Die Gartenlaube (1861)/Heft 6
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No. 6. | 1861. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.
Man kann auch in einer holländischen Stadt glücklich sein, selbst wenn diese Stadt ihre historische Größe und Bedeutung längst eingebüßt hat, selbst wenn zwischen dem ordentlichen Pflaster dieser Stadt das Gras wächst, und selbst wenn sie nur von Holländern bewohnt ist. Ich war um so glücklicher in einer solchen Stadt, die ich nicht nennen will, als ich daselbst eine liebenswürdige deutsche Familie kannte, welche sich hier ansiedelte, um die vor Kurzem angeerbten Güter und deren Verwaltung in der Nähe überwachen zu können. Ich hatte sie auf einer Lustreise kennen gelernt, war von ihr eingeladen und, als ich der Einladung ein Jahr später folgte, mit einer Herzlichkeit empfangen worden, wie man nur einen lieben Anverwandten empfängt. In solcher Fremde, in der man mit Sitten und Charakter der Einheimischen nichts gemein hat, ist jeder Landsmann ein Anverwandter, abgesehen von dem Interesse, das man für Reisebekanntschaften empfindet, deren Andenken sich sehr vortheilhaft mit den Erinnerungen einer schönen Lustreise verknüpft und mit diesen identisch wird. Was mich betrifft, ich bedurfte dieser Erinnerungen nicht, um mich zu der deutschen Familie hingezogen zu fühlen und um der Einladung ungeachtet eines großen Umweges sobald als thunlich zu folgen. Fräulein Else, die Tochter des Hauses, wäre stark genug gewesen, mich in viel unwirthbarere Gegenden zu locken. Sie hatte während der kurzen Reise mit ihrer lebhaften Anmuth, mit ihrem lieblichen Wesen mein ganzes Herz gewonnen, und die Briefe, die ich während unserer Trennung von ihr erhielt, waren nicht geeignet, ihr Andenken in mir ersterben zu lassen. Auf den verschiedensten Wegen, in den verschiedensten Gegenden, in den fernen Pyrenäen wie in dem traurigen Irland erheiterten sie mich und gaben mir das Bewußtsein, dessen der Wanderer so sehr bedarf, daß es irgendwo auf Erden einen Punkt giebt, da man gerne gesehen ist, da man gemüthlich ausruhen könnte. Je größer die Anzahl dieser Briefe wurde, desto größer wurde in mir die Sehnsucht nach dieser gemüthlichen Rast, und von Irland kommend vernachlässigte ich die Schönheiten Schottlands, um mich so rasch als möglich in Leith nach Holland einzuschiffen.
Seit vierzehn Tagen weilte ich bereits bei den Reisebekannten, und sie waren mir schon mehr als Gastfreunde. Der Vater gehörte seinen landwirthschaftlichen Sommerbeschäftigungen an, da er als neuer Gutsbesitzer in einem fremden Lande die hiesige Art der Oekonomie mit deutscher Gründlichkeit studiren wollte. Er verbrachte den größten Theil seiner Zeit auf den Feldern und überließ mich seiner Tochter, die, da die Mutter längst gestorben war, dem Hauswesen vorstand. Noch mehr als für dieses Vertrauen war ich ihm für die Freuden, für die tiefen Herzensgenüsse dankbar, die mir dieser ungestörte Umgang mit dem ebenso schönen als liebenswürdigen Mädchen verschaffte. Wir ritten zusammen aus, wir lasen, wir plauderten, wir glaubten einander bis in die geheimsten Winkel unserer Herzen zu kennen und empfanden Beide die schöne Genugthuung, durch diese nähere Bekanntschaft Eines in des Andern Augen nichts verloren zu haben. Die Heiterkeit unseres Umganges war uns dessen sichere Bürgschaft.
An einem schönen September-Nachmittage folgten wir, trotz einigem Widerstreben, der Einladung mehrerer junger Männer, die in der Stadt den Ton angaben und uns schon mehrere Male aufgefordert hatten, mit ihnen einen Ritt nach einem der schönen Punkte der Umgegend zu machen. Wir ritten wohl an zwei Stunden starken Trabes in’s Land hinein, ohne eine Veränderung der Scenerie zu bemerken. Man kann in Holland eine Stunde lang selbst auf der Eisenbahn die Augen im Schlafe schließen, ohne beim Erwachen zu bemerken, daß man nur wenige Schritte weiter gekommen. Ein Canal, auf dem sich ein Trekschuyt langsam fortbewegt, ein Garten mit ölbestrichenem Staket, eine Wiese mit wenigen Kühen, am Horizont eine unendliche Reihe von Windmühlen, die langweilig ihre Flügel bewegen – das ist die Landschaft, der man noch häufiger in der Natur als auf der Leinwand der holländischen Maler in’s Gesicht blickt. Auf unserem Spazierritt war es nicht anders. Die Pferde bewegten sich, die Sträucher rechts und links flogen an uns vorbei – die Landschaft blieb dieselbe. Wir hielten vor einem Weghause, das, etwas höher gelegen, die Aussicht über eine größere Anzahl von Canälen und Windmühlen gewährte, außerdem seines guten Käses, seines trefflichen Thees und seines guten Weins wegen berühmt war; vor seiner Thür kreuzten sich mehrere Land- und Wasserstraßen, und es war hier etwas lebhafter, als sonst im offenen Lande dieses dem Meere abgerungenen Sumpfbodens.
Die Jugend der …er guten Gesellschaft fand an dem Champagner des Weghauses so großes Gefallen, daß es ziemlich spät wurde, ehe man sich auf den Weg machte, und daß sie dann mit großer Schwierigkeit die richtige Stellung im Sattel fand. Es ging beim Aufsitzen, trotz der Gegenwart mehrerer Damen, so lärmend her, daß demnächstige Rohheit zu befürchten war. So entschloß sich Else kurz, gab ihrem Pferde die Sporen und galoppirte vorwärts. Ich folgte ihr, und bald hatten wir die ganze Gesellschaft weit hinter uns. Es that uns so wohl, nach mehreren geräuschvollen Stunden wieder allein zu sein, daß Else einen Nebenweg einschlug, der uns, wenn auch mit einigem Zeitverlust, doch
[82] sicher nach Hause bringen und vor der Wiedervereinigung mit der Gesellschaft behüten sollte. Aber Else mußte sich geirrt haben, denn wir ritten und ritten, freilich in behaglichem Schritt, der ein ebenso behagliches Gespräch erlaubte, ohne in bekannte Regionen zu kommen. Die Tage waren schon kurz und die Nacht war da, ehe wir uns ihrer versahen. Mit der Nacht waren plötzlich schwarze Gewitterwolken heraufgezogen, und bald sahen wir den Weg nur vermittelst des Blitzes. Schon tröpfelte der Regen herab, wir gaben den Pferden die Sporen, schon strömte es vom Himmel, und Donnerschlag folgte auf Donnerschlag. Wir befanden uns in einer Lage wie Dido und Aeneas und hatten uns außerdem verirrt. Else hatte sich zu sichere Kenntniß des Landes zugetraut, und selbst bei der besten Kenntniß wäre es in dunkler Nacht und bei strömendem Regen schwer gewesen, sich zurecht zu finden. Die Straße lief in vielfachen Windungen zwischen Canälen und Gräben hin; wir mußten ihr folgen, da es in keinem Lande so schwer ist, wie in Holland, querfeldein, den Weg abzukürzen oder eine Zuflucht zu suchen. Erst nach einem Ritt, der uns bei den vielen Unannehmlichkeiten sehr lang erschien, entdeckten wir rechts von unserm Wege, etwa zweihundert Schritte weit von uns, ein Licht, das unregelmäßig aus Fenstern und Spalten irgend eines Gebäudes zu dringen schien. Glücklicherweise führte an dieser Stelle eine Brücke über den Canal und vom Canal aus ein Weg dem Lichte entgegen. Wir folgten diesem Wege und kamen an ein Thor, das eine Staketenwand schloß, und wir vermutheten, daß das Gebäude, aus dem das Licht kam, eine Scheune sei, wie sie sich auf den großen eingezäunten Wiesen Hollands zu finden pflegt. Auch eine Scheune war uns bei dem immer heftiger strömenden Regen als Zufluchtsstätte höchst willkommen. Ich stieg ab, öffnete das Staketenthor und führte mein und Else’s Pferd der Scheune entgegen. Der Weg führte gerade an das Scheunenthor, dennoch mußte ich lange klopfen, bis es geöffnet wurde, denn der Lärm des Donners, der noch immer grollte, des strömenden Regens, verbunden mit Pferdewiehern und Gestampf, welches zugleich mit einem höchst eigenthümlichen Gesumse und vielstimmigen Gesange aus dem Innern der Scheune kam, machte, daß mein Klopfen und Rasen nicht gehört wurde. Endlich wurde geöffnet. Ein kleiner, brauner Junge sah uns mit großen, schwarzen Augen an, verstand uns bald und lud uns ein, so rasch als möglich einzutreten, indem er Fräulein Else mit vielem Geschick vom Pferde half, während er zugleich den Zaum meines Thieres ergriff. Dieses, erschrocken über den Anblick, den das Innere der Scheune bot, bäumte sich; aber der Junge behandelte es als ein Mann, der sich auf wilde Pferde versteht, und brachte es rasch wieder zur Ruhe. Er führte die Thiere in die Scheune, und wir folgten ihm.
Ein wunderbares Schauspiel erwartete uns, ein Schauspiel, das uns Beiden ein erstauntes Ach! ebenso schnell hervorrief als unterdrückte. Die ganze Scheune bildete einen einzigen, großen, weiten, ungetheilten Raum; aus diesem weiten Raume boten sich die verschiedensten Gruppen in verschiedener Beleuchtung. Beinahe die ganze Hälfte der Scheune rechts vom Thor, durch das wir eintraten, war von Pferden der verschiedensten Größen und Racen eingenommen, von denen einige aus Trögen fraßen, andere neugierig und klug den Neuangekommenen entgegen sahen, noch andere bereits auf dem Strohe lagen, um, wie es schien, nach langem, ermüdenden Marsche auszuruhen. Einzelne Stalllaternen an den Wänden und Holzpfeilern beleuchteten sie und einzelne Männer, die zwischen ihnen und hinter ihnen auf dem Stroh lagen, mit dämmerigem Lichte. Die Männer erfreuten sich eines tiefen Schlafes, trotz dem Lärm des Ungewitters und der mannigfachen Töne, die sich in der Scheune selbst hören ließen. Eigenthümlicher aber war der Anblick, den der Winkel links am andern Ende der Scheune gewährte. Dieser war in volles Licht getaucht, und dieses Licht kam von den vielen Stalllaternen, die dort an den Holzwänden angebracht waren, von zwei großen Kerzen, die vor einer Art improvisirten Betpultes brannten, und von zehn bis zwölf großen, gelben, aus rohem Wachs gekneteten Wachskerzen, die alle zusammen in einem mit Sand angefüllten Futtertroge rechts vom Betpulte staken. In dieser hellerleuchteten Abtheilung der Scheune stand eine höchst auffallende Versammlung von Männern. Sie alle hatten weiße wollene oder damastene von schwarzen oder blauen Bändern eingefaßte Mäntel umgeworfen, von deren Ecken vier gleichmäßig gebundene, längliche Wollfadenbüschel herabfielen und die oben, an dem Theile, der den Nacken bedeckte, mit silbernen oder goldenen Tressen besetzt waren. Mehrere dieser Männer trugen unter dem Mantel lange, weiße, leinene Kittel, die faltig bis über die Knöchel herabfielen, geschlossen und in der Mitte vermittelst einer Schnur am Leibe fest gehalten waren. Der Mann, der in einem solchen Kittel an dem Betpulte, in der Nähe der gelben Wachskerzen stand, hatte die Brust mit einem aus Silbertressen zusammengesetzten viereckigen Schilde geziert. Die Männer in den Kitteln trugen auf dem Kopfe weiße Hauben, die zum Theil mit Stickereien bedeckt waren; die anderen hatten Hüte oder gewöhnliche Mützen auf. Sämmtliche Männer standen in einer Richtung, dem Betpulte zugekehrt. So stille als sie dastanden, so stille saßen hinter ihnen auf ausgebreitetem Stroh mehrere Weiber und Mädchen, deren manche ein schlafendes oder wachendes Kind auf dein Schooße oder in den Armen hielt. Der weibliche Theil der Versammlung hatte, das andächtige Schweigen abgerechnet, nichts Feierliches oder Festliches. Die Frauen und Mädchen waren im äußersten Negligé; sie lagen oder saßen höchst ungezwungen auf dem Stroh, die Haare ordnungslos zurückgestrichen oder über Brust und Schulter herabfallend, die gewöhnlichsten Werktagskleider nach Bequemlichkeit lose gemacht oder verschoben. Hinter dieser Gruppe, ganz nahe dem Thore, stand eine lange Reihe von Kasten und Kisten, welche theilweise geöffnet waren und einen Blick in ihr· Inneres gestatteten. Da waren die phantastischsten männlichen und weiblichen Trachten aufgehäuft, welche alle Farben spielten und meist mit Goldtressen, Schleifen und allerlei schimmernden Flitter geschmückt waren. Zwischen den Kisten ordnungslos zerstreut lagen und ragten hervor allerlei buntbemalte Reifen, Stangen, Fahnen und anderer ähnlicher Hausrath wandernder Kunstreitergesellschaften.
Es war kein Zweifel: wir befanden uns bei einer Kunstreitergesellschaft und zwar höchst wahrscheinlich bei der im Lande berühmten Truppe Wullenweber’s, deren Ankunft seit mehreren Tagen in Amsterdam erwartet wurde. Das erkannten wir sogleich bei unserem Eintritt; aber die in dem beleuchteten Winkel stehenden, in Todtenhemden gehüllten Männer, ihr stilles Gebahren und die sonderbare Beleuchtung blieben Elsen noch immer ein Räthsel. Sie wandte sich mit erstaunt fragendem Gesicht zu mir. „Merken Sie es nicht?“ flüsterte ich, „der größte Theil der Gesellschaft besteht aus Juden; sie feiern den Vorabend des Versöhnungstages. Der Vorsänger verrichtet jetzt sein stilles Gebet, daß ihn Gott würdig mache, der Gemeinde vorzubeten, und seiner Lunge Kraft gebe. Wenn dies vollendet ist, wird er zu singen anfangen; achten Sie auf die Melodie, Else, sie ist höchst originell und rührend.“
„So!“ lispelte Eise ängstlich und neugierig zugleich und näherte sich der Gruppe der Weiber. Eine derselben, die auf einem Strohbund saß und einen Säugling an der Brust hielt, rückte etwas bei Seite und lud sie ein, sich zu setzen, sprach aber nur leise, wie um die Andacht der Andern und ihre eigene nicht zu stören. Ihr ganzes Wesen war das einer guten und besorgten Mutter aus dem Volke. Ihre Aufmerksamkeit war sehr getheilt zwischen der religiösen Andacht und der Sorgfalt für das Kind, das sie verhüllt und mit Tüchern bedeckt am Busen hielt. Von Zeit zu Zeit hob sie eines der Tücher auf und blickte mit schmerzlichem Ausdruck auf das bleiche, offenbar kranke Gesicht des Kindes. Bei jeder Bewegung desselben zitterte sie am ganzen Körper und ließ das hebräische Buch, das aufgeschlagen auf ihren Knieen lag, auf den Boden fallen, ohne es zu beachten, mit wie großer Frömmigkeit sie es auch jedes Mal aufhob, so oft das Kind ruhiger wurde. Sie führte dann das Buch an die Lippen und küßte die hebräischen Lettern. Sie war auch gekleidet wie eine Frau aus dem Volke. Ein grobes Tuch, dessen einer Zipfel über den Rücken herabfiel und das unter dem Kinn zusammengebunden war bedeckte Kopf und Haare, welche letztere trotzdem schwarz und in dicken, aufgelösten Scheiteln auf die blassen Wangen hervorquollen Ein gewöhnliches, sehr schlichtes, braunes Kattunkleid, das in der Mitte von einem dünnen Tuche zusammengehalten war, bedeckte die Gestalt, die die Fülle einer Frau in den besten Jahren verrieth. Nur die schwarzen, glühenden Augen hatten etwas, was mit der hausmütterlichen und zugleich frommen Situation der Frau nicht zusammengestimmt haben würde, wenn sie nicht der Ausdruck sanfter Trauer gemildert hätte.
Else sah das schöne, verblühte Gesicht der ebenso zärtlichen, als frommen Mutter anfangs mit mitleidigem Blicken an, nach [83] und nach schien sich das Mitleid in ein gewisses Interesse, selbst in Erstaunen zu verwandeln. Sie machte mir verschiedene Zeichen, die ich aber nicht verstand. Endlich, nachdem sie die Frau wiederholt beobachtet, schien sie ihrer Sache gewiß zu sein und raunte mir in’s Ohr: „Wissen Sie, wer die Frau ist?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Laurabella!“ flüsterte Else weiter. „Weiß der Himmel, es ist die Laurabella, die große Laurabella, das erste Sujet der Gesellschaft, die berühmte Reiterin, der Liebling des Publicums und das Ziel aller Stutzer, die Rivalin der Cuzent und heute so berühmt, wie vor einigen Jahren Landrinette und Adelheid Hinne. Eine Heroin des Circus; – seit vierzehn Tagen schlagen ihr in Amsterdam tausend Herzen voll Sehnsucht entgegen. Die kennen Sie nicht? Sie sind sehr zurück.“
Während mir Else so in’s Ohr flüsterte, sing das Kind zu weinen an. Laurabella erhob sich und ging an das Thor, so fern als möglich von der betenden Gemeinde, und lief dort tänzelnd auf und ab, indem sie das Kind auf den Armen wiegte. Else folgte ihr voll Neugierde und wie unwillkürlich. Als das Kind wieder ruhiger wurde und Laurabella am Scheunenthor in einem Winkel stehen blieb, näherte sie sich ihr mit jener Neugierde, welche die Frau der guten Gesellschaft der Frau gegenüber, die einer abenteuerlichen Welt angehört, immer empfindet und der sie gerne die Zügel schießen läßt, wenn es die Umstände erlauben.
