen. Seiner Freiheit zurückgegeben, ging er wieder nach Paris; kaum war er aber daselbst angelangt, als ihn die sicilianischen Patrioten an ihre Spitze riefen, um ihren Widerstand gegen den König von Neapel zu leiten. Wieder heftete sich das Unglück an seine Fersen, und wie tapfer er auch das feste Catanea vertheidigte, so war die verzweifelte Sache Siciliens nicht mehr zu retten, und schwer verwundet sah sich Mieroslawski gezwungen, das schöne Land am 6. März 1849 zu verlassen. Allein er gönnte sich nur eine kurze Ruhe. Die provisorische Regierung des republikanischen Baden bot ihm jetzt den Oberbefehl über die Insurrectionsarmee vom Rhein und Neckar an. Zunächst handelte es sich darum, weit überlegene Streitkräfte zurückzuwerfen. Mit Hülfe von Siegel und Oborski warf er am 16. Juni das Corps Peucker’s bei Leutershausen über den Neckar und am 20. Juni das des Generals Hirschfeld bei Waghäusel über den Rhein zurück. Allein der Mangel an Cavallerie, das Ausbleiben der gehofften Unterstützung anderer deutschen Volksstämme und mehrere andere Ursachen zwangen ihn, sich auf Rastadt zurückzuziehen. Noch hier, auf die Murg gestützt, hielt er 60,000 Mann in Schach, die von den Generalen Peucker, Hirschfeld und Gröben unter dem Oberbefehl des Prinzen von Preußen geführt wurden. Leicht vorherzusehende Niederlagen endigten diesen Feldzug, und Mieroslawski, an seinem Glück verzweifelnd, legte die Waffen nieder und eilte wieder nach Frankreich. Nachdem er drei Armeen unter seinem Oberbefehl gehabt, lebte er zu Paris, wie früher, in bescheidener Zurückgezogenheit, getheilt zwischen Unterricht, der ihm seinen Lebensunterhalt verschaffte, und gelehrten Forschungen über Militärkunst, Geschichte und Politik. Seine strategischen Kenntnisse, sein schriftstellerisches Talent, die Heftigkeit seiner Ueberzeugungen haben ihm einen Platz unter den Führern der Partei gesichert, die trotz aller Niederlagen noch immer auf die Wiedererhebung Polens hofft und sie vorbereitet.

Solche Pläne mögen es wohl auch gewesen sein, welche den General Mieroslawski zu Garibaldi führten. Der Empfang war ein überaus herzlicher. Oeffentliche Blätter meldeten, der Befreier Italiens habe in seiner Anrede an Mieroslawski unter andern geäußert: „Italien hat Ihnen, General, eine große Schuld abzutragen: Sie waren der Vorkämpfer des sicilianischen Befreiungskriegs, und als Sie bei Palermo schwer verwundet vom Pferde sanken, da riefen Sie wie ein Römer Ihren Legionen zu: „Achtet nicht auf mich; achtet auf den Sieg!“ Italien wird diesen Muth, diese Aufopferung der Polen nicht vergessen; die Freiheit ist ein gemeinsames Gut für alle Völker, für den Süden, wie für den Norden! Die Auferstehung Italiens ist die Vorläuferin der Freiheit Polens!“ –

Wir können nicht bestimmcn, ob diese Anrede wirklich in dieser Weise gehalten worden ist, alle Anzeichen deuten aber darauf hin, daß sich neue Bewegungen in Polen, wie in Ungarn vorbereiten und daß das Beispiel Italiens ansteckend auf die beiden genannten Völker wirkt. Man thäte in der That dem Selbstherrscher der Franzosen zu viel Ehre an, wollte man ihn, wie von einigen Seiten her geschieht, zum Erfinder des Strebens der „Nationalitäten“ nach Freiheit und Unabhängigkeit stempeln. Dieses Streben ist so alt, wie die Unterdrückung, und das kostbarste Blut edler Jünglinge und Männer ist für die Verwirklichung jener Ideen in Schlachtfeldern wie auf Schaffoten reichlich, aber noch immer vergebens geflossen. Die Zerreißung Polens, eine der größten Schandthaten, welche die Geschichte aller Völker und Zeiten aufzuweisen vermag, wird deshalb immer und immer Wehe über die schreien, welche damals die gierige Hand ausstreckten nach dem willkommenen Raube.

