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Die Gartenlaube (1862)/Heft 18

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1862
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[273]

No. 18.   1862.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Im Grindelwald-Gletscher.
Von A. Diezmann.


„Lieber Herr, ich bitte Sie, küssen Sie die Dame hier nicht,“ sagte der Führer ängstlich in der Grotte des oberen Gletschers zu Grindelwald, als er zufällig sich umdrehte und sah, daß ich den Arm um Ella legte und ihr eben einen Kuß geben wollte, weil sie, entzückt durch den Anblick der blauen Eiswölbung, mir zugeflüstert hatte: „gefrorner Himmel!“

„Mann,“ antwortete ich lächelnd und neugierig, „was geht es Sie an, ob und wo ich die Geliebte küsse?“

„Es ist gefährlich hier,“ sagte er kleinlaut.

„Für wen gefährlich?“

„Für die Dame und auch für Sie selbst.“

„Guter Mann, sorgen Sie sich nicht; nur der erste Kuß war für uns gefährlich.“

„Ich beschwöre Sie, küssen Sie die Dame hier nicht!“ bat der Führer dringender und ängstlicher, da er sah, daß ich mir den Kuß doch nehmen wollte. Er faßte mich sogar an, um mich von Ella wegzuziehen, die stilllächelnd meinen Arm drückte, und er flüsterte mir geheimnißvoll zu: „die Eisgeister …!“

„Eisgeister?“ fiel Ella ein. „Märchen? Mann, erzählen Sie!“

„Hier, wo die Geister hausen und herrschen, darf man von ihnen nicht reden,“ sagte der Führer.

In diesem Augenblicke hörte man ein dumpfes Donnern, und ein leises Beben ging durch die gewaltige Eisgrotte.

„Was ist das?“ fragten wir Beide gleichzeitig.

„Es fiel oben eine Lauine,“ antwortete der Führer. „Lassen Sie uns eilen. Die Geister zürnen bereits. Kommen Sie schnell! Leicht reißt ein Spalt durch diese Wände, und wir sinken in die Tiefe hinab, oder die Wölbung stürzt über uns zusammen und begräbt uns unter ihren Trümmern. Die Eisgeister sind gar mächtig und, wenn sie zürnen, grausam.“

„Nun, Führer,“ sagte ich, um den ängstlichen Mann zu beruhigen, „ich will den Kuß, den Sie fürchten, aufsparen unter der Bedingung, daß Sie uns erzählen, was Sie von den Eisgeistern wissen. Sagen Sie ja, sonst küss’ ich die Dame auf der Stelle und vor Ihren Augen.“

„Mein alter Vater weiß mehr von den Geistern der Gletscher als ich,“ antwortete er, „und wenn Sie es wünschen, wird er Abends zu Ihnen in das Wirthshaus kommen und Ihnen erzählen.“

„Gern. Eines nur sagen Sie uns: warum ist gerade das Küssen hier so gefährlich?“

„Das ist eine lange Geschichte, die Ihnen mein Vater erzählen mag,“ sagte der Führer, und erst als wir den gewaltigen Eisbau verlassen hatten und wieder draußen im hellen Sonnenscheine standen, setzte er hinzu: „Die Jungfrau duldet nicht, daß in ihrem Bereiche ein Mann und ein Mädchen oder eine Frau einander küssen.“

„Welche Jungfrau?“

„Das wird Ihnen auch mein Vater sagen.“

„Aus jungfräulicher Sittsamkeit oder aus Neid?“

„Das weiß ich nicht.“

Der Führer hatte unsere Neugierde in hohem Grade erregt, und wir freuten uns auf die Erzählung des Alten, die er uns versprochen hatte.

Abends, als wir im Garten des Hotels zu Grindelwald saßen und den Thee tranken, den Ella mit eigener Hand bereitet, nachdem wir lange in den parkähnlichen Anlagen umhergegangen waren, um den Eindruck der großartigen Natur umher voll auf uns wirken zu lassen, erschien unser Führer mit seinem Vater, einem hochbetagten Manne mit gletscherweißem Haar und Bart, der sich zwar auf einen Stock stützte, sonst aber noch ziemlich rüstig aussah. Das Feuer in seinen klugen Augen war noch nicht erloschen, aber die Runzeln auf seiner Stirn und seinen Wangen deuteten darauf hin, daß er in seinem langen Leben viel und viel Schweres erfahren habe. Er nahm unbefangen bei uns Platz, während sein Sohn sich wieder entfernte, nachdem er uns den Alten vorgestellt hatte, und leerte das Glas Wein, das wir ihm boten, auf unsere Gesundheit aus.

„Gott sei gedankt, daß ich es trinken kann auf Ihr Wohl,“ sagte er, „daß Sie der Warnung meines Sohnes nachkamen und die liebe Dame da in dem Gletscher nicht küßten.“

„Sie glauben also, daß es wirklich gefährlich gewesen wäre? Sie glauben an Geister in Ihren Eis- und Schneebergen? Sie haben doch lange in der Welt gelebt und gewiß viel gesehen, erfahren und gelernt.“

„Ich habe auf der Wanderung durch mein langes Leben meinen Glauben nicht verloren, wie so viele Andere; ja weil ich viel gesehen und erfahren, habe ich erst recht glauben gelernt. Lieber Herr, es giebt wunderbare Wesen und Dinge auch bei uns.“

„Solche „wunderbare Wesen und Dinge“, Götter und Geister, kommen und gehen wie die Menschen, von denen sie erdacht worden sind; nur der ewige Gott bleibt.“

„Unser Herr Gott aber, denke ich, wäre nicht so groß und allmächtig, wie er ist, wenn er nichts erschaffen hätte, als was wir Menschen sehen. Das ist gewiß nur der kleinste Theil. Freilich sagen die Leute: was man nicht sieht, ist nicht. Ich habe aber einmal durch ein großes Fernrohr nach dem Himmel und da Sterne gesehen, die dem klarsten Auge nicht sichtbar und doch da waren. [274] Ein Gelehrter, den ich lange auf seinen Reisen durch unsere Gebirge begleitet, ließ mich durch ein anderes Instrument sehen, das er bei sich hatte und ein Mikroskop nannte und durch das ich Dinge erblickte, die so klein waren, daß sie das beste Auge nicht erkennen konnte. Leider haben wir kein Instrument, das uns Wesen sichtbar macht, welche unsern Augen für gewöhnlich nicht erkennbar sind. Sie geben aber ihr Dasein bisweilen deutlich genug in anderer Art kund.“

„Beispiele solcher Art möchten wir eben von Ihnen erfahren, und wenn es möglich ist, zunächst eines, welches das Kußverbot in der Gletschergrotte erklären könnte.“

„Ich will versuchen, in wie weit ich Sie befriedigen kann,“ sagte der alte Mann, und nachdem er noch ein Glas Wein getrunken hatte, begann er:

„Dort drüben, wo der Gletscher von dem „Eismeere“ oben sich herunterzieht bis fast in das Thal herein, befand sich einst eine fruchtbare Matte mit dem saftigsten, schönsten Grün. Ein paar Häuschen standen da im Schutz des Wetterhorns, und große Nußbäume gaben ihnen Schatten. Das Haus, das am höchsten oben stand, gehörte einem jungen Manne, der Vater und Mutter verloren hatte und selten daheim war. Er hielt nicht eine Kuh auf der Matte, denn das stille, gleichförmige Leben des Hirten gefiel ihm nicht. Viel lieber wanderte er auf den Bergen umher, Gemsen zu jagen, Gefahren und Abenteuer zu bestehen und nie betretene Höhen zu erklimmen. Weil er einmal mit eigener Gefahr einen Adler erlegt hatte, hieß er der Adler-Fritz. So jung er noch war, unterschied er sich doch bereits von allen seinen Genossen. Er war klüger als sie, und während sie am liebsten zu Spiel und Tanz und allerlei Kraftübungen zusammen kamen, zeigte er sich fast nie bei solchen festlichen Gelegenheiten. Am liebsten war er allein. Darum betrachteten ihn auch Alle, Junge und Alte, mit einer gewissen Scheu, wenn auch die Männer seinen viel erprobten Muth und die Frauen und Mädchen seine kräftige, schöne Gestalt bewunderten und unter einander priesen. Jede Sennerin sah ihm mit zärtlichem Blicke nach, wenn er ruhig grüßend stolz an ihr vorüberschritt, und ihr Herz bangte angstvoll, wenn sie ihn an gefährlicher Stelle erblickte. Noch nie aber hatte man gehört, daß ihm eines der Mädchen vor andern gefallen, und keine konnte sich eines besonders freundlichen Blickes oder Grußes von ihm rühmen, außer etwa die Bäteli oben auf der Scheideck, mit der er manchmal einige Worte gewechselt, ja der er bisweilen ein Sträußchen der seltensten Alpenblumen, Enzian, Kaiserle und Edelweiß gegeben hatte. Sie war es freilich auch, die ihn am aufmerksamsten beobachtete und oft, wenn sie glaubte, daß er von einer Wanderung in ihrer Nähe vorüberkommen müsse, lange geduldig nach ihm ausschaute, allerdings so, daß er sie nicht bemerken konnte, und der dann das Herz gewaltig im Busen schlug, wenn er endlich wirklich kam und sie erkannte, daß er länger, als gerade nöthig war, nach ihrer Sennhütte hinschaute, als wünsche er sie zu erblicken. Worüber man am meisten und recht kopfschüttelnd sprach, war, daß er fast in allen Mondscheinnächten auf den Bergen und an den Gletschern umherwanderte. Was, fragte man, hat der Jäger in solchen Nächten draußen im Gebirge zu suchen und zu schaffen? Man wußte ja recht wohl, daß er nicht etwa wie andere Burschen in solchen Nächten ein geliebtes Mädchen, vielleicht in weiter Ferne, heimsuchte. Ein alter Vetter hatte ihn mehr als einmal wohlmeinend vor den Gefahren solcher nächtlichen Wanderungen gewarnt und ihm gesagt, daß, wie in Mondschein allerlei unheimliches Gewürm und anderes Nachtgethier aus seinen Schlupfwinkeln hervorkomme, auch andere Wesen, die das Tageslicht scheuten, sich hervorwagten, um Menschen zu verlocken und zu berücken. Der Jäger aber hatte anfänglich ungläubig gelacht und endlich erklärt, er sei kein Kind, das man mit Märchen schrecken könne, man möge ihn „seine Wege“ gehen lassen. Der Mondschein selbst und er allein sei es, der ihn hinausziehe unwiderstehlich, als legten sich die Strahlen wie Schlingen um ihn. Die Berge, die er über Alles liebe, erschienen ihm im Mondlichte viel tausendmal herrlicher und majestätischer als in dem nüchternen Sonnenscheine oder gar bei trübem Wetter. Wenn er die kahlen Felsenzacken, die grünen Matten und die weißen Gletscher vom Monde beglänzt vor sich sehe, fühle er in sich ein Etwas, das er zwar nicht verstehe, nicht beschreiben und ausdrücken könne, das ihm aber unsäglich wohlthue. – Der alte Vetter senkte schweigend sein graues Haupt, als fürchte er, solch abenteuerliches Treiben könne nimmermehr zu gutem Ende führen.

An einem Frühlingsabende – er hat es selbst erzählt – als spät am Tage ein heftiges Gewitter über Grindelwald hingezogen, das Echo der Donnerschläge unlängst erst verhallt, die Luft aber so weich, so lieblich wie vielleicht am ersten Schöpfungsmorgen, so erquicklich war, daß man sie wie einen süßen Trank in sich zog und die Brust verlangend sich ihr entgegendehnte, trat der Mond aus den zerrissenen Wolken hervor und breitete sein Licht – wie immer, bevor er über das Wetterhorn herüberschaut – gleich einem dünnen silberschimmernden Schleier über Berg und Thal. Es war andächtig still in dem großen Gotteshause der Natur; die jungen Blätter, die der Gewittersturm geschüttelt hatte, hielten sich, wie ermüdet, regungslos an den Bäumen und ließen nur von Zeit zu Zeit einen Tropfen fallen, gleich einer Thräne; kein Insect schwirrte oder zirpte; nur zahllose kleine Quellen, Bäche und Wasserfälle rieselten, murmelten, plätscherten und rauschten ihr einförmiges Lied. Es war eine Nacht voll Segen und Fruchtbarkeit, voll Duft wie von Weihrauch, eine Nacht, die auch Andere, als den Adler-Fritz, in ihren Zauber hätte hinauslocken können.

Der Jäger hatte in der That dem Reize nicht widerstehen können und sein Häuschen verlassen, sobald der erste Mondesschimmer sich gezeigt. Er war diesmal gerade hinaus gewandert die kurze Strecke nach dem Gletscher, dem Eismeere zu, wohin ihn sonst selten seine Schritte trugen. Obwohl er in der Ferne Lauinen fallen hörte, achtete er doch nicht auf den ihm längst vertrauten, eigenthümlich seltsamen Ton, sondern stieg weiter und weiter, an schwarzen Abgründen, an weißen Schneefeldern, an tiefgähnenden Eisspalten hin, auf deren Grunde die Wasser rauschten und die da, wo die Mondstrahlen sie trafen, wie riesige bläuliche Krystalle blitzten. Leichte weiße Wölkchen zogen um die Spitzen der Berge, als tanzten Nebelgestalten einen luftigen Reigen. Auf dem Eise der Gletscher selbst aber blitzte und leuchtete es oft plötzlich auf, bald hier, bald dort, als streue eine unsichtbare Hand Funken oder flimmernde Diamanten umher. Dem einsamen Wanderer kam es sogar bisweilen vor, als trippelten leichte Füßchen bald vor, bald hinter ihm, bald neckisch um ihn herum. Er wußte gewiß, daß er Aehnliches vorher nie gesehen oder gehört hatte. Darum richtete sich seine Aufmerksamkeit ausschließlich auf diese seltsame Erscheinung; er strengte Aug’ und Ohr an, um zu sehen und zu hören, was Wunderbares um ihn her vorgehe; bald blieb er stehen, bald ging er weiter, ohne auf den Weg zu achten und ohne zu bemerken, daß er bereits auf das Eis des Gletschers selbst gelangt sei.

Etwa zwanzig Schritte vor ihm schien plötzlich eine weiße Gestalt aufzutauchen. Oder war es Nebel, der von dem Eise aufstieg? Nein, denn er erkannte an der Gestalt deutlich menschliche Formen, nur schienen sie von einem langen, weitfaltigen Gewande umhüllt zu sein, während es von dem Haupte blitzte wie durch einen Schleier ein Kranz von funkelnden Edelsteinen. Verwundert blieb Adler-Fritz stehen. Da hob die Gestalt den rechten Arm und machte damit eine winkende Bewegung. Er kannte keine Furcht, aber es war ihm doch, als hauche ihn eine kalte Luft an, und ein leichter Schauer rieselte ihm durch die Glieder. Als die Gestalt gleich darauf noch einmal winkte, ganz deutlich, ging der Jäger entschlossen, schneller schreitend, auf sie zu. Er kam ihr so nahe, daß er erkannte, es sei eine Frau oder Jungfrau, freilich eine, wie er ähnlich keine andere zuvor gesehen. Ein blendend weißes weites Gewand, das ein bläulicher Gürtel zusammenhielt, umgab sie, und von dem Haupte, an dem es funkelte wie von kleinen Sternen, fiel ein leichter langer Schleier. Er erkannte sogar ein bleiches Gesicht und leuchtende Augen darin, die ihn liebreich anblickten und ihm sagen zu wollen schienen: „komm und fürchte Dich nicht!“ Als er nur noch wenige Schritte von ihr entfernt war, winkte die Gestalt noch einmal, dann drehte sie sich um und ging langsam, unhörbaren Trittes, weiter. Am Boden um sie her leuchtete und flimmerte es in der Art, wie er es bereits gesehen, nur glänzender und an zahllosen Stellen. Er wußte nicht, ob er folgen sollte oder nicht, und obgleich es ihn mächtig der Gestalt nachzog, wäre er doch vielleicht zurückgeblieben, wenn sie nicht noch einmal den Kopf nach ihm herumgewendet und ihn dabei mit einem Blicke angeschaut hätte, dem zu widerstehen ihm unmöglich war. Er wollte fragen, wer sie sei und wie sie in diese Eis- und [275] Schneewildniß gekommen, aber die Zunge war ihm wie gebunden. So folgte er denn der Gestalt schweigend, wie lange, wie weit, wußte er nicht zu sagen, bis er sich endlich an einer Art Pforte befand, auf die der Mond seine hellsten Strahlen warf und die auf blauschimmernden starken Pfeilern zu ruhen schien. In diese offene Pforte schritt die Gestalt hinein und zwischen den blauen Pfeilern drehte sie sich noch einmal um. Auch streckte sie dem Nachfolgenden die Hand entgegen, als wünsche sie, daß er dieselbe ergreife und sich so geleiten lasse. Es überkam ihn aber vor dem geheimnißvollen Eingange mit einem Mal ein Zagen und Bangen; er gedachte unwillkürlich an alle schauerliche Sagen und Märchen, die man ihm erzählt hatte, und wie betend sprach er halblaut vor sich hin: „Herr Gott, stehe mir bei!“

Da fuhr ein betäubendes Donnergekrach durch das Eis, daß es unter seinen Füßen zitterte und wankte; mit dumpfem Getön stürzten auf mehreren Seiten zugleich Lauinen nieder; der Mond verbarg sich hinter einer schwarzen Wolke; die blaue hohe Pforte und die weiße Gestalt verschwanden.

