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Die Gartenlaube (1863)/Heft 13

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1863
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[193]

Almenrausch und Edelweiß.

Aus dem bairischen Hochgebirge.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)

Die Müllerin beachtete die Frage Kordel’s nach dem Vater nicht, sondern fuhr eifrig fort: „Wir wollen uns auch einmal zur Ruh’ geben, wollen’s auch einmal gut haben – d’rum sollst Du die Mühl’ übernehmen, sollst sie wieder herrichten auf den Glanz, sollst uns unsern Austrag geben und heirathen. …“

Kordel schüttelte schwermüthig den Kopf. „Das geht nit, Mutter,“ sagte sie, „das mußt Dir schon aus dem Sinn schlagen. Ich bin das Leut’ nicht, das so was unternehmen könnt’, da gehört eine revierische Person dazu – und wenn ich auch wollt’, … es wird Keiner die Ledermühl’ haben wollen … und mich noch weniger. …“

Die letzten Worte hatte sie nur gehaucht; sie gingen in dem rohen Gelächter verloren, das die Müllerin aufschlug. „Wie Du daher redst!“ rief sie. „Wofür wär’ denn der Quasi da?“

„Der Quasi ist für mich nimmer auf der Welt – er ist gestorben und begraben, wie mein armes Würmel, mein Roserl. … Das wär’ gerade der Rechte, um die Mühl’ wieder herzurichten! Nein, Mutter, mit all’ dem ist es nichts – und d’rum ist es auch wohl das Gescheidtere, wenn ich wieder geh’. …“

„Und Du mußt bleiben, sag’ ich!“ rief die Frau zornig, indem sie hart vor Kordel hintrat und ihr drohend die Fäuste vor’s Gesicht hielt. „Ich will’s einmal haben – ich will doch seh’n, ob nicht geschieht, was ich haben will! Ich bin die Mutter, und Du bist mir noch lang nit zu groß, als daß ich Dir nicht zeigen sollt’, daß Du mir folgen mußt!“

„Schlag’ mich, Mutter,“ sagte Kordel sanft, indem sie sich erhob und ihre Hand ruhig auf die geballten Fäuste der Zürnenden legte. „Ich will’s aushalten ohne Widerred’, denn ich weiß, daß ich Dir Gehorsam schuldig bin … aber das mußt nit verlangen, Mutter, denn ich kann wahrhaftig nit bleiben; ich kann den Quasi nit heiraten – und ich will auch nicht! … Mutter,“ fuhr sie ernsthaft und beinahe feierlich fort, indem sie ihr mit den großen schwarzen Augen fest und durchdringend in’s Angesicht sah – „denk’ daran, wie’s vor vier Jahren gewesen ist! Ich bin ein unschuldig’s Ding gewesen, noch ein halbes Kind … was hab’ ich davon verstanden, wie der Quasi ’kommen ist und hat sich an mich angemacht? Mir hat’s gefallen, wenn er mir schön gethan und vorgered’t hat, wie er mich zur Bäuerin machen wollt’ auf dem Kriegelhof. … Du hättest es besser versteh’n, hättest mir abreden sollen … aber statt mich zu warnen, hast Du mich noch angereizt; wo Du hättest abwehren sollen, da hast Du geholfen, Mutter … Du hast …“ Sie biß sich auf die Lippen, um nicht mehr zu sagen. „Denk’ d’ran, Mutter,“ fuhr sie dann fort, „und sag’, ob Du von mir einen Gehorsam verlangen kannst. – Ich will Dir folgen in Allem, was richtig ist, aber in der Sach’ geh’ ich meinen eigenen Weg. … Die Nacht schlaf’ ich in der Mühl’ … aber bleiben, Mutter, bleiben thu’ ich nit!“

Die Müllerin stand betroffen und schweigend, Kordel aber fuhr fort: „Aber wo ist denn der Vater? Warum seh’ ich ihn nicht? Wie geht’s ihm denn? … Ich muß mich schon umschauen nach ihm!“

Hastig verließ sie die Stube und eilte rufend den kleinen Hausgang entlang: „Vater … Vater! Wo bist’ denn? Komm doch! Ich bin’s! Die Kordel ist da!“ Eine dumpfe Stimme antwortete; sie ging dem Schalle nach, riß die Stallthüre auf und stürzte mit einem Aufschrei des Entsetzens und Jammers auf den unglücklichen Blöden nieder, der ihr entgegen gekrochen kam. „Vater, Vater …“ schrie sie unter stürzenden Thränen, indem sie ihn sorgsam emporrichtete, „wo muß ich Dich finden? Bist Du’s denn wirklich? … O Du armes, armes Vaterl …“ Sie vermochte nichts mehr hervorzubringen, aber ihre Thränen überströmten das Silberhaar des Greises, in das sie ihr brennendes Antlitz drückte. Die dumpfen Laute des Müllers antworteten; es war nichts davon verständlich, als der Name des Mädchens, aber die Thränen, die ihm kurz vorher versagt gewesen waren, kugelten in dicken Tropfen über das verwitterte Gesicht, und die plumpen, narbenreichen Hände tasteten liebkosend und streichelnd an Haar und Antlitz des geliebten Kindes herum.

Sie konnte nur weinen und geleitete den halb und mühsam Aufgerichteten, der ohne Unterstützung nicht zu gehen vermochte, in die Stube auf den bequemsten Platz am wärmenden Ofen. Die Müllerin schoß wütende Blicke nach Beiden, aber sie wagte kein Wort des Widerspruchs; ein einziger Blick Kordel’s, als sie mit dem Vater an ihr vorüberschritt, hatte genügt, sie einzuschüchtern – aller Vorwurf, alle Klage, aller Schmerz war darin zusammengedrängt. Sie schob dem Müller ein Kissen zurecht, während er mit blödem Wohlbehagen die erstarrten Hände an den Ofen hielt und nach wenigen Augenblicken einschlummerte.

Als er schlief, stand Kordel auf und trat vor die Mutter hin.

„Du hast Recht gehabt,“ sagte sie finster, „daß ich daheim am nothwendigsten bin … ich bleib’ da!“

Dann kehrte sie zum Vater zurück, kniete vor dem Schlummernden nieder und ließ die Augen auf der zerstörten Jammergestalt des Geliebten ruhen, während ihre Lippen sich im stillen Gebete bewegten.

[194] Starke Schläge an der Hausthüre unterbrachen das Schweigen der einsamen Stube; die Müllerin öffnete und kam mit dem Brigadier der Gensd’armerie-Station zurück, der in voller Bewaffnung mit Ober- und Untergewehr, sich in der niedrigen Thüre bückend, eintrat. „Ist der Quasi nicht hier gewesen?“ rief er mit barscher Stimme. „Ist er etwa noch hier versteckt? Was für Gesindel habt Ihr sonst im Hause? Macht mir keine Flausen vor,“ fuhr er fort, als die Müllerin antworten wollte, „ich glaub’ Euch doch nichts! Ich werd’ selber nachsehen und Haussuchung halten!“

„Thu’ das der Herr,“ sagte Kordel vortretend „Ich weiß nit, ob der Quasi da war, und will nit hoffen, daß er noch da ist – aber von der Stund’ an bleib’ ich in der Ledermühl’ und steh’ dem Herrn gut, daß er nit wieder hereinkommt!“

Der Brigadier hatte Kordel sogleich respectvoll und soldatisch begrüßt. „Die Jungfer ist hier?“ rief er jetzt. „Sehr charmirt! Schon zurück von der Alm? Hab’ der Jungfer oft nachgefragt … sollte nicht mehr auf die Alm’ gehen, ist keine Beschäftigung für Sie! Wenn Sie Augen haben wollte, es gäbe Männer, die sehr charmirt wären – angesehene Männer …“

„Ich versteh’ den Herrn nicht…“

„Wird schon kommen! Sehr charmirt, daß die Jungfer im Hause bleibt – werde einsprechen! Sie wird nichts Unrechtes dulden im Hause, keine Schwärzer, keine Schnapssäufer…“

„Sicher nicht!“

„Weiß das vorher! Und wäre im Augenblick doch charmirt, wenn die Mühle eine Winkelkneipe wäre … ein Gläschen käme mir nicht ungelegen.“

„Damit kann ich doch aufwarten,“ sagte Kordel und holte ein Fläschchen aus ihrem Bündel hervor, „ich hab’ das dem Vater mitgebracht – es soll gut sein für den Magen und soll die Glieder schmeidig machen. …“ Sie schenkte dem Brigadier ein Glas ein, das er ausstürzte und sich schüttelte. „Ein bischen stark,“ sagte er, „aber eine wahre Herzstärkung! Sehr charmirt! Kann’s brauchen, wir haben einen harten Strauß vor. … Gute Nacht, Jungfer – sehr charmirt!“

Er ging. Bald waren seine Tritte den dunklen Bergweg hinunter verhallt, und nichts regte sich im Umkreise der einsamen Mühle. Nur in dem Gebüsche des Grabens, wo den Tag über der Blöde seine vierfüßigen Spaziergänge gemacht hatte, lauschte wieder eine dunkle Gestalt und starrte unbeweglich zu einem kleinen Fensterchen im obern Stockwerk der Mühle empor, in dessen halberblindeten Scheiben nach kurzer Zeit ein trüber Lichtschimmer aufgegangen war. Der Lauschende war Quasi. Lange und regungslos wartete er und zählte Viertelstunde für Viertelstunde die Schläge der Thurmuhr, welche von der nahen Ramsauer Dorfkrche herauf klangen. „Schon zehn Uhr,“ murrte er endlich, „und um elf Uhr muß ich auf meinem Posten sein! Aber ich geh’ nit von der Stell’, bis ich weiß, wie ich d’ran bin! Ich kann ja dann geschwinder laufen und das Versäumte wieder herein bringen!“

Das Licht war in der Schlafstube Kordel’s, die träumerisch vor sich hinstarrend auf dem armseligen Lager saß. Die Vergangenheit zog an ihr vorüber, eine Reihe trüber Erinnerungen, in welchen dunkle Ranken die wenigen lichten Stellen überwucherten, die etwa aus Tagen aufblickten, da sie als Kind mit den Kieseln des Mühlgrabens gespielt und mit den gefiederten Bewohnern seiner Büsche um die Wette gezwitschert hatte. Dann wandte sie den Blick in anderer Richtung der Zukunft zu, um einem Gewühle von noch dunkleren und unheimlicheren Gebilden zu begegnen. Sie sah eine trostlose, nicht endende Ebene vor sich, ohne jede lockende Erhöhung, ohne erquickende Quellen, ohne stärkenden Schatten – eine Wüste, der Frucht wie der Blüthe beraubt. Sie hatte sich die Verhältnisse im elterlichen Hause schlimm vorgestellt und erwartet, aber noch schlimmer gefunden; der Zustand des unglücklichen Vaters war noch trostloser, noch verwahrloster, der häusliche Verfall noch größer und sichtbarer, als sie Beides bei ihrem Scheiden hinterlassen hatte. Sie durfte, sie konnte nicht mehr fort, das stand klar vor ihrer Seele; dennoch entdeckte sie keine Hoffnung, daß sie durch ihr Opfer etwas bessern und dem Einen oder Andern abhelfen könne. Sie vermochte nichts Gedeihliches zu erwarten von dem Zusammenleben mit ihrer Mutter, deren leichtsinniges Wesen der Zartheit des ihrigen so durchaus widersprach.

Um sich zu beruhigen und auf andere Gedanken zu bringen, ging sie daran, ihre Kleider und Habseligkeiten in den blau angestrichenen und buntgeblümten Schrank einzuschichten, der in der Kammer stand. Sie fand ein Gebetbuch, legte es auf das Bett und kniete davor, indeß hie und da eine Thräne auf die großen Druckbuchstaben und das vermürbte Papier fiel; zuletzt, überwältigt von Müdigkeit, löschte sie das Licht und legte sich, wie sie war, angekleidet auf das Lager.

Kaum war sie eingeschlafen, als sich in der Mühle Geräusch hören ließ; die Holzklinke an der hintern Thüre des Mühlenwerks wurde behutsam und geräuschlos ausgehoben, und Quasi schlüpfte herein. Es war daselbst vollständig finster, aber wohlvertraut mit der Oertlichkeit tastete der Bursch sich an dem einzigen Mahlgange vorüber bis zu den hölzernen Stufen, welche steil und geländerlos auf den Umgang zum Aufschütten des Getreides und von dort in die obern Kammern des Wohnhauses führten. Er stand bald vor Kordel’s Thüre, horchte daran mit angehaltenem Athem, und als nichts in dem Stubchen sich regte, versuchte er, selbe zu öffnen; sie wich seinem Druck, in seiner kummervollen Betrübniß hatte das Mädchen nicht daran gedacht, sie zu verschließen. Mit geräuschlosen Katzentritten schlich er dem Lager zu, das bei dem graulichen Scheine des Fensters trotz der Dunkelheit wohl zu erkennen war. Schon war er nahe an der Bettstelle und konnte schon die Umrisse von Kordel’s Gestalt unterscheiden; schon streckte er die Arme aus, sie zu umfassen, als die Schlafende, von dem Vorgefühl einer unheimlichen Annäherung geweckt, auffuhr und mit einem Schrei dem Fenster zusprang.

„Sei still … mach’ keinen Lärm’,“ rief Quasi halblaut, „ich bin’s!“

„Wer?“ entgegnete sie entsetzt. „Hinaus – ich kenn’ Dich nicht! Wer’s auch ist, hinaus aus der Kammer … hinaus!“

„Bin ich Dir so ganz fremd ’worden, Kordel? Ich bin’s – der Quasi!“

„Hinaus mit Dir, frecher Mensch … was willst bei mir?“

„Eine g’spaßige Frag’! Was will der Bue, der zu seinem Schatz fensterln geht? Plauschen will ich mit Dir und spenzeln und fragen, wann wir die Stuhlfest machen!“

Er versuchte sich ihr zu nähern, aber sie stieß ihn mit entrüstetem Abscheu von sich. „Komm’ mir nit zu nah’,“ rief sie, „mach’ Du die Stuhlfest, mit wem Du willst – ich hab’ Dir’s schon gesagt, daß ich nichts mehr wissen will von Dir!“

„Das ist nichts als Spreizerei!“ entgegnete er zudringlich. „Warum willst wohl nichts mehr wissen von mir? Du hast doch schon einmal Dein Klamperl (Makel) von mir und mußt aushalten bei mir – also gieb Dich lieber gutwillig drein!“

„Das sagst mir selber in’s Gesicht und schamst Dich nit?“ sagte Kordel mit wiederkehrender Besonnenheit, aber bebend vor Entrüstung und Unmuth. „Und doch wird’s nit so sein, wie Du meinst! Daß ich Dir einmal angehört hab’, das bring’ ich freilich nit wieder los … aber die Leut’ sollen seh’n, daß ich wenigstens nit d’rin stecken bleiben will in der Schand’!“

„In der Schand’?“ rief Quasi mit wutherstickter Stimme. „Also eine Schand’ wär’s, wenn Du mein Weib werden thätst? Das will ich Dir merken, Kordel! Das sollst mir nit umsonst gesagt haben. … Und jetzt sollst Du erst ganz gewiß mir angehören! Jetzt mußt aushalten mit mir in meiner Schand’ … wann sie so tief wär’ wie der Hintersee … hinein mußt, Kordel, und hinunter bis auf den Grund. …“

Er wollte auf sie eindringen, als von der Straße her ein leiser schrillender Pfiff erscholl, wie der Schrei eines Nachtvogels. „Halt’ Dich still,“ rief Quasi, indem er Kordel ergriff, vom Fenster wegriß und auf’s Lager schleuderte. „Das kommt gerade recht!“ Ehe das halb betäubte Mädchen es fassen und hindern konnte, hatte er das Fenster aufgerissen, wiederholte den Pfiff und rief leise hinunter. „Wer ist da? Was willst?“

„Bist Du’s, Lateinischer?“ rief eine gedämpfte Stimme entgegen; der „Lateinische“ war der Spitzname, unter welchem er bei Schwärzern und Landstreichern bekannt war, weil ihnen der Name des heiligen Quasius zu befremdlich und unbekannt dünkte. „Wie kommst da hinauf?“

„Ist das nit der Hennenrupfer? Grüß Gott und frag’ nit so dumm – wie kommt der Bue zu sein’m Schatz!“

„Zu der Kordel! Hat’s doch geheißen, sie mag Dich nit mehr! Hat also doch wieder klein beigeben?“

„Weißt ja, wie’s geht mit den Madeln!“ lachte Quasi frech. „Aber wo kommst her, Hennenrupfer, wo gehst hin?“

„Ich hab’ mich verspät’ unterwegs, auf’m Wachterl droben, [195] Da hab’ ich nur anrufen wollen, ob’s nit einem Andern auch so ’gangen ist! Komm’ bald nach, Lateinischer – ich geh’ in die Kirch’, sie haben schon zusammengeläut’t!“ Unter der Kirche war der Sammelplatz der Schmuggler gemeint.