„Ihr armes Kind ist krank?“ fragte sie theilnehmend.
„Seit mehr als acht Tagen.“ seufzte die Angeredete; „das arme Würmlein, wie soll es genesen? Seit fünf Tagen sind wir auf der Reise – keine Ruhe, keine Pflege möglich – kaum daß ich mit einem Arzte sprechen konnte.“
Sie sagte das Alles so traurig und in kurzen abgebrochenen Worten, daß Else’s Theilnahme sich in wahrhaftiges Mitleid verwandelte. „Nun,“ sagte sie tröstend, „Sie gehen ja nach Amsterdam, soviel ich weiß; dort finden Sie Aerzte und werden das Kind in Ruhe pflegen können.“
„Wenn wir nur erst dort wären! Wir bewegen uns mit unsern Pferden und dem ungeheueren Gepäck so langsam fort, und morgen müssen wir des Feiertages wegen hier rasten.“
„Könnten Sie nicht voraus reisen?“
„Wir dürfen nicht reisen an einem so hohen Feiertag, mein Fräulein; es ist der Versöhnungstag, der höchste und strengste Feiertag der Juden.“
„Ich glaubte immer, Sie wären eine Spanierin?“ sagte Elfe in fragendem Tone.
Laurabella lächelte. – „Eine Spanierin bin ich nur auf der Affiche, und nur auf der Affiche heiße ich Laurabella. Im Leben heiße ich Jettchen Mannheimer und bin aus Paderborn. Das thut man so. Für Jettchen Mannheimer hätte sich kein Stutzer der Welt interessiert, aber Senora Laurabella aus Valencia ist schnell berühmt geworden.“
Laurabella schien bereit, noch Manches in ironischem Tone ihrer Rede hinzufügen zu wollen, aber sie unterbrach sich plötzlich und ging rasch auf ihren vorigen Platz zurück, denn das Gebet begann.
„Jetzt horchen Sie!“ sagte ich zu Else.
Der Vorsänger hatte sein stilles Gebet vollendet und begann das laute, das mit den Worten anfängt: „Alle Gelübde, alle Schwüre.“
Die traditionelle Melodie dieses Liedes, die vielleicht Jahrhunderte alt, ist überaus melancholisch, sanft und herzergreifend, wenn sie von einem geschickten Sänger vorgetragen wird. Herr Wullenweber, der Director der Kunstreitergesellschaft, der den Vorbeter machte, schien musikalischen Sinn zu haben, denn er machte sie in ihrer ganzen tiefen Melancholie geltend. Kaum hatte er einige Takte gesungen, als bereits die Weiber zu schluchzen anfingen und selbst einige der betenden Männer, die vor ihnen standen, tiefe Seufzer ausstießen. Bald erscholl lautes Weinen und mit solcher Heftigkeit, als wäre es den Betenden nicht möglich, das überwallende Gefühl zurückzudrängen. Die christlichen Mitglieder der Truppe, die da und dort in der Scheune auf dem Stroh lagen, erhoben die Köpfe und blickten die zerknirschten und weinenden Beter mit eben so viel Erstaunen an, wie meine Begleiterin.
„Was mögen nur die hebräischen Worte sagen, die der Vorbeter singt?“ fragte Else.
„Diese Worte,“ antwortete ich ihr, „haben eigentlich nichts, was die Beter so sehr rühren könnte, auch verstehen sie sie nicht.“
„Warum weinen sie denn so sehr? Die Melodie ist zwar sehr originell und rührend, aber doch nicht so sehr aufregend.“
„Mein Fräulein,“ sagte ich, indem ich mich zu ihr setzte, „die große Feier beginnt. Morgen ist der große Gerichtstag, da tritt der Böse vor den Herrn und klagt an, grade so, wie Sie es aus dem Faustprolog im Himmel kennen. Morgen werden die Schicksale der Menschen für dieses ganze Jahr festgestellt, in ein Buch geschrieben und besiegelt. Morgen werden die Sünden vergeben oder die Strafen für die unverzeihlichen bestimmt von Gott, dem Allmächtigen. Da wird bestimmt, wer durch Feuer, wer durch Wasser, wer durch Pest zu Grunde gehen soll – da wird jegliches Glück und Unglück verhängt. Alles Elend, das diese Elenden in diesem vergangenen Jahre getragen, ist ihnen so am letzten Versöhnungstage verhängt werden. Nun, mit dem Beginn der Feier, erinnern sie sich plötzlich aller Drangsale, aller Mühseligkeit, aller Verluste, aller Schmerzen und, ach, aller Verachtung, die sie in diesem Jahre getragen. Sie weinen vor Gram über Vergangenes und vor Angst vor dem Zukünftigen. O, ihre Herzen sind in diesem Augenblicke vorn gesättigtsten Kummer erfüllt; alle Leiden des Menschen, alle Leiden ihres Standes und vorzugsweise alle Leiden des Juden stehen jetzt in Schaaren vor den Augen ihrer Seele.“
„Sie sind ein Poet,“ sagte Else lächelnd, „glauben Sie, daß Laurabella, die als Sylphe durch sechs Reifen springt und vier Pferde zugleich reitet, dasselbe fühlt?“
„Sehen Sie Laurabella jetzt an,“ antwortete ich.
Laurabella hielt mit beiden Armen das Kissen umklammert, in welches ihr Kind gehüllt war, und hielt sich so vorgebeugt, daß ihre Wange auf dem Kissen ruhte. Das Tuch war ihr halb vom Kopfe gesunken, und ihre dicken, schwarzen Haare fielen wie ein schwarzer Schleier über das halbe Gesicht. Ihr ganzer Körper zuckte krampfhaft unter dem Schluchzen, das aus tiefstem Herzen zu kommen schien, während das Kissen, auf dein ihr Kopf lag, von Thränen naß war.
„Sonderbar,“ sagte Else kopfschüttelnd, „wer hätte sich Laurabella jemals so vorgestellt? Und Sie, lieber Freund, was ist Ihnen? Sie sehen ja eigenthümlich aus.“
„Vielleicht etwas ergriffen,“ sagte ich und legte mein Gesicht in beide Hände.
Indessen war jenes Lied zu Ende gesungen; es folgten andere, dann wieder Gebete, die entweder still oder etwas lauter monoton hingemurmelt wurden. Das Ungewitter hatte sich auch beruhigt und der Regen fiel klopfend auf die Holzdecke der Scheune. Der Regen, das Murmeln der Beter, die Athemzüge der Schläfer woben, da auch das heftige Weinen aufgehört hatte, durch den ganzen Raum ein traumhaftes Gewebe von Tönen. Ich brütete, vertiefte mich in alte Erinnerungen und empfand endlich ein so schmerzliches Behagen, daß ich selbst ungeduldig wurde, wenn mich Else mit Fragen nach diesem und jenem im jüdischen Cultus oder auch nach den Ursachen meiner Vertiefung störte. Als dann der Vorsänger das Lied begann: „Wie der Thon in der Hand des Töpfers, wie das Silber in der Hand des Goldschmieds, so sind wir in der Hand des Schöpfers,“ fiel ich mit halber Stimme ein und sang zum größten Erstaunen Else’s die Melodie mit, wie eine allbekannte.
„Woher kennen Sie das Alles so genau?“ fragte sie, „und überhaupt was ist Ihnen? Sie sind, wie ich Sie nie gesehen habe, aufgeregt, vertieft, gerührt, als ob Ihnen plötzlich ein Unglück geschehen wäre. Erklären Sie mir –“
„Kommen Sie,“ erwiderte ich, indem ich aufstand, „der Regen hat aufgehört; sind wir in freier Luft, will ich Ihnen erklären.“
Wir sagten noch Laurabella Adieu, schwangen uns auf die Pferde, die derselbe Junge uns vorführte, der sie uns abgenommen hatte, gaben diesem ein Trinkgeld und trabten davon. Die Nacht war nach dem Gewitter klar und heiter geworden: der Mond trat aus den Wolken, die sich am Himmel verspätet hatten und nun mit Eile den verschwundenen Gewitterwolken nachzufliegen schienen. Wir sahen weit in’s Land hinaus; die breiten Straßen lagen weiß und deutlich vor uns.
„Nun,“ sagte Else, indem sie plötzlich ihr Pferd langsamen Schrittes gehen ließ, „nun erklären Sie mir, wie Sie zu der Kenntniß dieser jüdischen Bräuche gekommen sind, woher Sie selbst diese [84] Melodien kennen. Sonst sind uns all diese Dinge doch so unbekannt, trotzdem die Juden in unserer Mitte leben.“
„Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen.“
„Ah, es steckt eine Geschichte dahinter, das ist prächtig, erzählen Sie. Gewiß haben Sie einmal einer schönen Jüdin den Hof gemacht und sich, wie der Tenon in der Halevy’schen Oper, als Jude unter den Juden herumgetrieben.“
„Nein, es ist anders. Vor ungefähr zwanzig Jahren lebte in der Hauptstadt unserer Provinz ein Judenmädchen, das als ein Wunder der Schönheit gerühmt wurde. Nehmen Sie an, daß dieser Ruhm vollkommen und in allen Theilen gerechtfertigt war, und erlassen Sie mir die Beschreibung. Ich kann nur sagen, daß ich bis auf den heutigen Tag trotz aller meiner Reisen keine Frau, kein Mädchen gesehen, das sich mit dem Bilde, das in meiner Erinnerung lebt, hätte messen können. Diese schöne Jüdin, obwohl sie nahe wohlhabende Anverwandte hatte, war sehr arm, die Tochter sehr bedürftiger Eltern. Um diese zu ernähren, saß sie in einer elenden hölzernen Bude, weiche in einem der vielen äußeren Winkel eines alten fürstlichen Palastes stand, und verkaufte Watte und allerlei Baumwollenwaaren. Vor dieser Bude standen oft die Reisenden, um die größte Merkwürdigkeit der Stadt anzustaunen. Unter dem Vorwande, die Architektur des Palastes, seine Säulen, Bogen und Karyatiden zu betrachten – denn einer Sage nach sollten Plan und Zeichnung von Michel Angelo herrühren – gingen sie halbe Stunden lang um die Bude im Halbkreise herum und vergaßen Michel Angelo über der schönen Jüdin. Trotzdem der Neid den guten Ruf ungern bei der Schönheit wohnen läßt, erfreute sich Lea – so hieß sie – doch des allerbesten Leumundes, ihren Augen sah man es an, daß ihre Heiterkeit trotz aller Armuth eben so groß war, als ihre Schönheit, und die sie näher kannten, versicherten, daß ihre Güte hinter ihrer Schönheit nicht zurückstehe. Eines Tages kam der Fürst, dem der alte Palast gehörte, ein Mann von ungefähr dreißig Jahren, der den größten Theil seines Lebens bei Hofe zugebracht hatte, in die Provinzialstadt zurück. Er bewohnte eine Villa in der nächsten Nähe der Stadt, aber er wollte doch den alten verlassenen Palast seiner Väter in Augenschein nehmen und er sah wie alle andern Reisenden nur Lea. Sofort schämte er sich der 20 Gulden, die ihm, dem Besitzer des Winkels, den Lea als Mietherin mit ihrer Holzbude einnahm, seine Rente vermehrten. Er redete sie als ihr Miethherr an, er wollte ihr die Miethe für ewige Zeiten schenken; Lea wies das Geschenk zurück. Bald darauf verließ der Fürst die Villa und richtete sich in dem Palaste ein und zwar in einem Flügel, aus dessen Fenstern er Lea den ganzen Tag betrachten konnte. Der Scandal war bald sehr groß in der Stadt; Lea schloß ihre Bude und sie war brodlos, während es hieß, daß nun ein glänzendes, wenn auch nicht ehrenhaftes Leben für sie beginne. Man irrte sich. Der Fürst hatte nicht den geringsten Versuch gemacht, sie herabzuwürdigen; er liebte sie und – er heirathete sie. Nun erst war der Scandal in den zwei entgegengesetzten Classen der Gesellschaft, bei den Aristokraten und bei den Paria’s, den Juden, sehr groß. Die Aristokraten ärgerten sich über die Mesalliance, die Juden über die Taufe der schönen Jüdin. Aber auch dieser Scandal verrauchte. Der Fürst war mächtig, unabhängig und bei Hofe sehr einflußreich. Er hatte die Kaiserin, die sehr fromm war, beinahe von Anfang an auf seiner Seite, weil er durch die Taufe eine Seele gerettet hatte, und sie wünschte die schöne Fürstin in ihrer Nähe zu haben, um das gottgefällige Werk zu Ende zu führen und sie in den Glauben und seine Geheimnisse selbst einweihen zu können. Sie empfing sie, sie machte sie zu ihrer Hofdame, und kaum drei Jahre nach der Taufe war dieselbe Lea, die aber jetzt Therese hieß, welche in der Holzbude Watte verkauft hatte, Sternkreuzordensdame. Das scheint Ihnen unglaublich, aber was ich Ihnen hier erzähle, ist historisch. Der Fürst war eben ein Mann voll Energie, der seine Frau wirklich liebte und den der Widerspruch der Aristokratie gereizt hatte. Er hat von jeher durchgesetzt, was er wollte.
„Nicht so rasch wie die Aristokratie beruhigte sich das Judenthum. Die Fürstin Therese gehörte einer Rabbinerfamilie an, und die ganze Gemeinde betrachtete es als ein ganz besonderes Unglück und als eine noch größere Schande, daß ein Sprößling gerade dieses Stammes abgefallen war. Ein Theil ihrer Familie legte Trauer an, wie um einen Hingeschiedenen (doch nicht ihre Eltern, die sich in das Unvermeidliche fügten und die Tochter nach wie vor liebten), ein anderer Theil aber sah mit der Erhebung der Anverwandten eine glänzende Zukunft Heraufziehen. Und als es endlich sicher war, daß die Fürstin bei Hofe empfangen, die Freundin der Kaiserin und in Folge ihrer bezaubernden Schönheit und der Macht ihres Gatten eine höchst einflußreiche Persönlichkeit wurde, machte sich dieser Theil der Familie mit dem Gedanken, zum Christenthum überzugehen, vertraut, und es kamen schon da und dort einzelne Ueberläufer vor, die es nickt erwarten konnten, unter dem Schutze der hohen Anverwandten und als Christen ihr Glück zu machen. Zu der Familie gehörte auch ein ziemlich wohlhabender Mann, der anfangs über den Abfall Lea’s sehr entrüstet war und mit seinem zehnjährigen Knaben eifriger und fleißiger als je die Synagoge besuchte. Um sein Kind vor einem ähnlichen Abfall zu bewahren, ließ er es die fünf Bücher und die Propheten in der Ursprache studiren und hielt es mit größter Strenge zur Ausübung aller religiösen Formen und Ceremonien an. Aber denselben Knaben, der sich gewöhnt hatte, in der Frömmigkeit zu schwelgen, führte er ungefähr drei Jahre später in die Kirche und als sie wieder heraustraten, sagte er ihm, daß sie Beide nunmehr Christen seien. Der Knabe brach in Weinen aus, aber der Vater versicherte ihn, es sei so besser und er habe nur als guter Vater für seine Zukunft gesorgt. Wir verließen die Stadt und zogen in die Residenz, wo mein Vater in der That eine glänzende Carriere machte, denn er war eben so klug als unterrichtet – –“
„Wie!“ rief Else und hielt ihr Pferd an, „Ihr Vater?
Sie sprechen von Ihrem Vater? Sie sprechen von sich?“
„Allerdings! der Knabe, von dem ich spreche, war ich.“
„Unmöglich!“
„Doch! Ich erzähle Ihnen keine Märchen. Aber warum sind Sie so blaß? Ich sehe es selbst beim Mondschein, daß Sie erblassen.“
„Sie sind ein Jude? Sie scherzen; ich kann es nicht glauben.“
„Fräulein Else, ich scherze nicht.“
„Warum haben Sie mir das nicht früher gesagt?“ fragte Else mit einem Tone, der den bittersten Vorwurf verhüllen sollte.
„Wäre es mir je eingefallen, daß die Mittheilung Sie in solche Aufregung versetzen könne, ich hätte es längst gethan, oder ich hätte Ihre nähere Bekanntschaft nicht gesucht.“
Else ritt weiter; ich folgte ihr und fuhr fort: „Ich könnte Ihnen sagen, daß ich bei Ihrer Freundschaft für mich, bei Ihrer Bildung eine solche Mittheilung für überflüssig hielt, aber das wäre nur die halbe Wahrheit. Die ganze Wahrheit ist, daß ich nicht daran gedacht habe, daß ich es längst vergessen habe, jemals ein Jude gewesen zu sein. Von jenem Moment der Taufe an lebten wir nur unter Christen. Ich dachte nie an mein einstiges Judenthum, selbst nicht, wenn ich mit Juden zusammentraf. Nur wenn ich die alten Melodien meiner Jugend wieder singen höre, wie diesen Abend, wenn ich diese religiösen Bräuche wieder sehe, an denen ich einst mit ganzer kindlicher Seele hing, erwacht die Erinnerung so mächtig und wühlt mein ganzes Herz auf, daß ich weinen möchte – und wenn ich sehe, wie der Name noch immer Schrecken und Verzweiflung einflößt – wie vielleicht jetzt, so möchte ich gleich wieder abfallen, ein neuer Apostat, und hinüber laufen in das Lager der Schwächeren.“
„Was wird mein Vater sagen!“ rief Else.
„Darauf kommt es nicht an, mein Fräulein. Was Sie sagen, Sie, das ist das Wichtige, oder vielmehr was Sie verschweigen und was Sie nicht zu sagen brauchen,“ erwiderte ich mit einer Bitterkeit, deren ich mich Elsen gegenüber einige Stunden früher nicht für fähig gehalten hätte.
Else schwieg und ritt schweigend weiter; ich eben so schweigend neben ihr. Nach ungefähr einer Stunde hielten wir vor ihrem Hause. Ich sprang ab und half ihr vom Pferde. Dann schwang ich mich wieder in den Sattel.