Auch wir Deutschen haben eine schwere Sünde an den Polen begangen, als wir mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln versuchten, sie zu entnationalisiren; denn es giebt für ein Volk nichts Heiligeres zu verlieren als seine Nationalität. Und Polen war Jahrhunderte hindurch die Vormauer gegen die barbarischen Horden des Ostens; es hat unsere deutschen Grenzen treu behütet, und zum Dank dafür haben Oesterreich, Preußen und Rußland es in drei Theilungen nach und nach aus der Liste der Nationen gestrichen. Man wirft den Polen nicht ganz mit Unrecht vor, daß sie es nicht verständen, sich in ruhiger Entwickelung zu einem freien Staatsleben zu gestalten! Aber just als sie es wollten im Jahre 1791, als sie die friedliche Lösung des großen Räthsels gefunden, fielen deutsche und russische Truppen in ihr Land und vernichteten allen Verträgen und allem Völkerrechte zum Hohn die garantirte Verfassung vom 3. Mai 1791, welche nichts weiter als eine gemäßigte Erbmonarchie mit erweiterter Volksvertretung erzielen sollte.

Es dürfte, wie gesagt, andererseits wohl in Frage gezogen werden, ob das polnische Volk, auch wenn es wieder zu einem Volke vereinigt wäre, sich in einem freien Staatsleben zu gestalten und geordnet in die Staatenreihe Europas einzutreten vermöchte, da ihm der nothwendigste Bestandtheil, der kräftigste Träger der Freiheit, ein tüchtiger Bürgerstand, großentheils noch mangelt. Was der polnische Adel unter Freiheit versteht, ist allerdings noch weit entfernt von Gleichberechtigung und jener bürgerlichen politischen Freiheit, die jedem Einzelnen das Recht einer ungehinderten Existenz und gleichen Antheil an der politischen Gestaltung seines Vaterlandes giebt. Bis jetzt kennt der dortige Adel nur seine Rechte, keine Pflichten, und für seine Rechte namentlich – nicht für das allgemeine Landeswohl – hat er gestritten und geblutet. Auch ist die Erscheinung, daß sich, wie in Posen, das polnische Element dem deutschen gegenüber in keiner Weise zu halten versteht, nicht unwichtig. Deutscher Fleiß und deutsche Rührigkeit haben dort in wenigen Jahren mehr Cultur unter die Polen getragen, als es polnische Lehrer in Jahrhunderten vermocht, und deutsche Intelligenz und Rechtspflege sind es, die die Masse der polnischen Bevölkerung gehoben und die Knechte zu Staatsbürgern gebildet haben.

Aber alle diese Fragen mögen sich die Polen selbst stellen; uns ziemt es nicht, das polnische Volk als solches für geistig unmündig auszugeben und es in seinem Streben nach nationaler Entfaltung großsprecherisch zurückzuhalten.

Eine ähnliche Berechtigung zu nationaler Gestaltung steht auch den Ungarn zu, denen Garibaldi ebenfalls von Caprera aus ermuthigende Worte zugerufen haben soll, als sein treuer Waffengefährte, General Dürr, ihm den Diamantenstern überbrachte, welchen ihm die übriggebliebenen Tausend verehrt hatten, die mit ihm im vergangenen Jahre zu Marsala landeten. Auch Ungarn hat ein wohlbegründetes Recht, seine alte Verfassung, seine beschworenen und garantirten Gesetze zurück zu verlangen. Nur allzu oft hört man ja von gewissen Seiten die Worte erklingen: das historische [111] Recht verjährt nicht; soll dies nur so viel heißen, daß es bei den Regenten nicht verjährt, wohl aber bei den Regierten? Auch Ungarn hat eine glorreiche Geschichte hinter sich und thut wohl daran, sich seiner zu erinnern und die an sich guten Gesetze seiner alten Verfassung aufrecht zu halten, resp. sie den Anforderungen der Neuzeit anzupassen. Wenn aber Böhmen, wie es in der neuesten Zeit vielfach geschehen, seine slavischen Agitationen wieder hervorsucht und in ungezügelter Wuth auf deutsche Art und deutsches Wesen schmäht, so möge es doch eingedenk sein, daß es – wir glauben nicht zu viel zu sagen – das meiste Gute, was es überhaupt besitzt, einzig und allein den Deutschen verdankt. Um 806 wurde es bereits von Karl dem Großen abhängig, am 15. Juli 895 trat es zu Regensburg freiwillig in den deutschen Reichsverband, und schon zu jener Zeit fing deutsche Cultur an, sich in Böhmen auszubreiten; die Abhängigkeit von Deutschland dauert durch lange Jahrhunderte fort, und vergebens suchte sich Ottokar der Oberlehnsherrlichkeit Rudolph’s von Habsburg zu entziehen. All seine Blüthe und seinen Wohlstand verdankt es Deutschland, und es gehört ein starker Uebermuth dazu, dies abzuleugnen oder zu verkennen. Einst trug Böhmen als deutsche Kur dem Kaiser das Schwert voran, und jetzt will es Miene machen, sich „dem Kaiser und dem Reich“ zu entziehen! Böhmen kann nicht auf eigenen Füßen stehen, daher schließe es sich mit all seinen Kräften, wie früher, an Deutschland an, das seine starke Tochter mit mächtigen Armen zu schützen wissen wird.