Eine lange Weile stand Adler-Fritz wie betäubt, sobald er aber wieder zum vollen Bewußtsein gekommen war, sah er sich forschend um, ob er die Jungfrau irgendwo wiederfinde. Wie er aber auch die Blicke suchend umhersandte, nirgends war eine Spur von ihr zu entdecken, ebensowenig von dem eigenthümlichen Blitzen und Flimmern am Boden, das ihm so seltsam erschienen war. So mußte er endlich an die Heimkehr denken. Als er sich wandte, um den, wie er glaubte, nur kurzen Weg nach seinem Häuschen anzutreten, erschien ihm die ganze Umgebung fremdartig und er erinnerte sich nicht, diese Felsenzacken, die drohend wie Riesenwächter um ihn und das „Eismeer“ her standen, jemals vorher so gesehen zu haben. Und wie war er auf den Gletscher selbst gekommen? Nur seiner sehnigen Kraft konnte es möglich werden, ihn ungefährdet hinüber zu bringen über die Eismassen mit den zahlreichen klaffenden Spalten, die hier und da wohl gar eine leichte Schneedecke dem Auge verbarg, welche einbrach, sobald er den Fuß darauf setzte.

Wie ein Träumender, er wußte selbst nicht wie, kam er in sein Haus zurück, und in wachem Traum verbrachte er den noch übrigen Theil der Nacht. Immer stand die hohe weiße Gestalt mit den freundlich blickenden leuchtenden Augen und der winkenden Hand vor seiner Seele. Wer war sie? Was wollte sie von ihm? fragte er sich wohl hundert Mal, ohne daß er sich eine nur irgend befriedigende Antwort darauf zu geben vermochte. Mit dem ersten Morgengrauen nahm er seinen Stutzen, um wo möglich dorthin zu wandern, wo ihm in der vergangenen Nacht die Wunderbare erschienen war, und vielleicht eine Spur von ihr, oder doch die Stelle zu finden, wo sie seinen Blicken entschwunden war. Mit einer selbst bei ihm seltenen Kühnheit ging er über die Gletscherfläche nach allen Richtungen hin, wo er immer nur den Fuß aufsetzen konnte, aber er sah nichts als eine weite Oede von Schnee und Eis, nicht einmal Spuren von seiner eigenen nächtlichen Wanderung, und blitzte und funkelte es ja einmal vor ihm, wie in jener Nacht, so überzeugte er sich alsbald, daß es nur die Sonnenstrahlen waren, die sich in Eiskrystallen brachen. Er trat an manche Eisspalten, die im schönsten Blau erglänzten, aber nirgends zeigte sich etwas, das der Pforte und den Pfeilern ähnlich gewesen wäre, wo er die wunderbare Jungfrau das letzte Mal gesehen. Auch an leichten Morgennebeln fehlte es nicht, die von dem Boden aufstiegen und um die zackigen Höhen sich legten, aber zu einer menschenähnlichen Gestalt formte sich keiner. Je höher die Sonne stieg, um so fester mußte sein Glaube werden, daß die Nacht und der Mondschein ihn getäuscht hätten, und endlich verspottete er sich selbst darum, daß er einen Augenblick das, was er gesehen, für etwas Wunderbares und das Wunderbare für wahr und wirklich hatte halten können.

Es mochte Mittag sein, als er Bäteli’s Sennhütte vor sich liegen sah, und zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, zu diesem Häuschen hin zu gehen und mit dem Mädchen ein halbes Stündchen zu verplaudern. Als Bäteli den stattlichen Jäger so unerwartet in ihre Hütte treten sah, erschrak sie so sehr, daß sie den Milcheimer, den sie trug, beinahe hätte fallen lassen. Kaum vermochte sie den freundlichen Gruß freundlich zu erwidern, und abwechselnd überflog tiefe Blässe und hohe Röthe ihre Wangen. Sie war schlanker und zarter gebaut als die andern Mädchen ihres Standes und der Umgegend. Ihre Glieder sahen so fein aus, daß man auf den ersten Blick zweifeln mußte, ob sie die schwere Arbeit verrichten könnten, die von ihr verlangt wurde. Ihr Gesicht war mehr länglich als rundlich, mehr blaß als roth, aber von der Sonne gebräunt. Im Profil namentlich hatte es einen fast edlen Schnitt. Die dicken Flechten ihres braunen Haares fielen ihr weit auf den Rücken herab. Das Auge war hellbraun wie eine eben gereifte Nuß und voll sanfter Freundlichkeit. Das kurze schwarze Mieder legte sich wie liebkosend um den schlanken Leib, und das blendend weiße Hemd verrieth keinen überquellenden Busen, wie bei den meisten andern Mädchen dort. Die Hände waren zwar hart von vieler und schwerer Arbeit, aber auffallend klein und, wie die nackten Füße, zierlich und fein geformt. Der Ton ihrer Stimme endlich klang voll, aber lieblich weich und sprach wunderbar zu den Herzen der Hörer.

„Sage mir, Bäteli,“ fragte der Adler-Fritz, nachdem sie ihm auf sein Gesuch Milch und Brod vorgesetzt hatte, „fürchtest Du Dich nicht so ganz allein hier oben in dieser Einsamkeit?“

„Fürchten?“ antwortete das Mädchen unbefangen. „Menschen kommen nur selten auf diese stille Höhe, böse gar nicht, denn solche wagen sich nicht hierher, wo sie Gott näher und mitten in seiner Herrlichkeit sein würden. Meine Kühe folgen mir willig, denn jede kennt genau meine Stimme, wie ich den Klang ihres Glöckchens. Ein Adler fällt mich nicht an, und vor der Macht des Bösen schützt mich der liebe Gott, zu dem ich bete.“

So kindlich einfach diese Worte waren, machten sie doch einen unerwartet tiefen Eindruck auf den Jäger, der sehr ernst wurde, aber nichts, darauf erwiderte. Sie versetzten ihn plötzlich wieder in die vergangene Nacht und erinnerten ihn daran, daß ihm die wunderbare Jungfrauengestalt verschwunden, als er – gebetet hatte. Sollte sie ein böser Geist gewesen sein, eines jener unheimlichen Wesen, die, wie sein alter Vetter ihm gesagt, das Licht des Tages scheuen, in der Nacht aber erscheinen, um Menschen zu verlocken und zu berücken? Wie ein entfesselter Strom überflutheten ihn beängstigende Gedanken und Vermuthungen; darum hielt es ihn nicht länger in der engen Sennhütte, sondern trieb und drängte ihn gewaltsam hinaus in das Licht der Sonne und die freie Luft. Er stand rasch auf und zum ersten Male reichte er dem Mädchen die Hand. Dann blickte er sie lange an und in wahrhaft bittendem Tone sagte er zu ihr:

„Vergiß nie zu beten, Bäteli, und bete auch, daß Gott – mir gnädig sei.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, schritt er hinweg, Bäteli aber blieb lange in der niedrigen Thür der Hütte stehen und schaute ihm verwundert nach. Sie verstand weder sein Benehmen, noch seine Worte, doch hatte es ihr wohlgethan, daß er sie aufgefordert, auch für ihn zu beten. Sie durfte ja nun an ihn denken und sie nahm sich vor, recht oft und recht innig für ihn zu Gott zu beten.

Die Last der Gedanken aber, die der Adler-Fritz von ihr mit sich hinwegnahm, wurde auch im Freien und im Sonnenscheine nicht leichter. Vor Allem suchte er bei sich die Möglichkeit zu bekämpfen, daß die herrliche Frauengestalt, die ihm erschienen, ein böser Geist gewesen sein könne. Gedachte er der zauberischen Augen, mit denen sie ihn angeblickt, so sträubte sich sein Herz gewaltig, an jene Möglichkeit zu glauben. Wenn er sich auch eingestehen mußte, daß ein gewisses unheimliches Feuer ebenfalls aus jenen Augen geblitzt hätte, so sagte er sich doch zu wiederholten Malen, böse Geister, die zu verlocken und zu berücken suchten, könnten nicht lieben. Und daß Liebe aus den Augen der Jungfrau wie ein warmer Sonnenstrahl ihn berührt hatte, fühlte er noch in diesem Augenblicke. Ach, er wußte leider noch nicht, daß kein böser Geist gefährlicher berückt als die Liebe, die viel tausendmal häufiger betrügt, als beglückt! Das schließliche Ergebniß seines langen Sinnens und Grübelns war indeß der Vorsatz, in der nächsten Nacht nicht wieder, wie er es sich doch vorgenommen gehabt, an das Eismeer hinauf zu gehen und die Jungfrau nochmals zu suchen.

Zwei Nächte hindurch bezwang er in der That sein Herz, das ihm, wie die Stimme der Versuchung, unaufhörlich zuflüsterte, die schöne Unbekannte erwarte ihn sicherlich, und wenn er feig daheim bleibe, verscherze er irgend ein Glück, das sie ihm zugedacht. Zum Wenigsten gelte es ein wichtiges Geheimniß, weil sie ihn in der Nacht und an einem so ungewöhnlichen Orte aufgesucht habe. In der dritten Nacht aber, als der Mond mit ganz ungewöhnlichem Glanze schien, konnte er dem Drängen seiner sehnenden Seele nicht widerstehen. Er verließ sein Haus und ging den etwa halbstündigen Weg von da nach der Gletschergrenze hinauf. Das [276] Herz klopfte ihm dabei so gewaltig, wie er es sonst kaum bei dem anstrengendsten Steigen auf steile Höhen empfunden hatte, obgleich der Weg für ihn nichts weniger als beschwerlich war. Ueberhaupt war ihm wunderlich seltsam zu Muthe, entweder als gehe er einer großen Gefahr und doch zugleich einem außerordentlichen Glücke entgegen, oder als wolle er etwas Unrechtes thun, das ihn gleichwohl mit geheimnißvollem Reize anzog.

Kaum hatte er den Rand des Gletschers erreicht, so zeigten sich auch wieder, wie bei seiner ersten nächtlichen Wanderung da, die schimmernden Funken, diesmal aber nicht neckisch wie damals, um ihn her. Auch schienen sie größer zu sein und sie bewegten sich nicht am Boden, sondern schwebten in einiger Entfernung über demselben. Sie hoben und senkten sich wie tanzend, immer ihm voraus, als wollten sie ihn geleiten und den rechten Weg führen.

So schritt er lange dahin, das Auge unverwandt auf die hüpfenden Fünkchen gerichtet. Um ihn her aber rauschte es bisweilen unheimlich, wie von gewaltigen Flügelschlägen. Einmal blieb er stehen, denn er hörte deutlich eine schmerzlich klagende Frauenstimme von einem zerklüfteten Felsen her; aber er sagte sich bald, es sei wohl nur der Wind, der in den Rissen und Höhlungen jene schauerlichen Töne hervorbringe, die ihn schon manchmal, auch am Tage, auf seinen Wanderungen auf den Bergen getäuscht hätten. Hu! Welch Ungethüm lag da vor ihm, schlangenartig langgestreckt, mit dickgeschwollenem Leibe, kurzen Beinen, katzenähnlichem runden Kopfe und einem kleinen kronenartigen Büschel darauf, dessen Spitzen leuchteten, mit langen, scharfen Zähnen und großen, weißglänzenden Augen? Die Haut schimmerte, als sei sie aus Tausenden kleiner Schildchen oder Schuppen von Silber gebildet. So lag es, in einiger Entfernung vor ihm zur Seite, behaglich auf dem Eise in hellem Mondenscheine. So grauenhaft aber auch das Geschöpf aussah, es machte wenigstens keine drohende Bewegung gegen den Jäger, der denn auch entschlossen weiter ging, wenn auch etwas langsamern Schrittes, weil die weißen großen Augen fest auf ihn gerichtet waren, als wollten sie ihn in ihren Bann locken. Oftmals schon hatte er von dem riesigen Eiswurm erzählen hören, den Manche gesehen haben wollten, aber nie glauben mögen, daß es wirklich ein solches ungeheuerliches Thier gebe, weil er auf allen seinen Wanderungen, bei Tag und Nacht, über das Eis und den Schnee seiner heimathlichen Berge keines je erblickt, bis diesen Augenblick. Während er das seltene und seltsame drachenartige Geschöpf betrachtete, bewegte sich dasselbe auf den kurzen Beinen schwerfällig hinweg; dann sah er nur noch den langen Schweif langsam sich hinringeln, und bald war es in der Ferne ganz verschwunden.

Rascher schritt darauf der Jäger wiederum weiter den wie ungeduldig vor ihm hüpfenden Flämmchen nach, und er blieb nicht einmal stehen, um zu lauschen, als er leise, liebliche Töne vernahm, die tief aus dem Eise unter ihm wie süßlockende Musik emporklangen und sein Herz zauberisch ergriffen, als sprächen sie aus, was er selbst im Busen wie Sehnsucht empfand. Die kleinen Lichter, denen er unwillkürlich folgte, führten jetzt, auf ganz bequemem Wege, abwärts in eine Schlucht oder ein enges Thal, das aber nicht grün war, wie die Thäler draußen, sondern im lieblichsten Himmelblau glänzte. Je tiefer er darin hinabstieg, um so weniger konnten die Mondesstrahlen hineindringen; das Licht wich deshalb mehr und mehr darin, und über das Ganze legte sich ein eigenthümliches bläuliches Dunkel. Die Seiten des Thales stiegen höher und steiler empor, sie rückten zugleich näher zusammen, da aber, wo sie sich ganz aneinander schließen zu müssen schienen, begann eine säulengetragene, kuppelartig überwölbte Halle.

Trotz dem innern Drange, das Abenteuer zu bestehen, wie es auch endigen möge, blieb der Adler-Fritz unentschlossen hier stehen, bald aber trat, zwischen zwei der Säulen hervor, die hohe weiße Frauengestalt, die er schon einmal gesehen und die er jetzt gesucht hatte, ihm entgegen, winkte ihm schweigend mit der Hand, ihr zu folgen, und sah ihn dabei mit ihren leuchtenden Augen an, deren Gewalt er nicht hatte vergessen können, seit er sie zum ersten Mal erblickt. Er sah sie jetzt unverwandt, verwundert, erstaunt an und folgte, denn es überkam ihn in ihrer Nähe diesmal ein so wonniges Gefühl, wie er es noch nie empfunden hatte. Er hätte ihr zu Füßen fallen oder noch lieber sie in seine Arme schließen mögen, denn so unbekannt, so fremdartig, so ganz anders als alle andern Mädchen, die er kannte, sie auch war, er fühlte keine Befangenheit neben ihr, im Gegentheil, es war ihm, als kenne er sie schon seit langer Zeit, als sei sie Diejenige, deren Bild er immer im Herzen getragen, die er zu finden und zu lieben, von der geliebt zu werden er immer gewünscht hatte.“

(Fortsetzung folgt.)




Ein deutsches Bau-Denkmal.

Das nächste Ziel meiner Reise war Halberstadt, die ehrwürdige Residenz von neunundvierzig Bischöfen, vielgenannt in der Geschichte jener Tage, wo noch die Kaiserkrone über der versprengten Welt von tausend kleinen Herren prangte, die sich in den Besitz des Vaterlandes getheilt hatten. Sie ist immer noch dieselbe alte Stadt, wie ich sie vor langen Jahren zum ersten Male betrat; die Etablissements der modernen Zeit, der Bahnhof, die zahlreichen Fabriken, die neuen geselligen Locale liegen außerhalb der Ringmauer und umschließen den uralten Kern wie ein frischer Frühlingskranz. Wandelst Du aber durch die engen Straßen, namentlich die der Unterstadt, so solltest Du meinen, es müßte aus diesen verwitterten Gebäuden die züchtige altdeutsche Hausfrau, der wilde Landsknecht, der fromme Mönch heraustreten und eine längst entschwundene Welt hervorzaubern. In diesem wüsten Gebäude, dem Rathhause, muß der Usurpator, der lange Matthias, mit seiner Empörerrotte gehaust haben; hier verwahrte Tetzel seinen Ablaßkasten, daneben zechte Wallenstein mit seinen Kriegsgesellen – es kann gar nicht anders sein. Als ich mit einem Nürnberger Freund einstmals den malerischen Fischmarkt beim Mondschein betrat, blieb dieser betroffen stehen und wähnte sich nach seiner Vaterstadt zurückversetzt. Die mächtigen Gebäude mit ihren überhängenden Stockwerken und reich verzierten Balkenköpfen, die zitternden Schatten, welche diese über die halberhellten Massen warfen, die unzähligen Inschriften und Holzbilder, welche die leeren Flächen bekleiden, und darüberhin die alten Thürme von St. Martin und St. Stephan erschienen uns als ein in die Neuzeit herübergerettetes, volles Stück Mittelalter, wie es in dieser Ausdehnung wohl wenige Städte Norddeutschlands aufzuweisen haben.

Ich langte diesmal spät Abends an und stieg im vielberühmten Gasthof zum Prinz Eugen ab. Wohl perlte der edle Rheinwein im grünen Römer, den liebe Freunde kredenzten, aber es zog mich zumeist zu meinem lieben, alten Bekannten, wenn dieser vertrauliche Name dem Mächtigen gegenüber erlaubt ist, zum Dom, dem wichtigsten architektonischen Monumente, das die Stadt aufzuweisen hat. Es handelte sich heute nicht um einen ästhetischen Genuß; denn noch verhüllte die Bauhütte das interessante Portal, um die Nordseite des Schiffes wob ein starkes Gerüst sein langweiliges, hölzernes Netz, und die Südseite mit dem Kreuzgange verdeckten immer noch alte, später angebaute Häuser, die hoffentlich mit der vollendeten Restauration rasirt sein werden. Ich wollte mich nur wieder einmal in jene kaleidoskopische Welt des Mittelalters hineinträumen, wo der Geist der Völker, noch umhüllt von den Nebeln des germanischen Heidenthums, ahnend und sehnend an den Blumen der gothischen Wunderbauten in ein Jenseit hinaufstrebte, in dem er seine Heimath suchte, wo im gewaltigen Kampfe der Hierarchie und der weltlichen Macht die zweite große Tragödie der Menschheit aufgeführt wurde, wo noch „ein Kaiser auf Erden“ herrschte, und die Sage vom Kyffhäuser noch nicht ihre tiefere Bedeutung gewonnen hatte, sondern der innern Resonanz entbehrte, die ihr jetzt das deutsche Herz unterlegt. Und wo konnte ich das besser, als an dieser classischen Stätte, in die ein Jahrtausend seine ehernen Spuren eingrub, als hier an diesen gewaltigen Bauwerken, die dreiunddreißig Menschengeschlechter wie „verschwindende Schatten“ an sich vorüberschweben sahen, selbst aber noch dastehen wie „ein ehrwürdig fest begründetes“, hier und da zerbröckelt und durchlöchert, aber noch ungebrochen, eine würdige Mahnung des Unwandelbaren.