„Was thun Sie?“ fragte Else. „Wohin wollen Sie?“
„Nach Amsterdam!“ rief ich, „vielleicht zur Kunstreitergesellschaft, vielleicht in die Synagoge! “
Und ich ritt in die Nacht hinein. Ich habe Else nie wieder gesehen.
[85]
Von Albert Traeger.
Doch Vieles in der Welt,
Ich mein’ nicht etwa ’s Geld,
Ist doch der Mühe werth,
Daß man es hoch verehrt.
Vor alle brave Leut’,
Vor Lieb’ und Dankbarkeit,
Vor treuer Madeln Gluth,
Da zieh’ ich meinen Huth!
Kein Aschen! Kein Aschen!
Zu einem angesehenen Arzte Wien’s kam eines Tages ein Mann, der über qualvoll düstere Stimmung und unbesiegbare Schwermuth, Rath erheischend, sich beklagte. „Vielleicht ist Ihr Beruf zu einförmig und ermüdend?“ – „Ach nein, er gewährt Abwechslung und Zerstreuung wie kein anderer.“ – „Nun, so reisen Sie.“ – „Auch das hab’ ich schon zur Genüge versucht.“ – „Dann weiß ich allerdings nur noch ein einziges Mittel, schlägt das nicht an, so sind Sie unheilbar; gehen Sie in die Leopoldstadt und sehen Sie den Raimund spielen!“ – „Habe die Ehre, mich Ihnen bestens zu empfehlen, Herr Doctor, der Raimund bin ich selber.“
Diese Anekdote mit ihrer herzzerreißenden Spitze enthält die ganze Geschichte eines Mannes, der zu den Unvergeßlichen des [86] deutschen Volkes zählt. Gegen die Bezeichnung „unsterblich“ dürfte vielleicht mancher Aristokrat der Literaturgeschichte sich empören, denn auch hier herrschen Standesunterschiede und ähnliche alberne Vorurtheile leider noch in Menge. Mag dies die Ruhe des Todten nicht stören! wie viele jener verbrieften Unsterblichen leben, längst vergessen, nur noch im Staube der Bibliotheken fort! er aber bleibt ein Unvergeßlicher gleich Jedem, der den Weg zum Herzen des Volkes gefunden.
Ferdinand Raimund wurde am 1. Juni 1790 zu Wien geboren. Der Sohn eines wenig bemittelten Drechslermeisters, genoß er einen für seine Verhältnisse guten Unterricht und ward alsdann zu einem Conditor in die Lehre gebracht. Der aufgeweckte Knabe hatte jedoch schon frühzeitig eine heftige Leidenschaft für den Beruf der Menschendarstellung empfunden, die mit den Jahren und den ihr entgegentretenden Hindernissen zu solcher Unbezähmbarkeit anwuchs, daß der Zuckerbäcker wider Willen eines Tages seiner süßen Beschäftigung entlief. Den angehenden Schauspieler, der 1808 zum ersten Male als „politischer Zinngießer“ in Preßburg auftrat, begrüßte das ganze Haus mit einem so entsetzlichen, einstimmigen Pfeifen, daß er den Muth verlor, zum zweiten Male sich zu zeigen. Schlimmeres widerfuhr ihm bei einigen Wandertruppen niedrigster Gattung, die in Wirthshäusern und Scheunen innerhalb der Bannmeile Wien’s gaukelten; auf die roheste Weise ausgezischt und verhöhnt, kam er plötzlich zur Besinnung und Einsicht, daß außer dem besten Willen Alles ihm noch fehle. Auch auf einen ungemein störenden Sprachfehler, der ihm zunächst jene Mißhandlungen zugezogen, ward er jetzt erst achtsam und bekämpfte diese Schwierigkeit mit so ausdauerndem Eifer, daß er binnen kurzer Frist sie bemeistert hatte. Durch fast undenkbare Entbehrungen ermöglichte er es, wieder eine Zeit lang in seiner Vaterstadt sich aufzuhalten und das Burgtheater jeden Abend zu besuchen, an welchem Ochsenheimer spielte. Diesen berühmtesten Charakterdarsteller seiner Zeit, den großen Vorläufer des größeren Ludwig Devrient, ahmte Raimund noch lange, sogar in allen Unarten, mit sclavischer Unterwerfung nach, bis er endlich das Feld gefunden, das er selbstschöpferisch als unerreichter Meister behauptet hat. Natürlich entschied er sich auch für das Fach seines Vorbildes, und so kam es, daß Raimund sein schönes, gewinnendes Aeußere und den reichen blonden Lockenschmuck nur sehr selten unentstellt auf den Bretern zur Geltung brachte, er hatte sogar eine Abneigung gegen jugendliche Rollen. Nach den gewissenhaftesten Vorbereitungen trat Raimund zu Anfange des Jahres 1811 als Mitglied der Kunz’schen Gesellschaft in Oedenburg auf. Er spielte den Gottlieb Koke in Ziegler’s damals sehr beliebter „Parteienwuth“, einen Bösewicht der jetzt ganz abgestorbenen, allerschwärzesten Sorte, mit ungetheiltem Beifall und sechsmaligem Hervorruf. Glühende Begeisterung und ein ihr entsprechendes unermüdliches Streben ließen ihn schnelle Fortschritte machen, und als er 1813 nach Wien an das Theater in der Josephstadt berufen ward, sicherte er sich schon durch seine ersten Rollen, Franz Moor und Pachter Feldkümmel, die allgemeinste Theilnahme, die ihn seitdem bei jedem seiner Schritte auf und außer der Bühne in steter Steigerung begleitete.
Wien hatte damals ein ganz eigenthümliches, scharf ausgeprägtes Volksleben, das gebieterisch auch nach einem Ausdruck auf der Bühne verlangte. Erzeugt und jubelnd empfangen von der allgemeinen Stimmung und schnell emporgehoben durch das glückliche Zusammentreffen aller Umstände, entstand das Localstück und gelangte sofort zu anerkanntester Herrschaft. Bäuerle, Gleich, Meisl und Perrinet, Dichter mit glücklichen Einfällen und von einer Fruchtbarkeit, die selbst den bis dahin alleinherrschenden Kotzebue zur Eifersucht bringen mußte, verursachten eine wahre Sündfluth von Possen, Schwänken und Parodieen. Die Breter des Leopoltstädter und Josephstädter Theaters, welche im Besitze der Brüder Leopold und Joseph Huber alsbald die beliebtesten Volkstheater wurden, wimmelten von betrunkenen Zauberern und liederlichen Feen, zu deren Gunsten der damalige Geschmack mit besonderer Vorliebe sich erklärt hatte. Bald schlug auch Raimund’s Stunde. Den allgemeinen Anforderungen entsprechend, ließ er sich von Gleich zu seiner Einnahme ein Localstück liefern: „Die Musikanten am hohen Markte“ und spielte darin den Adam Kratzerl, einen verkommenen Vorstadtgeiger, mit so durchschlagender Wirkung, daß der Dichter noch vier Theile zu dieser Posse hinzu schreiben mußte, um die unersättlichen Wiener zu befriedigen. Dadurch ward Raimund zur Erkenntniß seines wahren Berufes gebracht und die deutsche Bühne um einen Komiker bereichert, wie sie ihn zum zweiten Male nicht wieder besessen. Am 22. Februar 1817 betrat er zuerst die nach ihm begierige Leopoldstadt als Adam Kratzerl in „der Pudel als Kindsweib“ und theilte mit seinem zum vollendeten Künstler abgerichteten „Fripon“ überreiche Lorbeern; noch in demselben Jahre ward er dauernd gewonnen. Als der Besitzer bald darauf zu Grunde gegangen, kam das Theater unter die Verwaltung einiger kunstsinnigen Männer, deren einsichtsvollen Bemühungen es gelang, eine Volksbühne herzustellen, die alles Aehnliche vorher und bis auf den heutigen Tag in Schatten stellt. Alle vereinzelten Kräfte wurden hier zu glänzendster Gesammtwirkung vereinigt. Neben Raimund, dessen Volksthümlichkeit von Tag zu Tage wuchs, wetteiferten der übermenschlich lange Korntheuer und der kleine verwachsene Ignaz Schuster, dieser unter anderen ein ganz besonderer Liebling, Friedrich Wilhelm’s III. von Preußen und jedes Jahr von dem mürrischen, schwer zu erheiternden Herrn während dessen Badeaufenthaltes nach Teplitz berufen, Johanna Huber, von ihren Zeitgenossen „die Sophie Schröter des Localstückes“ genannt, und vor allem Therese Krones. Wenige Jahre vorher hatten die gutmüthigen Wiener ein vierzehnjähriges Dirnchen unbarmherzig ausgezischt, weil es mit unbeschreiblicher Zuversichtlichkeit gewagt hatte, durch grundfalschen Gesang die Ohren in der Josephstadt zu zerreißen, und jetzt lag die gesammte Kaiserstadt wonneberauscht zu den Füßen des erblühten Mädchens. Mehr üppig als schön, keine Künstlerin, aber eine durch und durch ursprüngliche, unwiderstehlich mit sich fortreißende Natur, jedes Maß, selbst in der Keckheit, überschreitend, Alles begehrend und Nichts versagend, am wenigsten sich selbst, so war Therese Krones. Von Raimnnd „die Essenz aller Lustigkeit“, „der personificirte Humor“ getauft, gipfelte sich in ihr aller Leichtsinn, alle Genußsucht des berühmten „alten, gemüthlichen Wien’s“. Zwangloser Scherz, ungebundene Ausgelassenheit hatten in den Mauern der Kaiserstadt ein buntbelebtes Feldlager aufgeschlagen, das bald in neue, freudige Aufregung versetzt ward.
Bisher hatte Raimund wohl hie und da schon Einlagen und Wiederholungsverse für seine Rollen sich gedichtet, noch niemals aber seine unverkennbare Begabung, trotz mannigfachen Anrathens an etwas Größerem, Selbständigem versucht. Abermals war es sein Benefiz, das ihn zur Erkenntniß seines Berufes brachte. Meisl sollte ihm das Stück dazu schreiben und hatte die Bearbeitung des Wieland’schen Märchens „die Prinzessin mit der langen Nase“ versprochen, auf das ihn Raimnnd dringend aufmerksam gemacht. Er konnte sein Wort nicht halten, und der Schauspieler, dessen sachkundiger Blick die große Dankbarkeit des Stoffes richtig erfaßt hatte, ward aus Noth sein eigener Dichter. Am 18. December 1823 ward „der Barometermacher auf der Zauberinsel“ mit rauschendem Beifall aufgenommen und zauberte ununterbrochen noch viele Abende lang ganz Wien in die unzureichenden Räume der Leopoldstadt. Für einen ersten Versuch war das Gelingen fast wunderbar. Raimund hatte sogleich all seine Vorgänger übertroffen durch die Tiefe seines Humors, sein wahrhaft dichterisches Feuer und die Gediegenheit der gesammten Schöpfung, welche jene flachen, auf den gedankenlosen Lachkitzel berechneten Erzeugnisse des flüchtigen Augenblickes weit hinter sich zurückließ. In seinen kühnsten Erwartungen übertroffen und dadurch mächtig angespornt, bearbeitete er nun ein Märchen der tausend und einen Nacht und brachte am 17. December 1824 den „Diamant des Geisterkönigs“ zur Aufführung, das dem Dichter und Darsteller verschwenderische Ehren einbrachte. Er spielte den Florian, und Therese Krones war seine Mariandel, so hinreißend, daß ihr auf allen Straßen nachgejubelt ward:„D’ Mariandel ist so schön,
D’ Mariandel gilt mir All’s,
Und wenn ich’s nur erwischen kann,
Fall’ ich ihr um den Hals.“
Raimund’s ungewöhnliche Erfolge und die theilweise vielleicht auch ausschreitenden und ungeschickten Huldigungen, mit denen man ihn überschüttete, erweckten ihm nach dem Laufe der Dinge aus eifersüchtigen Neidern hämische Tadler und böswillige Feinde. Abgesehen von einem einfältigen Gerüchte, welches ihn nur als den vorgeschobenen und dagegen einen Prediger Wimmer als den wahren Verfasser jener Stücke bezeichnete, fanden seine Angreifer [87] immer neue Waffen in dem Umstande, daß er doch nur fremdes bearbeitet, mithin nichts Eigenes geschaffen habe. Dies reizte den Leichtverletzlichen, nun auch einmal in selbstständiger Erfindung sich zu versuchen, und mit der verzehrenden Hast seines ganzen Wesens machte er sich sogleich an’s Werk. Kaum aber war er fertig, als er so vielen Aufregungen und Anstrengungen erlag und in eine hartnäckige, mit dem Schlimmsten drohende Krankheit verfiel. Nach fünf Monaten endlich war er gerettet, und die allgemeine Freude darüber so groß, daß zur Feier seines Wiederauftretens eine Gedächtnißmünze geprägt und mit einem Beglückwünschungsschreiben ihm überreicht ward. Am 10. November 1826 erschien endlich das Original-Zaubermärchen „der Bauer als Millionär“ vor der auf das Aeußerste gespannten Menge. Es erlebte bis zu Raimund’s Tode hundertsechsundsechzig Aufführungen nur in dem einen Theater Wien’s. Des Dichters glänzendste und phantasiereichste Schöpfung erdrückt es fast durch die Ungeheuerlichkeit der Erfindung, während die Aufführung durch die das Ganze durchdringende Gemüthswärme und eine leise Wehmuth, die darüber ergossen, jedes Herz willenlos gefangen nimmt. Raimund’s Spiel als Wurzel gehört zu den unvergänglichen Ereignissen der Theatergeschichte, sein „Aschenlied“, längst ein Eigenthum des Volkes, ließ kein Auge trocken. Die Scenen, in welchen die Jugend von dem übermüthigen Bauer Abschied nimmt und das Alter bei ihm einzieht, gehört zu dem Schönsten und Ergreifendsten, was unser Dichter aufzuweisen hat, und wie wurden sie dargestellt! Korntheuer, als Alter, verbreitete eine eisige Luft und einen durchdringenden Lazarethgeruch im ganzen Hause. Aber die Jugend erst, Therese Krones als Jugend! Kam sie mit ihrem leichtfüßigen Gefolge hereingehüpft, im leichten rosenrothen Fräckchen, der weißen Atlasweste, mit Rosen eingefaßt, auf der die silbernen Knöpfe blitzten, und dem kurzen weißkasimirenen Beinkleid, hoch in der Hand das weiße Hütchen mit den flatternden Rosenbändern schwingend: – Greise fühlten sich da mit einem Male wieder verjüngt; sah sie sich aber alsdann in der Thüre noch einmal um nach dem Verlassenen, der zum Abschiede in ihre Hand eingeschlagen, da wähnten auch die jüngsten Leute, alle Freude sei plötzlich ihnen genommen und das Alter erfasse sie schon mit kalter Faust. Der Entzückteste von Allen war der Dichter selbst. Als einige Jahre später Therese Krones starb, schnell wie sie schnell gelebt hatte, war Raimund nicht von ihrem Sarge fortzubringen und schluchzte so bitterlich, daß ein besorgter Freund ihn endlich mit Gewalt entfernte. Auf dessen Frage nach der Ursache solcher Erregung antwortete er unter Thränen: „Soll ich denn nicht weinen, wenn man meine Jugend begräbt?!“
Armer Raimund! die Jugend seines Herzens lebt ewig fort in seinen Werken, des Lebens Jugend hat ihm, niemals recht geblüht. Das Geschick des berühmten Komikers ist ein erschütterndes Trauerspiel. Hochbegünstigt vor tausend Anderen, ward das äußere Glück nicht müde, ihm zu lächeln, jeder Erfolg, den das Verdienst begehren kann, ist in fast beispielloser Fülle ihm geworden, aber innerlich war er unglücklicher als Alle, die in Noth und Elend umgekommen. Umrauscht von der jauchzenden Fröhlichkeit der lustigen Kaiserstadt, deren Ergötzen und Abgott er war, umringt von den lockendsten Genüssen, nach denen er nur die Hand auszustrecken brauchte, stand er einsam in sich selbst versunken da, in all den bunten Farbenschillern ein grauer, grämlicher Aschenmann, mit sich und der Welt zerfallen, ein bitteres Lächeln auf den Lippen und die Brust voll Wehmuth bis zum Zerspringen. Immer schon hatten er selbst und Andere unter seinen unberechenbaren, jäh wechselnden Stimmungen gelitten. Im Jahre 1820 verheirathete er sich mit Luise Gleich, der Tochter des Dichters, einer schönen und begabten Schauspielerin, aber zu nichts weniger geeignet, als in fremde Eigenheiten sich zu fügen. Nach einer kurzen, an Stürmen und Unglück überreichen Ehe trennten sich die kaum Vereinten wieder. Seitdem gewannen die finstern Mächte in Raimund die Oberhand, und er hatte nur noch selten ruhige Augenblicke, zufriedene nie mehr. Oft versank er in stumpfes Brüten, nicht selten erhitzte er sich bis zur Raserei der Verzweiflung, unablässig quälten ihn die Schrecknisse seiner eigenen Einbildung. Unter seinen Zeitgenossen ging die Sage, daß der Fluch seines Vaters, der die unbezähmbare Neigung des Sohnes verdammt, ihn durch’s Leben verfolge; dessen bedurfte es nicht, auf seinem Haupte lasteten wirksamere Verwünschungen: der Fluch eines weichen Herzens und der Fluch des Genie’s, nur von denjenigen geleugnet, die für Beides kein Verständniß haben.