Was aber auch die kommenden Zeiten bringen mögen, der herzinnige Wunsch schließe diesen Artikel: Möge bei den kommenden Kämpfen jeder Deutsche stets bereit sein zu Rath und That, so oft es gilt des Vaterlandes Ehre und Unabhängigkeit. Deutschland über Alles! das sei jedes Ehrlichen Wahlspruch.




Blätter und Blüthen

Der Proceß der Frau Jerome-Patterson macht gegenwärtig in Paris großes Aufsehen. Fast alle Zeitschriften haben einiges darüber berichtet. Den Zeitungsredacteuren in Paris ist der Zutritt zum Civiltribunal, vor welchem der Proceß verhandelt wird, untersagt und wir haben deshalb keine Aussicht die volle Wahrheit desselben zu erfahren; ohnedies wäre den französischen Zeitschriften nicht gestattet, die ganze Wahrheit in dieser Angelegenheit aufzudecken.

Der Gegenstand dieses Processes ist eine bei dem Tribunale erster Instanz des Seinedepartements von Jerome Bonaparte Patterson und seiner Mutter eingereichte Klage auf Betheiligung bei der Hinterlassenschaft des gestorbenen Jerome, früheren Königs von Westphalen, gegen den Prinzen Napoleon, als den alleinigen Erben seines Vaters.

Jerome hatte 1803 in Amerika eine Heirath eingegangen mit Mary Elisabeth Patterson. Jerome Bonaparte Patterson ist der Sohn dieser Ehe. Diese Heirath wurde durch Napoleon unter dem 11. und 30. Ventose des Jahres XIII der französischen Republick annullirt und endlich wurde ihr auch durch zwei Sentenzen des kaiserlichen Familienrathes vom 4. Juli 1856 und 5. Juli 1860 jede rechtliche Wirkung bestritten und anerkannt, daß es bei den Verhältnissen dieser Angelegenheit selbst dem Vertheidiger dieser Ehe nicht gestattet sein könne, sich der in Art. 201 und 202 des Code Napoleon (der in Frankreich noch allgemeine und vollständige Gültigkeit hat) eingeräumten Vortheile zu bedienen, wonach den nichtigen Heirathen die bürgerliche Wirkung verbleibt, wenn sie in gutem Glauben eingegangen wurden.

Ob und wie weit Frau Jerome-Patterson und deren Sohn vor dem französischen Tribunal Recht bekommen werden, läßt sich nicht voraussagen; in wie weit ihr Recht begründet ist, läßt sich nur aus der Geschichte dieser Ehe abwägen. Nicht Allen dürfte sie in ihren Einzelheiten hekannt sein.

Nachdem Jerome in Paris kaum das Knabenalter zurückgelegt hatte, bestimmte er sich für den Seedienst. Daß er den Handel erlernt habe und von seinen Eltern dazu bestimmt sei, ist nicht der Fall, so allgemein es auch angenommen wird. Nach mehreren unbedeutenden Zügen im mittelländischen Meere ging er als Schiffslieutenant nach Amerika. Hier stieg er, wenn auch nicht durch sein Verdienst, zum Schiffscapitain. Er lebte abwechselnd in Boston, Washington und Baltimore. Er hielt sich länger in Amerika auf, als in der Absicht seines Bruders lag, der mehrere Male an den Generalconsul der französischen Republik in Amerika, Pichon (früher Advocat in Paris, später westphälischer Staatsrath), den Befehl sandte, daß die französischen Fregatten und Jerome zurückkehren sollten.

Jerome weigerte sich, und Pichon sandte die Schiffe ohne ihn zurück. Darüber zerfiel Jerome mit ihm, der mit einem schönen jungen Mädchen Mary Elisabeth Patterson, der Tochter eines reichen Kaufmanns und Banquiers in Baltimore, ein Liebesverhältniß angeknüpft und, um den Vater für sich zu gewinnen, selbst Kaufmann zu werden beschlossen hatte.