Karl der Große, so erzählt die Geschichte, stiftete nach seinen ersten Siegen über die heidnischen Sachsen 780 ein Bisthum zu [277] Osterwieck, einem in mäßiger Entfernung nordwestlich von Halberstadt gelegenen Städtchen, dessen Sitz er aber 804 nach Halberstadt verlegte. Nachdem Ludwig der Fromme die Stiftung 814 bestätigt hatte, legte der erste Bischof Hildegrin den Grund zum Münster des heiligen Stephan, um den herum sich bald die Wohnungen der Geistlichen und Mönche erhoben, die von denen der andern Ansiedler durch burgähnliche Verschanzungen getrennt wurden. Unter den Wirren der nächsten Jahre gedieh das Werk nur langsam, sodaß die feierliche Einweihung erst am 9. November 859 von Statten ging. Doch der kaum vollendete Bau stürzte schon 965 zusammen. Bischof Hildeward legte den Grund zu einer neuen Domkirche, welche 991 in Gegenwart Kaisers Otto III., dieses unglücklichen Sachsensprößlings, eingeweiht wurde, der mit frevelnder Hand den Sarg des großen Karl öffnete und sein Leben so früh im fernen Süden beschloß. Aber auch dieser Bau sollte nicht lange dauern; in demselben Jahre 1060, in welchem Heinrich IV. mit seiner jugendlichen Gemahlin die ersten, vielleicht einzigen, glücklichen Tage seiner Ehe in Halberstadt verlebte, legte eine Feuersbrunst den größten Theil der aufblühenden Stadt und die Domkirche selbst in Asche. Der Bischof Burchardt II., Buko genannt, derselbe, den das uns aus früher Kindheit bekannte liebe Wiegenlied bittet: „Buköken von Halberstadt, bring doch unserm Kindchen wat,“ betrieb den Neubau des Münsters so eifrig, daß er schon 1071 in Gegenwart des Kaisers eingeweiht werden konnte.

Der Dom zu Halberstadt in seiner Vollendung.

Ueber hundert Jahre hatte er gestanden, als Heinrich der Löwe, ergrimmt auf den kaiserfreundlichen Bischof Ulrich, 1179 die Stadt belagerte, eroberte und sammt dem Dome einäscherte. Die sinnige Sage erzählt, daß die düstern Rauchwolken sich von der heiligen Brandstätte dem übermüthigen Sieger nachwälzten, bis er, von Angst ermattet und in Furcht erschöpft, sich zu Boden warf und in herzzerreißendem Tone zu Gott aufrief: „Rock l’um“ (Rauch, kehr um). Da zogen die Wolken rückwärts, und der dankbare Herzog baute an derselben Stelle, wo noch jetzt das Dörfchen Rocklum steht, der heiligen Marie eine Capelle. Zum vierten Male erhob sich das Gotteshaus aus der Asche und wurde 1220 eingeweiht. Ganz zerstört wurde es seitdem wohl nicht wieder, obschon nothwendige Erweiterungen und theilweise Zerstörungen den ursprünglichen Plan vielfach veränderten; die letzte Hauptreparatur soll 1602 vorgenommen oder beendet worden sein. Inzwischen trugen die Wellen der Geschichte manche große und interessante Erscheinung herbei. Schon 1209 wurde Otto IV. von den versammelten deutschen Fürsten hier zum Kaiser erwählt; die folgenden Jahrhunderte waren reich an inneren und äußeren Kämpfen, in welchen die Macht der Bischöfe sich schwankend hob und senkte, und deren Brandungen bis an das Heiligthum des Gotteshauses schlugen. Nach langen religiösen Wirren ward der Dom 1591 auch den Protestanten geöffnet, und die Schüler des „bibelentfaltenden“ Luther predigten hier neben den Geistlichen der römischen Kirche. Im dreißigjährigen Kriege sah er, außer Gustav Adolph, in seinen Hallen fast alle Heldengestalten jener Zeit; von Tilly erzählt man, er sei in feierlicher Procession von der gegenüberliegenden Liebfrauenkirche nach dem Hochaltare des Domes gezogen, um noch einmal die Weihe des Himmels [278] zu empfangen, bevor er zu seinem Zerstörungswerk nach Magdeburg aufbrach. Banner starb hier am 8. Mai 1641. Der Friedensschluß brachte die Stadt und das Bisthum als weltliches Fürstenthum an Kurbrandenburg, und der große Kurfürst betrat bei der Huldigungsfeier den Dom im Jahre 1650; ebenso Friedrich III. 1692, Peter der Große 1717. Im siebenjährigen Kriege, namentlich unter dem Marschall Richelieu, sowie in den spätern Kriegen, in welchen Halberstadt dem Königreich Westphalen einverleibt wurde, litt der Dom bedeutend, bis endlich der geistreiche König Friedrich Wilhelm IV. beschloß, auch dieses Denkmal einer großen Zeit vor gänzlicher Zerstörung zu sichern.

Welch’ eine Fülle von welthistorischen Erinnerungen umschließen. diese dürftigen Zahlen! Ein ganzes Weltalter liegt in diesen Steinmassen versunken, von jenem letzten Helden aus Granit, der aus dem Chaos der Völkerwanderung hervorragend den Grund einer neuen Weltordnung legte, bis heute, wo die Menschheit vielleicht unter gleichen Stürmen einer neuen Wiedergeburt entgegengeht. Das ist, neben andern Momenten des Erhabenen im Wesen der Baukunst, sicherlich das erhabenste, daß ihre Werke für eine Ewigkeit gegründet zu sein scheinen und noch fernen Jahrhunderten als glänzende Zeugen verkündigen, was ihre Zeit „geahnt, gewollt, gekonnt“. Hierin allein liegt die Tiefe des romantischen Gefühls begründet, das uns an solchen Stätten ergreift, und von dem Heine so schön sagt, wie es auch über ihn gekommen, wenn er noch so zweifelnd ein ehrwürdiges Gotteshaus betreten, ein Gefühl, das in dem alle scharfen Umrisse sanft auflösenden Mondlichte und in der Stille der Nacht nur an Intensität gewinnt, wo „das dumpfe Geräusch der schwatzenden, schwülen Gewerbe“ ruht und wir mit den Schatten der Vorwelt und unserm eigenen Selbst allein sind.

Am folgenden Morgen führte mich der mit der Leitung des Neubaus betraute Baumeister Kilburger, dem Halberstadt um die Erhaltung seiner kostbaren Holzarchitektur viel zu verdanken haben soll, zu näherer Betrachtung selbst an den Dom. Unstreitig reiht sich dieser den ersten Werken gothischer Kunst ebenbürtig an. Obschon in seinen einzelnen Theilen aus verschiedenen Perioden desselben Styles stammend, herrscht doch in seinem Grundriß und den innern Verhältnissen jene versteinerte Harmonie, die dem aufmerksamern Auge auch aus dem Walde der Strebepfeiler, Strebebögen, Säulen, Pfeiler, Thürmchen, Rosetten und Blumen entgegenklingt.

Die ältesten Theile sind die Thüren und der Kreuzgang; der schüchtern gebrochene Bogen des Portals, die Gesimse an Thüren und der Rose, die Halbsäulengruppen an Portal und Nischen, sowie die von aller überwuchernden Ornamentik freigelassenen Wände bekunden jenen Uebergangsstyl, der sich aus dem byzantinischen in der Normandie, in Italien und Deutschland zum romanischen Style, dem Vorläufer der Gothik, entwickelte. Der Längenbau hingegen ist rein gothisch, läßt aber drei Entwicklungsstufen deutlich erkennen. Die drei Paare Strebepfeiler, den Thürmen zunächst, mit ihren gedrückten Baldachinen und je zwei dürftigen Fialen stammen aus dem 13. Jahrhundert und lassen die innige Verwandtschaft des gothischen mit dem romanischen Styl klar vor Augen treten.

Auf das 14. Säculum weist die einfache und strenge Gothik des ganzen hohen Chors zurück, während die reiche Ornamentik der Querschiffgiebel und der sich ihnen anreihenden vier Paar Strebepfeiler nach den Thürmen hin mit je 5 Fialen dem folgenden Jahrhundert angehört, wo die Blüthe der christlich-germanischen Baukunst ihren höchsten, aber auch schnell verlöschenden Glanz errungen hatte. Erneuert sind im Außenbau bis jetzt die Thürme und das Langschiff der Kirche bis zu den Kreuzesarmen, und zwar in den alten Formen, wie sie bis zum letzten, 1578 begonnenen Umbau bestanden, mit Ausnahme der Thurmhauben, die, zierlich und schlank und in aller Proportion, weder romanisch noch gothisch sind. Man sagt, die Mauern der Thürme seien zu schwach, als daß sie steinerne Hauben tragen könnten.

Wir traten in das Innere. Das Langschiff, diese „geöffnete Bahn zum Tische des Herrn“, mit seinem imposanten Säulengange übte in seiner Totalität wieder den ganzen Zauber der Gothik, namentlich den rein erhabenen Eindruck auf mich aus, den die gewaltigen Dimensionen dieser Bauten (die Länge des Domes mit den Thürmen beträgt nach den neuesten Messungen 350 Fuß, die Höhe des Mittelschiffes 89 Fuß, die der Thürme bis zur Spitze 286 Fuß) auf das Gemüth auszuüben nie verfehlen. Dazu die 30 mächtigen Pfeiler, die, durch je 10 Halbsäulen reich modellirt, für Jahrtausende die kühn gebrochene Decke zu tragen bestimmt erscheinen, die Unsumme von Monumenten, die reiche, wenn auch weniger edle Ornamentik der Westseite des hohen Chors, die zahlreichen Altäre an den Wänden – wahrlich, Bischer hat Recht, wenn er sagt, daß die kolossale Größe das Innere zu einer Welt, einer geistigen Stadt macht, worin rührend jeder seine Seelenlabung allezeit haben kann. Aber nicht nur den Lebenden, auch den Todten ward hier heiliger Frieden geboten, und auf dem Fußboden reihet sich Inschrift an Inschrift, welche den nachwachsenden Geschlechtern die Namen der ewigen Schläfer da drunten, und mit diesen die Geschichte des Gotteshauses nennen. Zudem ist der Dom reich an archäologischen Schätzen, die zum berühmten „Domschatz“ zusammengestellt wurden und später vorn geschmackvoll renovirten Capitelsaal aufgenommen werden sollen – ein dankenswerthes Werk des königlichen Generalconservators von Quast.

Zahllose Kirchengewänder aus allen Jahrhunderten, kostbare Kirchengeräthe, viele Reliquien, Breviarien etc. wiederholen en miniature aber noch ausführlicher die Geschichte des Domes, deren Hauptzüge die gewaltigen Steinmassen draußen schon angedeutet, und mehrere bedeutende Maler, wie Lessing, haben für ihre Studien der Culturformen, mit denen sie die Gestalten ihrer großen historischen Gemälde umgaben, reiche Ausbeute hier gefunden.

Ich schritt allein durch die Thür der Südseite nach dem Kreuzgange und weiter auf den Friedhof; ich suchte nicht das Grab eines Kirchenfürsten, eines Edlen aus längstvergangener Zeit: ein einsames, unbekanntes, zerstörtes Dichtergrab zog mich hinaus, Deine verschüttete Gruft, armer Michaelis![1] Drüben hat man soeben Deinem Vater Gleim, der Dir für die letzten Tage Deines kurzen, schmerzenvollen Daseins Liebe und Trost gespendet, eine freundliche Stätte der Erinnerung eingeweiht, und in seinem Gärtchen prangt schon längst ein wohlverdientes, eisernes Monument; aber Du, der Du nichts gemein hattest mit diesen Dichtern der „Bagatelle“, Du, dem ein reicherer Dichterfrühling den Busen schwellte, der Du zuerst vor dem Gewaltigen, dem großen Briten, die Hände faltetest und die Bahnen ahnend voraussahst, die die deutsche Dichtkunst zu ihrer Vollendung wandeln mußte, Du lagst hier vergessen unter Graus und Steingeröll, bis man Deine Gebeine aufwühlte und auf den Schutthaufen warf, und noch Dein Grab ein Bild Deines Lebens ward, das von den Trümmern Deiner Hoffnungen erdrückt wurde! – – Dr. Franz Weber.



Schweizer Alpen-Bilder.
Nr. 3. Die Gemsjäger.
(Schluß)

Neben den Gefahren solcher unfreiwilligen Luftfahrten gab es aber für den passionirten Jäger noch andere, die ihm die Eifersucht der Concurrenten aus andern Cantonen oder dem benachbarten Auslande bereitete. Mit der zunehmenden Bildung sind diese Gefahren nun jetzt freilich meist verschwunden, und Jäger aus den verschiedenen Ländchen der Schweiz jagen nun auf den ehemals streitigen Grenzgebieten friedlich neben einander. Sie haben sich auf unsern großen nationalen Schützenfesten gegenseitig kennen und als Eidgenossen lieben und schätzen gelernt. Man klagt in unserer raschen Zeit gar häufig über die Verflachung des Volkes und über Verwischung der urfrischen Naturwüchsigkeit der Bewohner früher abgeschlossener Thalschaften, durch die Leichtigkeit der Verkehrsmittel. Zugegeben, daß der Dampf gar manche dieser Ureigenthümlichkeiten im Laufe eines halben Jahrhunderts zur blassen Mythe zusammenblasen wird – nimmt er aber dabei nichts Schlimmeres mit, als die Sitte, daß zwei tüchtige Burschen wegen [279] eines elenden Gratthieres sich kugelnwechselnd das Lebenslicht ausblasen, so möchte denn doch allmählich das sentimentale Gewinsel um eine nichts weniger als sanfte Vergangenheit verstummen. Vor dreißig bis fünfzig Jahren, da ging’s freilich auf den Cantonsgrenzen selbst zwischen den lieben Eidgenossen mitunter noch so naturwüchsig her, daß der wärmste Anhänger alter Sitte und der passionirteste Romantiker damit vollkommen hätte zufrieden sein dürfen. – Besonders scheint dieses auch in den vielfach zerklüfteten, einsamen Gebirgsdistricten der Fall gewesen zu sein, welche die bernische Landschaft Saanen von dem gletscherreichen Oberwallis trennen. Die Mittheilung eines Freundes des Verfassers, der früher selbst passionirter Gemsjäger in den genannten Gebieten gewesen ist, und deren Wahrhaftigkeit wir verbürgen können, möge als ein kleiner Beitrag zu all den zahlreichen Geschichten dieser Art hier noch Platz finden.

Einer der berühmtesten und schlauesten Gemsjäger der Landschaft Saanen sah sich eines Morgens, als er eben einen schroffen Gebirgskamm zu überschreiten im Begriffe stand, plötzlich einem Walliser Jäger gegenüber, der sich vermuthlich seinen Braten auf bernischem Gebiete zu holen im Begriff stand. Der Walliser, offenbar seinem Gegenüber nicht trauend, besann sich nicht lange, spielte das Prävenire, riß seine Büchse an die Backe und sandte dem unbequemen Concurrenten seine dreilöthige Kugel zu. Der Berner sank blitzschnell zusammen und rollte rücklings hinter die Gebirgskante hinunter, die er soeben erstiegen hatte. Der Walliser eilte herbei, um dem Getödteten seine Büchse und Jagdgeräthschaften abzunehmen. Seine Ueberraschung war aber eine nichts weniger als angenehme, als, auf zehn Schritte nahe gekommen, der Erschossene gesund wie ein Fisch aufsprang und nun seinerseits dem Verblüfften den drohenden Büchsenlauf entgegenstreckte und ihm mit unsanfter Betonung zurief, daß nun sein letztes Brod gebacken sei. Der Walliser mußte sich gefangen geben, denn er hatte gegen alle Schützenregeln es unterlassen, seine einläufige Büchse frisch zu laden. Sein Gegner begnügte sich zwar, auf sein flehentliches Bitten mit der bloßen Abnahme der Waffen und Munition, einigen wohlgemeinten Püffen mit dem Gewehrkolben und ließ den Sünder dann ohne weitere Züchtigung seines Weges ziehen; daß aber solche und ähnliche Geschichten nicht immer einen so humoristischen Verlauf nehmen, das ist nach den Erzählungen mancher Jäger unzweifelhaft, so viel von dem bekannten Latein dabei auch mit unterlaufen mag.

Merkwürdig ist die auch von Tschudi bestätigte Thatsache, daß ein fallender Stein auf den am schwindelnden Rande hinschreitenden Jäger eine fast unwiderstehliche magische Anziehungskraft ausübt. Fast unaufhaltsam dränge es den Menschen, dem Steine nachzusehen in den Abgrund, besonders wenn er ganz nahe beim Fuße abfalle, und wer diesem Gefühle nachgebe, sei unrettbar verloren. Die Jäger wenden in solchen Fällen das Gesicht sogleich nach der Felsenseite und stehen einen Augenblick still, um den Schwindelanfall vorübergehen zu lassen, bevor sie weiter schreiten. Hie und da, und zwar besonders in den Schluchten des Engadins, begegnet dem Jäger die kleine Ueberraschung, daß er statt einer Gemse plötzlich einen brummenden Bären vor sich sieht. Da gilt’s dann ein gutes Zielen; denn wird Meister Petz nicht gut getroffen, so pflegt er den Scherz sehr übel zu nehmen, und marschirt aufrecht auf den Hinterbeinen mit verteufelt langen Schritten auf den ungeschickten Schützen heran, um ihn in seinen Tatzen zusammen zu drücken, wie eine Preßwurst. In solchen Fällen hat’s schon gar oft ein Ringen Körper gegen Körper abgesetzt, und beide Kämpfer sind ob der unbrüderlichen Umarmung zusammen den steilen Berghang hinabgerollt. Doch – kaum sollte man es glauben – hat darob Braun meistens den Kürzeren gezogen, weil ihm schließlich das Messer des Jägers zur Unzeit zwischen die Rippen fuhr. Freilich hat der Jäger alle Ursache, sich später noch lange an die unfreundliche Begegnung zu erinnern, die zuweilen nur mit ein paar gebrochenen Rippen und jedenfalls nie ohne Einbuße einiger Lappen von Kleidern und Haut abläuft.