Raimunds nächste Stücke: „Moisahur’s Zauberfluch“ und „die gefesselte Phantasie“ erzielten eine geringere Wirkung, als die vorigen, dagegen wurde am 17. October 1828 „der Alpenkönig und der Menschenfeind“ wieder mit schrankenlosem Jubel aufgenommen. Der Dichter hat in diesem reizenden Märchen, das aus tieftraurigem Grunde sprudelnde Ausgelassenheit emporzaubert, über seine eigene Schwarzgalligkeit zu Gericht gesessen; leider fand er für sich die Versöhnung nicht, zu der sein selbstgeschaffener Doppelgänger „Rappelkopf“ schließlich sich bekehrt, und die liebenswürdige Lehre, die er diesem von dem muntern „Lieschen“ vorsingen läßt:
„Ach, die Welt ist gar so freundlich,
Und das Leben ist so schön,
Darum soll der Mensch nicht feindlich
Seinem Glück entgegensteh’n!“
verhallte wirkungslos für den Sänger, als er sie zu Papier gebracht! Nachdem er in den letzten Jahren noch die künstlerische Leitung der Leopoldstadt geführt, schied Raimund 1830 für immer von dieser Bühne, deren Seele er gewesen, und die ihm hauptsächlich ihre unvergängliche Berühmtheit verdankt. Er ging keine dauernde Verbindung mehr ein, sondern gastirte die nächste Zeit meist im Auslande, von dessen ersten Theatern er wiederholt die dringendsten Einladungen erhalten hatte. Der auf das Aeußerste Verwöhnte fand überall den überschwenglichen Beifall der Heimath wieder, zumal in den eigenen Stücken, die, aller Orten längst zwar schon beliebt, durch des Dichters Mitwirkung einen neuen Reiz und erst das rechte Verständniß erhielten. München und Hamburg namentlich wetteiferten, ihm zu huldigen, aber auch Berlin blieb nicht zurück, dem er am 4. April 1832 als „Florian“ zum ersten Male sich zeigte. Auf diesen Erfolg legte er mit Recht einen ganz besonderen Werth. War die nordische Königsstadt auch jener Zeit noch nicht wie heutigen Tages der auserlesene Sitz des Alles verneinenden Geistes, so wehte doch schon damals eine Luft darin, deren geringer Wärmegrad die Wiener Gemüthlichkeit dem Erfrieren nahe bringen konnte, und außerdem schworen die Spreeanwohner in Allem, was Komik hieß, nur bei ihrem vergötterten Schmelka. In demselben Jahre ward ein Rheindampfer „Ferdinand Raimund“ getauft. Nach Hause zurückgekehrt brachte er am 20. Februar 1834 den „Verschwender“ in der Josephsstadt zur Aufführung. Zweiundvierzig Male hintereinander gegeben, erlebte dieses Stück noch selbigen Jahres über hundert Vorstellungeu in Wien. Des Dichters letztes Werk ist sein gediegenstes, und namentlich hat er in dem treuherzigen „Valentin“ ein Grundbild des österreichischen Volkscharakters geschaffen, das ihn und seine Landsleute für alle Zeiten ehrt. Unsere spätesten Enkel noch werden das „Hobellied“ singen, aber derer, die es, bis zu Thränen erschüttert, von Raimund singen gehört, werden täglich weniger. In seinem Schwanensang betrat er auch zum letzten Male die Breter als Schauspieler. In Hamburg war es am 10. Mai 1836. Am Schlusse stürmisch gerufen, vermochte er, wie von einer plötzlichen Vorahnung ergriffen, nur die letzten Worte seines Liedes zu wiederholen: „Da leg’ ich meinen Hobel hin und sag der Welt Ade!“
Auf seinem Landhause in dem reizenden, von ihm schwärmerisch geliebten und sogar mehrfach besungenen Gebirgsthale zwischen Pernitz und Gutenstein verlebte er eine stille Zeit der Erholung, als er eines Tages von seinem Haushunde leicht in die Hand geritzt ward. Stets zu den allerschlimmsten Voraussetzungen geneigt, überfällt ihn mit unsagbarer Angst der Gedanke, das Thier könne toll gewesen sein. Hastig machte er sich auf, in der Hauptstadt ärztliche Hülfe zu suchen. Ein Unwetter zwingt ihn, in Potenstein zu halten. Hier, in nächtlicher Einsamkeit, umtobt von dem fessellosen Rasen des Gewitters und den ungezügelten Ausgeburten seiner Einbildung, übermannt ihn die schwärzeste Verzweiflung, und er schießt sich mit einem Taschenterzerole, das er steis bei sich führte, durch den Mund. Acht Tage lang währte der Todeskampf des Unglücklichen, erst am 5. September verschied er. Seinem Wunsche gemäß ward er in Gutenstein bestattet. Ganz Wien schluchzte an seinem Sarge, den die wunderbar rührende Weise: „So leb’ denn wohl, Du stilles Haus!“ in die Tiefe hinabgeleitete. Diese des Herzens zarteste Saiten ergreifende Melodie [88] rührt, gleich vielen der ansprechendsten in seinen Stücken, von Raimund selbst her.
Unter dem Hügel, den seine einfach in Erz gegossene Büste ziert, schläft ein Mensch solch braven, treuen Herzens, solch’ edler, tüchtiger Gesinnung, solch’ hoher Begeisterung für das wahrhaft Schöne, und zugleich so namenlos elend, wie es Wenige nur gegeben; schläft ein Schauspieler, der bei den erhabensten Meistern genannt werden wird, wenn auch längst schon seine Gebilde mit denen begraben sind, die sie noch in lebendiger Erinnerung bewahren. Der Dritte aber dieser seltenen Vereinigung lebt noch und wird ewig leben – der Dichter. Seine entflammten Zeitgenossen nannten ihn den „neuen [[Shakespeare“, ein Ausdruck der Bewunderung, nicht der Beurtheilung; auf eine andere Bezeichnung dagegen hatte er die vollgültigsten Ansprüche: „Raimund ist der deutsche Molière].“ Fast wunderbar ist schon das Zusammenfallen der Aeußerlichkeiten: Beide stiegen aus den Anfängen eines aufgezwungenen Handwerkes zur höchsten Vollendung der Kunst empor, Beide schufen zweifach ihre Schöpfungen mit doppelter Meisterschaft, Beide, von äußerem Glanz umgeben, waren unglücklich durch unablässige Selbstqual. Beide kannten ihre trostlosen inneren Zustände so genau, daß sie künstlerische Anregung darin fanden, ohne durch die Selbstschilderung zur Selbstbemeisterung zu gelangen; Beiden ward die Ehe neuen Unheils Quell; ja, die Uebereinstimmung ist vom Beginn bis zu Ende so zutreffend, daß Beide in eigenen Stücken von den Bretern ewigen Abschied nahmen. Was aber hauptsächlicher und gewichtiger: Beide gingen als Dichter gleiche Bahnen zu gleichem Ziele; Beide sind Volksdichter im wahrsten und besten Sinne dieses oft gemißbrauchten und noch häufiger mißverstandenen Begriffes; Beide entwickeln die schönen Seiten der menschlichen Natur, indem sie ihre schwachen verspotten: Molière’s Geißel führt der unerbittliche Witz des Franzosen, der Raimund’s fällt die österreichische Gemüthlichkeit in den Arm. Auch Raimund ist ein Classiker auf seinem Felde. Was an seinen Stücken etwa befremdend auffallen könnte, die häufige Allegorie und manche läppische Zuthat, ist lediglich dem damaligen Publicum und dessen Geschmack zur Last zu legen, Raimund war hoch erhaben darüber, unterwarf sich aber, um zu beherrschen. „Der Bauer als Millionair“, „der Alpenkönig und der Menschenfeind“ und „der Verschwender“ bleiben ewige Zierden der deutschen Schaubühne. Seit freilich der „kladderadatsch“, dieser Witz in Waffen, auch die Breter sich eroberte und des Tages beißende Kritik dort übt, seit Kalisch für Deutschland das Couplet erfunden, den burlesken Leitartikel im Polka-Takt, ist die maßgebende Richtung eine andere geworden. Aber auch dadurch können Raimund’s Dichtungen nicht verdrängt werden. Ihre Zwecke fallen mit denen des Augenblicks nicht zusammen, es sind die ewigen menschlichen, sie verhöhnen nicht, sie versöhnen, und für uns, die Kämpfer im Strudel stets wachsender Gährung, haben sie noch den besonderen Reiz der Erinnerung an eine glücklichere Zeit. Wo ist es geblieben, das alte, lustige Wien, das gemüthliche, gedankenlose Oesterreich? Dahin – Alles dahin, verfallen jenem unerbittlichen Gesetz, das Raimund in den beiden Strophen ausgedrückt, die „seine Jugend“, Therese Krones, dereinst so hinreißend gesungen:
„Scheint die Sonne noch so schön,
Einmal muß sie untergeh’n!“
Von Brehm.
III. Eine Rennthierjagd auf dem Dovrefjeld.
Bei meinem ersten Aufenthalte in Fogstuen wurde ich mit einem norwegischen Jäger bekannt und befreundet. Fogstuen ist eine einsame Wechselstelle für Post- und Reisepferde. Der Hof liegt etwa 2000 Fuß über dem Meere und gegen drei Meilen vom Sneehätten entfernt. Ringsherum dehnt sich ein vortreffliches Jagdgebiet meilenweit aus, und deshalb ist gerade dieser Ort besonders zum Aufenthalte für Jäger geeignet. Erik Svensen, der Jäger, von welchem ich reden will, lebt hier bereits seit einer Reihe von Jahren. Er ist ein ganz prächtiger alter Kerl, und dem edlen Waidwerk mit Leib und Seele ergeben. Einen zünftigen Unterricht im Jagdhandwerk hat er allerdings nicht genossen und auch keine Forstschule besucht; er ist vielmehr Alles, was er ist, durch sich selbst geworden. Um so eigenthümlicher ist seine Jagd. Alle Künste, alle Liste, alle Schleichwege gelten bei ihm; Erik ist ein Raubthier in Menschengestalt oder ein Indianer des Ostens. Die meisten jagdbaren Thiere berückt er durch Nachahmung ihrer Lockstimme und versteht diese Kunst so meisterhaft, daß man dreist behaupten kann: er spricht die Sprache der Thiere. Außerdem aber kennt er auch andere Kniffe und Pfiffe und ist nie um ein neues Mittel zum Zweck verlegen. Er sucht sein Wild in den verborgensten Schlupfwinkeln auf, kriecht und läuft mit ihm um die Wette, folgt ihm meilenweit oder lauert wie ein Luchs stundenlang an einer und derselben Stelle oder gebraucht Schlinge und Falle, Köder und Gift, wie es eben gehn will. Seine Orts- und Sachkenntniß, seine Erfahrung und Schlauheit sind eben so bewunderungswürdig, wie seine Ausdauer und seine Abhärtung. Er kennt alle Plätze auf dem ganzen Gebirge, welche ergiebig sind; kennt alle jagdbaren Thiere und ihr Leben und Wesen von Grund auf, wandelt in leichten Schuhen durch Sumpf und Moor oder über Schneefelder und schüttelt sich den Schnee ebenso gelassen aus seinen Kleidern, wie er das Wasser aus seinen Schuhen gießt, welches diese in der ersten Viertelstunde seiner Jagd regelmäßig erfüllt. Die Worte Erkältung oder Ermüdung sind diesem Naturmenschen blos dem Namen nach bekannt: er selbst, obgleich nun bereits 60 Jahr alt, ist nie krank gewesen und beschämt noch heute Jeden, welcher es ihm gleich thun will.
Es versteht sich von selbst, daß mich Erik tagelang an Fogstuen fesselte und in kurzer Zeit so viel von meinem Herzen gewann, als solcher Graubart überhaupt gewinnen konnte. Trotz meiner gänzlichen Unkenntniß der Landessprache verständigten wir uns bald beide vortrefflich und wurden so nur immer mehr befreundet. Wir jagten tagtäglich und allnächtlich zusammen, zumeist zwar nur auf Schneehühner, dafür aber auch in der anziehendsten Weise – ich will später ausführlich davon reden. Allein unser Erik verstand auch die hohe Jagd.
Ich hatte in Christiania durch norwegische Jäger von der außerordentlichen Schwierigkeit der Rennthierjagd gehört und brannte deshalb darauf, eine solche Jagd wenigstens zu versuchen.
„Giebt es hier Rennthiere, Erik?“ fragte ich, diesmal durch freundliche Vermittlung meines jungen Reisegefährten Berghaus, welcher fertig norwegisch spricht.
„Rennthiere giebt es auf dem ganzen Gebirge in Menge,“ antwortete er.
„So laß uns eine Jagd darauf machen, Alter!“
„Ja, es geht aber nicht!“
„Warum nicht?“
„Weil er Strafe zahlen muß.“
„Wer?“
„Nun, Er!“
„Und wenn ich diese Strafen nun zahlen wollte?“
„Dann können wir auch Rennthiere jagen!“
Wir gingen also, stiegen etwa anderthalbtausend Fuß höher im Gebirge hinauf, wateten durch angeschwollene Waldbäche oder durch Schneefelder, kletterten über die abscheulichsten Geröllhalden, welche es irgendwo geben kann, hinweg, wurden naß vom Kopf bis zum Fuße und fanden endlich frische Fährten „einiger sehr alten und großen Thiere, welche heute hier gewesen waren.“ Mühsam folgten wir denselben auf Pfaden, welche meiner Beschreibung spotten, und sahen endlich drei Rennthiere auf einem Schneefelde unter uns gelagert. Der alte besonnene Erik wurde zu meiner Verwunderung vom Jagdfieber geschüttelt, wie ein Jägerlehrling; ich nahm ruhig die Büchse, zielte sicher, sah im Geiste den „Bock“ stürzen, sowie auch den Lehusmand sein Strafbuch aufweisen – und mußte zu meiner bitteren Täuschung erfahren, daß mir das sonst so sichere Gewehr drei Mal versagte! Freund B., der mir es geliehen, hatte mir ganz entschieden einen Waidmann gesetzt! [89] Erik heulte vor Kummer, ich fluchte, und die Rennthiere trabten wohlgemuth von dannen.
„Nun, Strafe wird Er diesmal nicht bezahlen,“ knurrte der alte Jäger mürrisch vor sich hin, „aber ich weiß schon, das geht immer so, wenn man in der Hegezeit jagen will, Er muß wieder kommen, hierher, im August; dann wollen wir jagen!“
Und ich kam wieder, nachdem ich mich im ganzen Nordlande und in Finnmarken vergebens nach wilden Rennthieren und solchen Jägern erkundigt hatte. Sobald das Regenwetter, welches mich bei meiner Ankunft begrüßte, nachgelassen hatte, machten wir uns auf den Weg nach dem Fjeld. Ich muß hier aber wohl erst „unsere Jagdgründe“ kurz beschreiben.
Man würde sich sehr irren, wenn man sich unter dem Dovrefjeld ein Gebirge denken wollte, wie wir es in den Alpen vor uns haben. Alle Gebirge des Festlandes von Norwegen haben so ziemlich dasselbe Gepräge: sie steigen ziemlich sanft auf und sind oben abgerundet, ja hin und wieder hochflächenartig geebnet; daher wohl eben der Name „Fjeld“. Schroffe Abstürze und unersteigliche Stellungen, himmelhohe senkrechte Felsenwände, scharf auslaufende Grathe und Hörner sind selten und kommen nach meinen bisherigen Erfahrungen nur am Meere und ganz in dessen Nähe, auf dem Dovrefjeld aber nur unmittelbar am Sneehätten vor. Das Wasser ist in Norwegen zu mächtig, und hat alle Gebirge gerundet. Namentlich im Winter übt es, indem es zwischen die lockere Schichtung des Thonschiefers eindringt und dann gefriert, seine Sprengkraft im großartigsten Maßstabe. Daher findet man, daß alle Bergesgipfel mit einer dicken Lage von Geröll – losgesprengten Felsstücken – überdeckt sind, und bemerkt bei genauerer Prüfung, daß auch die unteren Wände der Berge eben nichts Anderes als solche Geröllmassen sind, welche aber mit Erde überdeckt wurden. Diese bildete sich theils durch Verwitterung des Gesteins, theils durch Ausschwemmung und endlich durch Vermoderung der ziemlich üppigen Pflanzendecke. Bis zu 3000 Fuß über Meer sind – regelmäßig – alle Gebirge und so auch das Dovrefjeld bewaldet, in der Tiefe mit Nadelbäumen, oben mit Birkenwäldern und Birkengestrüpp. Plötzlich, aber scharf abgeschnitten, endet der Wald, und die Bergeshäupter zeigen sich nunmehr in ihrem ganz eigenthümlichen Wesen. Schlangengleich und ängstlich sich an die Erde festklammernd kriechen die Zwergbirke, der Wachholder und krüppelhafte Weiden, Beerengesträuche, Flechten und Moose auf dem Boden dahin, und letztere werden bald so vorherrschend, daß sie dem Gebirge selbst auf weite Entfernung hin, die gelbliche Färbung verleihen, welche den nordischen Höhen so eigenthümlich ist. Kommen, wie gewöhnlich, nun noch einzelne Schneefelder oder Gletscher dazu, so gewinnt das Gebirge für das Auge ungemein; denn es glänzt dann förmlich in seinen bunten lebendigen Farben: auf dem Dunkel der Waldungen, aus welchen einzelne grüne Stellen hervorleuchten, liegt das lichtere Grün der Birken, über diesem das eigene Gelb der moosigen Flächen und auf diesen endlich die krystallene Schnee- oder Eiskrone, welche noch in weitester Ferne blendend hervortritt. Die noch nicht bemoosten Halden sind ganz dunkel und gleichsam Schatten im Bilde. Mit der Grenze der Birken beginnt erst das eigentliche Hochgebirge, ein Wirrsal von Thälern, zwischen denen sich einzelne runde Berge wie von einer Ebene aus erheben. Auf allen diesen Bergen finden sich nur Zwergbirken, Beerengestrüpp, Moose, Flechten und zwischen denn Gestein der Halden einzelne Gräser, Blumen und saftige Pflänzchen, mit Ausnahme des Mooses alles dürftig, klein und nicht dicht stehend. Hier ist das eigentliche Gebiet der Rennthiere.