Elisabeth’s Vater war auch jetzt noch gegen eine Verbindung mit Jerome, da dieser weder körperlich noch geistig irgend eine ihn auszeichnende Eigenschaft besaß und ohne alle Existenzmittel war.

Jerome suchte den Vater seiner Geliebten durch die Vorspiegelungen der Macht, welche sein Bruder in Frankreich besaß, zu gewinnen. Er versöhnte sich durch Le Camus (nachheriger westphälischer Minister-Staatssecretair, Graf von Fürstenstein) Vermittlung mit Pichon, redete diesem vor, er habe jede Verbindung mit Elisabeth Patterson abgebrochen und sei entschlossen, nach Frankreich zurückzukehren. Er bat ihn um einen Vorschuß von 30,000 Franken, und Pichon war gutmüthig genug, sie zu geben. Jerome drang nun mit aller Ueberredung in Elisabeth’s Vater, seine Einwilligung zu geben. Er erhielt sie, und schon drei Tage nachher, am 27. December 1803 feierte er seine Verbindung mit der schönen, unschuldigen und mit dem vollsten Vertrauen an ihn glaubenden Elisabeth. –

Napoleon hatte sich zum französischen Kaiser proclamirt und hatte, um seine Macht zu verstärken und auf die Dauer zu sichern, den Plan gefaßt, seine Brüder zu französischen Prinzen zu erheben und mit Prinzessinnen zu vermählen. Er schrieb diesen Plan auch an Hieronymus und fügte den Befehl hinzu, seine rechtmäßige Gattin zu verlassen und nach Frankreich zurückzukehren.

Jerome theilte seiner Frau und deren Eltern mit, daß er nach Frankreich zurückkehren müsse und welche hohe Stellung ihn dort erwarte. Elisabeth’s Eltern erschraken.

Sie sahen das Geschick ihrer Tochter im Geiste voraus. Bekannte theilten ihre Besorgniß. Jerome hatte schon damals den Entschluß gefaßt, seine Gattin zu verlassen, dennoch suchte er bei ihr und ihren Eltern jede Besorgniß zu verscheuchen. Er schwor, daß er sie ewig lieben und nie verlassen werde, und es wurde ihm nicht schwer, Elisabeth, die ihm vertraute, zu überreden, ihm zu folgen. Ihre Eltern waren untröstlich – sie wollte ihr Geschick an das ihres Mannes knüpfen und folgte ihm, auf das Reichste von ihren Eltern ausgestattet.

Das Schiff landete nach glücklicher Fahrt im Hafen von Lissabon. Nach einem kurzen Aufenthalte dort sagte Jerome, den bezahlte Lügner bei seiner Grabrede „den edlen“ nannten, daß er nach Paris vorauseilen wolle, um alle Vorbereitungen für ihren Empfang zu treffen. Sie suchte ihn zurückzuhalten, sie sah ihrer Niederkunft entgegen und bedurfte seines Schutzes in dem fremden Lande doppelt.

Mit Lügen suchte er sie zu überzeugen, daß er zuerst allein nach Paris reisen müsse, er gab ihr die heiligsten Schwüre, daß er in kurzer Zeit wiederkehren werde, um sie zu holen. Er reiste ab – sie hatte ihn zum letzten Male gesehen. Nur mit einigen Dienerinnen blieb sie allein, ohne Schutz zurück. Keine Nachricht, selbst nicht einmal einen Brief erhielt sie von dem „edlen“ Jerome.

Endlich, durch Schmerz und Angst zur Verzweiflung getrieben, faßte sie den Entschluß, um die Gewißheit ihres Geschickes zu erfahren, mit ihren Dienerinnen nach Frankreich überzuschiffen. So kam sie auf dem Texel an, froh ihrem Ziele so nahe zu sein. In größter Eile wollte sie Paris zu erreichen suchen – da wurde dem amerikanischen Schiffe, welches sie trug, die Landung verboten. Auf Napoleon’s oder Jerome’s Willen waren durch den Polizeiminister die französischen, holländischen und spanischen Häfen für Elisabeth verschlossen. Ihr „edler“ Gatte ließ ihr sagen, daß sie nicht landen dürfe, daß sie nach Amerika zurückkehren möge.

Vergebens bat sie, nur in einem kleinen Dorfe Hollands ihre Niederkunft abwarten zu dürfen; vergebens verwandten sich in Amsterdam anwesende Amerikaner für die unglückliche, verlassene Frau, das roheste Herz wurde durch Jerome’s Verfahren empört, nur sein eigenes nicht.