Ueber die Ausrüstung des Jägers nur einige kurze Andeutungen. Seine Kleidung ist von grobem Stoffe von ungefärbter Wolle, mit sich führt er neben seiner Büchse von schwerem Kaliber – die Spitzgeschosse haben sich als nicht wirksam genug herausgestellt – einen mittelgroßen Alpstock, eine Jagdtasche mit Pulver, Blei und Fernrohr, und eine eiserne Kelle. Als Proviant pflegt er Käse, Butter und Brod und eine Portion gesalzenes, geröstetes Mehl mit sich zu nehmen, mittelst dessen er sich in der Kelle Morgens und Abends eine stärkende Suppe zu bereiten pflegt. Geht’s hoch her, so wandert auch ein Fläschchen Kirschengeist mit. Besondere Sorgfalt verwendet der Jäger auch auf seine Schuhe, die so ziemlich nach der Natur des stahlharten Gemsfußes eingerichtet, außerordentlich fest gearbeitet und mit spitzköpfigen Nägeln beschlagen sein müssen, um auf den Felsbändern, wie auf den Eisfeldern fest auftreten zu können. Eine gewöhnliche Fußbekleidung würde bei solchen Märschen noch vor Abend in Fetzen gehen und den Fuß zu wenig vor Verwundungen schützen.

Nach dem, was wir hier in gedrängter Kürze oft nur flüchtig andeuten konnten, ist es einleuchtend, daß die Gemsenjagd längst aufgehört hat, ein eigentliches Herrenvergnügen zu sein. Wohl ist’s auch bei den eigentlichen Gemsjägern weit mehr ein fast dämonisch wirkender Trieb, eine unbezwingliche Leidenschaft, wenn auch nobler, doch derjenigen des passionirten Spielers vergleichbar, die weit mehr als bloße Gewinnsucht diese kühnen Menschen zu den verwegenen, toddrohenden Gängen antreibt; aber die meisten davon sind denn doch unbemittelte, an Entbehrungen und Strapazen gewöhnte, wetterfeste Leute, die zudem mit den kleinsten Details der Gebirgsmassen vertraut sind. Mag es auch hie und da in den Zeitungen stehen, daß der oder jener Prinz oder Minister im Berner Oberlande einen kühnen Jagdausflug gemacht und auch glücklich einen prächtigen Bock geschossen habe, so gestehen wir denn doch, daß wir dabei stets eines bescheidenen Zweifels an der Richtigkeit dieser Angaben uns nur schwer erwehren konnten. Wir haben Gelegenheit gehabt, die Jäger, welche den Herren als Führer und Begleiter auf dem Ausfluge gedient hatten, ganz eigenthümlich lächeln zu sehen, wenn von solchem Jagdglücke die Rede war. Der Gemsjäger ist eine schweigsame und zudem sehr praktische Natur, und wird selten ausschwatzen, wie viel blanke Thaler ihm die Verzichtleistung auf die Ehre eines guten Schusses eingetragen haben mag.

Mit dem Gesagten soll indeß keineswegs die Behauptung aufgestellt sein, daß nicht hie und da Fremde und Ungeübtere mit Erfolg an Gemsjagden theilnehmen und einen glücklichen Schuß thun könnten. Es ist dieses besonders auf den weniger gefährlichen Treibjagden der Fall, wo eine größere Anzahl von kundigen Jägern sich zu einem gemeinsamen Jagdzuge vereinigen. Die Gemsen werden dabei so umgangen, daß ein Jäger dieselben in den unteren Weiden aufstört und langsam bergan treibt, während die Uebrigen die Pässe besetzt halten, welche die Thiere gewöhnlich zu wählen pflegen. Diese Pässe sind den Jägern meist sehr genau bekannt. Solche Jagden finden besonders häufig im Appenzeller Lande, am Säntis statt und gewähren nicht selten den in jenem reizenden Ländchen weilenden Curgästen ein schönes Vergnügen. So erzählte uns Dr. Jaumann, vormaliger Jägerpräsident des Ländchens, kürzlich ein solch frohes Jagdabenteuer am genannten Berge, an welchem verschiedene Deutsche, unter anderen auch ein Sohn des bekannten Professors der Theologie H. in Berlin und, wenn ich nicht irre, auch der berühmte Verfasser des Buches „das Thierleben der Alpenwelt“ selbst, Theil nahmen. „Die Gesellschaft,“ wir lassen hier den Erzähler sprechen, „sammelte sich schon vor Beginn der Morgendämmerung in der Gaststube des freundlichen Weißbader. Der Stazi, Büschli und der Sepi-Toni, alle drei ganz urwüchsige Appenzeller Bauernbuben und geriebene Wildschützen, waren für die Partie mit engagirt. Nach flüchtig eingenommenem, frugalem Frühstück machte man sich auf den Weg. Lautlos ging’s die ersten Anhöhen hinan, und in Zeit von zwei Stunden gelangten wir auf die Alp-„Hütten“, einen Standpunkt, von wo aus man mittelst der Ferngläser bequem das Gebirge ausspähen konnte. „Acht Stück!“ keuchte plötzlich Einer mit verhaltener Stimme, und so war’s auch. Der Richtung folgend, die der Mann uns mit seinem Instrumente andeutete, gewahrten wir richtig in bedeutender Entfernung im sogenannten Hüttenlaub das kleine Rudel, anscheinend harmlos grasend, während die Wachtgeiß, auf einem Vorsprunge unbeweglich dastand und nur den Kopf und den feinen Hals hie und da herumdrehte, um nach allen Seiten hin die Gegend zu inspiciren. Rasch wurde der Operationsplan gemacht. Wir bestanden zusammen aus acht Mann. Zwei Mann bildeten das Centrum, und wieder je zwei den linken und den rechten Flügel. Die zwei Uebrigen bekamen die Bestimmung, die Gemsen über den „Laseyer“ und oben hinüber über die „Glockeren“ (niedrigere Gebirgsstöcke) zu umgehen und thalwärts ihren gewöhnlichen Wechseln entgegen zu treiben.

[280] Für diejenigen, welche die Pässe besetzt hielten, gab’s nun ein wohl an zwei Stunden dauerndes, lautloses Warten, während dessen wir die herrlichste Gelegenheit hatten, das prachtvolle Schauspiel der aufgehenden Sonne auf dem Gebirge zu beobachten. Noch lagen die Tannenwälder um uns fast nächtlich schwarz da, und nur über das Grün der höhern Alpweiden zuckte es dann und wann in blaßgelben Streifen hin und her, oder funkelte Leuchtwürmchen gleich auf den obersten Wipfeln der Wettertannen. Gegen Süden aber, da schimmerten die riesigen Kuppen der Glarner und Bündner Alpen wie in Rosengluth getauchtes Silber ins weite Land hinein, und mählich und mählich schienen sich blitzende, goldene Ströme wie Lavabäche nieder zu ergießen von den Flanken der strahlenden Häupter des Hochgebirgs in die noch vor wenigen Secunden in nebelige Schleier gehüllte weite Landschaft zu unseren Füßen, um die funkelnden Lichtwellen an alle Abhänge hinzuspritzen. Dazu tönte wie ein Morgenpsalm der Natur das feine Läuten der Heerdenglocken, hie und da durchbrochen von einem schmetternden, langathmigen Jauchzer der Sennen. Wahrhaftig, ich hatte ob dem Anblick ganz meine mordlustigen Gedanken vergessen. Da knallt plötzlich der Schuß meines Nebenmannes, und wie ich aufblicke, kommen windschnell zwei Gemsen die enge Schlucht daher gerannt, als deren einer Wächter ich bestellt war; auch ich reiße meine Büchse an die Wange und schieße. Beide Schüsse haben aber kein anderes Resultat, als daß die zierlichen Antilopen des Gebirgs so schnell wie unsere Kugeln aus dem Rohr an uns vorbeifliegen. Wie ich nun so recht verblüfft den Fleck anstarre, wohin ich meinen Schuß gerichtet, was steht da vor mir? – Eine ganz junge Gemse, und schaut mich in einer Entfernung von kaum sechs Schritten mit ihren schönen, klugen Gazellenaugen fast eben so verblüfft wie ich, aber anscheinend ganz furchtlos an. In meinem Leben mag ich wohl nie so einfältig ausgesehen haben! Laute Zurufe, doch wieder zu laden und das zierliche Thierchen zu erlegen, erweckten mich freilich zum Handeln, aber meine Hand zitterte so vor Aufregung, daß ich kaum den Ladestock in den Lauf bringen konnte. Endlich gelang’s, und eben wie ich die Büchse zum Anschlagen erhebe, da wird’s doch dem Neuling bedenklich, und in zwei Sätzen ist er verschwunden, als hätt’ ihn der Erdboden verschluckt. Ich hatte buchstäblich nicht einmal das Nachsehen. „Paßt auf! paßt auf! ’s kommt noch eine!“ brüllte im gleichen Moment oben über mir die Stimme der Sennen von der Hüttenalp; ’s war aber nicht gerade nöthig, daß ich mich nochmals mit einem Fehlschluß blamirte; links neben mir kracht prächtig und weit durch das Gebirge hinhallend wieder ein Schuß, und ein riesiger Gemsbock von siebzig Pfund purzelt auf eine Schneewiese vor die Füße der glücklichen Schützen hin. War das aber auch ein Halloh mit Triumphgeschrei, in das selbst die Sennen der Alp jauchzend mit einstimmten! Meine, es brausen mir noch jetzt die Ohren davon. ’s war aber auch schon der Mühe werth, denn das erlegte Thier war eine unter dem Namen Lafeyrer Bock schon lange berühmte Persönlichkeit, die Jahre lang aller Listen der Jäger gespottet hatte.

Fort ging’s mit dem alten schlauen Burschen zur Sennhütte, wo er sich’s schon gefallen lassen mußte, ausgeweidet und dafür mit feinen, wohlriechenden Alpenkräutern ausgestopft zu werden. Die Leber wurde sofort in Butter gebacken und gab bei unserem erregten Appetite ein ganz delicates Gabelfrühstück. Mitten beim Mahle entdeckte ein durch’s Fernrohr spähender Jäger ein Rudel von mindestens 16 Gemsen, die ganz gemüthlich grasend bergan der Klus bei Mugelis-Alp zuwandern. „Aufgebrochen!“ hieß es von allen Seiten, und den Sennen den Rest unserer Mahlzeit überlassend, ging’s mit verdoppeltem Eifer wieder bergan. Nach zwei Stunden angestrengten Steigens fanden wir auch ganz richtig die Klus, und nur die Hauptsache fehlte, die Gemsen nämlich! Dessenungeachtet zogen wir aber Abends mit Freudenschüssen und bei Fackelschein mit unserer Beute im Weißbad ein, und wurde ich auch bei dem fröhlichen Zechen, das folgte, wegen meines ausgezeichneten Kernschusses tüchtig gehänselt, so habe ich doch den Tag als einen der frohesten meines Lebens in meinem Kalender roth angestrichen.“

So unser Vergnügungsjäger. Das ist aber, wie bereits bemerkt, die von der Einzeljagd weit verschiedene Treibjagd. Wohl ist auch diese nicht immer ohne Gefahr. So ging vor wenigen Jahren ein im schönen Hotel Bellevue zu Thun logirender Engländer in Gesellschaft mit Andern auf die Gemsjagd in das nicht weit von da entfernte Kienthal. Einen steilen Abhang hinaufkletternd, glitt er aus und rollte hinunter, seine Büchse entlud sich ob des Sturzes, und die Kugel durchdrang den Körper des unglücklichen Briten. Abenteuer, wie das haarsträubende des Rudolph Bläsi von Schwanden, der in Verfolgung einer angeschossenen Gemse sich durch seinen Eifer verleiten ließ, auf ein schmales, kaum für die Breite seines Fußes ausreichendes Felsenband hinunter zu springen, und dann die grausige Entdeckung machte, daß er hinter sich die glatte, senkrechte Felsenwand, vor sich einen unermeßlich tiefen Abgrund habe, in welchen hinunter auch die leiseste Bewegung ihn stürzen müsse, kommen indeß auf der Treibjagd wohl nicht vor. Mehr als der Umstand, daß Bläsi es fast zwei halbe Tage und eine Nacht zwischen Himmel und Erde hängend aushielt, bis sein Freund und Jagdgenosse Manuel Walcher ihn aus der entsetzlichen Situation erlöste, mag den Leser in Erstaunen setzen, daß der unverwüstliche Jäger, trotzdem, daß vor Entsetzen[WS 1] seine Haare in der Schreckensnacht silberweiß geworden waren, später weit davon entfernt war, sein gefährliches Handwerk aufzugeben; und wir citiren diesen weithin bekannt gewordenen Vorfall nur als einen Beleg, wie tief die Jagdleidenschaft in den hartnäckigen Söhnen des Gebirges festsitzt.

Die berühmtesten Gemsjäger der Jetztzeit sind Johann Rüdi von Pontresina, Karl Joseph Infenger von Isenthal im Canton Uri, Benedict Cathomen aus Bünden und Ignaz Troger von Ober-Emo im Wallis. Aber obschon diese Herren nebst vielen anderen ein jeder schon viele Hunderte von Gemsen erlegt haben, so ist deswegen keineswegs zu fürchten, daß die schönen Gratthiere dort am Ende gar ausgerottet werden möchten. Die flüchtige Antilope des Gebirges ist zu schnellfüßig und zu schlau, und die zahllosen undurchdringlichen Gebirgslabyrinthe der Gletscherwildniß bieten ihr der Schlupfwinkel zu viele, wo der schlaueste und verwegenste Jäger ihr nicht zu folgen vermag. Zudem steht der Preis, den sich der Jäger im Glücksfall erringt, in keinem Verhältnisse zu den Gefahren, die den Jäger auf seinen Streifereien Schritt vor Schritt umlauern. Die Zahl der guten Gemsjäger hat denn auch eher ab- als zugenommen, während tüchtige Beobachter in den letzten Jahren unzweifelhaft eine Vermehrung des Wildstandes bemerkt haben wollen.

A. Bitter.


Das Haberfeldtreiben.

Im baierischen Alpengebirge besteht seit vielen Jahrhunderten ein Geheimbund, welcher es sich zur Aufgabe gemacht hat, Vergehen, die außerhalb des gerichtlichen und polizeilichen Strafrechtes liegen, öffentlich zu rügen, und zwar ohne Rücksicht auf Person, Stand, Amt und Würde. Wer sich in jener Gegend Handlungen erlaubt, die den Sittenbegriffen des Oberlandes entgegen stehen, namentlich aber wer durch Sünden in geschlechtlicher Beziehung viel Aergerniß giebt, der kann in der Regel eines Besuches von Seiten der Haberfeldtreiber vollkommen versichert sein. – Den Hauptsitz dieser geheimen Richter finden wir in den Landgerichtsbezirken Rosenheim, Aibling, Miesbach, Tölz und Tegernsee, also in der Gebirgsgegend zwischen dem Inn und der Isar, und ihr Wirken blieb auch bisher immer von diesen Flüssen begrenzt, ungeachtet sie schon weite Wanderungen in das Flachland hinaus machten und selbst die Landgerichtsbezirke Ebersberg und Wasserburg mehrmals berührten. Viele wollen – und vielleicht nicht ohne Grund – das Haberfeldtreiben als eine bäuerliche Fortsetzung der Rügegerichte, welche Karl der Große durch geistliche und weltliche Sendboten in manchen Grafschaften eingeführt hatte, betrachten; allein bei dem Mangel an geschichtlichen Quellen läßt sich diesfalls nichts Bestimmtes feststellen. Auch über den Grund der Benennung „Haberfeldtreiben“ herrschen viele und verschiedene Ansichten. Während Einige behaupten, es seien vor Zeiten Wucherer oder Beschädiger der Grenzmarken dadurch bestraft worden, daß man ihre Haberfelder verwüstete, suchen Andere die Erklärung des Wortes in der ehemaligen Sitte, gefallene Mädchen nächtlicher Weile mit Ruthen [281] durch Haberfelder zu treiben, wobei der Verführer gezwungen war, an der Execution thätigen Antheil zu nehmen etc. Dagegen erhielt ich von vielen alten Gebirgsbewohnern die Versicherung, daß die Benennung dieser altbaierischen Vehme einfach daher rühre, daß bei ihnen die letzte Einheimsung in Haber bestehe, und daß, ehe das Haberfeld leer ist, das Sittengericht ohne Beschädigung der Feldfrüchte nicht vollzogen werden könnte. Was übrigens die Organisation dieses Geheimbundes betrifft, so weiß man gerüchtweise, daß im Gebirge mehrere Haberfeldmeister aufgestellt sind, die alle ihre eigenen Untergebenen haben. Jeder Eintretende bezahlt, der Sage nach, drei Gulden in die gemeinsame Casse und verpflichtet sich, zu jeder Minute dem Rufe des Meisters zu folgen.

