Die Gartenlaube (1864)/Heft 13

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 13.   1864.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.




Hofdame und Senner.
Von Adolph Pichler.


Noch hatte sich im bekannten Wirthshaus der Benedicta am Achensee in Tyrol kein Gast eingefunden, die Bauern des Thales, wenn sich ja einer Sonntags in die Schenke wagte, waren schon beim Einbruch der Dämmerung nach Hause gekehrt. Ich saß daher am obern Ende der langen Tafel im Stübchen ganz allein, das Abendmahl war verzehrt, behaglich schlürfte ich die letzten Tropfen des edlen Leitenweines, als Benedicta mit einem Zinnteller, ein Gläschen Enzeler und etliche überzuckerte Mandeln darauf, eintrat.

„Sie müssen doch,“ begann sie, „wie früher, auch jetzt Ihr Schlaftränklein einnehmen.“

„Liebe Benedicta,“ erwiderte ich, „damals waren andere Zeiten; der Tod hat Einen um den Andern von der langen Tafel hinweggeholt und, wie Sie wissen, auch bei mir im vorigen Herbst gar deutlich mit der Sense angeklopft. Lassen wir aber die Freunde in den Gräbern ruhen und erzählen Sie mir lieber, was mittlerweile im Achenthal geschehen. Da fällt mir unter Anderm gerade der schwarze Hans ein, wo ist denn der untergekrochen? Seit wenigstens zwei Jahren hab’ ich nichts mehr von ihm gehört?“

„Der hat geheirathet und zwar eine Baronesse aus Hannover!“

„Teufel,“ rief ich erstaunt, „wie ist denn das zugegangen?“

Maidele war eingetreten und begann die Teller abzuräumen. Bis sie fertig ist, will ich dem Leser, was ich vom schwarzen Hans weiß, erzählen. Er und ich, wir waren eigentlich gute Bekannte seit Langem. Zu Pfingsten eröffnete er mit seinen Ziegen und Kühen die Saison auf der Geisalm, ich bei der Benedicta. Da ist es im Achenthal noch einsam und leer, auf der Straße drängen sich keine Equipagen, die Steinblöcke sind nicht von englischen Ladies, welche durch den grünen oder blauen Schleier die Gegend abzeichnen, besetzt, man kann sich in der Küche Abends gemüthlich an den Heerd lehnen, ohne von den schwitzenden, laufenden, keuchenden Trabanten der Wirthin mit Bratenbrühe begossen oder umgestoßen zu werden. Das ist eine herrliche Zeit! Noch sind die Gebirge bis zur dunklen Waldgrenze mit Schnee bedeckt, zwischen den Föhren tragen jedoch die Buchen bereits ihre grünen Siegesfahnen, blau ist der Himmel, blau ist der See, über welchen die Maisonne den Strom ihrer Strahlen gießt; Alles glitzert, funkelt und leuchtet, sind doch die Alpen und das Meer so schön, was läßt sich damit vergleichen!

Zur Geisalm denn!

Das ist ein kleines Paradies! Nach rückwärts schließt es ein unübersteiglicher Schrofen ab, vorwärts der See, nur zu Schiff kann man es erreichen. Dieses Paradies bewohnte als Adam der schwarze Hans. Dort stand er auf der Spitze des Vorgebirges, die Hände in der schwarzen Hose, welche das Knie nicht mehr deckt und und mit hochrothen Zwickeln geschmückt ist. Ueber das Hemd – denn eine Joppe wäre Ueberfluß – kreuzt sich der grüne Hosenträger, auf dem linken Ohr sitzt trotzig ein braunes Hütchen mit einer Hahnenfeder, der größten, die nur zu finden war. Ein schöner Bursch! Schwarz bin ich, aber lieblich, mag er wie Sulamith im hohen Lied singen. Schwarz das Haar in üppigen Locken, schwarz der Bart, ja das ist der schwarze Hans!

Als ich vor zwei Jahren die Geisalm besuchte, hatte dieser Adam noch keine Eva. Allerdings fehlte es ihm den Sommer hindurch nicht an Gesellschaft. Fast jeden Tag kamen Gäste aus der Pertisau und von der Scholastika gerudert, sie lagerten sich im weichen Rasen, machten Kaffee und luden auch Hans, welcher bereitwillig eine Schüssel Milch lieferte, dazu ein.

„Haben Dir die herrischen Diendlen nit gefallen?“ fragte ich ihn oft.

„Ob!“ erwiderte er, „hat manche ein G’fris’l g’habt, daß ein Bußl g’wiß g’schmackig g’wesen wär, aber weiß wohl, solche Mädeln wollen kein’ Baurenlotter!“

Hans irrte. Gar manche Dame bewunderte im Stillen die breiten Schultern, die kräftigen Lenden und strammen Waden, gar manche seufzte: „Ach, wäre er ein Junker oder gar Gardelieutenant!“

Hans war aber nur Hans und jodelte:

Der Speik und die Almros
0 Die blüh’n bei der Wand,
Und ’s Dienel das brockt sie
0 Mit g’schaftiger Hand.