Elisabeth wandte sich nach England, wo sie gastfreundlich aufgenommen wurde. Nach ihrer Niederkunft kehrte sie zu ihren Eltern zurück – arm, denn ihr Eigenthum hatte Hieronymus mit sich genommen.

Um die Trennung dieser Ehe herbeizuführen, nöthigte der „edle“ Mann seine Mutter zu der Erklärung, daß die Verbindung ohne ihre Einwilligung Statt gefunden habe. Sodann verordnete er durch einen kaiserlichen Erlaß, daß die Verbindung nicht in das officielle Verzeichniß eingetragen werde. Ferner ersuchte er das Oberhaupt der von ihm in Frankreich wieder eingeführten katholischen Kirche, die Ehe zu annulliren. Doch der Papst gehorchte ihm nicht. Glücklicher war Napoleon Bonaparte im folgenden Jahre, 1806, wo der Erzbischof von Paris sich bewegen ließ, die Ehe und das derselben entsprossene Kind (Jerome) für ungesetzlich zu erklären. Hierauf heirathete der „edle“ Jerome die Prinzessin Mathilde von Würtemberg und zeugte mit ihr den Prinzen Napoleon und die Prinzessin Mathilde. Nichtsdestoweniger sah er seine erste Frau und deren Sohn noch später als zur bonapartischen Familie gehörend an. Denn, als er König von Westphalen geworden war, verlangte er von seiner ersten Frau den Sohn, um ihn seinem Range und seiner Geburt gemäß zu placiren, konnte ihn aber nicht erhalten. Die amerikanische Madame Bonaparte war zwar von der Legislatur Maryland’s von ihrem Manne, der sie böswillig verlassen hatte, getrennt, doch geschah dies vorbehaltlich ihrer und ihres Sohnes Rechte. Als Madame darauf von 1809 bis 1829 in Europa zubrachte, wurde sie nicht nur von allen Mitgliedern der durch den Sturz des Tyrannen inzwischen etwas bescheidener gewordenen Bonaparte-Familie als Verwandte aufgenommen, ihr Sohn sollte auf verabredetermaßen nach einem nicht zur Ausführung gekommenen Plane die Tochter Joseph Bonaparte’s, weiland Königs von Spanien, ehelichen. Der jüngere Jerome heirathete hernach eine Amerikanerin und erhielt sodann von seiner Großmutter, der Madame Letizia, ein Beglückwünschungsschreiben, worin er „Mein lieber Sohn“ angeredet war. Andere Mitglieder der Bonaparte-Familie beglückwünschten ihn auf ähnliche Weise. Ingleichen erhielt er entsprechende Beglückwünschungsschreiben bei der Geburt eines Sohnes. Bei der Vermählung der Prinzessin Mathilde mit dem Fürsten Demidoff im Jahre 1840 zeigten ihm Prinz Jerome, Fürst Demidoff und die Prinzessin [112] Mathilde und andere bonapartische Verwandte dieses frohe Ereignis in den herzlichsten Ausdrücken, begleitet von innigen Grüßen an die Frau Gemahlin und das Kind, an. 1837 wurde ihm sogar die Freude zu Theil, daß er einen jetzt hoch über Recht und Gesetz erhabenen Retter als Gast bei sich bewillkommnen durfte. Louis Napoleon Bonaparte hatte nämlich damals in Straßburg den verunglückten Versuch gemacht, durch die Gnade Gottes und den Willen des Volkes Kaiser der Franzosen zu werden, und wurde von Louis Philipp auf dem französischen Staatsschiffe Andromeda nach Newyork in die Verbannung geschickt. Da er nicht viele Geldmittel besaß, nahm er es mit der Verwandtschaft nicht sehr genau und suchte in der Erwartung, eine vetterliche Aufnahme zu finden, den Sohn der Miß Patterson auf. Dieser gewährte ihm den gehofften freundschaftlichen Empfang und lud ihn ein, in seinem Hause zu wohnen, was Louis Napoleon auch mit der größten Bereitwilligkeit annahm. Als darauf nach dem Scheitern des Boulogner Streiches (1840) der Staatsstreich vom 2. December 1851 gelungen war, stattete der amerikanische Jerome einen Gegenbesuch in Paris ab. Es schien auch, als ob Louis Napoleon seiner Verpflichtung, die er sich im amerikanischen Exil zugezogen habe, eingedenk wäre. Denn sowie Jerome angekommen war, empfing er eine Einladung als „Prinz Jerome“, und beim Eintritt in den Palast des Herrschers erhielt er von diesem eine geschriebene Erklärung, daß er ein gesetzliches Kind sei. Diese Erklärung gab jedoch Anlaß zu bedauerlichen Auftritten, Ränken und Händeln in der kaiserlichen Familie, weil jetzt der Sohn der Prinzessin Mathilde sich durch den Sohn der Miß Patterson den Rang abgelaufen sah. War der Amerikaner ein gesetzliches Kind, so mußte der Prinz Napoleon ein ungesetzliches Kind sein und später, wie auch die Prinzessin Mathilde, um seine Erbschaft gebracht werden. Ruhe und Frieden könnten nimmer wieder in das olympische Leben der Kaiserfamilie einziehen, wenn nicht der amerikanischer Störenfried zurück in die Urwälder geschickt wurde.