Der Ort, wo Haberfeld getrieben werden soll, sowie der Tag oder resp. die Nacht der Vollführung dieses Actes, werden natürlich von den Eingeweihten immer möglichst geheim gehalten. Trotz alledem sind die Bewohner, denen ein solches Gericht zugedacht ist, nicht immer unvorbereitet auf die Dinge, die da kommen sollen; es gehen demselben gewöhnlich allerlei andeutende Sagen vorher, welche das Eintreten des Ereignisses früher oder später mit ziemlicher Gewißheit vermuthen lassen. Manchmal gehen dem Acte sogar Drohbriefe an diejenigen voraus, deren lasterhaftes Leben zur Kenntniß des Geheimbundes gelangt ist. Ich selbst habe einst ein solches Warnungsschreiben gesehen, in welchem einem Landwirthe erklärt wurde, daß, wenn er sein Laster „nicht lasse bleib’n“, so müsse er „halt kommen zum Haberfeldtreib’n.“ Und dieser Drohung folgte wirklich nach Verlauf eines Jahres die Strafe. –

Die Zuzüge der Treiber nach einem ausersehenen Punkte geschehen außerordentlich rasch und fast ganz unbemerkt, und ein gleichzeitiges Eintreffen, ungefähr eine Stunde vor Mitternacht, scheint eine Hauptaufgabe für alle Theilnehmer zu sein; denn plötzlich, wie durch Zauberschlag, wimmelt der ganze betroffene Ort von diesen Zugvögeln, die oft an dreihundert und noch mehr Köpfe zählen. Während nun die größere Masse Halt macht, ist eine Abtheilung damit beschäftigt, umher zu spüren, ob nicht irgend Gensd’armerie oder sonst Feindliches auf der Lauer stehe. Ein anderer Trupp hat die Aufgabe, die Bewohner des Orts zu wecken und mit dem, was geschehen wird, bekannt zu machen, namentlich werden bei dieser Gelegenheit die erwachsenen Bewohner ermahnt, sich ruhig zu verhalten, das Vieh sorgfältig zu verwahren, damit Unglück verhütet werde, und schließlich erhalten sie die Einladung, ganz furchtlos dem Rügegerichte zuzuhören. Kommen sie an das Fenster eines Vervehmten, so setzen sie manchmal noch bei: „Du, Du bist besonders eingeladen zu erscheinen, denn heute werden Deine saubern Stückl bekannt gegeben.“ Daß aber solche Personen an das Fenster kommen müssen und das Haus nicht verlassen dürfen, oder, wie andere Berichte sagen, gar gezwungen werden, im Hemde außerhalb des Hauses zu erscheinen, beruht offenbar auf Irrthum, und ich zweifle sogar daran, daß solches Verfahren je einmal in frühern Zeiten stattgefunden habe; vielmehr glaube ich, daß derlei Berichte, die sich ohnehin häufig widersprechen, in das Reich der Erdichtung gehören.

Nachdem die Bewohner geweckt sind, schaaren sich die unheimlichen Sittenrichter wieder alle zusammen, und nun beginnt der Zug, in dessen Mitte immer viele Träger von gesammelten Lärminstrumenten bemerkt werden, nach dem Richtplatze. Gewöhnlich ist dies ein Hügel oder sonst ein erhabener Punkt außerhalb des Ortes, von wo aus jedes Wort weithin deutlich verstanden werden kann. Dort verschaffen sich zunächst die Haberfeldtreiber durch Ablesung aller Namen der Theilnehmer, die übrigens alle fingirt sind, die Gewißheit, daß Niemand fehle, was die Aufgerufenen[WS 2] durch ein kräftiges „Hier!“ bekunden. Und welche hohe Namen und Würden werden da nicht gehört! – Zuerst stets Kaiser Karl, dann Prinzen, Grafen, hohe und niedere Beamte, Pfarrer etc., und – sonderbarer Weise auch stets der baierische Hiesel[2], der unstreitig von den Treibern als ein Mann betrachtet wird, welcher seiner Zeit auch eine Art Volksjustiz übte. Während man hierauf eiligst ringsum alle Straßen, Wege, Brücken und Stege mit starken Wachen besetzt, um für möglichste Sicherheit zu sorgen, bildet die Masse ein Viereck oder auch oft einen Kreis, in dessen Mitte sich die Rednerbühne, die Lärmwerkzeuge und die Leute, die sie handhaben, so wie die Haberfeldmeister befinden. – Eine Menge Schüsse in der Runde verkünden alsdann, daß Alles in Ordnung ist und daß das Gericht beginnt. – Mehrere angezündete Laternen werden jetzt sichtbar. Der Redner hat bereits seinen Platz eingenommen. Durch einen kurzen Prolog verkündet er den Hörern vorerst die wichtigen Pflichten und christlichen Absichten der Haberfeldtreiber, daß sie nämlich gekommen seien, das Aergerniß öffentlich zu rügen und auszurotten etc. Dann verlangt er das Protokoll von einem der Umstehenden, worauf ihm dieser eine Papierrolle überreicht. Beim Laternenschein wird nun das Sündenregister desjenigen, der sich des Gerichtes am meisten schuldig gemacht hat, mit lauter Stimme in Knittelreimen abgelesen, nicht abgesungen, wie bisweilen behauptet wurde. Ist der erste Sünder abgefertigt, so geht ein geradezu unbeschreiblicher Spectakel mit den ungeheuerlichsten Lärminstrumenten los. Man hört das Geklapper von Windmühlen, das Aufeinanderprallen von Bretern, das knatternde Geräusch von Handrätschen, wie sie ehemals bei Treibjagden benutzt wurden, das Dreschen auf ästigen Läden, das Rasseln von Ketten, Schellengeläute, Kesselgeklirr, Mißtöne durch musikalische Instrumente hervorgebracht, Jauchzen, Geheul, häufige Schüsse etc. In diesen Höllenlärm mischt sich dann auch noch das stürmische Bravo der Zuhörer und die Rufe: „Recht ist dem Schuften geschehen!“ „Dem Lumpen gehört nicht mehr!“ „Leut’, habt’s gehört, was der Spitzbube alles treibt!“ etc. Hierbei ereignet sich manche Scene, die noch besondere Heiterkeit erregt. So z. B. stand ein Mann in meiner Nähe, welcher vor Freude hätte bersten mögen, daß sein mißliebiger Nachbar so hart mitgenommen wurde. Allein – o weh! nun kam auch die Reihe an ihn; auch sein Sündenkram wurde zur Schau gegeben, und nun veränderte er plötzlich die Sprache. Anstatt eines Bravo auf die Haberfeldtreiber, rief er unter großem Gelächter der Umstehenden einige Male heftig aus: „Niederschießen soll man die Herrgottss…t!“ und schlich dann davon, und in der Regel folgt solchem Beispiele noch Mancher, der sich im Gewissen nicht so recht sauber fühlt. – Indeß lockt der betäubende Lärm immer mehr Leute aus der Nachbarschaft herbei, die sich oft kaum halb angekleidet unter die Zuhörer mengen.

Nachdem diese Teufelsmusik einige Zeit gedauert, geben schnell auf einander folgende Schüsse das Zeichen zum Schweigen. Alles still – der zweite Act beginnt. „Wen wird’s jetzt treffen?“ flüstert man einander zu, und da äußert denn der Eine: „Gebt Acht, d’ Wirthin und der Landarzt müss’n jetzt in’s Feuer.“ Ein Anderer: „Dem Metzger g’höret halt auch was, dem schlechten Tropf!“ Ein Dritter: „Wenn’s aber die Pfarrerköchin auslass’n, dann soll d’ Haberfeldtreiber gleich –!“ – „Still!“ donnert ein Vierter, „jetzt fangt er wieder ’s Lesen an!“ und die Leute spitzen die Ohren und getrauen sich kaum zu athmen, um ja jedes Wort zu verstehen. – – „O Jemine, meine Nachbarin haben’s jetzt beim Schopf; hab’ mir’s gleich denkt, daß die was z’ schmecken kriegt,“ ließ sich ganz leise eine Stimme in meiner Nähe vernehmen. – Ist nun No. 2 sattsam durchcapitelt, dann fängt das Höllenconcert in voriger Weise wieder von Neuem an, und so wird fortgefahren, bis alle Auserwählten an den Pranger gestellt sind. Als Nachtrag hört man nicht selten noch kurze anzügliche Aeußerungen über Personen, deren Fehler nicht von solchem Belange sind, um in der Hauptliste einen Platz zu finden. So strafte man z. B. einen leichtsinnigen Schuldenmacher mit folgendem Vers:

„Aber N. N. segn’s Dir Gott,
D’ Schulden sind kein Zuckerbrod;
Frißt sie Du nicht – merk’ auf mich!
Steh’ Dir gut, so fress’n’s Dich!“[3]

Verschiedene Anzüglichkeiten werden auch schon beim Wecken der Leute an mancher Behausung vernommen. Sie berühren größtentheils die Fehler des Familienvaters, und da bekommt denn der Eine zu hören:

„Der N., das muß man sag’n,
Der thut auch jeden Pfennig durchjag’n.“

Ein Anderer:

„Der N., das wissen all’ Leut,
Der ist vom Wirthshaus nie weit.“

[282] Ich selbst hörte von einem Treiber, der sich an einer Gruppe Menschen vorbei bewegte, die schon bereit stand, das seltsame Schauspiel zu beobachten, die Aeußerung:

„Viel’ schlechte Leut’ giebt’s hier,
Das darf man schon sag’n;
Bis wir da überall aufarbeit’n,
Das kost’ noch a Plag’n.“ – –

Nachdem nun die Haberfeldtreiber ihre Rügen sämmtlich angebracht, ermahnt der Redner zur Besserung und droht mit Wiederholung des Rügegerichtes, „wenn sich noch einmal so was zutrag’n thät,“ und endlich spielt noch der unvermeidliche Kaiser Karl, als dessen Gesandte sich diese Richter bezeichnen, die Schlußrolle. Ich will die Knittelreime, die in dieser Beziehung fast bei jedem Haberfeldtreiben vernommen werden, hier anführen:

„So, Leut’, jetzt b’hüt’ Gott, und seid’s fein brav g’scheid,
Wir müss’n jetzt geh’n, der Weg ist gar weit;
Und wenn uns’re Musik hat Vielen nicht g’fall’n,
So müss’n’s halt denken, man braucht auch nichts z’ zahl’n.
Jetzt thut Euch halt bessern, und laßt’s Schlechte bleib’n,
Sonst kema[4] bald wieder zum Haberfeldtreib’n.
Von uns muß jetzt Einer in Untersberg ’nein,
Und bitten halt Karl, den Kaiser, recht fein,
Daß er die G’schicht’ in’s Buch thut einschreib’n,
Weil sonst so a Sach oft vergessn könnt bleib’n.“

„Ja Kaiser Karl muß wiederkommen und ’s Protokoll unterschreib’n,
Damit wir nächst in Grafing und Ebersberg können’s Haberfeld treib’n.“

Nach diesen Schlußreimen ermahnen Signalschüsse die Treiber zum Abziehen, und das plötzliche Erscheinen wechselt nun mit einem ebenso schnellen Verschwinden. Fast augenblicklich ist die so belebte Richtstelle leer, und tiefe Stille herrscht ringsum. Nur die Zuhörer ziehen sich nach allen Richtungen plaudernd und lachend hinweg, indeß dienstbare Geister – aber gewiß nicht die an diesem Tage thätigen Sittenrichter – die Lärminstrumente, welche ohnehin größtentheils in nächster Umgebung gesammelt wurden, still und[WS 3] eilig hinwegschaffen und den Eigenthümern zurückstellen. Natürlich liegt hier die Vermuthung nahe, daß noch an jedem Orte, wo das Rügegericht geübt wurde, so manche der dortigen Bewohner mit den Haberfeldtreibern förmlich im Einverständnisse waren. Wenn ich an solche Bauern, aus deren Scheunen und Häusern, wie ich vernahm, die Lärmwerkzeuge herrührten, die Frage stellte, wie doch diese Gegenstände in die Hände der Treiber gekommen seien, erhielt ich immer verschiedene Antworten. Da sagte mir der Eine: „G’rad’ heut’ Nacht ist’s Tennenthor offen geblieb’n, sonst aber nie; ich meine, sie haben’s g’schmeckt.“ Ein Anderer: „Ja schau’, wer kann da Widerstand thun? sind halt die Kerl kommen, und hab’n da mitg’nommen, was ihnen taugt hat, und ich hab’ mir denkt: Macht’s nur recht Musik damit; einen Guten geht’s nicht an, und einem Lumpen gehört nicht mehr.“ Als ich an diesen die weitere Frage stellte, ob er keinen der Haberfeldtreiber erkannt habe, erwiderte er: „Nein, sind ja lauter Fremde; schau so Bergler sind’s halt g’wesen, die riech’n die liederlichen Leut’ auf hundert Stund’ weit,“ etc. Uebrigens wurde anderseits auf diesem Wege meine gewonnene Ueberzeugung, daß nämlich alle Haberfeldtreiber mit Schießgewehren bewaffnet sind, noch mehr befestiget; denn die mir mitgetheilten Erfahrungen Anderer stimmten in dieser Hinsicht immer mit den meinigen vollkommen überein. Und wenn auch beim Rügeacte Männer mit Dreschflegeln und Sensen gesehen werden, so darf man sich nicht zu dem Schlusse hinreißen lassen, als seien dieselben ohne Schußwaffe auf dem Lynchplatze erschienen. Davon konnte ich mich namentlich bei dem Haberfeldtreiben in Rott am Inn in der Nacht vom 17. auf den 18. October 1846 sattsam überzeugen.

Wichtige Geschäfte, die ich mit dem dortigen Gutsbesitzer abzumachen hatte, nahmen mich auch einen Theil der Nacht in Anspruch. Es war bereits 11 Uhr, als ich nach vollendeter Arbeit das dortige Gasthaus betrat, um noch ein Glas Bier zu trinken. Kaum hatte ich da an einem Tische Platz genommen, als ungefähr 40 bis 50 fremde Männer zur Thüre hereindrangen, sich an den Tischen herum gruppirten und eilig Bier verlangten. Sie waren alle gleich gekleidet; trugen Joppen und sogenannte Miesbacher Hüte mit Spielhahnfedern geziert, und daß sie zu den Bergbewohnern zählten, stand außer Zweifel. Im ersten Augenblicke fragte mich der an meiner Seite sitzende Gastwirth, woher doch diese Leute seien, während ich ihm eben dieselbe Frage stellen wollte. Doch plötzlich stieg in mir die Vermuthung auf, es könnte, vielleicht gar hier Haberfeld getrieben werden, und theilte selbe auch meinem Nachbar mit. Die Ankömmlinge tranken in raschen Zügen aus Maßkrügen, welche von Hand zu Hand wanderten; sprachen unter sich kein Wort, und auffallend waren mir die ernsten Mienen, die sich auf jedem Gesichte bemerkbar machten. Während sie nach einigen Minuten Aufenthalt die Zeche bezahlten, begab ich mich in die erleuchtete Hausflur, und nun wurde meine Vermuthung zur Gewißheit, denn hier hatten die sonderbaren Gäste ihre Gewehre an die Wände gelehnt und drei Männer waren zur Bewachung derselben aufgestellt. Ein dumpfes Gemurmel lockte mich alsbald zur Hausthüre hinaus, und was sah ich da? Der ganze große Platz zwischen dem Wirthshause und den Klostergebäuden war mit Treibern förmlich überfüllt. Eben begann der Zug nach der Stelle, wo der Rügeact stattfinden sollte. Da ein großer Theil der Schaar an dem Wirthshause vorbeidefilirte, und der starke Lichtschimmer aus den Fenstern des Gastzimmers mir die Gestalten so ziemlich beleuchtete, so hatte ich Gelegenheit zu genauer Beobachtung. Nicht Einen sah ich unbewaffnet; ebenso konnte ich keinen im Gesichte Geschwärzten und ebenso wenig einen irgend Vermummten erblickten. Wahrscheinlich wird die Vorsichtsmaßregel, sich durch Vermummung und Gesichtsschwärzung unkenntlich zu machen, nur im Gebirge, dem Hauptheerde der Haberfeldtreiber, beobachtet, während man weiterhin auch ohne dieselbe nicht zu befürchten hat, erkannt zu werden.

Wenn man nun glauben möchte, daß nur allein im bairischen Alpengebirge solche Sittenrichterei existire, so würde man im Irrthume sein; denn wenn die mir gerüchtweise als Haberfeldtreiber bezeichneten Männer wirklich zu ihnen gehören, woran ich nicht zweifle, so streckt der geheime Bund seine Hörner weit in’s Flachland hinaus. Außerdem steht auch noch eine andere Ueberzeugung in mir fest, nämlich die, daß an jedem Orte, wo das Rügegericht bisher geübt wurde, sich die Haberfeldtreiber aus der nächsten Umgebung an dem Acte nie betheiliget haben, denn gerade die mir als solche Bezeichneten waren es immer, die sich unter den Zuhörern am meisten bemerkbar machten, und zwar wahrscheinlich um für den Fall, daß Untersuchung gegen sie eingeleitet worden wäre, ein Alibi zu gewinnen.

So viel über die Uebung des Haberfeldtreibens selbst. Ungeachtet ich nun von 1830 bis 1855, somit 25 volle Jahre, in einer Gegend des Flachlandes zwischen dem Inn und der Isar und nahe am Gebirge lebte, wo diese Sittengerichte nicht zur Seltenheit gehörten, und selbst viermal Zeuge solcher Acte war, ist es mir doch nie gelungen, in das innere Wesen des Geheimbundes einzudringen, denn darüber ist ein dichter, unlüftbarer Schleier geworfen. Ich erkläre offen, daß ich hätte eher Wasser aus einem Felsen schlagen können, als daß es mir möglich gewesen wäre, einem der als Haberfeldtreiber bezeichneten Leute auch nur den geringsten Theil des Geheimnisses zu entlocken.