Es bind’t a scheans Sträußl –
0 Wem g’heart’s auf’n Huat?
Daß’s gar nit an mi denkt,
0 Dös g’fallt mir nit guat!

Es sollte aber nicht immer so bleiben. Einige Monate später lag ich im Schifflein, das ich dem Spiel der Wellen und des Windes überlassen, da hörte ich, begleitet vom Takt der Ruderschläge, einen tiefen Baß:

Auf’m See bin i g’faren,
0 Auf’m See hon i g’fischt,
Und da ben i a schwarzaugig’s
0 Dienel derwischt.

Langsam erhob ich mich vom Boden des Kahnes und spähte über den Rand hinaus. In einiger Entfernung von mir fuhr Hans vorüber. Am Steuer saß eine Dame, einen breiten Strohhut, mit Almrosen und Aurikeln geschmückt, auf dem Kopfe; über [194] Bord hing ein rother Shawl, so daß seine Fransen in den Wellen nachschleiften. Sie war beschäftigt, aus schlanken Tannenzweigen und Steinmispeln, denen sie allerlei Blumen einflocht, einen Kranz zu binden. Prüfend hielt sie ihn empor und warf ihn Hans zu, der ihn wie eine Trophäe auf dem Schnabel des Schiffes befestigte. Eh’ er sich wieder niedersetzte, schwang er den Hut und jauchzte so laut, daß einige Fremde vom Wirthshaus neugierig auf den Söller stürzten. Ich selbst, obwohl an die Ausbrüche älplerischer Lustigkeit längst gewöhnt, war doch ein wenig über die laute Freude des schwarzen Hans erstaunt und ergriff das Ruder. Scheinbar gleichgültig auf dem See hin und her lavirend, gelangte ich endlich in die Nähe des Schiffes und konnte mir die Dame genau betrachten. Sie mochte das dreißigste Jahr bereits überschritten haben, doch war ihr freundliches Gesicht, aus welchem ein Paar dunkle Augen blitzten, noch immer schön, obgleich es den Blüthenhauch der ersten Jugend nicht mehr besaß, der selbst häßlichen Mädchen einen großen Zauber verleiht. In den Jahren war sie zwar vorgerückt, in der Mode jedoch zurückgeblieben. Ihre Kleidung zeigte nichts Auffälliges, doch erschien sie dem Städter, der an steten Wechsel gewöhnt ist, trotz einer großen Zierlichkeit veraltet. Das galt freilich nicht von den Stoffen, die, mit Geschmack ausgewählt, durchaus nicht auf eine Trödelbude deuteten, sondern erst vor Kurzem frisch aus dem Laden gekommen und verarbeitet sein mußten. Ich schloß aus dieser Eigenthümlichkeit, daß die Dame nicht vermählt, sondern noch ledig sei; denn bei alten Jungfrauen begegnet man derlei Angewöhnungen ziemlich häufig. Hätte sie einen garstigen Mops bei sich gehabt, so wäre wohl kein Zweifel gewesen. Hans grüßte mich nur flüchtig, er war zu sehr mit interessantern Dingen beschäftigt, und ich vergaß nachträglich, im Wirthshaus mich nach der Fremden zu erkundigen, welche auch beim Abendessen nicht sichtbar wurde, vermuthlich speiste sie auf ihrem Zimmer. Jetzt erinnerte ich mich an diese Umstände und theilte sie Benedicta mit.

„Das ist die Baronin, die ihn geheirathet hat,“ sagte sie.

„Sie hat ihn geheirathet, nicht er sie?“

„Nun ja freilich! Oder war es für den Hans nicht eine rechte Gnade, daß sie ihn mochte? Jetzt hat er’s gut, recht gut, trinkt alle Abend sein Bier, raucht feinen Tabak, ja sogar bisweilen Cigarren und befiehlt selbst Knechten und Mägden, während er sonst hätt’ ein armer Senner bleiben mögen sein Lebenlang. Denn er hat nichts gehabt, als die paar Kreuzerle Lohn und zu Weihnachten ein neues Rupfenhemd, grob wie ein Salzsack; er ist aber auch seiner Frau recht dankbar und hat’s lieb von Herzen, wie sich’s für ordentliche Ehleut’ schickt. Jetzt will ich aber mit der Geschichte anfangen.