Der Prinz Napoleon und die Prinzessin Mathilde, die beiden bedrohten Kinder des alten Jerome, baten daher den Kaiser und den Familienrath, daß dem Plebejer untersagt werde, inskünftige den Namen Bonaparte zu führen, und Louis Napoleon, der jetzt nicht wieder in’s Exil nach Newyork zu kommen hofft, schickte das räudige Schaf der Familie in’s Land des Kolumbus zurück. Man glaubte, hierdurch sei der widrige Streit am besten und schnellsten beigelegt. Obendrein bot man mehrmals dem Amerikaner, um nicht in Zukunft von ihm belästigt zu werden, einen Herzogstitel an; aber derselbe schlug in einer Sache, wo es sich um eine Kaiseranwartschaft handelte, die ihm zugedachte Ehre immer großmüthig aus.

Der Tod des alten Jerome hat den bedauerlichen Zwist aufgefrischt. Miß Patterson und ihr Sohn Jerome haben eine Erbschaftsklage anhängig gemacht, verlangen die Aufnahme eines Inventars und beantragen die gesetzliche Theilung des Jeromistischen Erbes. Gewinnt der Amerikaner den Proceß, so werden der Prinz Napoleon und die Prinzessin Mathilde zu ungesetzlichen Kindern gemacht, denn sie sind in den Jahren 1806 bis 1812 geboren, in einer Zeit also, wo der Prinz Jerome noch nicht auf gerichtliche Weise von seiner ersten Frau geschieden war. Wie wird das unter dem Kaiser stehende Gericht in dieser kitzligen Angelegenheit entscheiden? Was wird die Mehrheit der Bonaparte-Familie und der Familienrath für räthlich finden?

Der „Moniteur“ hat schon gesprochen. Es giebt nur den einen gesetzmäßigen Erben, den Prinzen Napoleon, und der amerikanische Plebejer hat Unrecht. Unrecht hat er allerdings, wenn ein Kaiser, mächtiger als der Allmächtige, Recht in Unrecht verwandeln, Geschehenes ungeschehen machen und die Mitglieder des obersten Gerichtshofs in seine Lakaien verwandeln kann.

Die Hinterlassenschaft Jerome’s ist beiläufig sehr bedeutend. Wo sie und wie sie erworben ist, wissen alle die, welche die Geschichte seines westphälischen Königthums kennen.




Washingtons Auslagenberechnung nach seiner Abdankung als Oberfeldherr. Washington hatte bei der Uebernahme der Oberbefehlshaberstelle des amerikanischen Heeres jede Geldvergütung zurückgewiesen und sich nur vorbehalten, nach geschlossenem Frieden seine Auslagen zu berechnen. Am Tage, wo er den Oberbefehl niederlegte, reichte er seine Auslagenrechnung[3] ein, die wohl das merkwürdigste Actenstück dieser Art ist. Sie bekundet klar den einfach schlichten Sinn des großen Mannes. Wie der ordnungsliebende Hausvater, der gewissenhafte Kaufmann hatte er Buch gehalten über jede Ausgabe, die kleinen wie die großen. Während der acht Jahre des Krieges hatte er verbraucht: für seinen und seines ganzen Stabes Haushalt 69 250 Dollars und 3,378 Pfund Sterl. 14 Schill. 4 Den.; für gemeine Nachrichten und Spionenberichte 6.717 Doll. und 1,982 Pfd. St. 10 Schill.; für Recognoscirungs- und andere Reisen 42,7552/3 Doll. und 1,874 Pfd. St. 8 Schill. 8 Den., endlich für verschiedene Auslagen 40,4511/3 Doll. und 2,952 Pfd. St. 10 Schill.. 1 Den.; somit im Ganzen 160,074 Doll. und 10,197 Pfd. St. 3 Schill. 1 Den. – Jene 160,074 Doll. waren Papiergeld, das von Jahr zu Jahr im Werth fiel, so daß im Mai 1781 die runde Summe von 20,000 Doll. in Papier grade 500 Doll. in Münze werth waren, und nach der von Monat zu Monat aufgestellten Werthberechnung des Papiers jene 160,074 Doll. nur 20,393 Doll. oder 6,114 Pfd. Str. 14 Schill. Geldweerth gehabt hatten; wonach der ganze Betrag seiner Auslagen in den 8 Jahren sich auf 16,311 Pfd. St. 17 Schill. 1 Den. belief.