„Geh voran … ich komm’ bald nach; bis Du zu der Sag (Sägemühle) kommst, hab’ ich Dich lang’ eingeholt!“

Der Schmuggler ging, und Quasi schloß das Fenster. „So,“ sagte er höhnisch, „jetzt thu’, jetzt red’, was Du magst! Es hilft Dich doch nichts mehr – in zwei Tagen weiß die ganze Ramsau, daß Du mich Nachts in Deine Kammer gelassen hast – jetzt bist Du doch mein und kommst lebendig nimmer von mir los!“

Kordel saß noch immer wie betäubt; erst die wiederholte Annäherung des Burschen, der sich zu ihr drängte und sie umschlingen wollte, brachte sie wieder zu voller Klarheit. Sie wehrte ihn ab und rang mit ihm, gestützt von der ganzen Stärke ihres Abscheus, ihres reinen Willens, aber der zarte Körper war der rohen Gewalt des Burschen nicht gewachsen … sie fühlte ihre Kraft erlahmen, eine ungeheuere unsägliche Angst überkam sie … sie rief Gott und alle Heiligen an und ohne selbst zu wissen, was sie that, drängte sich das Wort „Mutter“ auf ihre Lippen. „Hilf, Mutter, hilf,“ schrie sie außer sich, „hilf … Mutter, Mutter!“

„Ruf’ ihr nur,“ lachte Quasi, „da kannst lang’ warten, bis die kommt! Dumm’s Ding, Deine Mutter weiß, daß ich da bin!“

Statt sie zu entmuthigen, gab dies Wort Kordel neue Kraft des Widerstandes. Ein betäubender Schmerz bäumte sich in ihrem Herzen empor; Verzweiflung faßte sie, sich von der verrathen und preisgegeben zu wissen, die vor Allen sie beschützen und wahren sollte, und mit der Wuth der Verzweiflung packte sie den Burschen, daß er keuchend sich ihrer erwehren mußte und unter dem wortlosen grimmigen Ringkampf die Dielen der Kammer krachten. Dennoch neigte sich auch jetzt das Uebergewicht auf Quasi’s Seite; schon war das ächzende Mädchen halb zu Boden gedrückt und beinahe wehrlos. …

Da wurde Quasi plötzlich von gewaltigen Fäusten im Nacken gepackt und zurückgerissen, und wilde brummende Töne verriethen, wer zu Kordel’s Befreiung herbeigekommen. Der blöde Müller, dessen Lager in der Mühle unter der Treppe stand, war über dem Lärm erwacht und die Treppe heraufgekrochen. „Mein … Kordl mein,“ knurrte er mit den Tönen eines wilden Thiers. „Umbringen…“

„Verfluchter Fex!“ schrie Quasi und suchte vergeblich, sich von den Fäusten des Müllers loszuringen. „Führt der Teufel Dich auch daher?“ Er mußte von Kordel ganz ablassen und sich nur gegen diesen Angreifer wenden, denn die Wuth gab dem halbverthierten Menschen ganz ungewöhnliche Kraft.

„Hinunter,“ brummte der Alte, „… hinunter … Hals brechen. …“

„Oder Du, alter Racker!“ rief Quasi. „Komm’ nur her – so geht’s gleich in Einem hin!“ Er gab dem Alten nach, der ihn durch die offene Thüre nach der Stiege zu zerren strebte, suchte und wußte es aber so einzurichten, daß der unbehülflichere Blöde zuerst auf dem schmalen, geländerlosen Raume ankam – er dachte ihn über den Rand zu drängen, daß er in die Mühle hinunterstützen und auf dem Ziegelboden das Genick brechen sollte. Seine Absicht war erreicht; der Blöde hing schon halb über der Tiefe und klammerte sich an Arme und Kleider seines Gegners – da eilte Kordel herbei; sie hatte schnell Licht gemacht und erschien gerade im rechten Augenblicke, um den Vater am Arme zu fassen und zurückzureißen. Er stand auf der Treppe, während Quasi sich nicht mehr zu halten vermochte und hinunter taumelte.

Blitzschnell hatte Kordel den Vater zu sich in die Thüre gezogen und diese geschlossen; den Burschen hatte seine Körpergewandtheit vor dem Sturze bewahrt. Er war mehr gesprungen als gefallen und tobte im nächsten Augenblicke die Stiege wieder herauf, um an der Thüre zu poltern und zu drohen. Bald sah er die Vergeblichkeit seiner Bemühungen ein und ging. „Das sollst Du mir entgelten – wart’!“ schrie er und verließ die Mühle.

Kordel, erschöpft von Anstrengung und Schrecken, war in halber Ohnmacht auf’s Lager gesunken; der Alte hatte sich zu ihren Füßen auf den Boden gekauert, streichelte ihr Hände und Gewand und brummte. „Mein Kordel … nichts thun lassen … Kordel mein …“

– – – Tief in den Bergen hatte indessen längst ein verdächtiges Regen, eine geheimnißvolle Thätigkeit begonnen. Der Mond war nach Mitternacht hinuntergegangen, und fast undurchdringliches Dunkel lag auf dem wilden Waldthale, durch das die Wimbach rauschend ihr steiniges Bette wühlt. Kaum in nächster Nähe war es möglich, die Umrisse der Seitenberge und ihrer Waldgruppen zu unterscheiden, und die schauerliche Felspyramide des Hundstodes, der wie eine riesige Mauer das Thal abschließt, hob sich nur schwach von der Schwärze des Nachtimmels ab. Todesstille waltete weit und breit; nur manchmal tönte der Schrei einer Eule, und in den Latschen und Zwergföhren rauschte es hin und wieder von unheimlichem Leben.

Im Hintergrunde des Thals, am Fuße des Hundstods saßen zwei Männer in bäuerischer Kleidung; mit geschwärzten Gesichtern, den Stutzen zwischen den Beinen, kauerten sie unter einem überhangenden, durch Tannengestrüpp verborgenen Felsblock und schauten spähend in die Nacht hinaus.

„Es dauert lang’,“ flüsterte der Eine, „wenn sie nur nit erwischt worden sind!“

„Warum nicht gar!“ erwiderte der Andere ebenso. „Wer sollt’ sie erwischen? Aber es ist ein weiter Marsch von Saalfelden herauf bis zu uns, und der Weg am Funtensee-Tauern, über den Trischübel und das steinerne Meer herunter ist keine Kleinigkeit!“

„Haben ja den schönsten Mondschein gehabt! – Soll einen Hauptfang geben diesmal!“

„Das will ich meinen! Die Tyroler kommen mit einer ganzen Ladung Tabak und Uhren und Seidenzeug … wir haben nichts zu thun, als die Päck’ vollends hinaus tragen, bis in die Ledermühl … und kriegt jeder baare fünf Gulden. …“

Der Andere winkte ihm zu schweigen und horchte noch gespannter als zuvor. „Hörst nichts?“ sagte er dann. „Ich hab’ gemeint, ich hör’ was gehen, dort am Steinberg herunter. …“

„Ich hör’ nichts. Vielleicht sind einige von den Unsrigen. Wer sollt’ es sonst sein? Die Grenzwächter sind irr’ gemacht und vigiliren heut’ Alle drüben, nach der Schönau zu; wir haben ihnen weiß gemacht, es käm’ ein Zug über den Bartlmäsee her. … Haben wir doch überall unsere Schildwachen ausgestellt. …“

Er verstummte und lauschte eine Secunde, indem er die Hand an’s Ohr hielt und sich auf den Boden niederbückte. „Jetzt hör’ ich auch was,“ sagte er, „da kommt wirklich was daher. … Halt, Kerl,“ rief er lauter, aber mit unterdrückter Stimme. „Keinen Schritt – oder ich laß’ Dich meinen Stutzen verkosten!“

Der Angehaltene blieb stehen und hatte rasch die Büchse herabgerissen, die über der Schulter hing. Es war Mentel, der mit rascher Bewegung hinter einen Baum getreten war. „Thu’ Deine Spritzen weg!“ sagte er, „oder es schnallt bei mir! Was haltet Ihr mich an? ich hab’ nichts zu schaffen mit Euch!“

„Den kenn’ ich,“ sagte der eine Schwärzer zu seinem Cameraden. „Das ist der Mentel vom Bühelhof – den haben wir nit zu scheu’n!“

„Was willst nachher um die Zeit in der Wimbach?“ fragte mißtrauisch der Andere.

„Auf den Hundstod will ich hinauf,“ sagte Mentel, „will mich auf ein Gamsel anpürschen – da heißt’s früh beim Zeug sein, wenn Du’s verwinden (ihnen den Wind abfangen) willst!“

„Das kann sein und kann nicht sein auch,“ entgegnete der Schwärzer wieder. „Besser ist besser; jetzt bleibst einmal bei uns, damit Du uns nit verrathen kannst. …“

Mentel wollte Einwendungen machen, aber im nämlichen Augenblick war er von rückwärts gepackt und der Stutzen ihm aus der Hand gerissen. Der andere Schwärzer hatte ihn unbemerkt umgangen und Beide hielten ihn nun lachend fest. „Gieb Dich, Wildschütz, gieb’ Dich,“ rief der Eine, „es ist nit soweit gefehlt, wenn Du bei Schwärzern bist … aber halt’ Dich ruhig, wenn Du nicht meinen Schnitzer zwischen den Rippen haben willst!“

Leises Pfeifen tönte jetzt gegenüber von den Bergen herab; es war ein schrillender, schwirrender Ton, wie jener der Wassernatter, wenn sie Nachts den Kopf aus dem Graben oder dem nassen Grase hebt. „Sie sind da!“ flüsterte es. „Die Tyroler sind’s!“ und bald tauchte unter den Latschen und Felstrümmern eine ziemliche Anzahl wilder geschwärzter und bewaffneter Gestalten empor und drängte sich im Knäuel zusammen. Von den steilen Bergwänden aber stieg eine Reihe von Männern in breitkrempigen Pinzgauer Hüten herab, schwere Anhängsäcke auf dem Rücken, in der einen Hand den Bergstock, in der andern das Rohr des über die Schulter hängenden Stutzens.

Sie traten zu den Anwesenden; sie begrüßten einander, aber kein lautes Wort wurde gewechselt; unter halblautem Flüstern und [196] beim Schein einer kleinen Laterne legten die Einen ihre Ladung ab, die Andern schickten sich an, sie aufzunehmen. Die Schnapsflasche ging dabei fleißig in der Runde herum, um Jene nach der ausgestandenen Mühe zu erquicken und Diese zur neuen Arbeit zu stärken.

Eben wollte man sich, lautlos wie man gekommen war, trennen, als eine wilde Stimme gebieterisch von einer nahen Höhe herunter rief: „Halt, Ihr Kerls! Diesmal haben wir Euch – Keiner rührt sich von der Stelle, oder er wird niedergeschossen!“

Ein einziger Schrei antwortete dem Ruf. „Die Grünen!“ hieß es, und „Lichter aus!“ und im Augenblick war von den Schwärzern nichts mehr zu sehen, nichts war zu hören, als das Knacken der aufgezogenen Hähne an den Gewehren.

„Gebt Euch gutwillig,“ rief es wieder. „Legt die Stutzen nieder – Ihr seid umringt!“

Kein Wort wurde erwidert; als einzige Antwort knallte ein Stutzen nach der Richtung hin, von welcher das Rufen kam. Verdoppelt, verdreifacht kam der Knall von allen Seiten zurück, und eine überlegene Schaar von Jägern, Grenzwächtern und Gensd’armen stürzte rings auf die Ueberfallenen ein. Viele davon hatten sich im ersten Augenblick zerstreut und kletterten im Schutze der Nacht die Felsen hinan oder unter den Latschen dahin, die Zurückgebliebenen setzten sich mit dem Muthe der Verzweiflung und Todesverachtung zur Wehre, Jedem winkte noch die Möglichkeit des Entrinnens, Jedem schien ein rascher Tod wünschenswerther als eine lange, schwere entehrende Strafe. Ein wildes, blutiges Handgemenge entstand; der hing würgend an der Kehle des Andern, der hatte seinen Feind zu Boden gerungen und trachtete, ihm den Schädel an den schroffen Felskanten zu zerstoßen; der Eine hob die losgeschossene, in der Nähe nicht mehr brauchbare Büchse, um mit dem Kolben niederzuschmettern, ein Anderer hielt den Gegner um die Mitte und suchte ihn in das Flußbett der Wimbach hinabzuschleudern – dazwischen knallten die Stutzen, den Fliehenden nach und von ihnen zurück; Geschrei der Kämpfenden mischte sich in den Wehruf der Verwundeten und Stürzenden, und wie erfreut rollte der Wiederhall des Getöses an den nächtlichen Felswänden des Gebirges dahin.

Die Schwärzer unterlagen zuletzt; sie waren in der Minderzahl, und die Grenzwächter, denen der Anschlag verrathen gewesen, hatten ihre Vorkehrungen zu bestimmt und zu sicher getroffen. Alle Zugänge waren bewacht; es waren die Wenigsten, denen zu entrinnen gelungen war; die Meisten stöhnten verwundet, gebunden und geknebelt am Boden; die Angreifer hatten weniger gelitten – sie waren im Eifer über das Gelingen bemüht, zuerst den glücklichen Fang zu ordnen und zusammenzupacken, dann luden sie ihn den Gefangenen auf und begannen den Rückzug.

Auch Mentel war unter den Entronnenen. Als gewandter Jäger und wohlbekannt mit der Oertlichkeit hatte er im raschen Laufe einen Felszacken erreicht, jenseits dessen ein kleines schmales Thälchen anging und sich eine Strecke weit an der östlichen Seite des Steinbergs hinzog. Dort durfte er für den Augenblick einen sichern Versteck und bei Tagesgrauen einen nur Wenigen bekannten Ausweg hoffen, der in die Ramsau hinunterführte. Ein kühner Sprung mit eingesetztem Bergstock trug ihn in die Tiefe, doch erreichte er nicht das Ende des Abhanges: das Steingeröll, durch sein Aufspringen gelockert, machte sich los und riß ihn kopfüber eine beträchtliche Strecke hinab. Mit zerrissener Jacke, blutenden Händen und zerschundenem Gesicht raffte er sich wieder auf und eilte durch das Thälchen bis zu einer verlassenen Kohlstätte und Hütte. Er riß, da sie verschlossen war, mit kräftigem Ruck die rußigen Breter auseinander, stieg hinein und verwahrte von innen sorgfältig die Lücke. „Diesmal,“ sagte er vor sich hin, indem er sich auf die Streu im Winkel niederwarf, „diesmal bin ich hart am Erwischtwerden angestreift – da hat’s gegolten!“

Während dieser Vorgänge war Quasi durch die Ramsau im Dunkel der Erlen und Ahorn an der Ach dahingelaufen und hatte bald den Einschnitt erreicht, wo die Wimbach, nachdem sie sich durch die Klamm gestürzt und gedrängt, sich mit ihr vereinigt. Er flog die rasigen Hänge hinan und bog eben auf der Schneide nach dem Waldsaume ein, wo ihm am obern Ende der Klamm der Lauerposten angewiesen war. Vergebens hatte er sich überall nach dem vorangeeilten Gefährten umgesehen und war emsig daran, mit einer aufgerafften Kohle sich das Gesicht zu schwärzen. Da hielt er an und horchte hoch auf: die Schüsse krachten herüber aus dem Wimbachthal.

„Teufel,“ rief er, „die sind richtig mit den Grünen zusammengetroffen … Da geht’s scharf her … Schuß auf Schuß … Da kann ich auch nichts mehr helfen dabei – es ist gescheidter, wenn ich auf mich selber denke …“

Er untersuchte das Schloß seiner Büchse, lüftete in der Lederscheide das Messer, das er in der Tasche trug, und huschte unter den ersten Bäumen abwärts gegen den Ausgang der Klamm zu. In dem tiefen Rinnsal dachte er die Straße und die jenseitigen Höhen erreichen zu können, wo wenigstens für den Augenblick nichts mehr zu fürchten war. Eben wollte er sich an das Rinnsal hinunterlassen, als er, noch einmal die freien Hänge überblickend, von draußen her ein Blinken zu bemerken glaubte, das ihm verdächtig schien. „Da wär’ ich schön angekommen,“ murmelte er, „das ist ein Bajonnet, was dort so blitzt … da stehen Gensd’armen … ich will gleich in die Klamm hinein, da bin ich am sichersten …“

Der Gedanke war schnell ausgeführt; er huschte den engen Waldpfad hinab und betrat den schmalen, in die Felswände eingetriebenen Holzgang, unter welchem die sturzeswilde Wimbach schäumt und brandet und donnert. Obwohl das Gebrause den Hall seiner Tritte verschlang, schritt er doch nur behutsam vor, und spähte stehenbleibend vor sich und hinter sich. Ueber der grabesfinstern Schlucht begann schon der Morgen zu grauen, und bei dem fahlen Scheine, der davon oben durch den Spalt und die Bäume drang, erkannte er schon den quer über dem Hauptkessel angebrachten Steg. Dort war sein Ziel erreicht; unter dem Stege, wenig erhoben über dem rasenden Gewässer, wußte er ein Felsstück, in welchem eine Höhlung ausgewaschen war, groß genug ihn aufzunehmen und sicher vor jedem Späherauge. Er warf keinen Blick nach dem Wassersturze oder zu den zahllosen Quellen, die auf dem schwarzen Felsgrunde wie graue gespensterhafte Gewänder niederwallten … schon wollte er den Geländerbalken erfassen, als er zurücksprang und sich mit angehaltenem Athem gegenüber platt an die Wand drückte.