So gesetzwidrig aber auch die Handlungsweise dieser unberufenen Sittenrichter erscheint, so auffallend ist es zugleich, daß solche Rügeacte durchaus nicht von schlechten Individuen aus Bosheit oder Rachsucht, sondern immer von ganz gut beleumundeten Männern und Burschen geübt werden, zu welcher Annahme schon der Umstand berechtigt, daß gerade im bairischen Alpengebirge, dem Hauptsitze dieses geheimen Bundes, noch ein echt christliches Kernvolk lebt, dessen Sitten weithin gepriesen werden. Uebrigens standen auch die in meiner Nähe gerüchtweise als Haberfeldtreiber bezeichneten Männer, wenigstens damals, im besten Rufe. Daß aber ein fürchterlicher Eid jedes Glied des Geheimbundes zur strengsten Verschwiegenheit verpflichtet, und daß wahrscheinlich der Dagegenhandelnde mit Todesstrafe bedroht ist, dürfte auf platter Hand liegen; denn anders ließe sich ja die Verstocktheit dieser Vehmrichter, denen noch kein Geständniß entpreßt werden konnte, so wie die Unwirksamkeit der strengsten obrigkeitlichen Maßregeln gegen dieselben nicht erklären.

Ueben aber wirklich diese Rügeacte einen moralischen Einfluß auf das Volk? Diese Frage ist schon oft aufgeworfen worden. Ich kann sie nur dahin beantworten, daß man dieses Gericht sehr fürchtet, daß die von ihm Betroffenen alle Achtung von Seite der ländlichen Bevölkerung verlieren und einer Schmach preisgegeben sind, die wirklich tief empfunden werden muß. Man zeigt förmlich mit den Fingern auf solche Personen und drückt öffentlich seinen Abscheu gegen sie aus. „Der,“ heißt es unter Anderem, „ist gar ein sauberes Möbel; der ist ja so grundliederlich, daß ihm [283] schon das Haberfeld getrieben werden mußte.“ Ja, solche öffentlich Gebrandmarkte sind sogar vor persönlichen Beleidigungen nicht immer sicher. Dazu kommt noch die weitere Kränkung, daß alles von den Haberfeldtreibern Geäußerte (wohl schon seiner beliebten Schnaderhüpfelform wegen) auf der Gasse und in den Wirthshäusern tausendmal wiederholt, und daß auf diese Weise der Rügeact noch lange fortgesetzt wird; denn kaum ist das Sittengericht beendet, so trägt man in Gesellschaften das Gehörte in ein Ganzes zusammen, und man könnte nach einigen Tagen schon alle die Sündenregister wortgetreu dem Drucke übergeben, wenn der Inhalt nicht gar zu scandalös wäre.[5] „Lieber all mein Vermögen verlieren, als einer solchen Schande ausgesetzt werden!“ rief einst ein Mann in meiner Nähe, als bei einem Rügeacte der erste Vervehmte abgefertigt war. Ein Hülfspriester, welcher bei einem solchen Sittengerichte empfindlich mitgenommen wurde, verließ auf der Stelle seinen Posten, er war in jener Gegend für immer „unmöglich“ gemacht worden.

Ob es wahr ist, was ich so oft vernehmen mußte, daß nämlich die Haberfeldtreiber sich auch durch Geldspenden bewegen lassen, Personen, denen sonst nicht beizukommen ist, Besuche zu machen, lasse ich dahingestellt sein. Dagegen weiß ich sicher, daß diejenigen, welche dieses Volkssittengericht sogar als eine förmliche Fastnachtskomödie hinstellen und dabei ganz abenteuerliche und gespensterartige Gestalten auftreten lassen, im vollkommensten Unrecht sind. Ich war zufällig Zeuge der Rügeacte in Hohenthan, Niklasreit, Aßling und Rott, bin häufig mit Personen in Berührung gekommen, welche ebenfalls Zeugen solcher Sittengerichte auf dem Lande und im Gebirge waren, allein Niemand hat die Sache anders als in der hier dargestellten Form und Weise gesehen. Eben so irrthümlich ist die Erzählung, daß solche Acte manchmal sogar bei Schneefall vorgekommen seien; denn ließen sich die Haberfeldtreiber nur einmal solche Unvorsichtigkeit beigehen, dann wäre mit denselben bald aufgeräumt; diese Vehmrichter vermeiden aber mit der scharfsinnigsten Vorsicht Alles, was nur auf die geringste Spur derselben führen könnte. Nicht weniger widerstreitet die Behauptung, daß Thüren und Fensterläden an den Häusern der Betroffenen ausgehängt und über und unter einander geworfen würden, meinen Erfahrungen, denn noch überall haben die Treiber sich möglichst bestrebt, Schaden zu verhüten, und da, wo ein solcher ohne ihre Absicht angerichtet wurde, waren sie immer auf volle Entschädigung bedacht, selbst wenn die Schadloshaltung eine bedeutende Summe erforderte. Hier nur ein Beispiel dafür.

Einem Bauer begegnete der Unfall, daß bei einem solchen Haberfeldtumulte sich ein junges Pferd im Stalle losriß und daß diesem von einem andern Gaule ein Fuß abgeschlagen wurde. Der Verlust des Mannes war natürlich nicht gering. Da geschah es, daß nach ungefähr vier Wochen in einer stockfinstern Nacht (denn finstere Nächte sind es überhaupt, in welchen die Haberfeldtreiber wirken) Jemand am Fenster der Schlafkammer des Bauers klopfte und diesen mit leiser Stimme zu sprechen verlangte. Der Geweckte fragte, was man so spät in der Nacht von ihm verlange. „Bauer,“ hub jetzt ein Unbekannter an, „Du sollst ja erst kürzlich um ein Pferd gekommen sein?“ „Ja,“ antwortete der Landmann, „die Haberfeldtreiber haben mich sehr unglücklich gemacht-“ „Wie hoch beläuft sich denn der Schaden?“ äußerte weiter der Fremde und auf die Antwort: „180 Gulden,“ war er plötzlich verschwunden. Der Bauer dachte mehrere Tage hindurch über die Bedeutung dieses Vorfalles nach und konnte sich die seltsame Geschichte nicht enträthseln. Doch nach Verlauf von abermals vier Wochen wiederholte der nämliche Unbekannte seinen nächtlichen Besuch in der vorigen Weise, behändigte dem Beschädigten die volle Werthsumme des verlornen Pferdes und verschwand dann auch zum zweiten Male spurlos. Ebenso ist es bekannt, daß schon vielen von den Haberfeldtreibern besuchten Gemeinden, die dieses Umstandes wegen ohne weitere Untersuchung mit Strafe belegt wurden, diese im vollen Betrage zurückvergütet wurde. So z. B. erhielten Saxenkam und Gmund allein 50 fl. Strafersatz. Daher mag es denn auch kommen, daß weder auf diesem Wege, noch durch Einquartierungen die Gemeinden bisher vermocht werden konnten, den Gerichten auch nur einen Mann, der des Haberfeldtreibens verdächtig war, als solchen zu bezeichnen.

Schließlich erkläre ich, daß ich, obwohl sich in dem Wirken der Haberfeldtreiber eine sittliche Tendenz ausspricht, weit entfernt bin, als Lobredner derselben aufzutreten, und daß ich nur in Bezug auf die Ausübung dieser Rügegerichte so manches Irrthümliche auf den wahren Sachverhalt zurückführen wollte.

Röggler.




Holz oder Eisen?

Wer sich das Bild der Bewegung vergegenwärtigen will, welche die Männer der Waffen damals ergriff, als das Eisen sich vor der Gewalt des Pulvers beugen mußte, als vor den neuen Feuerschlünden die geschicktesten und kostspieligsten Arbeiten aller Harnischmacher der Welt mit einem Schlage werthlos wurden, Tausende von Städtebefestigungen auf den Werth nutzloser Alterthümer herabsanken und der Adel von den wehrlos gewordenen Burgen in die Thäler und unter den Schutz der Fürstenhöfe floh, – wer dieses weltgeschichtliche Bild erneut sehen will, der durcheile in diesem Augenblick die Arsenale, Werften und Kriegshäfen der Seemächte und die Küstenbollwerke aller Militärstaaten. – Millionen und aber Millionen von Nationalvermögen aller seefahrenden Nationen und Küstenländer sind an einem Tage vernichtet, das ungeheuere Seekriegsmaterial, der höchste Stolz, die Zuversicht und der Sporn des Uebermuths der mächtigsten Herrscher, Tausende der „hölzernen Festungen“ der Meere Und der steinernen Schutzwehren der Küsten sind durch das Ergebniß eines einzigen Kampftags auf den Werth ihres Rohmaterials zusammengeschwunden, und der Trotz der gestern noch gewaltigsten Kriegsherren steht heute erschrocken vor einem neuen Fortschritt der Zerstörungsmittel in der Faust des Seekriegs.

Das sind die Folgen der beiden Seegefechte bei dem Fort Monroe am 8. und 9. März dieses Jahres, mit denen eine neue Epoche in der Geschichte der Kriegskunst beginnt, ja es beginnt damit noch mehr, es beginnt eine neue Epoche der Culturgeschichte, denn wahr wird werden, was Ericson sagt: „Mein ganzes Leben lang habe ich behauptet, die Mechanik würde dereinst Englands Seeobergewalt ein Ende machen. Der Ocean ist die Heerstraße zwischen den Nationen. Er muß frei sein, und die Naturgesetze, wenn richtig angewandt, werden ihn auch frei machen!“

Diese Bedeutung der neuen Erfindung und ihres Sieges ist es, welche den Kampf des „Merrimac“ mit dem „Cumberland“ und den des „Monitor“ gegen den „Merrimac“ zu einem Ereigniß erhebt, das die Tagespresse aller Culturvölker erfüllt und dem deshalb auch wir die folgenden Spalten widmen.

Als der Kampf der nordamerikanischen Union mit den abtrünnigen Sclavenstaaten ausbrach, befand sich erstere im Vortheil der Seestärke. Ihr erstes Streben war daher, die Lebensadern des Südens durch Vernichtung seines Seehandels zu unterbinden. Sie blockirte die Häfen der Conföderirten. Es würde den Südstaaten unmöglich gewesen sein, selbst mit dem äußersten finanziellen Aufwand, gegen die Blockadegeschwader der Union eine entsprechend mächtige Flotte von großen Schiffen und zwar in so kurzer Frist zu erbauen, als hier von der Noth geboten war. Aber die Noth half ihnen, sie gab ihnen den Rath, Eisen gegen Holz zu waffnen. Mit Hülfe nördlicher und englischer Mechaniker und Arbeiter stellten sie binnen zehn Monaten rastlosen Schaffens die Panzerfregatte „Merrimac“ her. Diese zeichnet sich vor den gepanzerten Schiffen der Engländer und Franzosen dadurch aus, daß ihr Oberbau rasirt ist und sie dem Feinde keine senkrechten Wände bietet, sondern sie in Bogenlinien und spitzen Wickeln dachartig niedergesenkt hat, so daß sie bis drei Fuß unter den Wasserspiegel reichen. Armirt ist sie auf jeder Seite mit vier elfzölligen Dahlgreen- und an den beiden Enden mit zwei hundertpfündigen Armstrongkanonen, mit denen sie auch heiß schießen kann. Am Bug, an der Wasserlinie, führt sie zwei starke, scharfe eiserne Spitzen, [284] 6–7 Fuß von einander und Pflugscharen gleichend. Ihre Schnelligkeit wird auf neun Knoten geschätzt. Ihr Befehlshaber war Capitain Buchanan.

Der Schauplatz der Entscheidung zwischen Holz und Eisen war die Rhede von Hampton in Virginien. Nach einem Berichte aus Fort Monroe (in der New-Yorker Staatszeitung) sah man am 8. März gegen Mittag ein verdächtig aussehendes Fahrzeug, das einem nur mit dem Dach aus dem Wasser hervorragenden Hause glich und in dem man den lange gefürchteten „Merrimac“ vermuthete, von Norfolk an Sewall’s Point vorüber die Richtung gegen Newport News einschlagen und direct gegen die in der Mündung des James River liegenden Segel-Fregatten „Cumberland“ und „Congreß“ halten. Diese hatten bereits durch Signalschüsse die Schiffe Minnesota, St. Lawrence und Roanoke auf die drohende Gefahr aufmerksam gemacht. Während aber der Cumberland das Feuer gegen den Merrimac eröffnete, kamen zwei gepanzerte Kanonenboote der Conföderirten, „Yorktown“ und „Jamestown“, den James River herab und griffen die beiden Fregatten von der andern Seite an. Gegen sie richtete sofort die Batterie von Newport News ihr Feuer, um die durch diesen Doppelangriff bereits großer Gefahr bloßgestellten Fregatten möglichst zu unterstützen.

Indeß hatte sich der Merrimac dem Cumberland bis auf 200 Yards (ungefähr 600 Fuß) genähert. Alle Luken desselben waren geschlossen, er steuerte mit voller Dampfkraft, nahm die vollen Ladungen beider Fregatten auf, ohne im Geringsten von ihnen beirrt zu werden, denn die Kugeln prallten wirkungslos vom schwarzen Harnisch des Ungeheuers ab. Nun aber entwickelte es seine Kraft, indem es mit den eisernen Bughörnern mitten in die Breitseite des Cumberland hineinrannte und sie vollständig durchbrach. Kampfunfähig war das Schiff schon durch diesen Stoß, aber der Merrimac wollte den Untergang desselben. Er fuhr eine Strecke zurück, sandte seine Breitseite in die zertrümmerte Fregatte und gab ihr erst dann durch ein zweites Anrennen den Gnadenstoß. Sie sank. Der Commandant des Cumberland, Lieutenant Selfridge, und seine 300 Mann Besatzung kämpften bis zum letzten Augenblick, kaum die Hälfte der Mannschaft kam gerettet an das Land.

Nach diesem raschen Sieg wandte der Merrimac seine Breitseiten gegen den Congreß, der sich indeß mit den beiden Panzer-Kanonenbooten herumgeschlagen hatte. Wir geben über diesen Theil des Kampfes den Bericht des Dr. Shippers, der sich selbst an Bord des Congreß befand. „Der Merrimac,“ schreibt er der United Service Gazette, „eröffnete ein furchtbares Feuer auf unser Backbord. Seine erste Bombe barst auf unserm Deck und tödtete die ganze Bedienung der Kanone Nr. 7. Bombe auf Bombe, und manchmal zwei auf einmal, sprangen unter uns. Das Schiff sah bald nur noch aus wie ein Schlachthaus. Der Chirurg begann seine Arbeit und versuchte eine Amputation; ein großes Holzstück fiel ihm auf die Brust und tödtete ihn augenblicklich. Vom Operiren war keine Rede mehr. Die Verwundeten, gräßlich zerfetzt, lagen zuhauf. Die kleinste Wunde, die ich gewahrte, war eine abgeschossene Hand, manchem Leibe war der Kopf, eine Schulter, ganze Beine und Arme weggerissen. Bald stand das Schiff in Flammen, die Bomben hatten an mehreren Stellen gezündet. Fast alle unsere Kanonen waren demontirt, das Ladungsgeräthe zertrümmert, die Pulverjungen alle todtgeschossen. Das Innere des Schiffs glich einem verwüsteten und ausgebrannten Hause. Alles in Trümmern, schwarz oder roth, verbrannt oder blutig. Die grauenvolle Scene dauerte etwa eine halbe Stunde. Da strichen wir die Flagge.“ Soweit Dr. Shippers. Die Verwundeten wurden sämmtlich auf Booten an das Land gerettet; es waren gegen dreißig, während wenigstens 80 Mann todt auf dem Deck und auf dem Verbandplatz lagen. Während der Nacht brannte die Fregatte vollends nieder, und der Rumpf flog in die Luft.

Das war das Eisen gegen das Holz. Die Conföderirten hatten den großartigsten Triumph mit verhältnißmäßig geringer Anstrengung und damit zugleich die Ueberzeugung gewonnen, daß eine Unionsflotte gegen sie so gut wie nicht mehr bestehe. Auf dem Meere stand die Republik am Rande des Abgrundes, kein Schiff, keine Batterie, kein Küstenfort konnte dem gepanzerten Feuerdrachen widerstehen, frei lag der Weg zu allen Seestädten des Nordens, wehrlos lag selbst Washington da.

Da erstand dem Cumberland ein Rächer und der Union ein Retter in einem kleinen Kanonenboote, dem wohl Niemand, vielleicht selbst der Erbauer nicht in solchem Grade, die Fähigkeit zu so großen Ehren zugetraut hätte.