Es macht einen wunderbaren Eindruck, wenn man in dieser Rechnung dem Feldherrn Schritt für Schritt, von einem Lagerplatze und einem Schlachtfelde zum andern folgt und dann findet, daß er hier 5 Dollars für seine Wäsche, dort 3 Dollars für seinen Barbier ausgelegt; hier 8 Pfd. St. 12 Schill. 8 Den. an seinen Schneider, dort 3 Pfd. 12 Den. für Briefporto bezahlt; hier einem General 200 Guineen geliehen, dort einen Spion mit 5 Pfd. St. erkauft hat. Ein paar Sonderbemerkungen aber, die Washington hier und dort unter seine Rechnungen als Noten beilegt, sind zu bezeichnend, um sie nicht wiederzugeben. Im Mai 1780 berechnet er 133 Pfd. St. 16 Schill. als ihm vom Generalzahlmeister übergeben und setzt in einer Note hinzu: „Diese Summe steht in meinen Rechnungen als dem Schatz schuldig: aber ich habe sie in keiner Rechnung des Schatzes gegen mich aufgeführt finden können. Wo das Mißverständniß liegt, kann ich nicht sagen; aber ich möchte, daß es aufgeklärt werden könnte: da ich ebenso wenig wünsche, Schaden zuzufügen als Schaden zu leiden.“ (a. a. O. S. 34.)

Im Sept. 1781 berechnet er 800 Pfd. St. in Bausch und Bogen für seinen und seines Stabes Haushalt und sagt dann in einer Note: „Dies Geschäft war während der obigen Periode wegen Mangel eines guten Haushalters (wie ich selbst und Andere vergebens einen aufzutreiben suchten) in so verschiedenen Händen, – und die Rechnungen wurden nicht nur unregelmäßig geführt, sondern manche gingen auch verloren oder wurden verlegt, und einige so beim Verpacken beschädigt, daß sie nicht mehr brauchbar waren, so daß es mir unmöglich wurde, daraus feste Ansätze zu machen. Aber da hier von der Zeit die Rede ist, in welcher die französische und amerikanische Armee nur Ein Lager bei Philadelphia bildeten, und unsere Ausgaben am höchsten waren; und da diese Summe, so nahe als möglich mit der Durchschnittsangabe per Monat übereinstimmt, wie aus den Rechnungen des Lieutenant Colfar (des zeitigen Haushalters) hervorgehen wird; – so ist die obige Summe unter diesen Umständen nach dem Grundsatze aufgestellt, der am geeignetsten scheint, dem öffentlichen Schatze gerecht zu werden, ohne mich in Schaden zu bringen.“ (a. a. O. S. 39.)

Am Schlusse seiner Rechnung sagt er dann noch: „Bevor ich diese Rechnungen schließe, verlangen Gerechtigkeit und Billigkeit von mir, anzuführen, daß es Leute in den noch von der britischen Armee besetzten Landestheilen giebt, die unter den strengsten Versicherungen einer Vergütung von mir Ansprüche an den Schatz haben für Dienste, wodurch sie mir Privatnachrichten zugehen ließen; und die, wenn sie vorgelegt werden, ich mich in Ehren verpflichtet fühle zu zahlen. – Ich habe gedacht, daß es meine unerläßliche Pflicht war, diese Angelegenheit hier zur Sprache zu bringen, damit sie nicht vergessen werde, im Falle derartige Forderungen später gemacht werden sollten.“