Er hatte eine dunkle Gestalt gesehen, die ihm entgegen um die Felsecke bog. Es war zu spät; auch der Kommende hatte ihn bereits bemerkt. Es war Gaberl, der Jäger, der die Klamm zu durchstreifen hatte, während die Uebrigen mit den Gefangenen und ihrer Beute das Bergsträßchen oben durch den Wald dahin zogen.

„Halt!“ tönte es Quasi entgegen, und da er nichts erwiderte, krachte ein Schuß durch den brüllenden Schlund, und die Kugel schlug hart neben dem Burschen an’s Gestein. Er wollte vorstürzen, denn jetzt war er im Vortheil gegen den Angreifer, der sich verschossen hatte, aber dieser war beinahe so schnell wie seine Kugel: er stand vor ihm, hielt ihn am Halse und drängte ihn an die Wand mit der Kraft des Bären, der seinen Raub umschlingt und erdrückt. Der Bursche wand und drehte sich unter den Eisenfingern des Jägers; die Jacke zerriß ihm über dem Ringen und er zerriß sich das Gesicht an den scharfen Knöpfen des Gegners, daß ihm das Blut herunterrieselte. „Wehr’ Dich wie Du willst,“ keuchte der Jäger, „ich hab’s immer gesagt. Du gehst mir einmal ein … ich kenn’ Dich doch, wenn Du auch nichts redst … lebendig lass’ ich Dich nimmer aus!“

Quasi schwieg, aber er wehrte sich und rang noch wilder als zuvor; es gelang ihm, eine Hand frei zu machen – blitzschnell hatte er sie in der Tasche, und ebenso rasch taumelte der Jäger mit einem schwachen Aufschrei, ihn loslassend, zurück.

Des Jägers Kniee knickten ein, er schwanke dem Geländer und dem Abgrunde zu – Quasi warf keinen Blick nach dem Verwundeten zurück und rannte den Felsensteig hinauf in den Wald.

(Fortsetzung folgt.)




Eine nachahmungswürdige Liebhaberei.


Wenn die Kinder unserer jetzigen Städtebewohner einen Hasen oder gar ein paar Rehe sehen, so ist das geradezu ein Ereigniß, von dessen Erinnerung sie lange zehren. Auerochsen, Elenthiere, Biber und manche andere Thiere hingegen, von denen früher die deutschen Wälder erfüllt waren, existiren eigentlich gar nicht mehr für uns, sie sind sogar als Schaustücke viel

[197] 

Der zoologische Hof in Lindenau.

[198] seltner geworden, als unzählige andere Thierarten, die man Tausende von Meilen weit herbringt. Ja, es ist, besonders in den größeren Städten, so weit gekommen, daß sogar unsere Hausthiere, soweit sie nicht geradezu täglich auf der Straße sich umhertreiben, zu Schaustücken, wenigstens für die Kinder, geworden sind. Ganz natürlich, denn wo sich noch von früher her Meierhöfe in den Städten erhalten haben, da werden sie jetzt durch deren oft riesig schnelle Entwickelung und durch die Vertheuerung des Grund und Bodens immer mehr verdrängt. Selbst die großen Städten naheliegenden Ortschaften bergen jetzt schon häufig keine oder nur wenige Bauernhöfe mehr, da die Bevölkerung hauptsächlich aus Fabrikarbeitern besteht.

Freilich so weit ist es noch nicht gekommen, daß man Ziegenböcke, Pfauen, Perlhühner, Truthähne für Geld sehen läßt, aber viel fehlt wahrhaftig nicht mehr dazu, und wenn z. B. für den Besuch des sogenannten „zoologischen Hofes“ in Lindenau bei Leipzig (die Abbildung zeigt das Treiben auf diesem Hofe) ein kleines Eintrittsgeld beansprucht würde, zu lachen darüber hätte Niemand das Recht, man könnte höchstens sagen: „Wieder eine zeitgemäße Speculation.“ In der That ist dieser Hof, welcher zum Gasthaus des Orts gehört und im Besitz eines Herrn Jahn ist, schon seit Jahren ein Wallfahrtsort für die Eltern- und Kinderwelt Leipzigs geworden. Alt und Jung, Mann und Weib ergötzt sich an dem behaglichen Thierleben, wie es sich hier in so außerordentlicher Mannigfaltigkeit zeigt, und wer nur etwas mehr als das gewöhnliche Interesse für das Gebahren der Thierwelt zeigt, der kann hier eine Fülle von Unterhaltung haben, und reichlichen Stoff zum Beobachten wie zum Lachen finden.

Die Verbindung von Gasthof und Landwirthschaft, wie sie an dem Orte dieser Thiersammlung besteht, ist jedenfalls eine ganz glückliche, da einerseits der Gasthof nur dadurch gewinnen kann, und andererseits die Unterbringung und Versorgung so vieler Thiere ohne landwirthschaftlichen Betrieb bedeutend erschwert sein würde. Doch würde man sehr irren, wenn man das Ganze auf einen zahlreichen Besuch des Gasthofs berechnet glaubte, denn es leuchtet aus dem Behagen des Besitzers, beim Anblick dieses Treibens, seine Liebe zur Thierwelt so unverkennbar hervor, daß offenbar nur der Wunsch, sich und Andern diesen Genuß dauernd zu verschaffen, die Sache in’s Leben gerufen hat.

Den Mittelpunkt des Ganzen bildet eine bunte Menge von Ziegenböcken. Die Mehrzahl derselben sind die Nachkommen eines alten weißgrauen Bockes mit gewaltigem Gehörn, welcher seinerseits von einer Angoraziege und einem großhörnigen Bock des Ortshirten abstammt. Dieser weißgraue Stammvater steht jetzt ausgestopft auf dem Leipziger naturhistorischen Museum, bietet aber begreiflicherweise lange nicht den schönen Anblick wie ehemals das lebende Thier. Der Geburtstag dieses Bockes ist leider nicht genau bekannt, was wegen eines etwaigen künftigen Jubiläums sehr zu bedauern ist.

Frühmorgens öffnen sich die Stallthüren, welche während der Nacht die bunte Menge verwahrt haben, und zwar ist es die treue Rieke, welcher die Obhut derselben anvertraut ist. Hochgeschürzt oder nicht, je nachdem es die Beschaffenheit des Terrains erfordert, verwaltet sie von früh bis Abends ihr Amt mit Kenntniß und Liebe, was freilich den Gebrauch eines tüchtigen Knüppels keineswegs ausschließt, denn die Thiere, welche im Vergleich zu einem Droschkengaul ein wahrhaft himmlisches Leben führen, wissen wenig vom Gehorchen und kennen nur den Genuß.

Den Vierfüßlern sowohl als den Vögeln steht zwar, wenn sie aus dem Stalle gelassen sind, der ganze Hof und sogar die Umgebung desselben zur Verfügung, doch ziehen die Ersteren in der Regel vor, sich auf dem eigentlichen Düngerhaufen, für dessen Vergrößerung sie angelegentlichst sorgen, aufzuhalten. Allerdings bietet derselbe nicht blos eine weichere Unterlage zum Niederlegen, sondern auch eine bessere Aussicht, und daß dieselbe auch von einem Bock geschätzt wird, kann immerhin angenommen werden.

Natürlich sucht der stärkste und mit den größten Hörnern begabte Bock immer eine Art Regiment zu führen, und so lange der alte Stammvater lebte, bewahrte er sich dasselbe unbestritten, seit seinem Tode aber und besonders seit ein vierhörniger und ein dreihörniger Bock jetzt auch schon mit Nachkommenschaft hinzugekommen, scheint eine Art Vergleich, ein Triumvirat stattgefunden zu haben, welches dann gelegentlich durch Zweikämpfe „befestigt“ wird.

Bei solchen Kämpfen geht es dann manchmal sehr scharf her, ja es wird bisweilen sogar das ganze philosophische „Sein“ des Thieres dadurch aufgehoben, wie denn z. B. der vierhörnige Bock bereits nicht mehr existirt, da er, weil ihm im Kampf ein Horn abbrach, zu einem dreihörnigen reducirt wurde.

Wenn übrigens auf der einen Seite diese Ziegenböcke keineswegs gesonnen scheinen, ihre Race aussterben zu lassen, so legen sie doch auch wieder sehr viel Geringschätzung ihrer Nachkommenschaft an den Tag, und es möchte Einen manchmal erbarmen, mit welcher Vehemenz oft die kleinen Böckchen oder Zicklein von den alten Thieren bei Seite geworfen oder in die Rippen gerannt werden, wenn sie denselben beim Fressen zu nahe kommen. Ueberhaupt wissen diese erwachsenen Thiere nichts von Zurückhaltung oder Schüchternheit, und ein Beschauer, der ihnen verdächtig scheint, etwas Freßbares bei sich zu haben, oder dasselbe gar zeigt, kann sich ihrer liebenswürdigen Zudringlichkeit oft kaum erwehren. Nur vor der langen Peitsche des Herrn Jahn oder den Knüppeln der treuen Rieke haben sie Respect, und man kann dann die langbärtigen Gesellen ganz ihre Würde vergessen sehen.

Daß die kleinen Böckchen sich bestreben, ihren erwachsenen Vorbildern nachzuahmen und besonders das Stoßen baldigst zu erlernen, ist ganz natürlich, und es bedarf daher für sie keines weitern Grundes, um sich oft gegenüber auf die Hinterbeine zu erheben und nach den Köpfen zu stoßen. Daß dieses Ziel gewöhnlich verfehlt und nur ein Loch in die Luft gestoßen wird, entmuthigt sie dabei keineswegs.

Neben diesen Thieren sind es nun noch die Schafe, welche als Vierfüßler den Hof beleben, und zwar ist es eine sehr langschwänzige Race, mit gewöhnlich schwarzem Kopf. Auch hier führte früher der alte Bock als Stammvater das Regiment, wurde aber, wie ich selbst ansah, vom eigenen Sohn auf schmähliche Weise abgesetzt. Ob es sich bei diesem Kampfe von vornherein blos um die Ehre handelte, wie bei den Franzosen, oder ob ein materieller Werth, vielleicht nur ein Krautblatt, das erste Kampfobject war, kann ich nicht sagen, genug, der Kampf war furchtbar. Nach Art aller Schafe gingen die Thiere erst weit auseinander, immer rückwärts schreitend, sich also im Auge behaltend, bis zuletzt der Herr Sohn mit dem hinteren Theile seines Seins an die Stallmauer anrannte, und dies als das Zeichen ansah, auf den Erzeuger loszustürzen; dieser that das Gleiche, und mit furchtbarer Gewalt krachten die Schädel aneinander. Schon beim zweiten Male drang Blut am Kopf des alten Thieres hervor, es stürzte in die Kniee, und nach dem dritten Zusammentreffen räumte der bisherige Herrscher das Feld und ergriff die Flucht. Aber der siegreiche Sohn begnügte sich nicht damit, er verfolgte den flüchtigen Papa und rannte mit solcher Wucht von hinten gegen denselben, daß der Sprung, zu welchem derselbe eben ansetzte, durch diese Nachhülfe viel größer ausfiel, als er beabsichtigt war. Dies wiederholte sich noch einige Mal, bis endlich der Emporkömmling sein Uebergewicht für gesichert hielt. Der Besiegte stand dann, das Bild einer gefallenen Größe, noch lange an eine Mauer angelehnt und mit gesenktem Kopfe in tiefe Betrachtungen versunken.

Einen hübschen Gegensatz zu diesen großen Schafen bilden ein paar niedliche, schwarze Haidschnucken, die bekannten Schafe der Lüneburger Haide, die sich aber nicht sehr behaglich zu fühlen scheinen, denn sie halten sich stets gesondert von allen übrigen.

Den geschilderten Vierfüßlern an Zahl, Buntheit und Lebhaftigkeit außerordentlich überlegen, zeigt sich natürlich die Vogelwelt auf diesem Hofe. Denn nicht blos gewöhnliche Hühner, Gänse, Enten, Tauben und Truthühner bewegen sich hier durcheinander, auch Pfauen, weiße und bunte, Perlhühner, Störche, Fasanen, ausländische Gänse und Enten sieht man hier gemeinschaftlich und gewöhnlich friedlich mit den Andern leben.

Wie billig muß ich mit den eigentlichen Hühnern beginnen, denn wenn es auch echt Napoleonisch ist, daß dieser Held die Frau als die größte bezeichnet hat, welche die meisten Kinder hätte: bei dem Huhn hat man gewiß nicht Unrecht, wenn man diesen Vogel als den für den Menschen wichtigsten bezeichnet, weil er eben am fleißigsten Eier legt. Was wären wir ohne die Hühnereier?

Es hieße Wasser in den Brunnen tragen, den schönen Anblick einer alten Glucke mit ihren Küchelchen schildern zu wollen. Jedermann kennt ihn. Auch die Hahnenkämpfe wiederholen sich selbst da, wo mehrere Hähne bereits aneinander gewöhnt sind, so oft, daß man sie häufig beobachten kann. Komisch bleibt ein solcher Kampf immer. Mögen sie die Federn sträubend sich giftig anblicken, [199] mögen sie grimmig auf den Boden picken, offenbar um zu zeigen, daß ihnen der Aerger keineswegs den Appetit genommen, oder mag der Sieger nach dem Kampf sich aufblähen und seinen Sieg laut verkünden, stets macht dieses Gethue den entgegengesetzten Eindruck, als ihn das Thier beabsichtigen mag.

Wo Alles so bekannt unter einander ist, wie auf unserm Hof, da kommt es übrigens häufig vor, daß Andere sich in solche Kämpfe einmischen, und besonders fühlen sich die Truthähne manchmal berufen, den Frieden wieder herzustellen, wozu sie sich gewöhnlich erst gehörig aufblähen, denn der Truthahn ist vielleicht derjenige Vogel, der am meisten auf imponirendes Aeußere hält, wo der Moment wichtig ist. Daher ist er es auch, der, wenn er sein Rad schlägt und die Flügel am Boden schleift, kaum wieder zu erkennen ist. Dabei genirt es ihn keineswegs, wenn die Schwanzfedern nicht mehr vollständig sind und das Rad große Lücken zeigt, denn ihm ist die Haltung das Wichtigste, kurz, er ist ein Mann von höherm Stande.

Natürlich bleibt der Pfau, insbesondere der gewöhnliche bunte, immer die schönste Zierde eines Meierhofes, und auch hier ziehen diese Vögel, wenn sie gerade im vollen Schmuck ihres Federkleides prangen, die Augen Aller zumeist auf sich. Ein Gedanke wird sich übrigens bei solchem Anblick schon Manchem aufgedrängt haben, nämlich der, welche wichtige und verschiedene Rolle doch der Schwanz bei den Thieren, insbesondere auch bei den Vögeln spielt. Nur im Vorübergehen sei erwähnt, daß viele Thiere der niederen Ordnungen ihren Schwanz zum Feststehen verwenden können, während wir bei den Fischen finden, daß er hier fast durchgängig ein Hauptorgan zum Schwimmen bildet; auch bei den Reptilien hat er wohl nichts weiter zu thun, als zur Fortbewegung, resp. zum Anhalten auf dem Lande und im Wasser mitzuwirken. Sehr mannigfaltig hingegen stellen sich die Aufgaben, die dem Schwanz gesetzt sind, bei den verschiedenen Säugethieren. Zwar die Hufthiere, d. h. also die Wiederkäuer, die Einhufer und die eigentlichen Dickhäute (Elephanten etc.) verwenden ihren Schwanz, wenn sie einen haben, sämmtlich blos dazu, die Fliegen und dergleichen aus seiner Umgegend zu verscheuchen, doch schon bei den Affen ist er in Aussehen und Zweck höchst verschieden. Die mit Greifschwanz versehenen halten sich nicht nur damit fest, sondern sie langen sich auch damit Gegenstände zu, welche sie mit den Händen nicht erreichen können. Andere Affen haben ihren Schwanz hingegen offenbar nur zur Zierde, oder um bequem daran festgehalten zu werden, bei manchen wieder ist er so klein, daß er nur zum Spaß da sein kann oder um eben anzuzeigen, wo das Thier aufhört, und viele endlich laufen leider ganz ohne Schwanz auf der Welt herum, und da sie’s nicht anders gewohnt sind, so muß es auch gehen.