Als nämlich die Kunde von der Erbauung eines furchtbaren eisernen Dampfers, des „Merrimac“, vom Süden nach dem Norden der Vereinigten Staaten gedrungen war, hatte Ericsson in New-York bereits gesorgt, ihm einen „Mahner“ (Monitor) entgegen zu stellen. Er hatte ein Fahrzeug gebaut, das wir zuerst aus der New-Yorker Abendzeitung kennen lernten. Der Rumpf desselben besteht aus zwei besonderen Körpern, von welchen der untere, etwa 6 Fuß hoch, das eigentliche Boot darstellt und den Raum für Maschine, Steuervorrichtung, Mannschaft etc. enthält. Dieser Theil des Fahrzeugs liegt tief unter Wasser und wird auf allen Seiten von dem obern schußfest gepanzerten Körper so weit überragt, daß eine Kanonenkugel ihn erst nach einem 25 Fuß weiten Lauf durch das Wasser erreichen könnte und daher durchaus unschädlich sein würde. Dieser obere Körper ist 5 Fuß hoch, ragt aber nur 22 Zoll weit aus dem Wasser hervor, so daß der untere erst 3 Fuß unter dem Wasser sich an ihn anfügt. Das Oberdeck ist flach und trägt einen runden eisernen 670,000 Pfund schweren Thurm, welcher absolut bombenfest ist, sich mit Leichtigkeit um seine Achse drehen läßt und die Armirung des Fahrzeugs enthält. Diese besteht zwar nur aus zwei elfzölligen Columbiaden, welche aber runde Kugeln von 183 und conische von 350 Pfund werfen. Die Stückpforten schließen sich stets in dem Augenblick, wo die Kanone entladen ist, durch eine bombenfeste Schutzplatte. Die Diopter (zur Bestimmung der Richtung der Kanonen) sind am Thurm angebracht, die Erschütterung im Innern des Schiffs beim Abfeuern der Geschütze ist geringer, als in einem gewöhnlichen Schiffe, und für die Ventilation ist durch siebartige Durchlöcherung des Eisenpanzers gesorgt. Außer dem Thurm ragt über das Deck empor nur das Steuermannshäuschen, das vorn steht, und der 4 Fuß hohe Schornstein. Das Radhaus, ebenfalls vor dem Thurm, kann mit seinem bombenfesten Dache so versenkt werden, daß dieses letztere mit dem Decke gleich ist. Das ganze Schiff wiegt 1,400,000 Pfund. Der Consul der Ver. Staaten in Rotterdam, Dr. E. Wyß, giebt die Dimensionen des Monitor wie folgt an:

Länge des obern Schiffstheiles 172 Fuß Zoll.
Balken desselben 41 " "
Länge des untern Schiffstheils 124 " "
Balken desselben an der Verbindung mit dem obern 34 " "
Balken am Grunde 18 " "
Durchmesser des Thurms im Innern 20 " 9 "
Höhe des Thurms 9 " "
Durchmesser des Steuermannshäuschens 6 " "
Höhe des Oberdecks 5 " "
Vorderer Tiefgang 7 " 3 "
Hinterer Tiefgang 9 " 1 "
Tiefgang bei voller Ausrüstung 9 " 9 "

Bei dieser Ausrüstung, die für 30 Tage berechnet ist, wiegt das Schiff 900 Tonnen. Seine Schnelligkeit giebt man zu sechs Knoten an. Capitain des Monitor war der Lieutenant Worden.

Wenn man erwägt, wie mühvoll und sorgsam die Herstellung jeder einzelnen Eisenplatte für ein solches Fahrzeug geschehen muß,[6] so wird man den Hut abziehen vor der Arbeitskraft, welche in 100 Tagen ein solches Werk vollendete, und zwar als Erstlingswerk

[285]

Der Kampf des Merrimac mit dem Monitor.

[286] seiner Art, das noch außerdem seine erste Probe nach einer stürmischen Fahrt sogleich im furchtbarsten feindlichen Feuer bestand.

Man kann es den Amerikanern kaum verargen, wenn sie in dem Erscheinen dieses „Monitor“ auf der Rhede von Hampton an dem verhängnißvollsten Abend der Republik eine „Fürsorge Gottes für die Union“ erkennen wollen. Das Schiffchen war in der That nicht dahin bestimmt, wo es seine große Mission fand. „Es sollte,“ schreibt er, „nach dem Golf (von Mexico), um dort an einem feindlichen Befestigungswerke seine Kraft zu erproben. Man schien im Marinedepartement sich um den Merrimac keine Sorgen zu machen, und so würde der Monitor nicht lange in den virginischen Gewässern verweilt haben, wenn er nicht, nachdem er einen Tag in See war, zur Ausbesserung seines Steuers nach Fort Monroe hätte zurückkehren müssen.“

Mit der Frühe des 9. März, einem Sonntagmorgen, beginnt die Geschichte der neuesten Kampfweise zur See; es trat zum ersten Male Eisen gegen Eisen in die Schranken.

Der „Merrimac“ wollte soeben sein gestriges Tagewerk, die Vernichtung der Unionsflotte, weiter fortsetzen und hatte der „Minnesota“ bereits zwei seiner Kugeln in die Rippen getrieben, als vom Fort Monroe ein schwarzes Ding auf der Rhede daher zog, das, wie ein Washingtoner Correspondent sagt, neben den Massen des Merrimac aussah wie ein auf dem Wasser schwimmender Hut. Langsam kam es dem Rebellenschiff näher, bis endlich sein erster gewaltig dröhnender Gruß dem Gegner kernkräftig in die Flanken fuhr und ihn belehrte: das ist der „Monitor“. Und ein zweiter und dritter Donner folgte. Dann stellte sich der kleine David als ritterlicher Beschützer vor die schöne, verwundete Minnesota und forderte den schwarzen Goliath zum Zweikampf, zu der „großen Paukerei auf 170-Pfünder über’s Schnupftuch“. So fürchterlich begann aber dieser erste Kampf der Eisernen, daß alles armirte Holz, wie gehetztes Wild vor dem Jäger, aus dem Gewässer entfloh. Nur zwei Kanonenboote der Union ließen sich, mit ein paar Seitenhieben des Merrimac, einen Theil ihrer Bemannung tödten, und die treue tapfere Minnesota hielt bei dem kleinen Ritter bis zum Ende aus, ward aber von fünfzig Kugeln schrecklich zugerichtet und wohl der Hälfte ihrer Mannschaft beraubt.

Diese kleinen Störungen abgerechnet, maßen nur die beiden Eisenschiffe ihre Kräfte. Es war 8 ½ Uhr, als der „Merrimac“ seine erste Breitseite auf den „Monitor“ abfeuerte, und von diesem Augenblicke an dauerte der Kampf ununterbrochen bis 10 Minuten nach 12 Uhr. Er war so großartig, daß er der Uebertreibungen nicht bedarf, mit welchen manche amerikanische Berichte ihn ausgeschmückt haben. Namentlich wird behauptet, daß der Batteriethurm des Monitor 15 Drehungen in der Minute gemacht habe; er wird sie machen können, aber gemacht hat er sie während des Kampfes unmöglich, weil ein sicherer Schuß für ihn dann ebenso unmöglich geworden wäre. Eine so rasche Rotirung würde möglich und zweckmäßig sein, wenn Ericsson’s (oder Coles’) Apparat mit der genialen Geschütz-Entzündungs-Vorrichtung der „Schwimmenden Revolverbatterie“ unseres Wilhelm Bauer ausgerüstet wäre. Wir werden auf diese kostbare, aber bis heute noch von Deutschland mißachtete Erfindung besonders zurückkommen. – Der Monitor zielte offenbar mit Ruhe und traf gut, und es war sein größter Vortheil, daß sein Gegner mit den heimtückischen Stoßgedanken die er gegen den „Cumberland“ so gelungen ausgeführt hatte, ihm so nahe auf den Leib rückte, daß die Ränder der Schiffe während der längsten Zeit des Kampfes hart neben einander lagen. Dadurch kam es, daß er stets nur von einer oder höchstens zwei Kugeln getroffen werden konnte, während in richtiger Schußweite der Merrimac die vier Röhre jeder seiner Seiten nach einer Stelle des Monitorthurms hätte richten und diesen durch die vierfache Wucht seiner 170-Pfünder (= einem 680-Pfünder) dann ohne Zweifel hätte zertrümmern können. So aber concentrirte der Monitor sein Feuer auf einen Punkt des Merrimac und beschädigte Ihn endlich so empfindlich, daß schließlich auch hier der kleine David den Riesen Goliath zum Schweigen gebracht hat.

Die kleinen Einzelnheiten dieses Kampfes – wie der Monitor um den Merrimac herumtanzte und ihn verklopfte wie ein Faßbinder sein Faß; wie die fast zwei Centner schweren Kugeln gleich Gummibällen auf den schwarzen Rüstungen der Streiter abprallten; wie zwei Mann des Monitor sich an die Thurmwand lehnten und von einem Schuß an dieselbe besinnungslos zu Boden geworfen wurden; wie den Kanonieren von der furchtbaren Erschütterung ihres Raums das Blut aus Nase und Ohren lief; wie es gar dem Steuermann des Monitor in seinem Häuschen zu Sinne wurde, als wäre ihm glühendes Blei in die Ohren gegossen; und wie endlich dem Capitain Worden, der neben dem Steuermann die Manöver leitete, durch einen Schuß an das Häuschen, während er durch die Ausgucklöcher sah, das Augenlicht wohl für immer vernichtet worden ist – dies Alles belebt wohl das Bild, trägt aber zur Wichtigkeit der Hauptsache nicht weiter bei.

Der „Merrimac“ zog sich 10 Minuten nach 12 Uhr eine kleine Strecke vom „Monitor“ zurück und ward dann von den conföderirten Dampfern empfangen und fortgeschleppt. – Der „Monitor“ wartete den Nachmittag vergeblich auf seines Gegners Wiederkehr und hielt erst gegen Mitternacht seinen feierlichen Triumphzug zum Fort Monroe, unter dessen Kanonen er sich der eigenen Ruhe und des Jubels der ganzen Bevölkerung erfreute. An Worden’s Stelle, der nach Washington geschafft wurde, trat der Commandant des Cumberland, Lieutenant Selfridge.

Hiermit schließt der geschichtliche Act. – Wenige Wochen sind seitdem vergangen, und der Umschwung im Seeschutzwesen ist bereits im vollem Zuge. Allenthalben erschallt der Ruf nach Panzerschiffen, und in England tritt ein Mann auf, der Capitain Coles, welcher dem Schweden Ericsson den Lorbeer der Erfindung des rotirenden Thurms aus der Hand reißt. Er soll die Idee des neuen sogenannten Monitor schon im Jahre 1855 ausgesprochen haben; eine Beschreibung des von ihm beplanten Kuppelschiffs gab das Mechanics Magazine am 13. Juli 1860. Den neuesten Londoner Mittheilungen nach schützen aber selbst die festesten Monitorplatten nicht gegen die Wirkungen der Armstrongkanonen, die selbst 10 Zoll dicke Eisenwände wie Holz zersplittern.

Dagegen liegt es unserem Bedürfniß und unserer Pflicht näher, an dieser Stelle wieder an eine deutsche Erfindung zu erinnern (– denn veröffentlicht, zum Theil ausführlich beschrieben, zum Theil wenigstens oft erwähnt ist auch sie, aber von dem in solchen Dingen äußerst schwachen Gedächtniß der Deutschen auch jederzeit bald wieder vergessen worden) und sie der officiellen Beherzigung dringend zu empfehlen. Der Gedanke der rotirenden Batterie ist nämlich noch älter, als Coles die Zeit angiebt, denn er war schon 1850 verarbeitet in Wilh. Bauer’s Plan der schwimmenden Revolver-Batterien. Deutschland hätte auch diesmal die Ehre der Erfindung haben können, wenn man bei uns schon so weit wäre, wie man in England und Amerika jetzt gekommen ist, d. h. soweit: der industriellen Technik auch die Verbesserung der Waffen anzuvertrauen. Der Raum gestattet uns nicht, ausführlicher über diese Bauer’schen rotirenden Batterien zu sprechen, es geschieht in einer der nächsten Nummern. Nur so viel für heute: Derselbe Umschwung, welcher durch den Monitor auf den Kriegsschiffsbau bewirkt ist, wird durch Bauer’s schwimmende Revolverbatterien auf den Festungsbau ausgeübt werden. Es kommt nur auf die deutschen obersten Kriegsherren an, ob wieder das Ausland die deutsche Erfindung zuerst ausbeuten, oder ob endlich wirklich einmal der deutschen Nation auch eine solche Ehre zu Theil werden soll.

Wir ersuchen die Fachmänner[WS 4], denen die Sicherheit Deutschlands an den Meeren anvertraut ist, ihr Augenmerk auf diese Erfindung zu richten, die sich in Preußen die Gunst hochgestellter Männer erworben hatte und dort dem unmotivirtesten Widerspruch damals weichen mußte. Das geschah schon 1858, also lange vor der Ausführung der rotirenden Batterie von Coles und Ericsson. Bauer’s rotirende Batterien zerfallen in zwei Classen, solche, welche für das Land bestimmt, in Bassins schwimmen und einst all die alten Binnenfestungen ersetzen werden, für welche manche seit 1858 verbaute Million dem Vorurtheil gegen Bauer geopfert worden ist; und solche, welche für das Wasser (Seen, Strommündungen, Meer) bestimmt sind. Wegen ersterer verweisen wir auf Payne’s Panorama des Wissens und der Gewerbe, Bd. I. S. 433, wo W. Bauer selbst seine Ansichten über „Küstenvertheidigung“ niedergelegt hat, und Bd. II. S. 18, wo ich, durch eine Stahlplatte unterstützt, diese Batterien ausführlich beschrieb. Die zweite, besonders für unsere Nordküsten geeignete Art wird demnächst in der Gartenlaube ihre Darstellung in Wort und Bild finden.

Dr. Fr. Hofmann.
[287]

Ein Amnestirter.

Erzählung von J. D. H. Temme.
(Schluß.)


„Sie sind noch nicht orientirt, mein Fräulein?“ fuhr der Fremde fort. „Darf ich vielleicht Ihrem Gedächtnisse zu Hülfe kommen? Schon vor mehreren Jahren stand eine ganz ähnliche Aufforderung in den Zeitungen. Anstatt der Heimath war nur damals der Buchstabe Z. zu lesen, und so war in dem Ding kein Anhalt zu finden. Diese neue Aufforderung mußte ihn desto mehr geben, denn seit acht Tagen ist eine Amnestie ertheilt; sie hat besonders viele Flüchtlinge in Zürich betroffen, und so hat der Buchstabe Z. seine Bedeutung. Wer war so schnell von Zürich in die Heimath zurückgekehrt? Nur Einer, der Graf Alexander H., es war leicht zu ermitteln, und wen konnte der Graf so angelegentlich und beharrlich suchen? Wer war I. S.? Ah, der Graf hatte eine Jugendbekanntschaft; Ida Schade heißt die junge Dame. Ida Schade? An den Namen knüpften sich auch anderweit die eigenthümlichsten Interessen. Wo war sie zu finden? Sie mußte gefunden werden. Sie war seit beinahe dreizehn Jahren verschwunden, und durch Zufall – der Zufall ist nun einmal der am meisten und am wunderlichsten herrschende Gott der Welt – durch Zufall erfuhr ich, daß vor ungefähr zwölf Jahren in dieses Städtchen eine schöne junge Dame gekommen ist, die wohl Ida Schade sein konnte. Allein auch der Zufall kann irre führen, wie ich sehe.“

„Das kann er, mein Herr,“ sagte die Lehrerin, die sich wieder erholt hatte.

„Und ich bedauere das,“ fuhr der freundliche Fremde fort, „um so mehr, da der Zufall und auch mein Irrthum zugleich die Veranlassung geworden ist, daß noch Jemand eine vergebliche Reise hierher unternommen hat.“

Die Lehrerin erbebte von Neuem. Sie konnte ihre Augen nicht erheben.

„Sie fragen nicht, wer der Jemand ist, mein Fräulein?“

Sie hatte keine Antwort, keine Frage.

„Ah, Sie errathen, daß der Graf auf dem Wege hierher ist. Er erfuhr von mir, daß Ida Schade unter dem Namen Johanna Neumann hier sei, und er nahm deshalb sofort Extrapost hierher. Ich fuhr doch noch schneller als er; denn Sie begreifen, ich hatte ein Interesse daran, bei seiner Zusammenkunft mit Ihnen zugegen zu sein. Ich meinerseits begreife nur nicht, daß er noch nicht hier ist. Indessen, da ich mich geirrt habe, so ziehe ich mich zurück; entschuldigen Sie meine Zudringlichkeit, mein Fräulein, und beiden geehrten Damen wünsche ich, daß Sie recht wohl leben mögen.“

Der freundliche und höfliche Mann verbeugte sich und ging. Die Freundin der Lehrerin athmete auf.

„Mein Gott,“ sagte sie, „jetzt weiß ich, was Alpdrücken ist.“ Aber sie mußte entsetzt und bis in den Tod erschrocken aufspringen. „Um des Himmels willen, Johanna, Du stirbst!“

Johanna Neumann war in den Stuhl, auf dem sie saß, zurückgesunken. Das Haupt war ihr auf die Seite gefallen und ihre Augen waren erloschen, ihr Gesicht hatte Farbe und Gestalt eines Leichenantlitzes. Sie lebte noch. Die Freundin unterstützte sie, sie konnte sprechen.

„Ja, ich sterbe, meine gute Marie. Der entsetzliche Mensch! – Ich mußte alle meine Kraft zusammennehmen – es dauerte so lange, und ich hatte doch nur noch so wenig Kräfte. – Ach, ich fühle, es geht zu Ende mit mir. – Es ist gut, gerade jetzt! Die Gerichte haben mich wiedergefunden, und nun auch er! Sie durch ihn. – Nur noch einen Wunsch hätte ich, ihn wiederzusehen, ihm sagen zu können, daß ich – ach, Marie, ich sterbe! O, käme er! Könnte ich in seinen Armen –!“

„Sterben“ wollte sie sagen. Sie konnte das Wort nicht mehr aussprechen, sie lag leblos in den Armen der Freundin. War es nur eine Ohnmacht? War es schon der Tod? Die Thür der Stube öffnete sich, und ein hoher, blasser Mann trat herein. Er ging lahm. Er sah die Leblose in den Armen der Freundin und stürzte zu ihr hin.

„Ist sie todt?“ fragte er, und sein ganzer Leib zitterte.

„Sie lebt.“

„Aber sie wird sterben?“

„Sie wird aufwachen, um zu sterben. Ihre letzte Kraft ist gebrochen.“

„Ja,“ sagte der hohe Fremde. „Ich sehe es.“ Dann stellte er sich still vor die Sterbende und sah ihr lange in das edle, auch im Sterben so schöne Gesicht. Dann drückte er einen Kuß auf die weiße Stirn. „Edles, treues Wesen, Du solltest eine Verbrecherin sein?“

„Madame,“ sagte er, „wird sie gewiß noch einmal erwachen?“

„Es wird bald geschehen.“

„Und dann wird sie sterben?“

„Ich fürchte es. Sie hat so viel und so lange gelitten, und ich sehe jetzt, was es war. Dazu vorhin der Schlag!“

„Eine Bitte, Madame. Legen Sie sie in meinen Arm. Sie soll an meinem Herzen sterben.“

„Es war ihr Wunsch, Herr Graf.“

„Ich denke es mir.“ Er legte die Sterbende sanft in seine Arme. „Kann ich denn nicht mit Dir sterben, meine Ida? Du hast mich geliebt mit einer Treue und Aufopferung ohne Gleichen. Aber noch heißer liebt Dich doch mein Herz.“

Sie erwachte. Ihr Blick fiel in sein Auge.