Es ist kein Wunder, daß die meisten Reisenden behaupten, die Thiere kämen nur vereinzelt und selten vor; denn bis in ihr Reich dringt eben blos ein leidenschaftlicher Jäger oder ein echter Naturforscher, dem es auf Beschwerden und Entbehrungen nicht ankommt. Für die gewöhnliche Reisemenschheit sind jene Höhen durchaus nicht geeignet; es giebt für sie keine Packesel zum Reiten oder Lasttragen; es giebt dort oben keine Wirthshäuser oder Sennhütten mit allerliebsten Sennerinnen und citherschlagenden Gebirgsbuben etc., sondern blos Beschwerden und Mühsale. Eine Lustwandelung in jenen Höhen verlangt tüchtige Wasserstiefeln und abgehärtete Füße für dieselben, einen breiten Rücken, um sein Zeug selbst zu tragen, und vor allem eine gesunde Brust, welche bei stundenlangem Auf- und Niedersteigen ohne Beschwerde ihre Dienste thut. Das wollte ich zu Nutz und Frommen sehr neugieriger Reisemenschen bemerkt haben.
Am 15. August wanderten wir Beide, Erik und ich, aus dem Hofe heraus und stiegen rüstig, aber mit jenen langsamen und gleichmäßigen Schritten echter Gebirgskinder die Höhen hinan.
„Hat Er seinen Kikkert (Fernrohr) mit, Herr?“ fragte der Alte.
„Ja, Erik.“
„Ist Seine Büchse auch ordentlich geladen, daß sie nicht wieder versagt?“
„Ja, Alter, hab’ keine Angst!“
„Nun, dann werden wir auch Rennthiere schießen.“
Und weiter und weiter aufwärts ging die Reise. Es stäubte dann und wann naßkalt aus uns hernieder, aber der Sneehätten strahlte bereits im hellsten Sonnenschein, und auf den Gebirgen im Nordwesten lag die Sonne in wahrhaft blendendem Glanze. Nach anderthalb Stunden hatten wir die ersten Höhen erstiegen und kletterten jetzt über eine der erwähnten Geröllhalden hin. Man dürfte sich schwerlich eine Vorstellung davon machen, wie schwierig solche Wanderung ist. An Gefahr ist allerdings dabei kaum zu denken, allein Beschwerden giebt es genug. Die Halde besteht nämlich nur aus wirr durch- und übereinander liegenden Schieferplatten, welche, wenn man über sie weggeht, entweder in Bewegung gerathen oder aber so scharfkantige Ecken, Spitzen und Kanten hervorstrecken, daß jeder Schritt durch die Stiefelsohlen hindurch fühlbar wird. Die außerordentliche Glätte der Platten, über welche das Wasser herabläuft, vermehrt nur die Schwierigkeit des Weges, und das beständige Durchwaten der glattgescheuerten Rinnsale erfordert wirklich ängstliche Vorsicht, wenn man es vermeiden will, sich unfreiwillig im kalten Gebirgswasser zu baden, und dabei Arme und Beine blutig zu schlagen. Unser Pirschgang ging eben nicht rasch vorwärts.
Wirklich erhaben war die Aussicht, welche wir genossen, aber wahrhaft beängstigend die Stille und Oede der Höhe. Das Auge weidete sich an der herrlichen Gebirgswelt, an Hunderten von Bergen und Gipfeln, welche Inseln gleich hell und licht aus dem Dunkel der Tiefe traten; es konnte schwelgen im Anschauen der so prächtig gefärbten Massen mit ihren silbernen Schneedächern; aber das Ohr lauschte lange vergeblich nach einer befreundeten Stimme. Nur einmal schwirrte fast lautlos ein Volk Alpenschneehühner vor uns auf, es war aber schon wenige Minuten später wieder zwischen den dunkeln Steinen verschwunden. Endlich begegneten wir aber doch einigen andern Vögeln. Drei Bussarde wiegten sich in der Höhe; einige Regenpfeifer ließen ihre kläglichen Stimmen erschallen, und ein Schneeammer zeugte durch sein Erscheinen von der Höhe, in welcher wir uns befanden. Lautlos schritten wir weiter, auf und nieder, über die Rücken der Berge hin, an dem einen hinauf, an dem andern hinab; noch wollte unser Wild sich nicht zeigen. Endlich sagte der Alte:
„Hier hat ein Thier heute sich geäßt; schau Er her, diese Pflanzen sind frisch abgebissen, und hier liegt ein Stengel daneben, noch saftig und unverwelkt.“
Das war ein Zeichen, auf welches ich freilich nicht geachtet hätte. Nach einigen Schritten mehr fand nun aber auch ich Spuren der hier vorübergegangenen Rennthiere auf. Eine feuchte schlammige Stelle zeigte die Fährte eines alten Thieres so scharf und so frisch, daß gar kein Zweifel übrig bleiben konnte: in der Nähe mußten Rennthiere liegen. Nun wurde gesucht mit Augen und Fernrohr, aber vergebens. Hundert Male glaubte ich mein Wild zu sehen: immer waren es Steine, welche mir entweder die Gestalt des Leibes oder recht tückisch sogar die der Geweihe eines Rennthieres vorspiegelten. Doch dort in weiter Ferne lagen Rennthiere: diese Formen waren zu regelmäßig, als daß sie Steinen angehören sollten.
„Alter, da sind sie!“
„Wo? Dort! Ja richtig!“
Und wieder schüttelte das Jagdfieber den alten Knaben, aber nur einen Augenblick. Langsam und äußerst vorsichtig gingen wir weiter; deutlicher traten die Umrisse hervor, und das Fernrohr gab endlich volle Gewißheit. Sofort begann der Alte seine Vorsichtsmaßregeln anzuwenden. Zuerst sank er äußerst langsam und gleichmäßig zusammen und forderte mich auf ein Gleiches zu thun; „denn,“ sagte er, „jede rasche Bewegung verscheucht die Thiere augenblicklich.“ Nun wurde der Wind geprüft. Ich that es, indem ich meinen Finger näßte und ihn dann empor hielt, um durch das [90] einseitige Gefühl der Kälte die Richtung des Winden zu erfahren; Erik rupfte Rennthiermoos aus und warf kleine Flocken davon in die Höhe, welche der Wind dann mit sich trieb. Hierauf machten wir uns auf den Weg, suchten, tief gebückt dahin gehend, den Thieren so bald als möglich aus dem Gesicht und der Witterung zu kommen und begannen unter dem Winde an sie heranzuschleichen. Plötzlich blieb der Alte stehen, warf von Neuem Moos empor, fluchte und sagte: „Wir werden diesmal kein Thier mehr zu sehen bekommen; der Wind hat sich gedreht!“ Es war wie er sagte: ein unregelmäßiger Windstoß hatte uns getäuscht. Und wirklich hatten die scheuen Thiere bereits Witterung bekommen; denn als wir auf großen Umwegen und nun richtig unter dem Winde zur Stelle kamen, war diese leer und von den sieben Rennthieren keine Spur mehr zu bemerken.
„So wollt’ ich doch gleich, daß der Sneehätten einfiele!“ knurrte Erik höchst verdrießlich; doch tröstete er sich und mich rasch genug durch die Versicherung, daß das ganze Fjeld voller Rennthiere sei. Wir schritten also weiter, besuchten noch fünf „gute Stätten“, erstiegen noch zwei hohe Berge, fanden andere Fährten und abgeäßte Pflanzen – sahen aber keine Rennthiere. Die Wanderung hatte nunmehr bereits sieben Stunden gewährt, und wir Beide waren müde.
„Es wird Zeit, Alter, daß wir uns nach einer Nachtherberge umsehen!“
„Gut, wir können zu dem nächsten „Säter“ (Sennhütte) gehen, wenn es Ihm beliebt!“
„Wie weit ist dieser wohl von hier?“
„Etwa eine halbe (norwegische) Meile.“
Wenn dies richtig gemessen war, hatten wir also noch 9000 Ellen abzuschreiten. Erik hatte die Entfernung aber unterschätzt, und so wanderten wir denn noch anderthalb Stunden lang fort, ehe wir den „Säter“ erblickten. Und wo lag er?! Vor uns that sich ein echtes Alpenthal auf, von steilen, schroffen Wänden eingefaßt, grün und freundlich heraufschimmernd wie eine Oase aus dem Sande der Wüste. Brausende und schäumende Waldbäche stürzten sich frohlockend hinab in die Tiefe und sammelten sich dort zu einem Flüßchen, welches mit jeder Viertelmeile neuen Zulauf und Zuwachs erhielt. Blendend glänzte und leuchtete es zu uns herauf, recht einladend tönte sein Rauschen in unser Ohr; mir aber ging es wie Eulenspiegel: ich trauerte über die tausend Fuß, welche wir hinabsteigen sollten, weil ich sehr lebhaft daran gedachte, welchen Schweiß es kosten würde, morgen dieselbe Höhe, auf welcher wir standen, wieder zu gewinnen. Allein der knurrende Magen und die müden Glieder verlangten ihr Recht; und so kletterten wir denn, so gut oder so schlecht als es gehen wollte, zur Tiefe nieder, hatten, Dank einigen etwas unwillkürlichen Eilmärschen und Eilfahrten ohne Fußbewegung, nach drei Viertelstunden die Thalsohle erreicht und befanden uns unmittelbar vor dem Säter.
Ich würde nun sehr gern von unserer sehr merkwürdigen Nachtherberge und ihren Bewohnern berichten – und dies würde auch unbedingt zum Jagdbilde gehören – allein der mir gemessene Raum verbietet dies. So kann ich eben nur sagen, daß wir aßen, tranken, schliefen und am andern Morgen wieder die Höhe hinaufstiegen.
Nach zweistündigem Steigen waren wir wieder in unseren Jagdgründen angekommen und begannen unsere Suche von Neuem. Aber eine Viertelmeile nach der andern mußte abgeschritten, ein Berg nach dem andern erstiegen werden, ehe wir wieder Spuren unseres Wildes auffanden. Doch schien es, als sollten wir diesmal für unsere Ausdauer belohnt werden. Von einem Hügel aus blickten wir forschend über eine vor uns liegende Thalmulde hin – und siehe da! – am anderen Rande äßte sich behaglich ein ganzes, starkes Rudel Rennthiere! Mit Winken und Zeichen theilte ich Erik die erfreuliche Entdeckung mit, und wieder sank er feierlich in sich zusammen, prüfte den Wind, entledigte sich seines Ranzens und alles unnöthigen Gepäckes und begann nun auf dem Bauche fortzukriechen. Ich folgte ihm in derselben Weise und gelangte mit ihm zu einigen Steinen, hinter denen wir uns verbergen konnten. Von dort aus beobachteten wir das Rudel und das Jagdgebiet sorgfältig, ehe wir unsere Kriecherei fortsetzten. Es war ein prachtvolles Schauspiel, welches das Rudel mir bot, und ich brachte das Fernrohr gar nicht vom Auge, um mir keine Bewegung der edlen Thiere eingehen zu lassen. Achtzehn Stück des schönen Wildes hatten sich zusammengerudelt. Einige äßten sich, andere hatten sich niedergethan, andere gingen scheinbar unbeschäftigt auf und nieder. Mit einem Male aber kam Leben und Schrecken über Alle. Sie stoben fort und jagten trottend durch Sumpf und Moor hindurch gerade auf uns los. Eine fieberhafte Spannung hatte sich unser bemächtigt, ließ aber nur zu schnell nach, als wir bemerkten, daß sie halbwegs stehen blieben, sich wieder sammelten und von Neuem sich zu äßen begannen. Mir war die Warnung, welche sie erhalten haben mußten, ganz unbegreiflich, und ich forschte lange vergeblich nach der Ursache derselben. Von uns konnten sie keine Witterung bekommen haben, denn wir lagen unter dem Winde; – woher war also der plötzliche Schrecken gekommen?
Endlich entdeckte ich die Ursache. Noch ein Jäger war in unser Gebiet eingedrungen, und ihm also verdankten wir die ärgerliche Störung. Ich bemerkte den zudringlichen Gesellen zuerst und hätte große Lust gehabt, ihm eine Kugel zuzusenden, wäre er nur näher gewesen. Allein er hielt sich zu seinem Glücke außer aller Schußweite und hockte ruhig hinter einem Steine, das Rudel mit derselben Spannung und Theilnahme betrachtend wie wir. Von uns schien er gar keine Ahnung zu haben; er jagte also ganz auf eigne Hand. Ich betrachtete ihn sehr aufmerksam und glaubte schon einen ebenbürtigen Gegner in ihm zu entdecken, mit welchem ich recht sehr gern einen ehrlichen und ehrenwerthen Strauß ausgefochten hätte, als mich eine Bewegung, welche er machte, über meinen Irrthum belehrte. Anstatt eines Bären, wie ich gehofft, hatte ich es nämlich blos mit einem Vielfraß zu thun. Das Thier war so groß, wie ich es früher nirgends gesehen hatte, und im Sitzen dem wehrhaftem Freund Petz täuschend ähnlich. Bei seiner ersten Bewegung aber konnte er nicht mehr verkannt werden. Sein Gang ist nämlich so ausgeprägt und merkwürdig, wie bei keinem andern mir bekannten Säugerthier. Der Vielfraß läuft mit sehr stark bogenförmigen Sätzen, einem Marder entfernt ähnlich, allein mit weit mehr gebogenem Rücken und in viel größeren Wölbungen; er schlägt beinahe lauter Purzelbäume. Dieser Gang, die dabei hervortretende Leibesgröße und die dicke, buschige Lunte waren Zeichen genug, um meinen Jagdgegner genau zu erkennen und zu würdigen. Ich würde den seltnen Vielfraß natürlich weit lieber erlegt haben, als ein Rennthier, hätte er es nur dazu kommen lassen. Noch ehe ich mich ihm auf anderthalb Büchsenschußweiten genähert hatte, mußte ihm eine Ahnung seiner unsicheren Lage gekommen sein; er verließ seine Warte plötzlich, trabte, trottelte oder kugelte dem Gebirge zu, fing unterwegs flugs einen Lemming, verspeiste ihn im Weiterlaufen, sah sich noch einmal nach mir und wahrscheinlich betrübt nach den Rennthieren um und verschwand im Geklüft des Bergrückens.
Die Rennthiere schienen sich inzwischen wieder beruhigt zu haben. Sie äßten sich wie zuvor. Wir krochen mit äußerster Vorsicht weiter, einige Male auch durch Wasserpfützen hindurch, weil wir nicht ausweichen konnten. Noch hatten wir etwa zweihundert Ellen zurückzulegen. Da wurde das Leitthier von Neuem unruhig – und dahin stob wieder das ganze Rudel. Ein anderweitiger Versuch, uns zu nähern, endigte wie dieser. Die Mulde war gar zu flach und bot nirgends irgend welche Deckung. Das vorsichtige Wild hatte uns zwar bemerkt, glücklicherweise aber nicht erkannt und glaubte sich geborgen, wenn es einige hundert Schritte weiter gezogen war. Ich fragte Erik, ob es nicht möglich sein sollte, die Rennthiere mir zuzutreiben; er aber verneinte diese Frage so bestimmt, daß ich aus meiner Ansicht nicht weiter beharren mochte. Nach längerer Berathschlagung schien es uns Beiden am gerathensten anzustehen oder vielmehr anzuliegen. Wir wählten also zwei Stellen, welche wir für passend hielten, und deckten uns hier hinter Steinen so gut als möglich. Drei, sage drei Stunden lagen wir nun auf derselben Stelle, fast ohne uns zu rühren. Alle Glieder wurden steif, und die Lage auf dem feuchten Moose wurde zuletzt äußerst unbehaglich. Es war eine wirkliche Qual, das Wild fortwährend in größter Nähe vor sich zu sehen, ohne ihm beikommen zu können. Ein Stück um das andere that sich nieder. Die alten Thiere spielten mit den Kälbern; einige äßten sich, zogen hin und her, sicherten von Zeit zu Zeit und bewegten sich gelassen weiter, immer auf derselben Stelle. Aber wir hielten aus, bis Leben und Bewegung in die Thiere kam. Langsam aber stetig zogen sie auf uns zu, leider mehr nach Erik’s als nach meinem Anstand hin; zuweilen bemächtigte sich das Jagdfieber meiner und schüttelte die Büchse hin und her, wenn ich versuchsweise anschlug. Jetzt brauchten [91] die Thiere mir blos noch hundert Schritte näher zu kommen, – da krachte Erik’s Büchse. Das Rudel schreckte, zog ängstlich hin und her, sicherte und wurde endlich flüchtig. Ein Stück lahmte und trennte sich von den andern. Es war stark aber nicht tödtlich verwundet und suchte so gut als möglich zu entrinnen. Zu meiner Freude kam es dabei mir gerecht; ich schoß und sah es im Feuer Zusammenstürzen. Auf diesen zweiten Knall zog das flüchtige Rudel quer durch Sumpf und Moor dem höheren Gebirge zu und war alsbald unseren Blicken entschwunden.
Jetzt sprangen wir freudig empor und reckten und dehnten die gleichsam gelähmten Glieder; dann eilten wir nach der erlegten Beute hin. Erik’s Kugel hatte den Vorderlauf zerschlagen; die meinige war genau auf das Blatt gekommen. Wir weideten das Wild aus, schnitten uns den Vorderlauf ab, wühlten in der Halde eine Grube aus, legten das Thier in dieselbe und deckten es sorgfältig mit Steinen zu, um unseren früheren Mitjäger nicht zu versuchen. Nun nahmen wir einen kräftigen Imbiß ein und traten hierauf unseren Rückweg an. Nach fast vierstündiger Wanderung erreichten wir todtmüde Fogstuen.
Am andern Morgen zog Erik mit einem Pferde aus, um die Jagdbeute heimzuschaffen. Er sah das Kalb des Altthieres auf dem Sterbefelde seiner Mutter, von dem übrigen Rudel aber keine Spur mehr.
Ich war noch am folgenden Tage gliedersteif, gleichwohl aber zog es mich wieder in die Berge. Deshalb gingen wir gegen Abend von Neuem auf die so anziehende Jagd. Drei Tage lang mühten wir uns ohne Erfolg; allein nur das Regenwetter, welches eintrat, konnte uns zurücktreiben. Wir durchwanderten viele Meilen und drangen bis in das innerste Gebirge vor. Dabei sahen wir über hundert Rennthiere in verschiedenen Rudeln, und ich konnte so ganz nach Wunsch beobachten. Aber ich denke, daß es besser sein wird, wenn ich das Ergebniß meiner Erfahrungen erst später, bei Gelegenheit der Beschreibung des Rennthieres, berichte.