Wenn bei den Säugethieren, was hier noch nachzuholen ist, nur einzelne Gattungen den Schwanz zur Fortbewegung gebrauchen, wie z. B. die Walthiere, die Eichhörnchen, die Känguruhs, manche Affen, die Biber, so scheint hingegen bei den Vögeln der Nutzen des Schwanzes nur darin zu bestehen, eben bei der Fortbewegung, d. h. im Wasser oder in der Luft mitzuwirken. Eine Taube, wenn sie auffliegt oder sich niederläßt, entfaltet ihre Schwanzfedern zum vollkommenen Halbkreis, selbst das Huhn macht höchst anerkennenswerthe Versuche, bei seinen kurzen Flügen den ungünstig geformten Flügeln durch Ausbreiten seines Schwanzes nachzuhelfen. Neben diesem Nutzen ist es aber dann hauptsächlich die Aufgabe des Vogelschwanzes, seinen Eigenthümer zu verschönern, so zwar, daß viele uns Allen bekannte Vögel nur durch den Schwanz das Gepräge ihrer Gestalt bekommen. Was ist ein Pfau, ein Truthahn, ein Haushahn, ein Fasan ohne denselben? Fällt es Jemandem ein, sie zur Verschönerung zu englisiren, wie man es doch bei dem Pferd, dessen Zierde gerade ein schöner Schweif ist, so lange gethan hat? Und doch würde dieses viel leichter sein, denn ein Hauptunterschied zwischen den Säugethieren und Vögeln besteht eben darin, daß es ersteren sehr weh thut, wenn ihnen der Schwanz abgeschnitten wird (auch wo es stückchenweise geschieht), den Vögeln aber nicht. Wie traurig sehen langschwänzige Vögel aus, wenn sie in der Mauser sind, wie lächerlich sieht ein Haushahn aus, wenn er vielleicht mit nur noch einer großen Feder in seinem Schwanz umherstolzirt, und der Pfau vollends ist ohne diese seine Zierde gar nicht mehr er selbst.

Eine Anzahl Pfauen ihr Rad schlagen zu sehen, ist gewiß ein herrlicher Anblick. Weniger ist dies allerdings bei der weißen Spielart der Fall, denn abgesehen davon, daß das herrliche Farbenspiel fehlt, läßt auch das Weiß der Farben jeden Schmutzflecken zu deutlich sehen. Was übrigens den radschlagenden Pfau von hinten anbelangt, so bietet derselbe einen wesentlich andern Anblick, der allerdings mehr instructiv als schön ist. Es zeigt sich da, daß die eigentlichen Schwanzfedern keineswegs das Rad bilden, sondern daß dies die darüber sitzenden Bürzelfedern sind, denn der Schwanz bildet ein viel kleineres, von vorn gar nicht sichtbares Rad. Auch den Pfauen selbst scheint, da sie sich natürlich nicht erst über ihre eignen Federn zu unterrichten brauchen, die Kehrseite nicht zu gefallen. Wenigstens kann man es manchmal sehen, daß, wenn der eine sich eben recht brüstet, plötzlich ein anderer von hinten sich naht und dem Verwandten schnell eins versetzt, was jedenfalls nur einen Tadel aussprechen soll, denn auf einen Kampf ist es dabei nicht abgesehen.

Die Pfauen lieben es bekanntlich, auf hohen Punkten zu übernachten, und es kostet daher auch auf unserm Hofe immer einige Mühe sie Abends in den Stall zu bringen, denn wenn es ihnen gelänge sich auf das hohe Dach zu schwingen, so würden sie dann etwaigen Witterungsunbilden ausgesetzt sein; auch soll, wenn sie doch manchmal das Dach glücklich erreicht hatten, ihr nächtliches Geschrei, welches bekanntlich nicht mit Nachtigallgesang zu verwechseln ist, vielen Schläfern der Umgegend zu störend geworden sein.

Alle Bewohner dieses Hofes haben übrigens, da das Hofthor stets offen steht, volle Freiheit, die gegenüber und am Wasser liegende Wiese des Besitzers zu besuchen, und machen davon auch ausgedehnten Gebrauch, so ausgedehnt, daß insbesondere die Pfau- und Perlhühner den nahen Wald manchmal für den Stall halten, wo sie ihre Eier legen und bebrüten sollen. Natürlich kann der Förster nicht jeden Winkel des Waldes täglich ausspähen, und da dies die Herren Bummler gütigst übernehmen, so fallen Nester, Eier oder Junge, vielleicht auch die Bruthenne auf Nimmerwiedersehen in ihre Hände. Daher mag es wohl mit kommen, daß man nur selten junge Pfauen oder Perlhühner hier sieht.

Natürlich wird durch diese Freiheit, welche den Thieren gelassen wird, die Auswahl derselben beim Anschaffen sehr bedingt; es können blos solche in die Gesellschaft aufgenommen werden, bei welchen ein permanenter Ausflug in’s Freie oder wenigstens ein schwieriges Wiedereinfangen nicht zu fürchten ist. Uebrigens ist hierbei die Kartoffel ein mächtiges Bindemittel. Alles frißt Kartoffeln, selbst die Störche, an welche Franz Drake doch gewiß kaum gedacht hat, haben dieselben als Futter genehmigt.

Wenn ich nun schließen muß, weil Herr Keil den Aufsatz nicht zu lang haben will, so kann ich es nicht, ohne noch einige Worte der Anerkennung für den Mann zu sagen, welcher diese Thiersammlung geschaffen und sie unverdrossen pflegt. Es ist wahrlich nicht Jedermanns Sache, eine solche schöne Liebhaberei, deren Genuß dem Publicum vollkommen freisteht, unverdrossen fortzuführen. Denn wie sich schon in Menagerien viele Leute gar nicht amüsiren können, ohne mit Stöcken die Thiere zu necken, so kommt Aehnliches auch hier häufig vor, und wie schon Mancher seinen Park geschlossen hat, weil das liebe Publicum Unfug trieb, so würde auch hier von einem Andern dasselbe geschehen sein.

Daß es übrigens beim Eingang dieser Zeilen nicht übertrieben war, wenn der ganze Anblick als eines Eintrittsgeldes würdig hingestellt wurde, erhellt daraus, daß schon öfters „wandernde Künstler“, welche sich gerade zur Messe in Leipzig befanden, den Besitzer dringend ersucht haben, ihnen von seinen Thieren eins oder das andere zu verkaufen. Daß Herr Jahn nicht darauf eingegangen ist, hat es dem hiesigen Publicum erspart, in einem für einen Silbergroschen gezeigten höchst ausländischen Steinbock einen alten Bekannten aus Lindenau wieder erkennen zu müssen.

Möge nun solche Liebhaberei und solche Liberalität recht fleißige Nachahmung finden; den Bewohnern großer Städte, besonders der Kinderwelt wird stets dadurch ein großer Genuß gewährt werden. Selbst da, wo nicht Wohlwollen oder Liebe zur Thierwelt selbst die Hebel sind, würde die Speculation noch ihre Rechnung finden können. Ein glänzender Beweis sind die zoologischen Gärten, welche jetzt überall in den größern Städten entstehen, und welche hauptsächlich in der immer mehr wachsenden Liebe zur Natur ihre Begründung finden.

L.




[200]
Junge, laß Dich nicht verblüffen!
Eine Scene aus Seume’s Leben.

Das Dörfchen Hohenstädt, eine Viertelstunde von der Stadt Grimma auf anmuthiger Höhe gelegen, schaute in freundlichster Nachmittagbeleuchtung auf dies grüne Thal herab, wo die Mulde wie ein sanftblaues Band an den Waldbergen dahin ging, als aus einem ziemlich am Eingange des Dorfes gelegenen und von Linden umschatteten Landhause zwei Männer traten und in eine Kirschallee einbogen, welche zwischen grüner Kornflur nach dem nahen Dorfe Böhlen führte.

Der eine der Männer, eine hohe stattliche Gestalt mit klaren, durchdringenden, aber zugleich wohlwollenden Augen, verrieth in seiner Kleidung, die sauber, ohne luxuriös zu sein, den wohlhabenden Mann. Der Begleiter, von mittlerer Größe, mit ernstem, fast düsterem Antlitz, schien weniger Aufmerksamkeit auf sein Aeußeres zu verwenden.

Die beiden Männer waren schweigend eine Zeitlang neben einander hergegangen. Jeder schien mit seinen Gedanken beschäftigt. Endlich blieb der Erstere stehen.

„Wie soll das enden?“ frug er. „Wir sind auf dem besten Wege eine französische Provinz zu werden. Bereits liegen Spanien, Italien, Holland zu den Füßen Frankreichs, und auch bei unsern deutschen Fürsten thäte es Noth, daß sie bei jeder einigermaßen wichtigen Regierungsmaßregel zuvor in Paris anfragten. Was ist aus diesen Franzosen, die wir so lange Zeit nur nach Roßbach und Krefeld beurteilten, geworden? Haben sie gänzlich ihr Wesen geändert?“

Der Begleiter, welcher gleichfalls stehen geblieben war und über die grünen Kornfluren nach den fernen Bergen schaute, erwiderte: „Nein, ihr Wesen haben sie nicht geändert, sie haben blos ihre Verhältnisse umgeschaffen. Die Franzosen sind seit funfzehn Jahren erst zur Nation im höheren Sinne des Worts geworden. Der Franzose, ohne Unterschied, schlägt sich jetzt für ein Vaterland, das ihm lieb geworden, da es ihm und seiner Familie eine gleiche Aussicht auf alle Vortheile vorhält und diese Vortheile wirklich gewährt. Nur nach dem, was er gilt, wird dort der Mann gewürdigt, bei uns wird die Schätzung genommen nach dem, was das Kirchenbuch spricht, der Geldsack des Vaters wiegt, oder das Hofmarschallamt vorschreibt. Für wen soll sich der deutsche Grenadier auf die Batterie oder in die Bajonnete stürzen? Er bleibt sicher, was er ist, und trägt seinen Tornister so fort und erntet kaum ein freundlich Wort von seinem mürrischen Gewalthaber. Er soll dem Tode unverwandt in’s Auge sehen, und zu Hause pflügt sein alter Vater fröhnend die Felder des gnädigen Junker, der nichts thut, nichts zahlt und mit Mißhandlungen vergilt. Der Alte fährt schwitzend die Ernte des Edelmanns ein und muß oft die seine verfaulen lassen; und dafür hat er die jämmerliche Ehre, der einzige Lastträger des Staats zu sein, eine Ehre, die klüglich nicht anerkannt wird. Soll der Soldat deshalb muthig fechten, um dasselbe Glück einst zu genießen? Er soll brav sein, und seine Schwester oder Geliebte muß auf dem Edelhofe zu Zwange dienen, jahrlich für acht Gulden, oft ohne Aussicht, ein Jahr wie das andere ihr Lebenlang; und seine alte Muhme, die kaum das trockene Brod hat, muß ihren zugewogenen Haufen Flachs spinnen; und sein kleiner Bruder muß Botschaft laufen in Frost und Hitze für einen Groschen den Tag. Das nennt man Staat und gute Ordnung und Gerechtigkeit, und fragt noch, woher das öffentliche Unglück kommt.“

Das sonst so farblose Gesicht des Sprechers hatte sich geröthet. Von dem Gegenstande erregt, fuhr er fort:

„Gleiches Recht für Alle ist ein göttlicher Gedanke, vielleicht der schönste, den wir haben. Unsere Feinde sind nur stark durch unsere physische und moralische Schwäche, die unsere Schuld ist. Ueberall gewahrt man unter dem Volke grobe und schmutzige Selbstsucht. Unter unsern Fürsten herrscht Mißtrauen; einer freut sich über das Unglück des andern, wird ohnmächtig durch Trennung, greift unüberlegt nach jedem kleinlichen Vortheil des Moments und bringt endlich sich und die Nation an den Rand des Verderbens. Ein Einziger ist jetzt Dictator von Europa, der vor fünfzehn Jahren nur eben Zutritt in das Vorzimmer dummstolzer Minister hatte. So geht es, wenn Memmen die Sache betreiben, und so geht es, wenn Knaben stehen, wo Männer stehen sollten. Wir sind, wenn wir so fortfahren, in Gefahr, weggewischt zu werden, wie die Sarmaten.“

Während Johann Gottfried Seume diese Anschauungen, die er später in seinen Werken fast wörtlich so niederlegte, seinem Begleiter mittheilte, welcher Niemand anderes als der sehr geachtete und seiner Zeit um Buchhandel und Literatur wohlverdiente Buchhändler Joachim Göschen war, in dessen Landhause zu Hohenstädt Seume oft wochenlang als Gastfreund wohnte, war man im Weiterwandeln an eine Wiesenfläche gelangt, wo ein etwa vierzehnjähriger Knabe eine Kuh im fetten Grase weidete und sich dabei selbst gemüthlich in den hohen Klee gestreckt hatte. Da kamen durch den Hohlweg, der nach der Mulde hinabführte, zwei junge Cavaliere, die bei einer adeligen Familie in Grimma zu Besuch waren und ihre Zeit nicht besser anzuwenden wußten, als ihre Jagdlust zu befriedigen, und, da geschlossene Jagdzeit war, diese Passion an Schwalben und andern harmlosen Vöglein ausließen. Wahrscheinlich war ihnen das Jagdglück heute nicht günstig gewesen, denn sie schienen mißgelaunt und zugleich übermüthig gelaunt, welche mauvais humeur sie glaubten an dem wehrlosen Knaben auslassen zu müssen. Sie hielten sich für unbeobachtet, da die daher kommenden zwei Spaziergänger durch eine Schwarzdornhecke ihnen verdeckt wurden.

„Junge,“ rief der Eine der jungen Edelleute in vornehm näselndem Tone dem Hirtenknaben zu, „augenblicklich steige auf Deine Kuh und reite sie uns vor.“

Der Knabe war aufgesprungen und erwiderte: „Das darf ich nicht, mein Vater hat mir verboten, auf der Kuh zu reiten.“

„Du wirst thun, was ich befehle.“

„Ich darf nicht, lieber Herr.“

„Wirst Du pariren, widerspenstige Brut, oder ich schieße!“

Mit diesen Worten erhob der Cavalier sein Rohr, und der Hahn knackte.

Der Knabe, durch dieses verdächtige Geräusch in hohe Angst versetzt, hielt gleichwohl Stand und rief in weinerlichem Tone: „Mein Vater hat es verboten.“

Der Cavalier, anstatt durch diesen Gehorsam gegen das väterliche Gebot für den Knaben eingenommen zu werden, hielt diese Unfolgsamkeit für verstockten Bauerntrotz, legte das Gewehr zielend an die Wange und wiederholte: „Wirst Du pariren, oder ich schieße!“

Als der geängstete Knabe die Mündung des Rohrs drohend auf sich gerichtet sah, sprang er erschrocken ein paar Schritte zur Seite, gleichsam um der Gefahr auszuweichen.

In diesem Augenblicke sprang Seume, der Göschen eine kleine Strecke voraus war und durch eine Lücke in der Schlehdornhecke das unritterliche Verfahren des jungen Edelmanns mit angeschaut hatte, hervor und rief mit Stentorstimme. „Junge, laß Dich nicht verblüffen, der Mann darf nicht auf Dich schießen!

Wie die Cavaliere sich auf diese Weise überrascht sahen und in der Ferne Göschen erkannten, der jetzt gleichfalls hinter dem Zaune hervortrat und dessen Persönlichkeit in ganz Grimma und der Umgegend in hoher Achtung stand, hielten sie es für gerathener, von weiterer Beängstigung des armen Knaben abzusehen und in einen Seitenweg einzubiegen.

„Das war kein Meisterstreich, Octavio!“ rief ihnen Seume erzürnt und spottend nach; doch die jungen Herren setzten trotz dieses Nachrufs ihren Weg unbeirrt fort. Da keiner von ihnen Octavio hieß, brauchten sie denselben nicht auf sich zu beziehen, und die Bonmots aus den Schiller’schen Dichtungen waren damals noch nicht so bekannt wie heutzutage.

Seume, welchem das für sein Alter so standhafte Verhalten des Knaben sehr gefallen hatte, ließ sich mit dem kleinen Burschen in ein Gespräch ein. Es war ein blonder Lockenkopf mit treuherzig blauen Augen. Bald kam auch Göschen hinzu. Die Antworten und das Benehmen des Kleinen gefielen den Beiden. Man erfuhr, daß der Vater ein armer Häusler und Tagelöhner aus dem benachbarten Dorfe Bahren, und daß die Kuh der einzige Reichthum der mit zahlreichen Kinder gesegneten Familie sei.

„Kannst Du auch lesen?“ frug Göschen.

„O ja,“ war die Antwort.

[201] Göschen zog ein Buch hervor und es dem Kleinen hinreichend, sagte er: „Da lies einmal, gleich hier die erste Seite.“

Es war der dreißigjährige Krieg von Schiller.

Der Knabe las für sein Alter und seinen Stand mit ungewöhnlicher Fertigkeit und nicht ohne Ausdruck.

„Kannst Du auch schreiben?“ frug Göschen weiter.