Endlich berechnet Washington in einem Nachtrage zu seinen Ausgaben noch 1,064 Dollars für die Reisekosten und den Aufenthalt der Frau Sarah Washington im Lager, und fügt diesem Posten eine Note bei, in der es heißt: „Obgleich ich von diesen Reiseausgaben Notiz nehme, so führte ich dieselben nicht in meiner öffentlichen Rechnung auf. Die Ursache war: es schien mir im ersten Augenblicke beim Beginne der Auslagen, als ob dieselben den Privatcharakter hätten. Aber die besondern Umstände in meinem Kommando und die verwickelte Lage der öffentlichen Angelegenbeiten, die mich (zu nicht geringem Nachtheile in meinen Privatverhältnissen) zwangen, den stets zwischen dem Schlusse des einen und dem Beginne des andern Feldzuges beabsichtigten Besuch in meiner Familie von Jahr zu Jahr zu verschieben; und da die Auslagen die Folge davon und ebenso Folge meiner Selbstverleugnung waren, so denke ich, habe ich diese Auslagen ebenso berechtigt dem Schatze zuzuschreiben, als mir dies selbst ansteht. Und ich thue dies mit um so weniger Mißbehagen, als ich schließlich finde, daß ich nicht unbedeutend im Nachtheile bin, da meine Auslagen um ein gut Theil meine Einnahmen überschritten haben. Denn außer der Summe, die ich 1775) zu Anfang des Krieges mit nach Cambridge nahm, erhielt ich später 1777 und seitdem wieder Privatgelder, die alle im öffentlichen Dienste ausgegeben wurden, und die ich in der Eile, wie ich glaube, und bei der Verwirrung der Dinge vergessen habe aufzuschreiben, während jeder Pfennig gegen mich hier angeführt ist.“ –

Leicht überschleicht einen bei der Durchlesung dieser kleinbürgerlichen Ehrlichkeit des edeln Menschen und großen Mannes ein Gefühl des Erstaunens ob der Kleinlichkeit derselben. Aber war es nicht groß für ihn, in seinen Verhältnissen so klein zu denken und zu rechnen? Wem fallen dabei nicht die Millionen und Millionen ein, die Napoleon I. noch auf St. Helena berechnen und seinem Volke aufbürden zu dürfen glaubte, und die nach einem Menschenleben zu zahlen die Franzosen vom Hohne des Geschickes gezwungen wurden?

Wie viel größer erscheint nicht Washington in seiner Rechnung mit seinen kleinen Forderungen für das Große, das unendlich Große, das er geleistet hatte! –





„Für die Heuglin’sche Expedition“

zur Aufsuchung Vogel’s gingen bei dem Unterzeichneten noch ein:

1 Thlr. L. u. M. P. in Oelsnitz. – 15 Ngr. Beck in Oschatz. – 3 Thlr. Koschützki auf Gr.-Wilkowitz. – 5 Ngr. R. K. – 5 NGr. R. J. – 1 Thlr. Wilmers, Director in Soest. – 13 Thlr. aus Moskau. – 1 Thlr. W. J. D. in Carlsruhe. – 5 Thlr. A. W. in O. – 2 Thlr. Dienstags-Verein in Apolda.

Ernst Keil. 

  1. Wir erlauben uns, unsere geehrten Leser auf diese Fragmente besonders aufmerksam zu machen. Dieselben sind dem in Kurzem erscheinenden größeren Werke entnommen: „Acht Jahre im Kaukasus, Reiseskizzen vom Maler Paul Franken, herausgegeben von Dr. Schauenburg.“ Mit zahlreichen Originalabbildungen. – Der Reisende, ein rheinischer Künstler, hat den Kaukasus in den verschiedensten Richtungen durchkreuzt, zum Theil im Auftrage des Grafen Salagub, alle denkwürdigen Schlachtfelder für das von der russischen Krone bestellte Werk über den orientalischen Krieg zu malen, und bereitet jetzt, nachdem er vor einigen Monaten zurückgekehrt ist, die reichen Schätze seiner Skizzenhefte zur Veröffentlichung vor. – Außer diesen Reiseskizzen beabsichtigt er ein größeres Prachtwerk, eine „Kaukasus-Mappe“, in photographischen oder Farbendruckblättern zu veranstalten, das weiter dazu beitragen soll, diesen interessanten Theil des Orients, in dem der Kampf zwischen dem griechischen Kreuze und dem türkischen Halbmonde, zwischen Civilisation und Barbarei früher oder später wieder entbrennen muß, unserer genaueren Kenntniß aufzuschließen.
    Die Red.
  2. Es bedarf wohl nur der Namensanführung des berühmten Verfassers, um unsere Leser auf die Wichtigkeit der nachfolgenden Vorlesungen aufmerksam zu machen. Wir werden die einzelnen Abschnitte einer geschlossenen Vorlesung stets hintereinander folgen lassen. Die Red.
  3. Fac Simile of Washington’s accounts from June 1775 to June 1783. Treasury Department, Registers office, 1 June 1783.