Wie die hohe, edle, imposante Gestalt in ihrer plastischen Ruhe hier abconterfeit ist, so stand der große Meister – man braucht sich nur das Hauskäpplein wegzudenken – in seinen Concerten vor dem Publicum. Tausende und Abertausende hat er durch den wunderbaren Zauber seines Geigenspiels und seiner gediegen schönen Compositionen aus der gemeinen Wirklichkeit in eine ideale Welt erhoben, Geistern und Herzen die entzückendsten Stunden bereitet. – Wir theilen einige Notizen über ihn aus seiner vor Kurzem erschienenen Selbstbiographie mit, der wir den weitesten Leserkreis wünschen, da sie sich nicht allein reizend gleich einem guten Roman liest, sondern viel reiche Belehrung über Kunst und Künstlerthum gewährt.
Spohr wurde am 5. April 1784 zu Braunschweig geboren, wo sein Vater als Arzt prakticirte. Die Familie zog nach zwei Jahren nach Seesen. Vater und Mutter waren musikalisch. Da sie sehr oft des Abends musicirten, so wurde der Sinn und die Liebe zur Tonkunst schon früh in dem Knäblein geweckt. Es wurde ihm auf einem Jahrmarkt eine kleine Geige gekauft, und damit war die Richtung seines Lebens entschieden. Der Vater hatte ihn eigentlich zum Studium der Medicin bestimmt, gab aber der Neigung des Sohnes zur Musik nach, ließ ihm Unterricht auf der Violine geben, so gut er in Seesen zu haben war, und schickte ihn nach der Confirmation nach Braunschweig, wo er bessere Lehrer fand. Er machte reißende Fortschritte, und so sendete ihn der Vater im Alter von vierzehn Jahren allein nach Hamburg, um sein Brod als Virtuos selbst zu verdienen. Der Alte hatte sich in der Jugend kühn durch die Welt schlagen müssen und glaubte, das müsse jeder junge und kräftige Mensch auch können. Die Sache mißlang; der Knabe kam nicht zum Spiel und mußte, da das Reisegeld auf die Neige ging, zu Fuße nach der Heimath wandern. In Braunschweig angekommen, richtete er eine Bittschrift an den Herzog um Unterstützung seiner weiteren musikalischen Studien. Sie wurde gnädig aufgenommen, er durfte sich vor dem Hofe produciren und wurde hierauf in die Kapelle aufgenommen. Im Jahr 1802 machte er als Schüler des berühmten Violinspielers Eck mit diesem die Reise nach Petersburg. Seine erste größere Kunstreise durch Deutschland fällt in das Jahr 1804. Was er als Virtuos und Componist bereits zu dieser Zeit, in seinem zwanzigsten Jahre gewesen, davon giebt die Anzeige des Auftretens in Leipzig durch die dortige Allg. musikal. Zeitung ein überraschendes Zeugniß. Rochlitz schreibt: „Herr Spohr gab am 10. December 1804 zu Leipzig ein Concert und auf Aufforderung Vieler am 17. ein zweites; in beiden aber gewährte er uns einen so begeisternden Genuß, als außer Rode kein Violinist uns gewährt hatte, so weit wir zurückdenken können. Herr Spohr gehört ohne allen Zweifel unter die vorzüglichsten jetzt lebenden Violinspieler, und man würde über das, was er, besonders noch in so jungen Jahren, leistet, erstaunen, wenn man vor Entzücken zum kalten Erstaunen kommen könnte. Seine Concerte gehören zu den schönsten, die nur vorhanden sind, und besonders wissen wir dem aus D moll durchaus kein Violinconcert vorzuziehen, sowohl in Hinsicht auf Erfindung, Seele und Reiz, als auch in Hinsicht auf Strenge und Gründlichkeit“ etc. Weiterhin heißt es: „Herr Spohr kann Alles! Was vorerst Richtigkeit des Spiels in weitester Bedeutung heißt, ist hier, gleichsam als sicheres Fundament, nur vorausgesetzt; vollkommene Reinheit, Sicherheit, Präcision, die ausgezeichnetste Fertigkeit, alle Arten des Bogenstrichs, alle Verschiedenheiten des Geigentons, die ungezwungenste Leichtigkeit in der Handhabung von diesem Allen, selbst bei den größten Schwierigkeiten – das macht ihn zu einem der geschicktesten Virtuosen. Aber die Seele, die er seinem Spiele einhaucht, der Flug der Phantasie, das Feuer, die Zartheit, die Innigkeit des Gefühls, der feine Geschmack, und nun seine Einsicht in den Geist der verschiedensten Compositionen und seine Kunst, jede in diesem ihren Geiste darzustellen, das macht ihn zum wahren Künstler.“
Wir haben den kleinen Artikel vollständig wiedergegeben, weil er in prägnantester Kürze alle Vorzüge Spohr’s als Virtuos und Componist auf’s Treffendste schildert, und weil diese wenigen Zeilen zugleich den glücklichsten Einfluß auf des Künstlers ganze künftige Laufbahn ausübten. Denn mit diesem Urtheil, von einer Stadt ausgehend, die damals mit vollem Recht unter die ersten Autoritäten in Sachen der Kunst zählte, war der Ruf des bis dahin fast noch ganz unbekannten jungen Mannes plötzlich weithin verbreitet worben. Von diesem Augenblick an war Spohr anstatt ein demüthig um Gehör sollicitirender überall ein mit Spannung erwarteter, ja oft schon im Voraus aufgeforderter Concertgeber, dem überall Auditorien und reiche Einnahmen nicht mehr fehlen konnten.
Die Folgen davon äußerten sich nun auch in anderen Beziehungen. Schon 1805 erhielt er die Stelle des Herzogl. Concertmeisters zu Gotha. Spaßig ist, wie er dort die erste Bekanntschaft mit seiner nachherigen Gattin machte. In einem Concerte, welches er in der Stadt gab, saßen in der ersten Zuhörerreihe zwei junge Mädchen, wovon das eine bei Spohr’s Auftreten, erstaunt über seine lange und schlanke Gestalt, wohl lauter als sie wollte, ausrief: „Siehe doch, Dorette, welch eine lange Hopfenstange!“ Diese Dorette war eine bedeutende Virtuosin auf Harfe und Pianoforte und die Tochter der Gothaischen Hofsängerin Scheidler. Bei einem Besuche, den der junge Concertmeister der Mutter machte, erröthete Dorette in der Errinnerung an jene Aeußerung ihrer Frenndin, und – die künftige Verbindung war eingeleitet. Dorette wurde Spohr’s Gattin. Er schrieb mehrere herrliche Stücke für Harfe und Violine, mit welchen das Künstlerpaar auf seinen vielen Kunstreisen durch Deutschland, Holland, Belgien, Frankreich, England und Italien überall enthusiastischen Beifall erntete. Zwischen diese Reisen fallen zeitweilige Anstellungen Spohr’s als Kapellmeister in Wien und Frankfurt a M. Dann privatisirie er ein Jahr in Dresden, worauf er eine lebenslängliche Anstellung als Kapellmeister in Cassel annahm.
Dies war der Virtuose Spohr. Ebenso früh aber wie das virtuose hatte sich in Spohr das schaffende Talent geregt, und mit demselben Eifer und außerordentlichem Fleiße wie jenes hatte er auch dieses ausgebildet -– im Ganzen mit gleichem Glück und Erfolg. Er schuf eine Menge Duette, Quartette, Quintette etc., [92] welche sich würdig an die Seite der Haydn’schen, Mozart’schen und Beethoven’schen anreihten und die Freunde der Kammermusik beglückten. Ebenso vermehrte er das Repertoire der Concertanstalten durch echt schöne, gediegene und originelle Symphonien. Weniger glücklich war er mit seinen ersten Oratorien und Opern, da ihm zu ersteren die tieferen contrapunktischen Studien, zu letzteren die genauere Kenntniß der Singstimme abgingen. Aber mit eisernem Fleiße holte er das Fehlende nach, und bald kamen auch auf diesen Gebieten echte Meisterwerke von ihm zum Vorschein, wie u. A. das Oratorium „die letzten Dinge“ und die Opern „Faust“, „Zemire und Azo“ und „Jessonda“ bezeugen. Der Charakter seiner Werke spricht sich aus durch Schönheit, Gediegenheit, Klarheit, tiefen Seelenausdruck und Adel des Styls.
Als Dirigent war Spohr ebenfalls höchst tüchtig. Nicht allein stand er fest und sicher vor seiner gewohnten Kapelle, er wußte sich auch bei jedem fremden Orchester, und selbst bei jenen aus den verschiedensten und oft heterogensten Elementen zusammengesetzten Massen, wie sie die großen Musikfeste zusammenführten, gleich das Vertrauen auf seine sichere Führung zu erwerben, und überall die befriedigendsten Erfolge dadurch zu gewinnen. Nicht minder ausgezeichnet hat er sich als Lehrer erwiesen, daher die Schüler ihm von allen Seiten zuströmten; die bedeutendsten Violinvirtuosen nach ihm sind a. seiner Schule hervorgegangen. Endlich darf man ihm auch als Schriftsteller eine nicht gewöhnliche Begabung und Ausbildung zugestehen; die Beweise dafür geben seine in der Allgem. musik. Zeitung gelieferten Briefe und Berichte aus Paris und Rom, so wie seine Selbstbiographie. So vielseitig war seine Begabung, deren glänzende Ausbildung nur durch einen unerhörten Fleiß möglich war; allerdings wurde er darin durch einen äußerst kräftigen und stets gesunden Körper unterstützt, den er sich durch unausgesetzte Leibesübungen und ein mäßiges Leben zu erhalten wußte.
Zu den schönen Eigenschaften des Künstlers gesellten sich alle Tugenden des Menschen. Spohr war im vollsten Sinn des Worts ein edler, sittlicher Charakter, und der Lohn dafür – eine zufriedene Existenz. Genie ohne Sittlichkeit kann wohl großen Ruhm, aber niemals innere Zufriedenheit verschaffen.
Ganz ohne irdisches Leid das Leben zu durchwandeln, ist indessen keinem Sterblichen beschieden. Auch Spohr trafen einige harte Schicksalsschläge. 1834 wurde ihm seine Gattin durch den Tod entrissen; und als er später durch eine zweite Heirath sein häusliches Gluck hergestellt zu haben glaubte, starb ihm seine Tochter Therese, ein neunzehnjähriges blühendes Mädchen. In solchen schweren Zeiten suchte er, wie Goethe, die schmerzlichen Eindrücke durch vermehrte geistige Thätigkeit zu überwinden. Manche Unannehmlichkeiten scheint ihm auch seine politische Gesinnung herbeigerufen zu haben. „Wie allen hohen edlen Seelen“ – heißt es in der Vorrede zu seiner Biographie – „war ihm die Unredlichkeit, das Abweichen vom Gesetzmäßigen in den Tod zuwider. Seine bekannte Hinneigung zur liberalen Seite, die ihm wohl von oben her zum Vorwurfe gemacht ist, war eine natürliche Folge davon. So haßte er unverhohlen die Willkür, den Druck, die Verfolgung und suchte ihnen um der guten Sache willen überall nach Kräften entgegen zu treten, ja er sprach sich wenigstens, wenn er nicht dagegen ankämpfen konnte, ohne Scheu und im Innersten entrüstet darüber aus.“ Da mochte es denn auch wohl Niemand in Cassel überraschen, als er im November 1857 plötzlich gegen seinen Wunsch pensionirt wurde und zwar mit einer geringeren Summe als der, an welche er hätte Anspruch machen können.
Das letzte Jahr seines Lebens verbrachte er in einer traurigen körperlichen und geistigen Lethargie, in welche ihn Altersschwäche, vor Allem aber die Folge eines Armbruches 1857 versetzt hatten, und aus welcher er sich nur für Augenblicke erheben konnte. Er wünschte daher seinen Hingang sehnlich herbei, und als das Stündlein kam – am 23. October 1859 – ist er mit dem Ausdrucke der größten Zufriedenheit in seinen schönen, edlen Zügen entschlafen.
Spohr wird in der Musikgeschichte fortleben als Muster eines echten großen Künstlers und edlen Menschen. Er hat in seinem ganzen Leben keine einzige gemeine Notenzeile hingeschrieben und keine einzige gemeine Handlung begangen.
[93]
Das Schlachtfeld der Natur oder der Kampf um’s Dasein.
Er sprach und blies auf dem Rasen fort:
“Das Eine wächst, wenn das Andere dorrt,
Das ist mein ewiger Weideort.“
Rückert: Chidher.
Wie oft schon hat man die Natur mit einem Schlachtfeld verglichen, auf dem die lebenden Wesen mit einander um ihr Dasein ringen, ohne zu ahnen, welch’ tiefe Weisheit, welch’ große naturphilosophische Wahrheit in diesem Vergleich verborgen liege! Erst seitdem vor Kurzem der geistvolle Engländer Darwin, der berühmte Naturforscher von der Weltumseglung des Beagle, sein merkwürdiges Buch über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzenreiche durch natürliche Züchtung oder Erhaltung der vervollkommneten Racen im Kampfe um’s Dasein geschrieben hat, ein Buch, von dem sein Uebersetzer, Professor Bronn in Heidelberg, sagt, daß es eine Umgestaltung der gesammten naturhistorischen Wissenschaft erwarten läßt, erst seitdem wissen wir, was jener Ausdruck zu bedeuten hat. Aeußerlich, so setzt Darwin auseinander, scheint die Natur in Heiterkeit und Ueberfluß zu strahlen; aber in Wirklichkeit ist es nur ein steter, ununterbrochener, mit Aufbietung aller Kräfte geführter Kampf sowohl der Einzelwesen unter einander, als derselben gegen die äußeren Lebensverhältnisse, in welchem schließlich nur der Stärkste, Beste oder mit irgend einem eigenthümlichen Vortheil Ausgerüstete den Sieg davonträgt. Ueberall, wohin wir in der Natur blicken, gewahren wir schöne und vortreffliche Anpassungen, sowohl von einem Theile der Organisation eines lebenden Wesens an den andern, als von einem Wesen selbst an das andre, als auch endlich von diesen Wesen an die äußeren Lebensbedingungen, wofür zahllose Beispiele vorliegen. Wie vortrefflich ist der Specht durch den Bau von Fuß, Schwanz, Schnabel und Zunge befähigt, Insecten unter der Rinde der Bäume hervorzuholen! Wie ausgezeichnet befähigt den Wasserkäfer die Bildung seiner Beine zum Untertauchen und macht ihn damit geschickt zur Flucht, wie zur Verfolgung! Wie leicht trägt der Wind den mit feinen Haaren besetzten Samen durch die Luft und läßt ihn da oder dort zur Weiterentwicklung niederfallen! Wie gut schützt die Thiere im Norden ihr dichter Pelz vor dem Erfrieren, wie gut seine Farbe das grüne auf einem Blatt lebende Insect oder das weiße Schneehuhn vor Verfolgung! Wie schön befähigt das zarte Spitzchen an dem Schnabel junger Vögel dieselben zum Durchbrechen der sie umhüllenden Eischale etc.! Alles dieses nun erläutert Darwin als Folge des Ringens um’s Dasein und der mit ihm verbundenen natürlichen Züchtung.
Wie der Mensch bei der Züchtung seiner Hausthiere die besten oder die mit besonderen Vorzügen oder Eigenthümlichkeiten versehenen Thiere auswählt und zur Nachzucht verwendet, so thut dieses in noch weit höherem Grade die Natur selbst, indem sie jede wenn auch noch so geringe Abweichung des einzelnen Wesens, vorausgesetzt daß sie für dessen Erhaltung vortheilhaft ist, unaufhörlich herauswählt und auf die Nachkommen überträgt, und dabei den schwachen Bemühungen des Menschen, der doch schon soviel erreicht hat, unendlich überlegen ist. Schon de Candolle und Eyell haben nachgewiesen, daß alle organischen Wesen im Verhältniß der Mitbewerbung unter einander stehen. Die Vögel, welche sorglos um uns her ihren Gesang erschallen lassen, leben von Insecten oder Samen und vertilgen daher beständig Leben; aber ihre eignen Eier oder Nestlinge werden unaufhörlich von Raubvögeln und andern Feinden zerstört, und Mangel an Futter, Kälte oder andere Naturereignisse lassen sie zu Zeiten zu Tausenden zu Grunde gehn, wobei die kräftigsten, schnellsten oder mit besonderen Vortheilen ausgerüsteten die meiste Aussicht auf Erhaltung haben. So ringen zu Zeiten des Mangels alle Naturwesen um Nahrung und Leben mit einander oder mit den Naturbedingungen selbst. Eine Pflanze ringt am Rande der Wüste mit der Trockenheit um ihr Dasein, und eine andere, welche jährlich tausend Samen erzeugt, von denen vielleicht nur ein einziger zur Entwicklung kommt, mit anderen, welche schon den Boden bekleiden. Eine Mistel ringt nicht blos mit dem Baume, auf dem sie ihr Schmarotzerdasein fristet, sondern auch mit andern beerentragenden Pflanzen, damit die Vögel eher oder lieber ihre Früchte verzehren und ihren Samen ausstreuen, als der andern. Der Kampf folgt schon unvermeidlich aus der Neigung aller Organismen, sich in viel stärkerem Verhältniß zu vermehren, als allein zur Erhaltung ihrer Gattung nöthig wäre. Kein lebendes Wesen vermehrt sich langsamer, als der Elephant; dennoch würde, ständen seiner Vermehrung keine Hindernisse entgegen, die Erde nach 500 Jahren von 15 Millionen Elephanten als Abkömmlingen eines einzigen Paares bevölkert sein! Jedes Wesen strebt daher nach äußerster Vermehrung seiner Anzahl; aber äußere Beschränkung und Mitbewerbung hindern es an der Erreichung dieses Zieles.