„Ja, aber ganz langsam.“

„Hättest Du wohl Lust, Buchdrucker zu werden?“

„Wie der Herr Factor Langbein?“ frug freudig erregt der Knabe, „wie gern! Herr Langbein hat auch als ganz kleiner Knabe angefangen, Buchdrucker zu werden.“

„Je nun,“ lächelte Göschen, „wenn Du recht fleißig bist und recht Tüchtiges lernst, kannst Du auch einmal Factor werden. Kennst Du mich denn?“

Der Knabe nickte freundlich und erwiderte: „Herr Göschen.“

„Wohlan,“ fuhr dieser Menschenfreundliche fort, indem er dem hocherfreuten Knaben ein Viergroschenstück schenkte, „sag’ Deinem Vater, daß er mich morgen besuchen soll, ich werde weiter mit ihm reden.“

Der Knabe, das Silberstück in der Hand, wußte nicht, ob er wache oder träume. So reich war er im Leben nicht gewesen. Welcher Wechsel! Erst sollte er todtgeschossen werden, und jetzt solches Glück und auch noch die Hoffnung, Buchdrucker zu werden, wonach schon immer sein Sinn gestanden.

Seume und Göschen setzten ihre Wanderung nach Böhlen fort. Ersterer nahm Gelegenheit, seinen Unmuth über das Benehmen der Edelleute gegen den armen Knaben laut werden zu lassen.

„Diese jungen Leute aus den bevorzugten Ständen,“ sprach er, „welche sich das Brüsquiren des Bürger- und Bauernstandes, Kenntnißlosigkeit und Verachtung aller Wissenschaftlichkeit als noble Passion anrechnen und deren Anzahl leider Gottes in deutschen Landen nur zu häufig gefunden wird, diese rudis indigestaque moles, die wie ein Plumpsack auf unsrer politischen wie gesellschaftlichen Entwicklung ruht, trägt ebenfalls dazu bei, daß das deutsche Volk aus seinem bejammernswerthen Zustande nicht herauskommt. Am ausgeprägtesten ist dieses nichtslernende, brüsquirende und sich selbst überhebende Junkerthum unter den jüngern größtentheils aus Adeligen bestehenden preußischen Officieren zu finden. Ich bin erschrocken, als ich unlängst Gelegenheit hatte, diese Kreise kennen zu lernen. Welche totale Unkenntniß der Weltlage, zumal Frankreich und der französischen Armee gegenüber! Dabei welcher Uebermuth und Verachtung alles Nichtpreußischen! Diese Unglückseligen betrachten die Franzosen noch immer durch die Brille von Roßbach und bedenken nicht, daß kein großer Friedrich mehr an ihrer Spitze steht und gegenüber ein Napoleon. Letztrer so wie dessen Marschälle gelten jenen Leuten für Nichts als aus dem Pöbel hervorgestiegene Glückspilze und Emporkömmlinge, für avancirte Unteroffiziere, die von einem Cadettenhause und probemäßiger Dressur keine Ahnung haben. Der simpelste preußische Lieutenant hält sich für berufen, den Napoleon in ein Mauseloch zu treiben, und bespöttelt den Oesterreicher, daß er Italien von zusammengelaufenen Pariser Straßenjungen und zerlumpten Bataillonen sich hat nehmen lassen. Wer kurzsichtiger Weise seine Macht also überschätzt und den Feind in solchem Grade verachtet, ist schon halb geschlagen. Das kann unmöglich ein gutes Ende nehmen, falls es über kurz oder lang zum Kriege kommt, wie nicht ausbleiben wird. Die preußischen Junker mit ihrem Bramarbasiren werden den preußischen Staat nicht retten; und unverständiger Uebermuth hat noch alle Zeit seine Strafe erhalten.“[1]

„Dieses deutsche Junkerthum überhaupt,“ fuhr der Spaziergänger nach Syrakus fort, „rangirt, wo es sich um vernünftigen Fortschritt und gesunde Entwicklung gesellschaftlicher Verhältnisse handelt, noch unter dem deutschen Philister und Zopfbüreaukraten, was gewiß viel sagen will. Es ist zum Verzweifeln, auf der einen Seite übermüthiges Junkerthum, zopfiges Philisterthum und auf der andern diese empörende Unterwürfigkeit und Bedientenhaftigkeit im Bauer- und Bürgerstande. Es hat mich darum ordentlich erquickt, daß der Hirtenbub vorhin nicht sofort den unterthänigen Knecht und gehorsamen Diener machte, wie wir im Volk vornehmen Herren gegenüber so gewohnt sind, sondern daß ihm das Gebot seines Vaters höher stand, als der Befehl des Junkers, selbst als die todbringende Mündung auf ihn gerichtet war. Darum sprang ich auch sofort vor und rief dem kleinen Kerl zu: Junge, laß Dich nicht verblüffen! Dieser Ausruf war schon ein Lieblingsbonmot meines Vaters, das er mir in den unterschiedlichsten Lebensverhältnissen und Situationen zugerufen hat. Auch meinem Vater war vermöge seiner ehrlichen, offenen und kernigen Natur nichts mehr zuwider, als jenes bänglich unsichere Wesen im Volke Höhergestellten oder blos Bessergekleideten gegenüber. Er haßte alles Scheinwesen, Poltronerie, Gespreiztheit und Vornehmthuerei und konnte es vor den Tod nicht leiden, wenn sich der Niedriggestellte dadurch in’s Bockshorn jagen ließ. Wer ein gut Gewissen hat, pflegte er zu sagen, kann dem Könige offen in’s Auge sehen, und ist der König ein braver und unbefangener Herr, wird ihm solche Offenheit besser gefallen, als ersterbende Unterwürfigkeit, die nur entwürdigt. Darum rief er mir fort und fort zu: Junge, laß Dich nicht verblüffen! So ist denn dieser Ausdruck auch bei mir in Blut und Leben übergegangen. Schon früh ward ich gewöhnt, mich nicht durch Scheinwesen einschüchtern und consterniren zu lassen. Es mag sein, daß ich darum vielen Leuten, als in zu rauher Schale, unbequem und ungenießbar geworden bin; mir gleich, ich bereue mein Verhalten nicht und danke es meinem Vater heute noch, daß er mir schon frühzeitig zugerufen: Junge, laß Dich nicht verblüffen!

„Dieser Charakter, lieber Seume,“ versetzte Göschen, „ist auch in Ihren Schriften nicht zu verkennen und verleiht denselben eben jenen Werth, welchen wir in der übrigen publicistischen Presse der Gegenwart vermissen; aber offen gestehen muß ich Ihnen, daß ich bei Durchlesung Ihres Vorworts zum „Sommer 1805“ wahrhaft erschrocken und nicht ohne Besorgniß für die Folgen bin. Diese Vorrede ist allerdings unter den gegenwärtigen Zeitverhältnissen eine That zu nennen. Kein zweiter deutscher Schriftsteller würde sie gewagt haben. Ich erinnere Sie nur an die Stelle, wo es heißt: „Ich will mit tiefem Trauergefühl als deutscher Mann noch ein Wort sprechen – weil ich will und Fug habe. Beherzige man es oder beherzige man es nicht; ich habe dabei nichts zu verlieren, als meinen Kopf; und dieser fängt an grau zu werden und wird täglich entbehrlicher. Tausende müssen ihn mit wenigem Sinn täglich wagen für die Grille eines Einzigen, den Wink eines Despoten, das Nicken seines Lieblingshandlangers, vielleicht für den Unterrock seiner Maitresse; ein unbefangener Mann wird ihn doch wagen dürfen für das, was er nach seiner Ueberzeugung für Wahrheit hält. Durch Wahrheit ist nach alter Erfahrung freilich keine Gunst zu verdienen, denn sie beleidigt fast überall, weil fast überall Sünde ist. – Wo die Bajonnete der Söldlinge herrschen, ist von Vernunft und Freiheit, Gerechtigkeit und Volksglück nicht mehr die Rede. Wenn es so fort geht, ist die gefürchtete Römerei fertig. – Jedes Privilegium wird ein Staat im Staate und beweist die Krankheit im Gesetze. Wer sein Vermögen nicht mehr verwalten oder verwalten lassen kann, hat für sich und den Staat als Bürger zu viel; und wer nicht mehr Bürger ist, ist durchaus weniger und wird für den Staat negativ. Aber wer denkt an Bürgerpflicht, wenn sie der Staat nicht ordnet etc.“[2] – Das ist eine gar kühne Schreibweise, lieber Seume, heutzutage. Ich begreife nicht, wie sie der sonst so ängstliche Censor hat passiren lassen können.“

„Es kann höchstens den Kopf kosten,“ wiederholte ruhig der deutsche Mann, „und dieser wird täglich grauer.“

Die beiden Spaziergänger hatten indeß das Gasthaus des Dorfes Böhlen erreicht, wo sie diesem gegenüber unter den alten ehrwürdigen Linden Platz nahmen. Es ward Kaffee bestellt, der auch bald von dem Wirthe Stephan, welcher noch in seinem Greisenalter oft von dem Herrn „Hauptmann“[3] zu erzählen wußte, gebracht wurde.

„Die Bank ist auch fertig, mein Herr Hauptmann,“ sprach Stephan, „der Hoiermüller hat endlich dazu gethan und sie nach dem Herrn Hauptmann, weil er dort gerne zu sitzen pflegt, „Seume’s Ruhe“ genannt.“

„Diese Taufe konnte sich der Hoiermüller ersparen,“ meinte Seume; „ich liebe dergleichen nicht; aber die Bank selbst freut mich,“ und zu Göschen gewendet fuhr er fort: „diese Bank müssen wir heute noch einweihen. Die Aussicht von da ist eine der schönsten.“

Wirklich sah man auch die beiden Männer nach einiger Zeit den Weg, der durch munteres Erlengebüsch nach der anmutig gelegenen [202] Hoiermühle führt, dahin wandeln und eine nicht zu steile Anhöhe emporsteigen.

Hier stand ein prächtiger alter Eichbaum, der seine grünen Arme weit hinauf streckte zum blauen Himmel und an dessen Stamm eine kleine Breterbank angebracht war.

„Sie haben Recht, Seume, das ist ein köstlicher Punkt,“ sprach Göschen, der auf der Bank Platz genommen und den Blick entzückt über die schöne Thallandschaft auf- und niederwärts schweifen ließ.

Jenseits schaute von umwaldeter Höhe das alte Schloß Döben mit seinen grauen, zum Theil von Epheu umsponnenen Mauern in ernster Stille auf das lachende Thal hernieder. Ein Strecke thalabwärts die im Eichendunkel vergrabene Golzermühle, zu welcher ein zwar schmaler, aber von Erlen umschatteter Fußpfad längst der Felsenwände führte. Gleich am Fuße des Schloßbergs das idyllisch zwischen Obstbäumen hervorlauschende Dörfchen Golzern. Weiter aufwärts sanftgrüne fruchtbare Wiesenfläche lieblich an Waldberge sich anlehnend. Weiter im Vordergrunde, am linken Muldenufer, das stattliche, von schönen Gärten umgebene Herrenhaus von Böhlen und in nächster Nähe am Bergesabhange die ebenfalls reich umgrünte Neumühle. Inmitten der schönen Landschaft zog sich die Mulde silbernd durch die Thalebene, hier und da von Erlen umsäumt und die weichen Moos- und Blumenufer küssend. Da die Mulde in der Nähe des Schlosses Döben um einen bewachsenen Landvorsprung einen anmuthigen Bogen beschreibt, konnte man das blaue Band des freundlichen Flusses von Aufgang bis Niedergang eine weite Strecke in’s Land hinein verfolgen. Ueber die Landschaft hinaus weitete sich die Aussicht nach Süden, und der Blick fiel in duftblaue Berge.

„Ich habe,“ begann Seume, „von Sicilien bis Schweden, ja bis jenseit des Oceans manch großartiges und prachtvolles Landschaftsbild genossen, aber kein anmuthigeres und lieblicheres als von diesem Plätzchen. – Ach,“ fügte er, stets seines deutschen Vaterlandes in Wehmuth gedenkend, düster lächelnd bei, „an schönen Aussichten fehlt es uns Deutschen überhaupt nicht, wenn nur die Einsicht der Leute da unten eine bessere wäre.“

„Sie wird nicht ausbleiben,“ tröstete der mildere Göschen, „sobald die Zeit gekommen. Unser himmlischer Vater wird sicher nicht wollen, daß seine schönen Landschaften nicht auch von einem erleuchteteren und bessern Geschlechte bewohnt werden.“

Die beiden Freunde saßen noch lange auf der Bank, sich des reizenden Landschaftsbildes erfreuend. Da begannen allmählich die Spitzen der gegenüber gelegenen Waldberge sich zu röthen, die Sonne sank tiefer; mehr und mehr zog das Thal den Purpurmantel des Abends an, und vom Kirchlein zu Hohenstädt tönte fromm die Abendglocke, Frieden verkündend über Berg und Thal.


Die Bank unter der alten Eiche hat sich lange Jahre erhalten. Ob sie jetzt noch steht, müssen die Bewohner von Grimma am besten wissen. Auch der Eichbaum grünte noch fröhlich vor nicht zu langer Zeit; aber heutigen Tags noch heißt im Munde des Volks jene Anhöhe „Seume’s Höhe“ oder „Seume’s Ruhe“.

Außer ihr giebt es noch eine zweite Seume’s Ruhe ganz in der Nähe von Grimma. Gleich bei der Gattersburg führt von der Colditzer Chaussee ein ziemlich abschüssiger und beschwerlicher Pfad hinab zum umwaldeten Muldenufer. Hier trifft man auf ein heimlich Plätzchen, wo der deutsche Mann ebenfalls oft gesessen und in philosophischer Abgeschiedenheit dem Gemurmel der Wellen gelauscht haben soll.


Der junge Kuhhirt aus Bahren ist bald nach der oben beschriebenen Scene unter der Leitung des tüchtigen Factors Langbein ein eben so fleißiger, als gewissenhafter, intelligenter und geschickter Setzer in der Göschen’schen Officin zu Grimma geworden und hat später sein gutes Auskommen als Buchdruckereibesitzer in einer Provinzialstadt Sachsens gefunden. Als er ungefähr zwei Jahre nach dem erzählten Vorfall, dem er sein glücklich Geschick verdankte, erfuhr, daß der Herr Hauptmann wieder bei Göschen’s zu Besuch sei, konnte seine dankbare Gesinnung es nicht unterlassen, dem wackern Seume ein Zeichen seines Dankes und seiner Verehrung darzubringen. Er kleidete sich daher sonntäglich an und wanderte, einen frischen Blumenstrauß in der Hand, fürbaß nach Hohenstädt. Seine zweite Absicht war, dem Herrn Hauptmann sein Stammbuch, das er vom Buchbinder Ziegenbalk erhandelt, mit der Bitte zu überreichen, dasselbe mit einem Spruche zu eröffnen.

Nachdem der junge Kunstgenosse Guttenberg’s Dank, Strauß und Buch glücklich an den Mann gebracht hatte, war Seume ungemein erfreut über diesen Act der Dankbarkeit, wie ihn auch das offne, aber bescheidene Auftreten des jungen Burschen ungemein ansprach. Gern erfüllte er darum die Bitte desselben wegen eines Stammbuchspruchs, und sich der Scene mit den Cavalieren vor zwei Jahren erinnernd, schrieb er auch diesmal das Bonmot seines Vaters in das Buch:

     „Junge, laß Dich nicht verblüffen!
     Hohenstädt, 18. August 1808.
          Johann Gottfried Seume.“



Ein großartiges Unternehmen der Neuzeit.
(Mit Abbildung.)

In Frankreichs Hauptstadt, dicht am Bois de Boulogne im Quartier Auteuil, arbeiten schon seit Monaten Tausende von fleißigen Händen unter der Leitung des berühmten Architekten Liandier an Erbauung eines Riesenpalastes, in welchem bereits am 10. August dieses Jahres eine immerwährende Weltausstellung eröffnet werden soll. Schon erheben sich die massiven Mauern, die gußeisernen Säulen und Bogen des kolossalen Gebäudes mit zauberhafter Schnelligkeit. Dasselbe wird nach einem von dem bereits erwähnten Architekten entworfenen riesigen Plane errichtet und wird an Großartigkeit alles Bekannte, bis jetzt Dagewesene übertreffen. Nach diesem Plane hat dasselbe eine Länge von 500 Metres, eine Breite von 100 Metres und die in der Mitte sich erhebende Glaskuppel eine Höhe von 105 Metres. Baumgänge ziehen sich durch diese Riesenhalle hin, an welche sich ein herrlicher Wintergarten schließt. Der Haupteingang, an einem neu eröffneten Boulevard mündend, bildet eine Triumphpforte. Die Nebengebäude sind in bequemster und der Großartigkeit des Ganzen entsprechender Weise ausgeführt. Der Werth der zu diesem Unternehmen von den Gründern angekauften Bodenfläche von 126,000 Metres beträgt 7 Millionen, die Erbauung des Palastes und aller Nebengebände kostet laut den abgeschlossenen Contracten 8 Millionen Franken.