„Alexander, ich bin unschuldig.“

„Ich habe es immer gewußt, Ida. Ein Schein von Schuld war auf Dich gefallen, nein boshaft auf Dich geworfen. Du wolltest mit ihm nicht meine Gattin werden. Um meinem Drängen zu entgehen, nahmst Du selbst die fremde Schuld auf Dich. So war es.“

„So war es, Alexander.“

„Und nun bist Du doch die Meine geworden, Du edles, treues Herz.“

„Aber im Tode, Alexander!“

„Der Tod wird uns zu einem schöneren Leben vereinen.“

„Und in alter Liebe!“ Sie zuckte plötzlich heftig auf. „Er kommt!“ sagte sie und legte sich fester an ihn. Er umschlang sie mit seinen beiden Armen. Sie sah lächelnd zu ihm hinauf.

„So, so, mein Alexander! So war seit Jahren mein Wunsch, mein Traum. So zu sterben! – Ich sterbe!“

Sie war todt. Er hielt sie noch lange in den treuen Armen, still und stumm. Seine Thränen netzten das schöne Leichengesicht. Der freundliche Fremde kam mit Gensd’armen zurück. Aber mit dem Tode hatten die Gensd’armen nichts mehr zu schaffen. –




Drei Tage später saß der Oberhofjägermeister, Graf –, in einem eleganten Salon seines Hotels in der Residenz. Er hatte eine kleine Gesellschaft um sich versammelt, drei Herren und vier Damen. Alle acht waren sie jung. Die vier Herren gehörten zu der höchsten Blüthe des Adels des Landes; die vier Damen waren die Schönsten der Demi-Monde der Residenz. Sie hatten dinirt. Der Champagner sprudelte noch; Scherz und Witz flogen.

Ein Diener des Grafen trat ein. Er trug einen kleinen silbernen Teller, auf dem eine Visitenkarte lag. Er hielt seinem Herrn den Teller hin. Der Graf nahm die Karte, las den Namen und erblaßte leicht. Es war, als wenn er plötzlich, wie man sagt, einen Stich in das Herz bekommen habe, freilich nur einen leisen, wie etwa von einer Nadelspitze. Die schöne Dame, die zu seiner Rechten saß, hatte es gesehen.

„Ein Abenteuer, mein Freund?“ sagte sie.

„In der That, beinahe.“

„Ein Liebesabenteuer?“

„Ein alter Freund.“

„Ah, er darf hierher kommen? Ich liebe die alten Freunde.“

Der Bediente stand, auf Antwort wartend. Der Graf sann nach. Seine Dame, seine Freundin lachte. „Er ist verlegen,“ sagte sie zu den Anderen. Er wurde wirklich verlegen. So konnte die Schöne ihm die Karte aus der Hand nehmen, ohne daß er es gewahrte. „Alexander Graf H.,“ las sie laut.

„Graf H.?“ riefen die sämmtlichen anderen Herren. „Der Hochverräther? Der Flüchtling? Der Amnestirte? Den müssen wir kennen lernen. Du mußt ihn annehmen, hierher führen lassen.“

„Ein Demokrat, ein Hochverräther?“ riefen auch die Damen Wir müssen ihn sehen. Er muß hierher.“

Der Graf war verlegen geworden. Seine Dame flüsterte ihm in das Ohr. Der Graf wollte ihr etwas erwidern. Die Dame war seinen Worten zuvorgekommen.

„Der Herr Graf H. wird Seinem Herrn willkommen sein,“ sagte sie befehlend zu dem Bedienten.

[288] „Hier?“ fragte der Diener, seinen Herrn ansehend.

„Hier!“ befahl die Dame.

Und – „hier!“ sagte auch der Graf Kuno. Er hatte sich Muth gemacht. Der Diener ging.

„Aber Du mußt ihn mir überlassen,“ bat die Dame des Grafen. „Ich habe noch keinen Demokraten gesehen, ich habe nur von ihnen gelesen, den wilden Bassermann’schen Gestalten. Ich war noch ein Kind, das nicht auf die Straße durfte, da sie die Straße regierten.“

Der Graf Alexander H. trat ein, der hohe, schöne Mann mit dem bleichen Gesichte, und in diesem Gesichte den edelsten Schmerz und einen ruhigen, aber desto strengeren, einen erhabenen Ernst. Er ging lahm, aber wo und wem imponirt nicht die Wunde, die ein tapferer Krieger im Kampfe mit dem Feinde gewonnen hat? Die ganze Gesellschaft saß plötzlich schweigend, als sie ihn sahen. Auf den Lippen der schönen Damen erstarb das ironische Lächeln, mit dem sie einen Hochverräther wohl hatten empfangen wollen. Der Oberhofjägermeister erhob sich unwillkürlich, dem Gaste entgegen zu gehen.

Aber – „mein Gott, Kuno, Du zitterst!“ mußte ihm seine Freundin in’s Ohr flüstern.

Er nahm sich zusammen und trat dem „alten Freunde“ entgegen. Er hatte die Laune wieder, die zu seiner lustigen Gesellschaft paßte.

„Alexander! Welche Freude, Dich wieder zu sehen! Und Du kommst gerade zur glücklichen Stunde. Lasse Dich bei uns nieder. Die Freunde und die Schönen, die Du hier siehst, brennen vor Verlangen, Dich kennen zu lernen.“

Der Gast war in der Nähe der Thür stehen geblieben. Er stand da in seiner vollen, eisernen und eisigen Ruhe.

„Ich habe mit Dir allein zu sprechen, Kuno.“

„Ich denke, später, mein Freund.“

„Was ich Dir zu sagen habe, muß ich Dir zuerst sagen. Aber mit oder ohne Zeugen, wie Du willst.“

Der Graf sann einen Augenblick nach. „Begleite mich!“ sagte er dann. „Ihr Anderen, laßt Euch nicht stören.“

Er sprach ruhig. Aber die Stirn war ihm feucht geworden. Er führte seinen Gast aus dem Salon.

„Der arme Graf Kuno schwitzt!“ hörte er, als er die Thür hinter sich zumachte, seine Freundin noch sagen.

Sie hatte es halb ernsthaft, halb scherzend gesagt, als wenn sie einen Fühler in die Gesellschaft werfen wolle, ob man noch lachen könne. Niemand lachte; Alles schwieg. Der Graf Kuno erblaßte. Er führte den „alten Freund“ in sein Zimmer.

„Was hättest Du mir zu sagen, Alexander?“

„Ida ist todt. Ich habe sie gestern begraben.“

„Ach!“

„Und Du bist ihr Mörder.“

„Ich, mein Freund? Ich hatte seit zwölf Jahren nichts von ihr gesehen und gehört.“

„Sie war in Deinem Hause, die Erzieherin Deiner Geschwister. Ihre Schönheit entflammte Deine Leidenschaft. Sie wies Deine schlechten Anträge zurück. Du wußtest Rath, die Hölle Deines Herzens hatte ihn. Deine Frau – Ihr hattet Euch Beide nie geliebt – sie hatte Dir das Leben schwer gemacht – Du beschlossest ihren Tod. Ida mußte das Gift ihr reichen, das Du ihr bereitet hattest. Sie reichte es ihr, ohne daß sie es wußte. Und nun hattest Du sie in Deiner Gewalt. Sie hatte einmal das Gift gereicht; ein Wort von Dir machte sie zu der Mörderin. Sie hatte an die Stelle der Ermordeten treten wollen. So drohtest Du ihr. Du hattest an den Scharfblick oder an den redlichen Sinn des Arztes nicht gedacht. Du mußtest noch in derselben Nacht, um Dich zu retten, Deine Drohung wahr machen. Ist es so?“

„So hat es Dir Deine Geliebte – das war Dir die Mamsell Ida doch? – wohl selbst erzählt?“

„Ida war zu edel, um selbst gegen einen Schurken, wie Du bist, zu denunciren.“

„Alexander, vergiß nicht, daß wir Beide Edelleute sind.“

„Ich kam hierher, um es Dir zu sagen. Du wirst Dich morgen früh um fünf Uhr mit mir schießen, draußen am Birkenwäldchen. Ich erwarte Dich.“

Der Hochverräther ging kalt und ruhig, wie er gekommen war. Der Oberhofjägermeister kehrte zu seiner lustigen Gesellschaft zurück. Sie saßen noch schweigend.

„Bist Du den steinernen Gast los geworden?“ fragten sie ihn.

Sie wollten wieder lustig werden.

„Ja,“ sagte der Graf. „Und morgen früh um fünf Uhr werdet Ihr mir gegen ihn als Secundanten und Zeugen dienen. Aber nun laßt uns wieder trinken und scherzen.“

Am anderen Morgen früh um fünf Uhr wurde am Birkenwäldchen draußen vor der Residenz der Oberhofjägermeister Graf Kuno – von dem Grafen Alexander H. im Duell zusammengeschossen, sodaß er für todt hinweg getragen wurde. Der Graf Alexander H. kehrte nach der Schweiz, nach Zürich zurück. Der erste Gang, den mein Freund Alexander Roth hier machte, war zu mir.

„Sie war doch unschuldig,“ sagte er. Es waren seine ersten Worte, lange auch seine einzigen.

Später erzählte er mir das Andere, später, als so Vieles von der Amnestie gesprochen und geschrieben wurde. Er segnete diese Amnestie. „Die Arme konnte in meinen Armen sterben!“

Und wenn diese Amnestie früher gekommen wäre? Nur wenige Jahre, nur ein einziges Jahr früher? Sie hätte in seinen Armen leben können, als glückliche, als liebende und geliebte Gattin. Aber Gott, der Herr der Herren, prüft auch die Herzen der Könige und lenkt die Schicksale der Menschen, und er allein weiß, was das Beste ist.

Mein armer Freund ist vor wenigen Monaten gestorben. Die Kraft auch seines Lebens war schon lange gebrochen. Wir begraben auch nach der Amnestie noch deutsche Herzen hier in der fremden, aber freien Erde.


Kleiner Briefkasten.


Für W. Bauer’s „deutsches Taucherwerk“ sind ferner (bis 19. April) eingegangen: 50 fl. rhn. als erste Sammlung der badischen Ingenieure des Wasser-, Straßen und Eisenbahnbaues, durch den großh. Bezirksingenieur in Stockach; 1 fl. östr. aus Oestr. Schlesien von einem Leser der Gartenlaube; 2 Thlr. von zwei Lesern der Gartenl. zu Myslowitz (Schlesien); 2 Thlr. von C. T. aus Linken; 1 Thlr. von W. Stößel in Schweinfurt; 1 fl. von d. L. d. G. zu Ockstadt in der Wetterau, durch Bindernagel u. Schimpff in Friedberg; 3 Thlr. von A–T. in Leipzig; 2 Thlr, 10 Sgr. von einigen Handelsschülern zu Chemnitz; durch H. B. aus Oberstein von einem Theil der dortigen Turnerschaft 3 Thlr., von einer deutsch. Frau 1 Thlr., von einem Freunde des Fortschritts 1 Thlr.; von Peters in Berlin 10 Sgr.; 2 Thlr. 10 Sgr. von einigen Lesern und Leserinnen der Gartenlaube am Piesberge bei Osnabrück; durch die Redaction des Mainzer Anzeiger 1 Thlr. 4 Sgr. von Zabern; 7 Thlr. 17 Sgr. 7 Pf. „gesammelt durch die Zöglinge der Privatschnle in Abbehausen, denen W. Bauer’s unterseeische Kameele eine ebenso angenehme als lehrreiche Physikstunde bereitet haben“; durch Fr. Stollberg (Garcke’sche Buchhdlg.) in Merseburg 1 Thlr. 10 Sgr. gesammelt durch H. Weydener; 1 Thlr. von C. u. W. in Wien; 3 Thlr. „freudiger Beitrag“ von drei Hamburgerinnen in Baden-Baden; durch Ferdinand Ullrich in Werdau in S., als erste Sendung, 5 Thlr. 15 Ngr. (je 15 Ngr. von den Herren Dr. med. Stumme, Ed. Beckert, Herm. Eisenschmidt, Gottl. Krügel, F. E. Schulze, G. Wieske, F. W. Tschirner, L. Pöckert, L. Schneider, Jul. Schulze und F. Ullrich); 1 fl. rhn. durch J. Kurz im Rippberger Eisenwerk bei Miltenberg (Baden); durch P. G. Bohln 1 Thlr. von der Lüdingworther Sängergesellschaft, als erste Sendung; durch Apoth. Dr. Schmidt in Wunsiedel 12 fl. 42 Xr. rhn. „von einem Kreise von Männern, welche das regste Interesse an jeder deutschen Erfindung nehmen“; durch C. F. Calenbach in Roslau 4 Thlr. 25 Sgr. gesammelt in einer musikalischen Abendgesellschaft, 1 Thlr. von einem Damenkränzchen; durch Gerold u. Sohn in Wien 33 fl. östr. W. gesammelt in einer Wochenversammlung des niederöstr. Gewerbevereins am 4. April; durch G. Binger in Amsterdam 2 Thlr. von der Tischgesellschaft „im Häschen“; 1 Thlr. von Calculator Hoben in Waldenburg; 2 Thlr. von I. L. in Frankfurt a. M.; 13 Thlr. vom Ausschuß des Vorschußvereins in Leipzig; 1 Thlr. von I. E. aus Hamburg; 1 Thlr. Postst. Wreschen; 1 Thlr. von R. in C. durch C. Eißner in Delitzsch; 7 fl. 9 Xr. von den Lesern d. Gartenl. zu Pappenheim in Baiern; 1 Thlr. von G. A. in S.; 5 fl. rhn. von den Schülern der Architekturschule des Städel’schen Kunstinstituts zu Frankfurt a. M., aufgebracht durch eine Groschensammlung; 5 Thlr. „dem Bauer unterm Wasser die Bauer im Wasser (Kriegshafen zu Hoppers an der Jade); 1 Thlr. „Viribus unitis“; 1 Thlr. 20 Sgr., einige Abonnenten der Gartenl. in Sorau; 50 fl. rhn. vom volkswirthschaftlichen Verein zu Frankfurt a. M. durch dessen Präsidenten Dr. Malz.

K. Tr. in J. W. Bauer’s Taucherkammer bringen wir in e. d. nächsten Nrn.

Concordia in Dresden. Sie haben mir 15 Thlr. für die deutsche Flotte gesandt. Wie die Sachen jetzt liegen, halte ich es für Schuldigkeit nochmals anzufragen, wohin ich das Geld adressiren soll. Nach Berlin doch schwerlich noch, wenigstens dürfte es dort nicht für eine deutsche Flotte verwendet werden. Bitte also gefälligst anzugeben, für welchen nützlichen Zweck das Geld angelegt werden soll.
E. Keil.

  1. Ein sehr talentvoller Dichter, dessen Lieder und Satiren in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts großes Aufsehen erregten. D. Red.
  2. Matthäus Klostermayer, gewöhnlich der baiersche Hiesel genannt, geb. 3. September 1738 zu Kissing in Baiern, ein berüchtigter Wildschütz und Räuberhauptmann, 1771 in Dillingen hingerichtet.
  3. Befürchtend, daß der altbaierische Dialekt nicht Überall verstanden werden dürfte, habe ich es für besser erachtet, denselben so viel möglich zu vermeiden.
  4. Kema, d. i. kommen wir.
  5. Ich habe mir früher viele solche Sündenregister gesammelt, die ich aber offenbar nicht alle als bäuerliches Machwerk betrachten konnte, denn bei so manchen derselben zeigte ein geregelter Versbau nur zu deutlich an, daß mitunter auch andere Federn den Haberfeldtreibern in die Hände arbeiten.
  6. Nach Fr. Harkort (K. Z.) wird eine Platte von 100 Centnern in folgender Weise hergestellt: Fünf flache Stäbe, 12 Zoll breit, 30 Zoll lang, 1 Zoll dick, werden zusammengeschweißt und zu einer Luppe ausgewalzt. Zwei solcher Luppen fügt man darauf zusammen und walzt sie zu einer Platte von 4 Fuß Quadrat und 1 ¼ Zoll Dicke. Dann werden vier solcher Platten in Bündel geschweißt und auf 8 Fuß Länge, 4 Fuß Breite, 2 ½ Zoll Dicke gestreckt. Zum Schluß kommt, der Schweißung halber, das schwerste Stück Arbeit. Vier solcher Platten, die eine Masse von 8 Fuß Lange, 4 Fuß Breite und 10 Zoll Dicke haben, werden bis auf 4 ½ Zoll ausgewalzt. Demnach sind 160 Stäbe, die 1 Zoll dick waren, in dieser 4 ½zölligen Platte vereinigt, zu welchem Zweck 3500–4000 Quadratfuß zu schweißen waren. Die vier letzten schweren Stücke werden in einem besonderen Ofen gewärmt und vermittelst Krahn und Rollwagen zur Walze gebracht. Indem die Platte durchgeht, steigt sie auf Rollen eine schiefe Ebene hinan, und in dem Augenblick, wo sie durch ist, beginnen die Walzen die entgegengesetzte Bewegung und führen sie zurück. Das Spiel wiederholt sich, bis das Maß erreicht ist. Dann wird die Platte vermittelst Krahn auf ein eisernes Bett gelegt und mit einer Walze von 100 Ctrn. Gewicht durch Hin- und Herrollen gerade gestreckt und gelangt nach dem Erkalten zur Hebelmaschine. – Die Platten der amerikanischen Kanonenboote sind nur 13 Zoll breit, 8 und 11 Fuß lang und 2 ½ Zoll dick.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Ensetzen
  2. Vorlage: Aufgerufenenen
  3. Vorlage: uud
  4. Vorlage: Fachmännner