Auf einem Rasen, der stets kurz abgeweidet wird, tödten die kräftigeren Pflanzen die minder kräftigen, da die letzteren dem äußeren Eingriff weniger zu widerstehen im Stande sind; so hat man auf diese Weise von 20 beisammen wachsenden Arten 9 zu Grunde gehen sehen. Viele Thiere werden durch Raubthiere im Zaume gehalten, diese wieder durch Nahrungsmangel, Klima etc. Oft entstehen auf diese Weise die verwickeltsten und nur zum Theil erkennbaren Verhältnisse. Das Gedeihen der schottischen Kiefer in England ist abhängig von dem Rinde, das sie als junges Pflänzchen abweidet, wenn sie nicht eingefriedigt wird. Ueberträgt man dieses nach Paraguay in Südamerika, wo keine Rinder, Pferde und Hunde verwildern, wie in anderen Gegenden Südamerika’s, weil eine gewisse Fliege durch Eierlegen in den Nabel ihrer Jungen diese tödtet, so kann das Gedeihen oder Nichtgedeihen einer Pflanze von der An- oder Abwesenheit insectenfressender Vögel, welche jener Fliege nachstellen, abhängig sein! So giebt es bekanntlich eine Menge Pflanzen, welche nur durch den Besuch von Insecten, wie Bienen, Hummeln, Motten, befruchtet werden und unbefruchtet bleiben, wenn man jenen Besuch und damit die Uebertragung des Fruchtstaubs von der männlichen auf die weibliche Blüthe hindert. Die Existenz der Hummel aber z. B., welche bei einer bestimmten Pflanzenart oder an einem bestimmten Orte jenes Geschäft übernimmt, hängt von der Zahl der Feldmäuse ab, welche ihre Nester und Waben aufsuchen und zerstören; deren Zahl aber wieder wird bedingt durch die Anwesenheit von Katzen, Eulen etc., so daß von der Existenz eines solchen Raubthieres die Menge gewisser Pflanzen an einem gegebenen Orte geradezu als abhängig angesehen werden kann. Säet man verschiedene Weizenarten durcheinander, erntet ihre Samen ohne Sonderung, säet sie wieder, und so fort, so bleiben zuletzt nur die stärksten und fruchtbarsten und diejenigen, welche dem Boden am meisten entsprechen, übrig. Bei den Schafen hat man beobachtet, daß gewisse Gebirgs-Varietäten unter andern Varietäten aussterben. Eine Schwalbenart vertrieb in den Vereinigten Staaten eine andere Art. Die Vermehrung der Misteldrossel hat in Schottland die Abnahme der Singdrossel zur Folge gehabt. In England ist nach dem Botaniker Hooker die eingeborene schwarze Ratte fast ganz verschwunden unter den Zähnen der grauen Ratte aus Hannover, weiche die Schiffe Wilhelm’s des Dritten über die Nordsee geführt hatten, während aus San Francisco in Californien berichtet wird, daß es dort anfangs nur weiße Ratten gab, bis diese durch die von den Schiffen eingeführten schwarzen Ratten vertilgt wurden.
So ist die Natur ein Schlachtfeld, auf welchem stets das Eine das Andere mordet oder zu unterdrücken strebt, und zwar nicht bloß in unmittelbarem Kampfe, sondern noch mehr mittelbar durch größere Fruchtbarkeit, bessere Werkzeuge zur Aufsuchung der Nahrung oder Vermeidung von Gefahr und Verfolgung und Aehnliches. Die Wirkung des Klima’s namentlich ist zumeist eine indirecte und durch Begünstigung andrer besser daran gewöhnte Arten vermittelte. In englischen Gärten giebt es Pflanzen, welche zwar das Klima an sich vertragen, indem sie in den Gärten ganz gut gedeihen, aber außerhalb derselben nicht, weil sie den Kampf mit den dort lebenden Mitbewerbern nicht auszuhalten im Stande sind. Daher ist auch die Mitbewerbung zwischen den am nächsten verwandten Arten am heftigsten, weil sie nahezu dieselbe Stelle im Haushalt der Natur einnehmen und daher am meisten bestrebt sind, sich gegenseitig zu verdrängen. So hängt nicht blos die Existenz, sondern auch sehr oft der Bau [94] eines jeden organischen Wesens auf die innigste, aber oft verborgene Weise mit der aller andern organischen Wesen zusammen, sowohl derer, mit denen es in Mitbewerbung steht, als auch derer, von denen es lebt oder verfolgt wird.
Dieser „Kampf um’s Dasein“, von dem hier nur einige wenige Beispiele aufgeführt werden konnten, hat nun eine große und merkwürdige, oben schon angedeutete Folge! Alle organischen Wesen sind von Natur aus derart zu kleinen Abänderungen von ihrer Art geneigt, daß einzelne Individuen einer Art von Zeit zu Zeit derartige Abweichungen zeigen und durch Vererbung derselben auf ihre Nachkommen eine sogenannte Abart erzeugen. Diese Abänderungen können entweder nachtheilig oder vortheilhaft oder keines von Beiden sein. Ist das Letztere der Fall, so hat die Sache keine weitere Folge. Ist dagegen die Abänderung nachtheilig, so wirkt sie in demselben Maße auf die Vertilgung des sie besitzenden Wesens hin, wie eine vortheilhafte auf dessen Erhaltung und Ausbreitung wirkt, indem sie demselben ein Uebergewicht über seine Mitwesen in dem Kampfe um das Dasein verleiht. Denkt man sich dieses durch hundert oder tausend oder noch mehr Generationen hindurch fortgesetzt, so ist leicht einzusehen, wie die Natur stets bestrebt sein muß, nicht nur die besten Formen zu erhalten und die schlechtesten zu unterdrücken, sondern auch überall schöne und zweckmäßige Anpassungen der kämpfenden Wesen unter einander oder an die äußeren Lebensbedingungen hervorzurufen. Wirkt z. B. große Kälte auf eine Gegend ein, so haben nur diejenigen Einzelwesen Aussicht ihr zu widerstehen, welche durch Kraft oder durch dichte Bedeckung oder irgend einen sonstigen Vortheil vor ihren Mitwesen ausgezeichnet sind – Vortheile, welche sie auf ihre Nachkommen forterben und so allmählich ein zum Aufenthalt in einem Klima besonders befähigtes Geschlecht hervorbringen.
Ein auf grünen Blättern sich aufhaltendes Insect von grüner oder ein auf Baumrinden lebendes von grauer Farbe hat längst seine andersgefärbten Mitwesen in dem Kampf um das Dasein überwunden und vernichtet, weil es einen Vortheil in Bezug auf Verfolgung vor ihnen voraus hatte, den jene nicht besaßen. Wenn das Alpenschneehuhn weiß oder der Birkhahn mit der Farbe der Moorerde erscheint, so sind diese Farben Einzelnen unter ihren Vorfahren nützlich gewesen und ihnen von diesen vererbt worden. Wenn der Hirsch ein kräftiges Geweih oder wenn der Hahn einen starken Sporn hat, so haben diese Organe ihren Vorfahren in dem Kampfe gedient, welchen diese Thiere um ihre Weibchen zu bestehen pflegen, und haben sich dadurch, daß sie Einzelnen unter diesen durch stärkere Hervorbildung einen größeren Vortheil gewährten, in steigender Entwicklung auf die Nachkommen fortgeerbt. So auch mag z. B. das Auge, dieses vollkommenste der Organe, durch zahllose Abstufungen von einem einfachen empfindenden, mit Pigment umgebenen und von einer durchsichtigen Haut bedeckten Nerven, wie er sich bei den Kerbthieren findet, allmählich bis zu seiner jetzigen hohen Ausbildung gelangt sein – eine Ausbildung, welche indessen immer noch nicht allen Anforderungen an Vollkommenheit entspricht. Die nektarabsondernden Pflanzen haben einen Vorzug vor denen, welche dieses nicht thun, wegen der Insecten, welche sie am liebsten besuchen, und der dadurch erleichterten Befruchtung. Je mehr Blüthen- oder Fruchtstaub eine Pflanze hervorbringt, um so größer ist ihre Aussicht auf Erhaltung und Fortpflanzung dieser Eigenthümlichkeit, wenn auch die Menge der Keimstoffe, welche ein organisches Wesen erzeugt, hierbei nicht allein bestimmend ist, sondern noch eine Menge andrer oft unbekannter Umstände mitwirken. So legt der Eissturmvogel nur ein Ei und soll doch der zahlreichste Vogel der Welt sein. In Ostindien findet man Pflanzen, welche erst seit der Entdeckung von Amerika von da eingeführt worden sind und welche, durch die Umstände begünstigt, sich dergestalt entwickelt haben, daß sie jetzt vom Cap Comorin bis zum Himalajah reichen.
So ist die aus dem Kampfe um das Dasein nothwendig folgende natürliche Züchtigung täglich und stündlich durch die ganze Welt beschäftigt, auch die geringsten Abänderungen oder Anpassungen ausfindig zu machen, sie zu verbessern, wenn gut, oder zurückzuwerfen, wenn schlecht, und damit die organische Welt einer steten Vervollkommung entgegenzuführen. Minder begünstigte Formen müssen dabei nothwendig abnehmen, seltener werden und endlich aussterben, um neuen, kräftigeren oder besser angepaßten Formen Platz zu machen, wofür die zahlreichsten und treffendsten Beispiele vorliegen. Ja, die Arten müssen fortwährend abändern, um nur bei Kräften zu bleiben. Jede Spielart, jede neu entstandene Art hat eine größere Kraft und Lebensfähigkeit, als die früheren, und läßt diese, mit seltenen Ausnahmen, nicht mehr aufkommen, weshalb auch eine geschlagene Art kaum jemals wiederkehrt, sie ist für immer vertilgt. Die heutige Welt, als die jüngste, ist auch die verhältnißmäßig stärkste und schlägt alle andern, wofür die canarischen Inseln und Neuseeland ein treffliches Beispiel liefern. An diesen Orten hat sich ihrer isolirten Lage halber eine ältere und weniger vervollkommnete, den längst untergegangenen Formen ähnlichen organische Welt erhalten, welche aber durch die nun von Europa her eingeführten Pflanzen und Thiere auffallend rasch unterdrückt und ausgerottet wird, weil diese in dem Kampfe auf einem größern Gebiet und unter mannigfaltigeren Lebensverhältnissen eine größere Kraft und Lebenszähigkeit erlangt haben. Sogar Thiere, welche an längst vergangene organische Zeitalter erinnern, wie das Schnabelthier und das Schuppenthier, und welche man gewissermaßen als lebende Fossilien ansehen kann, haben sich an solchen isolirten Orten, geschützt vor der Mitbewerbung, noch bis auf den heutigen Tag erhalten.
Dieses Princip scheint nun seinem Entdecker Darwin ausreichend, um daraus eine vollständige Lösung für das größte und schwierigste Räthsel der Naturforschung, an dessen Erforschung bereits die besten und tiefsten Denker vergeblich ihre Kräfte versucht haben, das Geheimniß der Geheimnisse, wie es ein englischer Philosoph nennt, abzuleiten. Indem dasselbe während Millionen und aber Millionen Jahren durch alle Generationen von Pflanzen und Thieren hindurch fortwirkte und in unzähligen Abstufungen allmählich Wirkung auf Wirkung häufte, soll es im Stande gewesen sein, nicht blos Abarten, sondern selbst neue Arten, Gattungen, Familien und Classen zu erzeugen und so vielleicht aus dem einfachsten und unscheinbarsten Anfang durch stufenweise Vervollkommnung die ganze ungeheure Reihe untergegangener und lebender Wesen hervorzubringen.
Es steht dem Verfasser dieses Aufsatzes nicht zu, über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit dieses Gedankens abzusprechen; die Gelehrten, unter denen die neue Idee ohne Zweifel große Bewegung und erbitterten Streit hervorrufen wird, werden darüber zu entscheiden haben, ob das Darwin’sche Naturgetz und die von ihm mit außerordentlichem Scharfsinn und seltener Gelehrsamkeit entwickelten Gründe und Thatsachen ausreichen, um eine so wunderbare Erscheinung, wie den Anwachs der organischen Welt auf Erden, auf natürliche Weise zu erklären, oder ob es hierzu noch anderer, bis jetzt unbekannter oder nur geahnter natürlicher Ursachen bedarf. Fällt die Antwort bejahend aus, so hat Darwin unsterbliches Verdienst erworben und für die organischen Naturwissenschaften dasselbe geleistet, was der berühmte Geolog Eyell für die Geschichte der Erde geleistet hat, d. h. aus kleinen und unscheinbaren Ursachen, welche noch heute und unter unseren Augen wirksam sind, und unter Anwendung eines einfachen und einheitlichen Princips die größten und wunderbarsten Wirkungen der Natur in Vergangenheit und Gegenwart abgeleitet. Sollte aber auch die Antwort verneinen ausfallen, so ist das Verdienst des genialen Forschers immerhin noch groß genug; denn er hat uns den tiefsten Blick in das innere und ungekannte Wesen der Naturerscheinungen thun lassen und wenigstens den Weg angedeutet, auf welchem das große Fortschritts- und Entwicklungsgesetz der organischen Natur mit der Zeit gefunden werden kann. Und bei dem Anblick der vielen und merkwürdigen Anpassungen in der Natur, welchen wir neben so vielem Unvollkommenen oder anscheinend Unnützen fast auf jedem Schritte begegnen, werden wir uns nicht mehr versucht fühlen, unsre Vorstellung mit falschen Zweckmäßigkeitsbegriffen anzufüllen, sondern einsehen, durch welche stufenweise und langwierige Arbeit es diesem oder jenem Naturwesen gelungen ist, bis zu seinem jetzigen Verhältniß gegenüber seinen Mitwesen oder den äußeren Lebensbedingungen emporzusteigen. Die „Fortschrittsdoctrin“ ist, wie sich der ausgezeichnete englische Botaniker Hooker ausdrückt, die tiefste von allen, welche je naturhistorische Schulen in Aufregung versetzt haben. Aeußert sich dieses Fortschrittsgesetz auch nicht in einer stetigen und einfachen Reihe, sondern als ein durch mancherlei Umstände und Schwierigkeiten unterbrochenes, zurückgehaltenes oder undeutlich gemachtes, und fehlt es neben dem Fortschritt auch nicht an stabilen oder stehenbleibenden Formen und Zuständen, ja selbst nicht an Beispielen „rückschreitender Organisation“, so ist es doch im Großen und Ganzen [95] unverkennbar und von der höchsten Bedeutung für unsre ganze Welt- und Naturanschauung.
Aber seine volle Wichtigkeit lernen wir erst einsehen, wenn wir dasselbe auf unser eignes Geschlecht, auf den Menschen anwenden. Denn der Fortschritt[1] in dem Kampf um’s Dasein ist nicht blos ein physischer, sondern auch ein intellectueller, ein geistiger. Geistige Anlagen, Triebe und Neigungen, einerlei ob angeboren oder erworben, vererben sich ebenso auf die Nachkommen, wie körperliche Vorzüge oder Abänderungen, wofür eine Menge der schlagendsten Beispiele bekannt geworden sind, und auf diese Erfahrung gestützt, sowie auf die merkwürdigen Nachweise, welche Darwin über die allmähliche Heranbildung und Vererbung der Instincte und Geistesthätigkeiten der Thiere gegeben hat, wird man nicht unschwer zu dem Schlusse gelangen, daß jedes Vermögen und jede Fähigkeit des Geistes nur stufenweise erworben werden kann – eine Idee, nach welcher ein englischer Schriftsteller, H. Spencer, schon im Jahre 1855 die Geisteslehre neu zu bearbeiten versucht hat. Daher ist denn auch bei dem Menschen, als dem höchsten und mit den besten geistigen und körperlichen Hülfsmitteln und demnach auch mit dem stärksten Streben nach Vervollkommnung ausgerüsteten Wesen der Schöpfung, der Kampf um das Dasein der heftigste, unbarmherzigste und erfolgreichste. Wie viele Stufen seines eignen Geschlechts der heutige Mensch schon hinter sich und überwunden hat, nachdem die unter ihm stehende Thierwelt überall, wo sie ihm im Wege war, mit Leichtigkeit von ihm verdrängt worden ist, wissen wir nicht; aber unter den jetzt lebenden Menschenracen wird ein gegenseitiger Kampf geführt, wie kaum irgendwo unter Naturwesen, ein Kampf, bei dem die jüngsten und demnach vollkommensten oder wenigstens am besten angepaßten Racen auch die meiste Aussicht auf Erfolg haben.
Für die ältesten Racen gelten Polynesier und Rothhäute, und in der That sehen wir diese mit einer fast unglaublichen Geschwindigkeit vor dem Andrange der weißen Race verschwinden, bis bald nur noch die Urkunden der Geschichte oder der Erdrinde Zeugniß von ihrem Dasein ablegen werden. Am jüngsten und lebenskräftigsten mögen die kaukasische und die Neger-Race sein, letztere für die heißen, erstere für die gemäßigten Klimate, und daher voraussichtlich nach und nach alle anderen Menschenracen von der Erdoberfläche verschwinden machen! Blicken wir nicht hinter, sondern vor uns in die Zukunft, so sind wir im Stande, unsre Phantasie mit dem Bilde einer noch vollkommneren oder besser angepaßten lebenskräftigeren Race zu erfüllen, welche unsern Nachkommen vielleicht dasselbe Schicksal bereiten wird, das wir gegenwärtig unseren schwächeren Mitracen bereiten. Auch die geistigen Fähigkeiten und Leistungen dieser Race werden die unsrigen so sehr übertreffen, daß sie auf uns ungefähr mit denselben Gefühlen herunterblicken werden, mit denen wir selbst auf diejenigen unsrer Vorfahren herabsehen, welche einst die Pfahlbauten in den Schweizer-Seeen oder die Steinäxte im Thale der Somme anfertigten!