Die Idee einer bleibenden, sogenannten permanenten Weltausstellung ist nicht neu, dieselbe entstand bereits durch den außerordentlichen Erfolg der ersten Weltausstellung in London im Jahre 1851 und wurde, durch die später in den Jahren 1855 und 1862 mit gleichen Erfolgenen abgehaltenen von Neuem angeregt. Es wurden nun zwar in verschiedenen Städten einzelner Länder Versuche gemacht, jene Idee zu verwirklichen, welche jedoch an dem Mangel genügender Verbindungen und Mittel scheiterten. Jetzt nun ist der Gedanke einer großartigen, die ganze Welt mit ihren verschiedenen Erzeugnissen der Künste und Wissenschaften, des Ackerbaues, des Handels und der Gewerbe umfassenden immerwährenden Ausstellung zur Wahrheit geworden; es hat sich in Paris, nachdem dort alle Tagesblätter, die bedeutendsten journalistischen Federn und die Fachschriftsteller sich mit Lösung dieser Frage beschäftigt und dieselbe sowohl theoretisch, wie in der Ausführung bis in die kleinsten Details beleuchtet hatten, eine Gesellschaft gebildet, deren Bestehen, ohngeachtet der gewaltigen Dimensionen ihres Planes, doch bereits in wenigen Tagen gesichert war, da man von Seiten der Regierung ihr allen möglichen Vorschub leistete und das handel- und gewerbetreibende Publicum die segensreichen Wirkungen des Unternehmens nicht unterschätzte.

Die bisherigen vorübergehenden Weltausstellungen haben von Seiten der Erzeuger stets bedeutende Kunstfertigkeit, aber auch großen Aufwand erfordert, es boten sich dem Auge des Beschauers fast durchgehend Meisterwerke und Gipfelschöpfungen der Industrie und Kunst dar, vollendete Erzeugnisse, gleich ruhmvoll für die Erfinder, wie ehrenvoll für ihr Vaterland; jedoch nur den reichbegüterten

[203] begüterten Käufern zugänglich, konnten sie auf den Fortgang der Industrie und Kunst, sowie auf die große Masse des Volks nur mittelbaren Einfluß üben. Die Auffassung der immerwährenden Weltausstellung in Paris ist jedoch, nach den uns vorliegenden Berichten, im höchsten Grade praktisch und nicht auf einzelne Classen, sondern auf die Gesammtheit berechnet; es wird durch sie die Hauptaufgabe unserer Epoche erreicht werden: größte Annäherung und innigste Verbindung der Consumtion und Production. Durch ihr fortwährendes Bestehen wird sie auf das eigentliche Feld des Nützlichen gedrängt und ist bestimmt, die mächtigsten Kräfte den nächsten, wie den entferntesten Bedürfnissen der Gesammtheit dienstbar zu machen, sie trifft sie unmittelbar, da sie den Augen des Käufers Erzeugnisse von der größtmöglichsten Vollendung, bester Verwendbarkeit und größter Wohlfeilheit bieten wird, eben weil sie der Concurrenz aller Völker ihre Pforten öffnet. Sie ist also eine Errungenschaft, welche auf die künstlerische, commercielle und industrielle Zukunft einen ebenso entscheidenden Einfluß üben wird, als sie für die Völker unentbehrlich ist. Der eigentliche Lebensnerv dieses Unternehmens ist aber die damit verbundene Handelsgesellschaft, von welcher wir nachher sprechen werden.

Ein Unternehmen von solchem Umfang, solcher Großartigkeit und Bedeutung konnte so rasch und sicher nur in der Hauptstadt eines centralisirten Staates wie Frankreich und überhaupt in einer Stadt wie Paris zur Ausführung gelangen, dort, wo man stets Neues will, es sucht, findet und schätzt, wo die großartigsten Schöpfungen wie durch Zauber entstehen und die Ausführung dem Gedanken mit Blitzesschnelligkeit folgt. Wer Paris kennt, wird auch leicht begreifen, wie sich sogleich nach der geistigen Anregung des Unternehmens eine Anzahl der bedeutendsten Capitalisten vereinigten, die Idee der immerwährenden Weltausstellung zu verwirklichen und auszubeuten, dies aber in bisher nie dagewesener Weise, ohne die finanzielle Unterstützung des Staates und ohne die Geldkräfte der Börse zu beanspruchen.

Wenden wir uns nun zu der Errichtung und den Zwecken der ausstellenden Gesellschaft, sowie zu den Mitteln, wodurch dieselben erreicht werden sollen.

Die Gesellschaft konnte sich natürlich weder auf die Kosten einer vorübergehenden Ausstellung einlassen, noch ihre Einnahmen, wie jene, aus den zufälligen, nicht mit Gewißheit zu berechnenden Erträgen der Eintrittsgelder schöpfen wollen, sie mußte auf sicherere Einnahmen rechnen können, und das ist ihr gelungen. Der Raum für die aufzustellenden Gegenstände und Erzeugnisse wird nämlich an die Aussteller, und zwar nicht auf ein Jahr, sondern auf 6 Jahre vermiethet; dadurch schaffen sich die Unternehmer ein bestimmtes bleibendes Einkommen und gründen so ein unbewegliches Eigenthum, welches sie bereits auch größtentheils vermiethet haben. Die zu vermiethende horizontale Oberfläche beträgt 75,000 Metres.

Für die ersten vermietheten 50,000 Metres belief sich der Preis pro Meter jährlich auf 30 Francs, stieg aber sogleich auf 50 Francs, wobei es bis jetzt geblieben ist. Jeder Aussteller, welcher einen Meter Raum miethet, hat sich auf 6 Jahre durch seine Unterschrift zu verpflichten, zahlt jedoch nur die Rate des ersten Jahres bei dem bestimmten Bankier ein. Bis jetzt sind 60,000 Metres vergeben, wovon auf Frankreich 15,000, auf die übrigen Länder 45,000 entfallen, es blieben also nur noch 45,000 Metres zu vermiethen, ein Beweis der allgemeinen Theilnahme und eine Mitbürgschaft des Gelingens. Weitere Einnahmen bestehen: 1) in Vermiethung der Mauerflächen, für Bilder, Zeichnungen und Anschläge der Aussteller; bis jetzt sind davon 10,000 Metres vermiethet, der Preis, anfangs 15 Frcs. per Meter, stieg schon auf 25 Frcs.; 2) in dem Eintrittsgeld, ein oder zwei Mal die Woche, von den Besuchern und 3) endlich in 15 Procent von den Einnahmen der bereits erwähnten Handelsgesellschaft für Ueberlassung der Conzession der Handelsabtheilung.

Bei Eröffnung der Ausstellung haben die Aussteller selbst eine Commission von 60 Mitgliedern zu wählen, deren Beruf es ist, die gemeinschaftlichen und besonderen Interessen zu wahren. Inzwischen ist dieses Geschäft einer provisorischen Commission von 20, aus den bedeutendsten Vertretern der französischen Industrie gewählten Männern anvertraut.

Die Gründer haben sich verpflichtet, unter gewissen Bedingungen die erforderliche Summe der ganzen Gesellschaft zur Verfügung zu stellen, sind daher auf Grund einer hypothekarischen Schuldverschreibung von 50 Procent auf das unbewegliche Eigentum von 7½ Millionen Frcs. (die Hälfte des Eigenthumwerthes) 15,000 Hypothekar-Obligationen à 500 Frcs. creirt, wovon die Zinsen von 5 Procent halbjährlich erhoben werden und die innerhalb 21 Jahren durch jährliche Ziehung im Betrag von 625 Frcs. zahlbar sind. Außer diesen 15,000 Obligationen à 500 Francs bestehen noch 1000 Antheilscheine, eigentliche Actien, deren Besitzer an den finanziellen Vortheilen und den Eigenthumsrechten alles Unbeweglichen der immerwährenden Weltausstellung Teilnehmer und nach und nach die wirklichen Eigenthümer werden. Diese 15,000 Obligationen und 1000 Antheilscheine gehören ursprünglich, nach voller Einzahlung, den Gründern der Gesellschaft; um jedoch die Aussteller und das Publicum die Vortheile des Unternehmens mit genießen zu lassen, wurde beschlossen, eine erste Serie von 5000 Obligationen und 250 Antheilscheinen auszugeben; da diese sogleich gezeichnet und begeben war, so folgte eine zweite Serie von derselben Höhe, die in der Ausgabe begriffen und für die commercielle Organisation der Ausstellung bestimmt ist; eine dritte Serie wird dann für die äußere Organisation des Handels verwendet werden. Die Antheilscheine lauten per Stück auf 7,500 Francs und sind zur Bequemlichkeit in 10 Theile à 50 Francs getheilt. Sie werden nach Wunsch entweder auf den Namen der Zeichner oder au porteur ausgestellt, tragen im eigentlichen Sinne des Wortes keine Zinsen, es wird jedoch nach jedesmaliger Rechnungsablegung an die Generalversammlung die Dividende für dieselben bestimmt. Nach einem Voranschlag, basirt auf die Mietherträge des Raumes, kann ein ganzer Antheilschein auf ein Einkommen von 810 Frcs. zählen, ein Prozentsatz von 10,30 jährlich, der bei fortschreitender Amortisirung des Capitals, die schon in diesem Jahre beginnt, anhaltend steigt. Wenn endlich alle Obligationen voll eingezahlt werden, sind die Besitzer der 1000 Antheilscheine die einzigen rechtmäßigen Eigenthümer alles „Beweglichen und Unbeweglichen“ der Weltausstellung. Der großen mit den Antheilscheinen verbundenen Vortheile wegen ist die Bedingung festgesetzt, daß jeder Zeichner von zwei Obligationen à 500 Frcs. das Recht auf Zeichnung von 1/10 Antheilschein, von zehn Obligationen 6/10 und von 25 Obligationen auf einen ganzen Antheilschein hat.

Die Einzahlung ist sehr erleichtert und kann für die 2. Serie entweder baar gegen sofortige Ausantwortung der betreffenden Scheine oder auf Zeit geschehen, das erste Viertel gegen ein provisorisches Certificat, die 3 anderen von Monat zu Monat, die Zinsen werden von dem Zeitpunkt der Einzahlung berechnet. Die Zeichnungen geschehen bei den Agenturen, Banquiers und Correspondenten der Gesellschaft, die Einzahlungen bei Ch. Vibaux, Banquier in Kolmar und Mühlhausen, Chef der Creditgesellschaft.

Die Weltausstellung hat auch ihr bleibendes officielles Organ, eines der verbreitsten und parteilosesten Pariser Journale „Le Temps“ (Chef-Redacteur A. Mefftzer); dasselbe ist bestimmt, Alle, die in irgend einer Beziehung oder Betheiligung zur Weltausstellung stehen, von allem Neuen, was diese betrifft, in laufender Kenntniß zu erhalten, den Rechenschaftsberichten, Anzeigen, Kundmachungen und Nachrichten über den Gang und den Aufschwung der Geschäfte die größtmöglichste Publicität zu geben.

Endlich aber steht, wie bereits erwähnt, mit der Ausstellungs-Gesellschaft diejenige der Handelsagenturen in Verbindung, deren Einfluß von großer Bedeutung sein dürfte. Die Gründer derselben sind von der Ansicht ausgegangen, daß die permanente Weltausstellung, obgleich ein großartiges Unternehmen, dennoch unvollständig sein würde, wenn nicht Mittel gefunden würden, neue Absatzwege zu eröffnen und den Producten einen ausgedehnteren Markt zu bieten, dabei aber Schnelligkeit und Sicherheit des Verkehrs zu vermitteln. Bis jetzt geschieht das bekanntlich durch Veröffentlichungen und Anerbietungen in den Blättern, durch Circulaire und Versendung von Preislisten, durch Handlungsreisende, Agenten, Commissionaire. Diese Mittel jedoch, abgesehen von den bedeutenden sich immer erneuernden Spesen, welche sie verursachen, beweisen sich in mancherlei Hinsicht als ungenügend und unsicher, da sie, selbst wenn sie von Erfolgen begleitet sind, die Producenten weder gegen Verluste durch Fahrlässigkeit und Betrug, noch gegen Processe und Fallissements schützen. Die Handelsagentur-Gesellschaft der Weltausstellung, einem einzigen leitenden Gedanken folgend, ist durch ein Centralbüreau, wo alle Angebote, Anfragen, Begehren sich vereinigen, mit ihren Filialen in allen Ländern verbunden; ihre Zwecke sind:

Das Schaffen einer fortwährenden unmittelbaren [204] Verbindung des Käufers und Verkäufers, des Producenten und der Kaufmannschaft.

Ferner, die Befestigung des persönlichen Credits durch Prämien oder Versicherungsgebühren, eine Garantie für die Producenten gegen Fallissements und Processe, der Schutz des Handels durch Bürgschaft für den Ursprung und durch Fabrikzeichen, durch stete genaue Ueberwachung gegen Uebergriffe, Fälschungen und Nachahmungen; –

Die Ausbreitung und das Allgemeinwerden der Docks, Niederlagen und Hauptmagazine, wo Waaren sogleich verwerthet werden können 1. durch den Auftrag, 2. durch Indossement, 3. durch Anweisungen und Empfangsscheine, welche die Waaren darstellen wie in England die warrants;

Verhinderung des Betrugs und der Fälschung von Lebensmittel-Waaren;

Der permanente Weltausstellungspalast in Paris.

Hülfeleistung für Erfinder und Importeure, durch Vermittlung des Verkaufes, der Abtretung oder Ausbeutung ihrer Patente und Privilegien.

Betrachten wir nun auch die Mittel, durch welche diese Gesellschaft, die sich jetzt mit einem Capital von 5 Millionen Frcs. unter der Firma: „Agence commerciale de l’Exposition universelle et permanente“ definitiv constituirt hat, jene Zwecke zu erreichen gedenkt; es sind dies:

1) Die Organisierung eines Centralbureaus in Paris;

2) Die fortschreitende Errichtung von Filialen, d. h. Generalagenturen, Factoreien, denen wieder Comité’s und Directoren zur Seite stehen, sowohl in Frankreich, wie in allen Städten des Auslandes und der entferntesten Welttheile, also ein Netz über die ganze bekannte Erde bildend.

Durch das Aufgebot ihrer Zweiganstalten ist sie im Stande, mit großer Beschleunigung an allen Plätzen und zu gleicher Zeit als directer Vermittler der großartigsten Handels- und Gewerbs-Unternehmungen aufzutreten.

Wie erwähnt, ist die Gesellschaft mit einem vorläufigen Vermögen von 5 Millionen Francs begründet, welches von den Gründern der Weltausstellung bereits gezeichnet und völlig gedeckt ist; ein Viertel ist eingezahlt, die übrigen drei Viertel werden nach Bedürfniß eingefordert; 60 Mitglieder und 40 Ersatzmänner bilden ein beratendes Comité, welches im Verein mit dem Syndicat der antheilhabenden Gesellschaften die Geschäftsführung überwacht. Diese beiden Körperschaften werden durch die Ausstellungsjury und die mit der Interessenvertretung betrauten Specialcommissionen, die wieder von den Ausstellern gleichnamiger Erzeugnisse zu ernennen sind, gewählt.

Von dem jährlichen Reingewinn will die Gesellschaft 15 % an die Stammgesellschaft zahlen; 10 % sollen an die Directoren der Bezirke, an die Agenturen, Correspondenten und die verschiedenen Beamten der Gesellschaft vertheilt werden, welche beauftragt sind, die abwesenden Producenten zu vertreten; dies würde eine Gratification außer ihrem Gehalt bilden.

Aller Reflexionen über das Vorstehende uns enthaltend, können wir doch, wenn wir Alles zusammenfassen, ohne Widerlegung befürchten zu dürfen, behaupten, daß dieses Unternehmen an Großartigkeit und kühner Anlage alles bis jetzt dagewesene übertrifft, und daß das vollständige Gelingen desselben in der commerciellen und industriellen Verkehrswelt eine gänzliche, obgleich in ihren Folgen wohlthätige Umwälzung der jetzigen Verhältnisse hervorzubringen fähig sein dürfte.




Eine Nacht in Missouri.
Erinnerung eines americanischen Freiwilligen.
(Schluss.)

Ich hatte keinen Grund mehr, etwas zu verschweigen, was bereits im Secessionslager bekannt war; es gewährte mir aber jetzt fast eine Art Wollust, mich dieser kräftigen Mädchenseele, die im Drange der Umstände nicht einmal die eigenthümliche Lage, in welcher sie sich einem jungen Manne gegenüber befand, zu beachten schien, auf Gnade oder Ungnade zu ergeben. „Ich bin Officier [205] unter General Lyons, Miß,“ erwiderte ich ohne Zögern, „ich weiß, daß ein Angehöriger dieses Hauses sich zu der Macht des General Price geschlagen hat; aber wenn deutsches Blut in Ihnen fließt, wie ich es vermuthe, so weiß ich, daß Sie, Miß, einen todtmatten, deutschen Flüchtling nicht seinen Feinden und einem ehrlosen Tode preisgeben werden!“

Ich hatte die letzten Worte in fliegender Hast gesprochen, denn ich hörte in dem Obstgarten, aus welchem ich mich heraufgeflüchtet, eilige Männertritte die dürren Zweige am Boden zertreten. Ich hatte kaum geendet, als auch schon außen eine Stimme laut wurde, und ich erkannte nur zu gut das eigenthümliche Organ von Stevens: „Entweder hat ihn die Erde verschlungen, oder er hat sich dort oben in das Fenster hineingemacht – hier ist nirgends ein Loch, das ihn verbergen könnte.“ „Werden bald wissen, woran wir sind,“ klang eine andere Stimme; „zwei Mann hierher zur Beobachtung des Fensters und des hintern Theils des Hauses, zwei Mann zur Besetzung der Thür, und wir hier werden den Fuchs aus dem Baue holen, wenn er überhaupt darin steckt.“

Zwei Secunden darauf ertönten kräftige Schläge gegen die Hausthür, und das Mädchen hob mit einer raschen Bewegung den Arm. „Dort hinein, Sir!“ rief sie, auf eine schmale Seitenthür zeigend; „legen Sie sich für alle Fälle auf den Boden, decken Sie über sich, was Sie finden mögen, und rühren Sie sich nicht, bis ich Sie selbst aus dem Versteck hole!“

Ich ließ mir den Wink nicht zum zweiten Male geben; sicher, daß sie den besten Willen hatte, meine Rettung zu vollbringen, öffnete ich im Fluge die Thür zu einem kleinen Raume, welcher nur durch eine handgroße Scheibe im Dache einen schwachen Schein des Mondes empfing und den Garderobe-Raum für die Zimmerbewohnerin vorzustellen schien; ich stieß auf eine große Kiste, hinter welcher die schiefe Neigung des Daches einen leeren Raum bildete; dort hinter kroch ich und durfte mich hier jedenfalls so lange für sicher halten, als nicht die genaueste Untersuchung meines Verstecks angestellt wurde; kaum aber lag ich auf dem Boden, als ich auch schon in den untern Räumen meine Verfolger in lebhaftem Gespräche mit einem Manne, der ihnen jedenfalls das Haus geöffnet hatte, hörte, und bald darauf wurden die schweren Tritte mehrerer Personen auf der heraufführenden Treppe laut. Vor der Thür, welche zu dem Zimmer meiner Beschützerin führte, hielten sie an, und es ward plötzlich still. Dann klang ein rücksichtsvolles Klopfen und: „Maggy, Maggy!“ tönte es.

„Was ist es, Vater, was bedeutet der Lärm im Hause?“ gab das Mädchen mit vollkommen ruhiger Stimme zurück.

„Maggy, Du mußt für einige Minuten öffnen; es soll sich ein deutscher Spion in dein Zimmer geflüchtet haben, und die Gentlemen, die ihn verfolgt, bestehen auf einer Untersuchung!“

„Vater, ich bin im Bette, aber seit einer halben Stunde wach und weiß, daß in meinem Zimmer sich nichts außer mir befindet; sag’ ihnen das, und sie werden ihre Untersuchung nicht auf das Schlafzimmer einer jungen Lady ausdehnen wollen!“

Ein lebhaftes Gemurmel drang zu meinen Ohren, dann klang des Vaters Stimme mit größerer Bestimmtheit wieder. „Es hilft nichts, Maggy, wir leben in Kriegszeiten. Wirf rasch etwas über und sei überzeugt, daß mit voller Schonung verfahren werden wird!“

„Eine Minute Geduld denn, wenn es durchaus sein muß!“ rief Maggy und ich hörte den Fuß des Mädchens leicht den Boden berühren. Bald darauf schnappte der Riegel im Schlosse zurück, zugleich aber rief sie: „Nur noch zwei Secunden, dann mögen Sie eintreten!“

Sie war flüchtig nach meinem Versteck geeilt, die Thür desselben weit offen lassend, und rief leise: „Wo sind Sie?“

„Hier!“ gab ich ebenso zurück, und im nächsten Augenblicke hatte sie Platz auf der Kiste genommen, mit ihrer Umhüllung den Zwischenraum nach dem Dache, in welchem ich lag, verdeckend; gleichzeitig wurde aber auch das Oeffnen der Zimmerthür, sowie der Eintritt meiner Verfolger laut, und ich konnte einen hereinfallenden hellen Lichtschein wahrnehmen.

„Maggy?“ rief der Vater, der sich wahrscheinlich vergebens nach ihr umgeblickt.

„Ich bin hier, Vater, kann mich aber so nicht zeigen und rechne bestimmt auf die Schonung, die mir zugesagt worden; mir erscheint dieses ganze Eindringen überhaupt als ein Verfahren, das sich von Gentlemen kaum rechtfertigen läßt!“

Es erfolgte keine Antwort darauf, und nur ein beginnendes unbestimmtes Geräusch, hier und da von einzelnen halblauten Ausrufen [206] und Flüchen unterbrochen, konnte ich wahrnehmen. – Meine körperliche Lage war schon jetzt so entsetzlich unbequem geworden, daß ich es oft wie einen Krampf durch einzelne meiner Glieder gehen fühlte, und doch wollte mir der enge Raum kaum eine Veränderung meiner Lage erlauben. Ich gedachte so eben, während die Aufmerksamkeit der Nachsuchenden sich dem Zimmer zugewandt, eine leichte Wendung zu versuchen, als die rauhe Stimme von Stevens ganz dicht an dem Eingang zur Garderobe erklang und mir fast den Athem raubte: „Hier ist noch ein Raum, und die Lady wird sich wohl der Untersuchung fügen müssen – der Bursche war hübsch genug, um allerhand Gedanken aufkommen zu lassen!“

„Halt, Sir!“ rief Maggy in eigenthümlich verändertem Tone, und zugleich hörte ich den Hahn eines Revolvers knacken. „Ich habe Gentlemen den Eintritt in mein Schlafzimmer gewährt, und wer mir hier zu nahe kommt, wo kaum Raum genug für mich ist, den schieße ich wie jeden frechen Eindringling nieder – kann mein Vater nicht die Ehre seiner Tochter vor Beleidigungen schützen, so werde ich es selbst vermögen.“

„Maggy, es wird Dir Niemand etwas zu Leide thun,“ klang die Antwort des Alten, „es ist aber Krieg, und ich will mir nicht nachsagen lassen, daß ich der Durchsuchung meines Hauses eine Schwierigkeit in den Weg gelegt hätte!“

„Gut, Vater, so frage Dich selbst, ob es eine Möglichkeit ist, daß hier Jemand noch neben mir versteckt wäre – ich habe gesagt, daß ich mich so nicht vor Männern sehen lassen kann, und Amerikaner, welche die einfachsten Rücksichten gegen ihre eigenen Ladies bei Seite setzen, verdienen keine andere Behandlung als der gewöhnliche Loafer!“

„Lassen wir es genug sein – unser Verdacht ist am Ende zu oberflächlich, um das tapfere Mädchen noch länger zu peinigen!“ hörte ich jetzt dieselbe Stimme, welche früher die Befehle zur Besetzung des Hauses gegeben hatte. „Sie glauben auf Ihre Ehre, Sir, daß die Vermuthung dieses Mannes auf einem Irrthum beruht?“

„Ich bin vom Anfange davon überzeugt gewesen, da ich meine Tochter kenne, Sir,“ erwiderte der Alte, „indessen mochte ich bei den jetzigen Zeiten Ihnen nicht das geringste Hinderniß in den Weg legen!“

„Und haben Sie keine Ahnung irgend eines Verstecks in der Nähe, wohin sich der Mensch geflüchtet haben könnte?“

„Ich sehe nicht ein, Sir, warum er sich nicht unter irgend eine Feldeinzäunung gedrückt, oder in dem hohen Unkraute nach dem Walde hinüber liegen sollte. Wenn er hier seine Richtung geändert hat, so ist doch eher alles Andere zu vermuthen, als daß er in ein Haus einsteigt, in dem er keinen Menschen kennt!“

Eine kurze Pause erfolgte, in welcher ich mein eigenes Herz schlagen hörte. „Es scheint allerdings, daß wir uns hier unnöthig aufgehalten haben,“ ließ sich dann die erste Stimme wieder vernehmen; „Verzeihung, Miß, aber die Verhältnisse drängen zu manchem sonst ungewohnten Schritte!“ Ein kurzes halblautes Gespräch von mehreren Theilnehmern trat jetzt ein; dann wurde das Oeffnen der Thür und gleich darauf der Schritt der sich entfernenden Männer auf der Treppe laut. „Geh’ wieder zu Bett, Maggy, Du bleibst hoffentlich jetzt unbelästigt!“ klang noch die Stimme des Alten, dann fiel die Thür in’s Schloß.

Ich athmete tief und erleichtert auf, wartete aber vergebens auf eine Bewegung meiner Beschützerin. Erst als von außen Pferdegetrappel laut wurde und bald darauf eiliger Hufschlag die Entfernung der Dränger verkündete, erhob sie sich schwer und langsam, that einen Schritt nach dem Ausgange und faßte dort plötzlich mit beiden Händen nach dem Thürpfosten. Hätte mich auch nicht der peinliche Schmerz in allen meinen Gliedern gedrängt, mein Versteck zu verlassen, so würde mich doch jetzt eine erwachende Sorge um den Zustand des Mädchens, verbunden mit einem Gefühle glühender Dankbarkeit für sie, dazu gebracht haben. Ich war rasch und mit möglichster Geräuschlosigkeit auf meinen Füßen – der schon tiefstehende Mond blickte voll durch das Fenster und beleuchtete ein bleiches, weich modellirtes Gesicht mit halb geschlossenen Augen, das unter dem vollen dunkeln Haare kaum von dem weißen Nachtgewande abstach, welches nur nachlässig ihre schlanke Gestalt umhüllte. Sie schien augenblicklich gegen das Schwinden ihrer Besinnung zu kämpfen; als ich aber, dem warmen Gefühle in mir folgend, halblaut rief: „Miß, um Gotteswillen, kann ich nichts für Sie thun?“ schienen ihr meine Worte plötzlich einen Theil ihrer Kraft wieder zu geben. „Nichts, Sir, nichts,“ erwiderte sie, sich wie unter einem leisen Schauder aufrichtend; „treten Sie zurück und schließen Sie die Thür!“ Sie that zugleich einige wieder völlig sichere Schritte in das Zimmer hinaus, und ich hörte, wie sie die Eingangsthür desselben verschloß; ich aber hatte, ihr Gefühl, das ich völlig verstand, ehrend, bereits die kleine Thür nach meinem Aufenthaltsorte zugezogen und mich auf der Kiste niedergelassen, erwartend, daß sie mich bei völlig eingetretener Sicherheit selbst aus meinem Versteck erlösen werde.

Aber ich saß lange Zeit in dieser Erwartung, ohne daß nur ein Laut aus dem Nebenzimmer zu meinen Ohren gedrungen wäre; ungerufen stiegen langsam die einzelnen Bilder dieser Nacht vor meiner Seele auf, und ich begann allgemach eine tiefe Ermattung über mich kommen zu fühlen. Das bleiche, schöne Gesicht des Mädchens, das in seinen weichen, anmuthigen Zügen der von ihr entfalteten Energie durchaus nicht zu entsprechen schien, stand endlich noch allein, aber wie in halbem Traume vor mir. Die Ruhe, die ich genoß, that mir so wohl, daß ich mich zurücklehnte und kaum an den gefährlichen Aufenthalt in einem Hause, dessen männliche Bewohner der Secessionspartei anhingen, dachte; die warme Nachtluft, welche durch einzelne Luken des Daches drang, umhüllte mich wie mit einer weichen Decke ich war zuletzt eingeschlafen, ohne daß ich nur eine Ahnung davon gehabt.

Erst als ich ein leises Rütteln empfand, fuhr ich aus allerhand unbestimmten Träumen wieder in die Höhe. Es war völlig dunkel um mich her; aber die halblaute, melodische Stimme, welche jetzt in mein Ohr klang, gab mir schnell meine völlige klare Besinnung. „Der Mond ist hinunter, Sir, aber in einer Stunde wird auch der Morgen da sein,“ hörte ich; „machen Sie sich jetzt rasch zum Gehen fertig!“

„Ich bin bereit, Miß!“ sagte ich, mich geräuschlos erhebend. „So geben Sie mir Ihre Hand und folgen Sie mir leise. Nehmen Sie behutsam Ihren Weg wieder durch das Fenster, gleiten Sie an einem Pfeiler der Gallerie hinab und gehen Sie dann, in gerader Richtung mit dem Hause, durch den Obstgarten bis zur Einzäunung – dort erwarten Sie mich! – Kein Wort, Sir!“ setzte sie hinzu, als ich mit ein paar kurzen Worten meinem Herzen Luft machen wollte.

Ich fühlte ihre weiche, schmale Hand, an welcher nichts die Tochter des Farmers verrieth, in der meinen, aber ich mochte nicht einmal den Händedruck des Dankes wagen, ich sah mich an das offene Fenster geleitet, durch welches sich der untergehende Mond nur noch durch einen helleren Rand des Horizontes bemerkbar machte, hörte ihr „Vorsichtig jetzt!“ als sie mir die Hand entzog, und bewerkstelligte mit beinahe völliger Geräuschlosigkeit meinen Rückzug. Unten entpfing mich ein so völliges Dunkel, daß ich erst eine kurze Zeit brauchte, ehe ich über die mir angewiesene Richtung sicher ward; kaum wenige Secunden hatte ich indessen das hintere Gartenstacket erreicht, als auch bereits das leise Rauschen von Kleidern mir Maggy’s Ankunft verkündete. „Folgen Sie jetzt dicht hinter mir,“ sagte sie, als sie neben mir stand, „Sie dürfen nicht auf der geraden Straße nach dem deutschen Lager zurück, denn ich müßte mich sehr irren, wenn Ihnen dort nicht aufgelauert würde. Vor Allem aber sprechen Sie kein Wort!“ Sie hatte behutsam eine Thür des Stacketes geöffnet und schritt nun in leichten, raschen Schritten voran. Es ging gerade über die Furchen des kahlen Feldes. Zwei oder drei Einzäunungen, welche auf unserm Wege lagen, überkletterte sie mit der Leichtigkeit der Gewohnheit, daß ich oft nur mit Hülfe des erblassenden Sternenlichts ihre Gestalt wieder zu finden vermochte. Dann merkte ich, daß wir einen Fußweg betreten hatten, welcher über die freie Ebene zwischen hohen Unkrautbüschen hinlief, und zuletzt ward der sich dunkel vor uns abzeichnende Waldessaum erreicht, den wir jetzt theils verfolgten, oder dessen oft hervortretende Gebüschpartien wir abschnitten. In immer gleicher Schnelle und Sicherheit schritt mir das Mädchen voran; gern hätte ich zu ihr ein kurzes Wort gesprochen, aber ich glaubte ihr jetzt eben nur durch die genaueste Befolgung ihrer Anordnung danken zu können und schwieg. Dagegen aber strebte ich um so mehr die Umrisse ihrer leichten Gestalt, wie sie das matte Sternenlicht abzeichnete, zu erkennen und mir ein ganzes Bild von ihr zu entwerfen. Nach etwas über einer halben Stunde, meiner Zeitrechnung nach, begann der Tag zu grauen; aber jetzt führte unser Pfad gerade in den Wald hinein. „Halten Sie sich dicht hinter mir, damit Sie mich nicht verlieren,“ ließ sie sich jetzt zum ersten [207] Male hören, „wir werden bald einen Punkt erreichen, wo Sie nicht mehr fehlen können!“

„Damit Sie mich nicht verlieren!“ klang es in mir nach. Ja, wenn doch das möglich gewesen wäre! Ich hatte ein Gefühl in meinem Herzen, als sei mir in meiner Noth irgend eine wunderschöne Fee erschienen, die, nachdem sie mich gerettet, wieder spurlos verschwunden und mich mit lebenslanger Sehnsucht nach ihr allein lassen werde. Aber der mit Wurzeln durchzogene Weg brachte mich bald zur Wirklichkeit zurück; ich bedurfte aller Vorsicht, um, ohne schmerzendes Straucheln, meiner Führerin, die kaum auf meine Unkenntniß des Wegs Rücksicht zu nehmen schien, zu folgen, und erst als die rothen Lichter des Morgens bereits durch das Laub der Bäume zu dringen begannen, traten wir auf eine breite Landstraße heraus. Da blieb sie, immer noch das Gesicht von mir abgewandt, stehen, als überlege sie die weitere Richtung oder wollte ihre Kräfte von dem raschen Gange sammeln. Als sie sich endlich nach mir wandte, stand sie in der vollen rosigen Morgenbeleuchtung, im grauen, leicht aufgeschürzten, aber die feinen Formen des Oberkörpers knapp abzeichnenden Sommerkleide, den flachen, breitrandigen Strohhut an feinen Bändern hängend in den Nacken zurückgeworfen, und mit einem halb unsichern Blicke der großen, dunkelbeschatteten Augen meine eigene Erscheinung musternd. So mädchenhaft, so anmuthig schön in ihrer Einfachheit hatte ich sie mir nach den Ereignissen der Nacht nie denken können.