Diejenigen, welche aus der Betrachtung des ewigen Kampfes und gegenseitigen Mordens in der Natur ein beunruhigtes oder erschrecktes Gefühl davon tragen möchten, sucht Darwin mit dem Gedanken zu trösten, daß der Krieg nicht ununterbrochen ist, daß keine Furcht gefühlt wird, daß der Tod im Allgemeinen schnell ist und daß es meist der Kräftigen, Gesündere und Geschicktere ist, welcher den Sieg davonträgt. –
Auflösung des physiognomischen Bilder-Räthsels. (Siehe Nr. 3.) Jenes Portrait stellt den Sohn des ehemaligen Königs Ludwig von Holland und der Königin Hortense vor, den Neffen Napoleon I., denselben, der jetzt auf dem französischen Kaiserthrone sitzt – und sich Napoleon III. nennt. Die Originalzeichnung, von der wir unsre Copie entlehnten, wurde im Jahre 1836 vom Maler Figoux nach der Natur entworfen, und zwar zu Straßburg im Gefängnisse, wohin Louis Napoleon abgeführt wurde, nachdem seine versuchte Militär-Revolte gegen Louis Philipp mißlungen war. –
Durch sonderbare Fügungen, die näher in bezeichnen uns nicht gut zulässig scheint, kam, wie wir bereits früher bemerkten, die Originalzeichnung in den Besitz des Herrn Hofschauspieler Kriete in Dresden, dem wir die Erlaubniß zu unsrer Copie und deren Veröffentlichung verdanken.
Das Neujahrsgeschenk, welches bekanntlich in Paris eine große Rolle spielt, ist merkwürdigerweise weniger den Verhältnissen des Gebers als vielmehr denen des Empfängers angemessen.
Ist es einem jungen Manne gelungen, sich einigermaßen in einer Familie einzubürgern, d. h. erhält er zu den verschiedenen Soiréen regelmäßige Einladungen, erweist ihm der Herr Papa die Ehre, ihn als ergänzenden vierten Mann an den Whisttisch zu schmieden, versagt ihm Fräulein Tochter die neunte Quadrille nicht, so zählt er zu den Intimen und muß diese Ehre am ersten Januar mit einer, resp. zwei Schachteln Bonbons für Fräulein Tochter, oder selbst Mutter und Tochter, bezahlen. Natürlicherweise muß dies Geschenk den unverkennbaren Stempel eines renommirten Hauses tragen. Unter den unzähligen Bonbonhändlern haben eigentlich nur vier oder fünf bedeutenden Ruf. Boissier, Gouache, Marquis (für Chocoladenbonbons) und jetzt auch Giraudin, der Exvaudevillist, der dem attischen Salz seiner lustigen Schwänke jetzt die Süßigkeiten des materiellen Geldverdienens vorzieht. Einer einigermaßen anständigen Dame kann man nur ein aus einem der erwähnten Häuser bezogenes Geschenk anbieten. Die Herren Lieferanten, die diese Nothwendigkeit wenigstens ebenso genau kennen, als die Käufer, lassen sich ihren Ruf gehörig bezahlen. Ihre Preise liegen außer dem bescheidenen Horizonte eines guten deutschen Unterthanenverstandes. Wie gewöhnlich wird auch hier auf das Aeußere mehr Werth gelegt als auf den Inhalt. Das kleine, geschmackvolle Kistchen mit dem Namen des Fabrikanten ist die Hauptsache, der Inhalt, die Bonbons selber, nur eine angenehme Nebensache.
Daher kommt es, daß folgender unschuldige Betrug sich sehr verbreitet hat. Junge Leute, die beschenkte Personen in ihrer Verwandtschaft haben, Schwestern oder freundliche Cousinen, lassen sich einige der geleerten Kistchen, wenn die Festlichkeiten vorüber sind, schenken (manchmal für Geld und gute Worte). Beim nächsten Neujahr gehen sie zum simplen Materialwaarenhändler und kaufen für ein paar Franken Bonbons, die dann unter der wohlgesehenen Etiquette eines Boissier einer andern Dame als echte Wann angeschmuggelt werden. Ich habe ein und dieselbe Kiste in Zeit von vier Jahren, zu meinem großen Erstaunen, bei vier verschiedenen Damen meiner Bekanntschaft am 1. Januar auf dem Salontisch paradiren sehen.
Die Conditors, die in den letzten zehn Tagen des Jahres mehr Geschäfte machen, als in den vorhergehenden 355, sind um diese Zeit freigebig, wie zufriedene Leute. Sie gestatten dem Käufer, von allen Bonbons zu naschen, wonach ihm der Gaumen steht, ganz nach Discretion. Daß es da nicht an indiscreten Schwerenöthern fehlt, ist um so erklärlicher, als das scheidende Jahr dem armen jungen Teufel das Leben recht vergällt und er deshalb keine Gelegenheit vorübergehen läßt, sich einige Stunden etwas zu versüßen. So giebt es elegante Stutzer, die für zehn Sous Pfefferminzkuchen kaufen und für fünf Franken Erdbeerbonbons gratis verzehren. „Die Menge muß es bringen,“ trösten sich die Conditors und werden zu reichen Leuten. In sehr bescheidenen Kreisen werden die Bonbons durch wohlfeile Apfelsinen ersetzt.
Außer dem ceremoniösen Neujahrsgeschenk der Bonbons tragen noch alle anderen verkaufbaren und schenkbaren Waaren im letzten Monat des Jahres den verlockenden Namen: „Charmantes Etrennes!“ Spielzeug für die Kinder, Möbel für junge Chambre-garni-Bewohner, Bücher für „die reifere Jugend“, Modeartikel für die sittige Hausfrau, Alles in einem Worte wird im Schaufenster der Verkäufer, als „passende“ oder „reizende Neujahrsgeschenke“ angekündigt. Als solche figuriren z. B. bei den Apothekern Salmiak für Gichtleidende, Krähenaugenpflaster und andere reizende Ueberraschungen.
Der Boulevard hat sein garstiges Sonntagskleid angelegt, das ihm gar nicht steht. Auf beiden Trottoirs ziehen sich zwei lange Reihen häßlicher Buben, vom Bastillenplatze bis zur Madeleine, hin. Kreischende Krämer bieten ihre „reizenden“ Waaren aus, bedrängte Schenker machen ihre Einkäufe. Alles schreit und tobt und jagt durcheinander und längs der Häuser lungert das gräßliche, bleiche Elend, der zerlumpte Bettler, der furchtbar entstellte Krüppel, der die melancholischen Töne seiner verstimmten Leier in den allgemeinen Tumult mischt. Das ist das Weihnachtsgeschenk, das die Pariser Municipalbehörden der Armuth und dem Gebrechen machen: die Freiheit, die öffentliche Gleichgültigkeit mit ihrem oft Abscheu erregenden Elend zu erschüttern. Aber jede Freiheit hat hier zu Lande Geldeswerth. –
Kleine Kinder, die Affen ähnlich in eine Zuavenuniform gesteckt sind, trippeln selig hinter dem Regenschirme ihres Vaters her. Die Actien der Zuaven sind jedoch diesmal etwas gefallen. Speculanten, die den Zeitverhältnissen Rechnung tragen, haben die bunte Uniform der afrikanischen Garde durch das rothe Hemde des italienischen Dictator vortheilhaft ersetzt. Ich bin wenigstens einem Dutzend kleinen Garibaldi’s, mit einer feuchten Nase, rothem Hemde, langem Schleppsäbel und einem schwarzen Filzhute mit wallender schwarzer Feder begegnet, außerdem trugen die armen, kleinen Bälge graue, leinene Hosen, bei drei Grad Kälte! Da Alles, was um und an dem Soldatenstande hängt, den kleinen Kindern am meisten Spaß macht, sind die Buden mit Trommeln und Trompeten, Gewehren und Kanonen, klirrenden Säbeln und rasselnden Cürassen, in großer Mehrzahl vertreten, lauter geräuschvolle Zerstreuungen, die im Verein mit dem allgemeinen Skandal den Boulevard zu einer wahren Verdipartitur machen. Zwei dieser Spielsachen haben dies Jahr [96] ein besonderes Glück: die Garibaldi-Knallbüchse, die den quiekenden Ballon-Tamberlick mit Heidenknall verdrängt hat und als „Freude der Kinder, Ruhe der Familien!“ (sic) von den ambulanten Händlern ausgeschrieen wird, und eine große Puppe, die den kaiserlichen Prinzen als kleinen Grenadier mit einer Bärmütze und dem Großkreuze der Ehrenlegion darstellt. Eine neue Art von Propaganda für den Patriotismus. Die zeitgemäßen Umstände haben an einem dritten Spielzeug eine abermalige Metamorphose vorgenommen: es ist dies ein dicker, wohlgenährter Zuave, der, wenn man an einem Schnürchen zieht, zufrieden lächelnd einen elenden, grämlichen Mandarin, der vor ihm kniet, mit Sack und Pack verschlingt. Heuer ist es ein Chinese, im vorigen Jahre war es ein Oesterreicher, 1855 ein Russe, im nächsten Frühling wird es vielleicht ein Landsmann Arndt’s sein!
Gelegenheit macht Diebe! Daß es bei diesem Volksauflaufe, Gedränge und Gestoße nicht an ehrlichen Spitzbuben fehlt, ist offenbar. Das Haus Giroux allein, das bedeutendste Spielwaarenlager in Paris, schätzt die rechtlichen Entwendungen im Monat December auf 20,000 Franken Verlust.
Die dritte Kategorie der Geschenke bilden die Trinkgelder. Der Hausmeister, der uns im Regen und Schnee eine halbe Stunde vergeblich hat läuten lassen; der Tambour der Nationalgarde, der uns mit seiner Trommel das Trommelfell gesprengt; der Briefträger, der unsere recommandirten Briefe acht Tage im Sack herumgeschleppt hat; der Kellner im Café, der unsere mühsam culottirte Pfeife zerbrochen; der beim Restauranten, der die Suppe über unsere funkelnagelneuen, noch nicht bezahlten Beinkleider gegossen; der Barbiergehülfe, der, wie Jean Paul sagt, „sein Andenken in unsere Backen, wie in eine Birkenrinde geschnitten“ etc., kurz alle diejenigen, die wir 364 Tage gut bezahlt haben, um uns schlecht zu bedienen, verlangen am ersten Lage des jungen Jahres eine außergewöhnliche Gratification zur Aufmunterung und Besserung. Die Gesammtausgabe dieser Trinkgelder ist für den einfachsten, bedürfnißlosesten jungen Mann eine Börsenerleichterung von wenigstens 40–50 Franken. Ueberschreitet man die Grenze der äußersten Bescheidenheit um eine Spanne breit, so verdreifacht sich dieser Posten.
Leuten, denen man keine persönliche Neujahrsvisite schuldig ist, bringt man nur eine Visitenkarte; steht man ihnen noch ferner, so kann man dieselbe unter Enveloppe per Stadtpost befördern lassen. Nur verlangt der gute Ton, das Couvert mit der grünen Freimarke von einem Sou zu versehen. –
Der Rabe von St. Jakob. Nach der mündlichen Mittheilung eines sehr hochbetagten Herrn, des quiescirten Patrimonialrichters Forster, besaßen vor etwa zwanzig Jahren die Benedictiner des Schottenklosters zu St. Jakob in Regensburg einen gezähmten Raben, der einige Worte nachsprechen konnte. Dieser Vogel war der Liebling des ganzen Klosters. Im Winter war sein gewöhnlicher Platz vor dem Empfangzimmer oder auch in diesem, im Sommer dagegen im Garten bei der Kegelbahn. Am deutlichsten pflegte der Rabe, wenn ein Fremder in’s Kloster trat, zu rufen: „Pater Joseph, Pater Joseph!“ oder auch: „Was willst Du?“ Da geschah es eines Abends, das ein befreundeter Gutsbesitzer, der einen Hühnerhund bei sich hatte, durch die Gartenthür bei der Kegelbahn eintrat. Bevor noch die freundlichen Klosterbruder die Anwesenheit des Hundes bemerkten, hatte dieser den Raben schon jagdgerecht gestellt. Indem der Rabe sich widersetzte, that der Hühnerhund ein Gleiches, ohne ihn aus dem Auge zu verlieren. Die Klosterbrüder hatten Sorge, es möchte ihrem Lieblinge etwas widerfahren, und baten den Besucher, seinem Hunde zu rufen. Dieser aber entgegnete, es geschähe dem Raben sicherlich nichts. Da diese Fixirung in der Länge dem Raben nicht zusagte, so stand er endlich auf und ging dem Hunde entgegen, indem er plötzlich fragte: „Was willst Du?“ Mit einem Satz machte der Hühnerhund kehrt, schlich mit eingezogenem Schweife in einen Winkel des Gartens und war lange nicht zu bewegen, wieder hervorzukommen.
Hans Sachs, das Vorbild der späteren Meistersänger, geboren am 5. November 1494 zu Nürnberg, dichtete sein erstes Meisterlied als Schuhmachergesell an seinem 20. Geburtslage auf der Wanderschaft zu München, sein letztes am Sylvesterabende des Jahres 1569 als ehrsamer Meister und „Rathsverwandter“ zu Nürnberg, hat also volle 55 Jahre lang den Pegasus geritten. Wie wacker er das Musenroß, das er am gedachten Sylvesterabende in den wohlverdienten Ruhestand versetzte (er selbst starb am 25. Januar 1576, im 82. Lebensjahre), getummelt, geht daraus hervor, daß er nicht weniger als 4275 Meisterlieder, 208 „traurige Tragedie“ und „fröhliche Comedias“ und 1565 „kurtzweilige Schwänke und Reimspiele“, in Summa also 6048 größere und kleinere poetische Piecen, fertigte. Mit dieser gewaltigen Productivität, die uns doppelt unbegreiflich ist, wenn wir bedenken, daß Hans Sachs während des größten Theiles seines Lebens neben dem Meistergesänge auch fleißig Pfriemen und Ahle handhabte, steht der Nürnberger Meister jedoch keinesweges vereinzelt da. Er ward an Productivität, wenn man nämlich nicht sowohl auf die Zahl, als aus das Volumen der Werke sieht, von Don Pedro Calderon de la Barca (geboren im Februar 1600 zu Madrid, gestorben daselbst am 25. Mai 1681) erreicht, und von dessen Landsmann und zum Theil Zeitgenossen Felix Lope de Bega (geboren 1562, gestorben 1635) noch übertroffen. Ersterer, dessen poetische Thätigkeit allerdings einen sechsundsechzigjährigen Zeitraum, vom 14. nämlich bis zum 80. Lebensjahre, umfaßt, schrieb 128 mehractige Dramen (zumeist Intriguenstücke und historische Schauspiele), größere Frohnleichnams-Stücke und Passionsspiele, etwa 200 Vorspiele und über 100 Divertissements; Lope de Bega aber, welcher etwa die gleiche Zeit wie Hans Sachs dichterisch thätig war, schrieb 2 große Epopöen, 5 mythologische Stücke, 4 große historische Gedichte, 8 Novellen in Prosa, an 1500 Comödien, mindesten 500 Autosacramentales, Loas, und Saynetes, ein großes komischen Heldengedicht, ein Dutzend größerer didaktischer und beschreibender Gedichte und eine Unzahl von Sonetten, Oden, Romanzen, Elegien und Episteln. Eine „beschränkte Auswahl“ seiner Werke, welche im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts in Madrid erschienen, füllt einundzwanzig ziemlich starke Bände!
Die Sykomore rauscht, ein blondgelockter Knabe
Mit leichtem Schritte rennt durch die Prairie,
Hell klingt sein Lied im Takt mit seinem muntern Trabe,
Im fernen West die deutsche Melodie:
Und Gott im Himmel Lieder singt – “
Aus vollem Herzen stimm’ ich ein:
„Das ganze Deutschland soll es sein!“
Nicht weit, an einer klaren Quelle, lehnt im Schatten
Zur Seit’ ein junges Weib, die Hand dem theuren Gatten,
Die treue Brust dem Säugling reichend dar.
Zu Füßen schlummert süß und mild
Ein Mägdlein noch, der Mutter Bild,
Der knurrend ob dem Liebling wacht.
Der Knabe naht – „ich bringe,“ ruft er, „frohe Kunde
Euch, Vater, Mutter, aus der Hafenstadt;
Der lang’ und heiß ersehnten Heimkehr sel’ge Stunde
Ein deutsches Fähnlein weht vom Mast,
Der trug die Botschaft, sonder Rast
Schon eilt, schon drängt man froh zum Strand,
Zur Fahrt in’s liebe Vaterland!
Die Gattin schmiegt sich selig an sein Herz.
„So wär’s denn wahr? das Leid, das schwere, fand Erbarmen?
O Kinder, hört’s, vorbei ist aller Schmerz!
Vorbei die namenlose Pein,
O, reicher Segen, ström’ herab
Auf ihn, der solche Gnade gab!
Die Heimath winkt, schon hör’ ich ihre Eichen rauschen,
Seh’ Burgen, Dome, sehe Dorf und Heerd,
Die schon der Knabe einst so gern gehört!
Auch mancher Hügel wohl im Sand
Mich grüßt statt warmen Drucks der Hand. –
Und ich – das alte Herz bring’ ich,
Er nimmt das Blatt aus Sohneshand – es zuckt ein Beben,
Dem Auge langsam eine Thrän’ entrollt. -
Dann spricht er leis: „Ein and’rer Fürst ist’s, der vergeben,
Deß Herz, so groß als edel, nicht mehr grollt. –
Ein Irrthum war’s, ein Mißversteh’n.
Geduld’ Dich, Herz, noch sollt’s nicht sein -
Ach, wann wird unser Fürst verzeihn?!“
Die Sykomore rauscht, sonst rings ein tiefes Schweigen,
Des Säuglings Augen nur ein holdes Lächeln zeigen,
Ihm ist der Mutter Schooß noch Vaterland,
Und was hat wohl der Mann verübt?
Sein Vaterland zu heiß geliebt,
„O Gott von, Himmel, sieh’ darein!“
gingen in den letzten Wochen bei dem Unterzeichneten ein: 1 Thlr. L. u. M. P. in Oelsnitz. – 13 Thlr. ein deutscher Singverein in Warschau. – 2 Thlr. Benniger in Kochnovka – 1 Thlr. A. B. – 2 Thlr. 5 Rgr. Wettiner Männer-Liedertafel. – 10 Thlr. Adolf Schröder in Leipzig.
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