„Dies ist Ihre Straße, Sir,“ sagte sie, den Kopf leicht ab-wendend, als wolle sie meinen Blicken ausweichen, „in kaum länger als einer halben Stunde können Sie wieder bei Ihren Cameraden sein!“

„Und nun, Miß, sagen Sie mir um Gotteswillen,“ rief ich im Drange meines erregten Gefühls, „womit ich Ihnen jemals danken kann, was Sie in dieser Nacht an einem Ihnen völlig Unbekannten gethan haben!“

Sie wandte langsam den Kopf; ihr Gesicht war wieder so ernst und bleich, als ich es im Scheine des Mondes gesehen. „Sie haben mir nichts zu danken, Sir!“ erwiderte sie ruhig; „ich hasse diesen Aufstand gegen die gesetzliche Ordnung, der nur den Schmutz der amerikanischen Bevölkerung in unsere friedliche Gegend gebracht hat, und liebe die deutschen und ihre Treue für die Union, wie ich meine eigenen deutschen Großeltern geliebt habe. Was ich an Ihnen vielleicht gethan, habe ich nur meiner eigenen Befriedigung halber unternommen – also lassen Sie uns ohne weitere Redensarten von einander scheiden, Sir!“

„Und Sie geben mir keine Hoffnung, Miß Werner,“ sagte ich nach einer kurzen Pause, in welcher ihr Blick ruhig in meinem erregten Auge geruht, „daß es mir jemals vergönnt werden wird, Sie wieder zu sehen?“

Wie der Schein eines traurigen Lächelns glitt es über ihr Gesicht. „Wissen Sie denn, Sir, wer morgen noch von uns Beiden leben wird?“ gab sie zurück. „Diesen Menschen dort,“ fuhr sie erregter fort, nach der Richtung des Rebellen-Lagers deutend, „gilt weder Alter noch Geschlecht, wenn sie meinen, irgendwo einen Feind ihres wahnsinnigen Unternehmens entdeckt zu haben – und Sie gehen vielleicht heute schon in die Schlacht. Meinen Sie denn, ich hätte unter andern Umständen so jede Rücksicht bei Seite werfen können, wie ich es gethan?“ Ein jähes Roth trat bei den letzten Worten in ihre Wangen, sie wunderbar verschönernd; ich aber faßte, von der Eigenthümlichkeit dieses Charakters hingerissen, nach ihrer Hand, die sie mir nach einem leisen Zucken derselben überließ.

„Gut, Miß Maggy!“ rief ich, „aber wenn es jemals die Verhältnisse gestatteten, daß wir uns wiedersehen könnten, darf ich dann vor Sie treten und Sie an die heutige Nacht und die Dankbarkeit eines Herzens erinnern, das noch niemals so gefühlt hat, wie seit wenigen Stunden?“

Sie entzog mir rasch ihre Hand und drehte sich weg, daß ich nur noch den Schein des hohen Roths, welches augenscheinlich ihr Gesicht übergossen hatte, wahrnehmen konnte. „Gehen Sie, Sir, gehen Sie – beschütze Sie Gott!“ versetzte sie rasch, während sie eine Bewegung machte, sich wieder dem Walde zuzuwenden.

„Und ich darf Ihnen nicht einmal meinen Namen sagen?“ fragte ich unter einer Empfindung, die wunderlich zwischen der Trauer des Scheidens und einem plötzlich in mir aufsteigenden Glücke getheilt war.

Sie hielt in ihrer Bewegung inne wandte sich dann langsam zurück, und ein voller, strahlender Blick, dem dennoch ein eigenthümlicher Ausdruck von Trübsal beigemischt war, traf mich. „Ich weiß ihn bereits, Sir,“ sagte sie mit einem Lächeln, das wie ein halbunterdrückter Sonnenstrahl aus trüben Wolken erschien. „Ihre Feinde nannten ihn meinem Vater bei ihrem Eintritte in’s Haus! Beschütze Sie Gott, Mr. Reuter!“ setzte sie hinzu und reichte mir ihre Hand. Kaum hatte ich diese aber mit dem Ansatze zu einem festem Drucke gefaßt, als ich mir ihre Finger auch wieder entschlüpfen fühlte und das Mädchen mit einigen raschen Schritten, ohne daß sie nur noch einmal den Kopf gewandt, das Gebüsch erreichen und darin verschwinden sah. –

Kaum länger als eine halbe Stunde darauf war ich im Lager und stattete dem General meinen Bericht ab – vier Stunden darauf aber standen wir dem Feinde gegenüber, der – dank unserer gesegneten Artillerie – uns bald den Rücken zeigte und uns freie Bahn zum weiteren Vorrücken ließ.


In der kurz darauf folgenden Schlacht bei Springfield war ich verwundet und mit anderen Unglücksgefährten zuerst nach Jefferson-City, dann nach St. Louis transportirt worden. Ich hatte einen Schuß in die linke Schulter erhalten, welcher für lange Zeit meinen Arm lähmen und mich dienstunfähig machen mußte; indessen hatte ich durch dringende Empfehlungen, die ich zum großen Theile meinem gefahrvollen Kundschaftergange verdankte, nach meiner nothdürftigsten Heilung eine Stellung im Postdienste erhalten, welche mir wenigstens für die nächsten Jahre eine völlig sorgenfreie Existenz gewährte. Da bringen mich außergewöhnliche Geschäfte eines Tages nach dem Eisenbahn-Depot, eben als wieder, wie so oft in den letzten Wochen, ein langer Wagenzug voll Bewohner des innern Staats, welche vor dem Morden und Brennen der verwilderten Secessionisten die Flucht ergriffen hatten, angelangt ist, und plötzlich sehe ich in ein Gesicht, das noch keinen Tag aus meiner Erinnerung gewichen war, sehe in zwei dunkele aufglänzende Augen, in denen mir plötzlich ein ganzer Himmel entgegenwinkt, und habe in der nächsten Secunde – wie es geschehen, weiß ich heute noch nicht – Maggy’s beide Hände in den meinigen. „Ja, es hat doch wohl sein sollen, daß wir uns wiedersahen!“ erwiderte sie auf die unwillkürlichen Ausrufe meiner Ueberraschung und wendete sich dann an einen alten Farmer, der mit sichtlicher Befremdung auf die unerwartete Scene blickte. „Das ist er, Vater, Mr. Reuter, du weißt ja!“

Ich will kurz sein in meinem Schlusse. Als wir die Rebellen aus der Gegend von Werner’s Farm vertrieben, ohne daß es mir möglich gewesen wäre, das mir so denkwürdige Haus wiederzusehen, hatte der Alte seine bis dahin unterdrückte Sympathie für die deutschen Unionsstreiter offen gezeigt, während sein Sohn, sein Geburtsrecht als Amerikaner höher schätzend als seine deutsche Abstammung, mit den Secessionisten geflüchtet war – und Maggy hatte nicht angestanden, ihren Antheil an meiner Flucht zu bekennen. Beide aber hatten ihre Offenheit bald genug schlimm zu bereuen gehabt. Die deutsche Hauptmacht hatte sich nach andern bedrohten Theilen des Staats wenden müssen, und schnell darauf waren auch starke Streifcorps völlig verwilderter Menschen von Seiten der Rebellenmacht erschienen, Alles plündernd und niederbrennend, was als Eigenthum der unionstreuen Bevölkerung galt, schändend und mordend, was von dieser ihr in die Hände fiel, und der alte Werner, welcher noch zeitig genug gewarnt worden, hatte das Schlimmste für sich nicht abgewartet, sondern sein Geld und was sonst noch zu retten war, gerettet und sich dann mit seiner Tochter nach St. Louis geflüchtet. Es war die höchste Zeit dazu gewesen, denn von Nachkommenden hatte er schon unterwegs vernommen, daß bei der Ersteren Abreise von seinem Hause nichts als die rauchenden Ruinen übrig gewesen seien.

Es vergingen drei Monate, in welchen ich mit der Familie, die sich vorläufig in ein Boardinghaus einquartiert, in stetem engen Verkehr blieb, in welchen aber auch mein Verhältnis zu Maggy völlig reifte, ohne daß es mir indessen gelungen wäre, eine gewisse Rückhaltung des Alten gegen mich, die sich besonders in einem steten bestimmten Ausweichen zeigte, sobald er vermuthen mochte, daß ich mich offen über meine Gefühle für seine Tochter auszusprechen beabsichtige, zu besiegen – da hatte Werner unter den oft eingebrachten Gefangenen von der Rebellenmacht eines Tages einen jungen Mann aus seiner Gegend erkannt und von diesem erfahren, daß sein Sohn bereits vor einem Monate in einem der kleinen, [208] aber stets mörderischen Gefechte geblieben sei, und als ich an diesem Abend in seine Wohnung kam, sah ich sofort, daß etwas Besonderes mit ihm und Maggy vorgegangen sein müsse. Das Mädchen, welches ihre rothgeweinten Augen vergebens verbergen zu wollen schien, raunte mir zu, über nichts zu fragen und mich heute nicht lange aufzuhalten; als ich aber am nächsten Tage unruhig wiederkehrte, theilte mir der Alte in voller Fassung selbst das Geschehene mit und fügte hinzu: „Er hat unrecht an seinen Eltern und Großeltern gehandelt – aber dennoch hätte das, was da zwischen Ihnen und Maggy besteht, nimmermehr gut gethan, wenn er einmal wieder heimgekommen wäre – er hatte einmal die Farm zu übernehmen, und ich konnte deshalb nicht Ja zu dem sagen, was ich längst über Ihr Verhältniß zu meiner Tochter wußte. Wollen Sie jetzt, wenn wir erst einmal den schweren Verlust in unserm Herzen überwunden haben, mein Sohn werden und, sobald die Zeiten ruhiger sind, mit uns hinaus auf’s Land ziehen, so habe ich nichts dawider – mein letztes Kind aber kann ich nicht ganz von mir geben und will auch da sterben, wo ich fast jeden Baum selbst gepflanzt und wo ich bis jetzt meine eigentliche Heimath gefunden habe.“ – –

Maggy ist zwar heute mein süßes Weib, in welcher ich jeden Tag neue Schätze entdecke; der Zeit aber, welche der Alte herbeisehnt und welche mich zum wohlhäbigen Farmer machen soll, sehen wir noch immer entgegen – noch ist das unglückliche Missouri ein vom Bürgerkriege zerrissener Staat, und wenn wir Gott für etwas danken, so ist es vor Allem dafür, daß er uns in einem geschützten Asyl zusammengeführt und uns ein erträglicheres Loos bereitet hat, als den vielen Tausenden, deren Wohlstand und Familienglück in diesem unglücklichen Kampfe für immer zu Grunde gerichtet worden ist.


Blätter und Blüthen

Gustav Struve, der bekannte badische Flüchtling, wird wahrscheinlich noch im Laufe dieses Jahres nach Deutschland zurückkehren. „Meine Sehnsucht nach Deutschland“, schreibt er, „welche meine nun im Grabe ruhende Gattin stets theilte, ist seit deren Tode noch weit stärker geworden. Wenn das Glück mich einigermaßen begünstigt, werde ich Deutschland wiedersehen, bevor das Jahr zu Ende geht. Nach allen Berichten muß der Aufschwung der deutschen Nation ein großartiger sein. Mögen wir die Freiheit ohne blutigen Bürgerkrieg erringen! Ueber alle Beschreibung schrecklich sind die Resultate des amerikanischen Bruderkampfes.

Ich habe viel gelitten in der Verbannung, insbesondere durch den Tod meiner Amalie. Allein da ich 19 Monate Kriegsleben in Amerika aushalten konnte, muß ich doch noch immer rüstig sein. Von den 1045 ursprünglichen Leuten meines Regiments waren, als ich abging, nur 150 noch vorhanden. Ich blieb verschont, während neun Zehntheil des Regiments theils starben, teils dienstunfähig wurden. – Tausend Dank für Ihre freundlichen Zeilen! Sie ahnen nicht, wie herzlich wohl ein so lieber Gruß aus dem Vaterlande den Flüchtling berührt!“



Ein guter Gedanke. Man macht uns Deutschen häufig den Vorwurf, wir hätten zu wenig Nationalstolz, und in der That ist dies begründet, wie man leicht bemerkt, wenn man das Benehmen der Engländer und Franzosen mit dem unsrigen vergleicht. Aber wie gerade die bedeutendsten Vorzüge, die der einzelne Mensch besitzt, der Art sind, daß sie ihm zum größeren Theile vom Geschicke ohne eigenes Dazuthun verliehen wurden, während er selbst nur zum kleineren Theile bei der weiteren Ausbildung thätig mitwirkte, so ist es auch mit dem Nationalgefühle ganzer Nationen; die Engländer und Franzosen haben diese schöne Eigenschaft auch sich nicht allein zu verdanken, – im Gegentheil, die Verhältnisse waren es, durch die sie bei ihnen geschaffen und lebendig erhalten wurde. Unstreitig sind nämlich Familie, Schule und Kirche die drei wichtigsten Factoren zur Erweckung einer Idee im Volke; bei der einen Nation und je nach ihrem Bildungsgrade wirkt der eine dieser Factoren mehr, der andere weniger stark ein. Dadurch nun, daß sich in England und Frankreich schon vor mehreren Jahrhunderten nationale Kirchen bildeten, nämlich die anglicanische und gallicanische, hatte dort die religiöse Einwirkung einen nationalen Charakter angenommen, was um so mehr zu beachten ist, weil in jenen Zeitperioden die Kirche selbst der dominirende unter den genannten drei Factoren war. Wie standen die Dinge aber bei uns? Wer der Reformation huldigte, stand den Katholiken schroff gegenüber, und umgekehrt; zu nationalen Zwecken wurde die Kirche fast nie benutzt, wohl aber vielfach, um Haß gegen die Mitbrüder desselben herrlichen Vaterlandes hervorzurufen, und doch konnte uns nur aus der Versöhnlichkeit Heil erblühen, da unsere Lage in der Mitte von Europa und die überall offenen Grenzen sämmtlichen Nachbarn den Eintritt leicht machten. Es muß daher einen jeden Deutschen freuen, wenn er hört, daß endlich einmal die Kirche zur Weckung des patriotischen Gefühles mit beitrage, wie das bei einer Stiftung der Fall ist, welche der Koblenzer Kaufmann, Herr Jacob Brien, gemacht hat, um in Caub alljährlich des Ueberganges Blücher’s über den Rhein zu gedenken. Möge der glückliche Gedanke des Herrn Brien recht Viele zu ähnlichem Vorgehen bewegen. Orte, welche sich zur Feier eignen, giebt es ja genug in Deutschland und besonders im Rheinlande – hat doch eine mehr als tausendjährige gemeinschaftliche Geschichte dafür gesorgt, daß manche Ortsnamen einem jeden Deutschen wohlklingend geworden sind!




Bemerkung zu dem Artikel „Beleuchtung“ in Nr. 11. Die Verbrauchsangabe in Betreff des Erdöls von ¾ Heller für eine Stunde bezieht sich auf New-York. In unsern Gegenden aber stellt sich die Stunde auf ½ Kreuzer oder 12/3 Pfennig. Eine Erdöllampe mit plattem Docht und von mittlerer Größe verbraucht einen Schoppen = ½ Litre in 25 Stunden; der Schoppen kostet im Durchschnitt 12 Kreuzer oder etwa 8 Sgr. 3 Pf., woraus sich obige Verbrauchsangabe leicht ergiebt.

G. K.




Für Theodor Körner’s Pflegerin wurden mir im Laufe dieser Woche eingesandt: 1 Thlr. 10 Ngr. einige Gymnasiasten in G-a – 15 Ngr. Ein Veteran aus den Freiheitskriegen, der auch verwundet war und von Frauenhand gepflegt wurde – 1 Thlr. Alfred – Eine große Cervelatwurst, als kleines Zeichen der Anerkennung von J. W. Moll und Comp. in Kassel – 1 Thlr. Ein Freund des Dichters von Leyer und Schwert – 1 Thlr. 5 Ngr. von zwei deutschen Mädchen mit dem Motto: „Gott segne die wackre Matrone“ – 1. Thlr. von C. F. in Cöthen – 1 Thlr. von Frau Louise Volger in Frankfurt a. M.

Im Namen der „wackern Matrone“ meinen herzlichsten Dank.

Ernst Keil.

  1. Wenige Monate nach dieser Unterredung erfolgte die Schlacht bei Jena.
  2. Siehe Seume’s sämmtliche Werke, Gesammtausgabe in 8 Bänden, Seite 7 und 15.
  3. Seume war eine Zeitlang Officier bei den russischen Grenadieren.