Die Baronesse Aurelie von Güstrow war eigentlich anfangs eine arme Haut, sie hat nichts gehabt und die Hofdame bei einer deutschen Fürstin machen müssen. Da mußte sie das Gnadenbrod essen viele Jahre lang, weil sie sich aber nirgends einmischte, so hat sie gerade dadurch die Gunst der Gnädigen gewonnen, damit jedoch ungeheuren Verdruß; denn der Neid, so sagen sie, ist das wüsteste Laster bei Hofe. Andere aber haben ihr den Hof gemacht; man kann sich’s einbilden, wie, insbesondere ein Lieutenant, der gewiß durch ihre Fürsprach’ hätt’ General werden mögen. Die Sach’ war schon richtig, nicht mit dem General, sondern mit dem Heirathen, aber der Mensch denkt und Gott lenkt. Unvermuthet hat die Fürstin die Augen geschlossen, und aus war’s, als ob man einen Bach abkehrt hätt’. Das Hofgesindel hat die arme Baronesse nicht mehr angeschaut, vom Lieutenant ist ein Briefl dahergeflogen, es seien plötzlich Hindernisse eingetreten, er könne sich, ohne den Fluch des Vaters auf sich zu laden, nicht vermählen, wolle jedoch stets ihr Bild in seinem betrübten Herzen herumtragen. Sie hat ihm gleich geantwortet, es sei recht schön, daß er so auf das vierte Gebot achte, ihretwegen möge er sich jedoch keine Sorge machen, sie sei stets gewohnt, selbst auf sich zu schauen. So blieb’s, bis man bei Gericht das Testament der Fürstin aufgemacht hat. Da stund darin, sie vermache der Baronesse, weil sie ihr stets in Treue zugethan, 30,000 Thaler, daß sie frei und unabhängig leben könne.

Ein schönes Maul voll Geld! Da hätt’ man aber sehen sollen, wie der Lieutenant wieder daher gehüpft ist; denn da droben seien zwar die meisten Officiere adelig, aber große Hungerleider. Sie hat ihm jedoch das hintere Thürl aufgethan und ihn laufen lassen.

Der Vogel singt freilich dort am liebsten, wo er aus dem Ei gekrochen, dem Menschen kann aber sogar die Heimath verleiden, das süßeste, wenn ihm die Nächsten Galle hineingießen; so war’s auch mit der Baronin. Es ist gewiß Herzensgut, bei dem Anblick all’ der falschen Gesichter überkam es sie jedoch fast wie Menschenhaß und sie wurde völlig leutscheu. Da hat sie beschlossen den alten Faden ganz abzureißen und ein neues Leben anzufangen. Droben konnte sie es nicht, da traten ihr überall die alten Gespenster entgegen, und gerade diesen wollte sie aus dem Wege gehen. Eine Zeitlang hat sie hin und her überlegt, wo aus? Sollte sie sich in einer andern Stadt ansiedeln? Sie mußte fürchten auch hier Bekannte zu treffen, denn die deutsche Noblesse schmarotzt ja an allen Höfen herum. Wie würden diese Schranzen die Nasen gerümpft und über die alte Jungfrau gespottet haben, die sich aus dem fürstlichen Paradies in die Verbannung gezogen! Sie beschloß einen abgelegenen Winkel zu suchen, setzte sich auf die Eisenbahn und gerieth in’s Tyrol. – Zu Gargan sind Sie wohl schon gewesen, das Dörflein liegt von niedern Hügeln umgürtet, über welche das Sonnenwendjoch hereinschaut, wie auf einem Präsentirteller; thät ich mich einmal pensioniren, so wüßt’ ich kein netteres Plätzchen, auf die vier letzten Ding zu warten. Sie kam auch gerade im Frühling an, wo die ganze Welt lacht und jubelt; wie hätt’ es ihr nicht gefallen sollen? Erinnern Sie sich vielleicht an das kleine einstöckige Häuschen auf der Straße nach Jenbach? Ist’s nicht so nett und zierlich, als käme es aus einem Schächtelchen? Die hohen Nuß- und Aepfelbäume verstecken es fast, und so mögen Sie es wohl übersehen haben.“

„Auf dem abgestutzten Giebel dreht sich ein Wetterhahn von Blech, die Jalousien sind grün angestrichen, rechts von der Thür hinter dem Zaun steht ein Kreuz zwischen Geisblatt und Rosenhecken. Ist es das?“

„Ja! Vor diesem Häuschen, welches damals freilich nicht so elegant aussah wie jetzt, blieb die Baronin stehen und betrachtete es nachdenklich von oben bis unten. Schon legte sie die Hand auf die Klinke des Gitters, konnte jedoch zu keinem Entschluß kommen. Da trat ein alter Mann heraus, nach einem Blick in’s Freie rief er zurück: „„Bringt nur das Essen vor die Thür, die Wolken haben sich verzogen, es ist kein Spritzer zu besorgen.““ Nach einer Weile erschien ein Mädchen, in den Händen eine flache Schüssel, aus der die Fisolensuppe dampfte. Sie stellte dieselbe vor den Alten auf den Tisch. Als sie forteilen wollte, die Löffel zu holen, bemerkte sie die Baronin. „„Du,““ sagte sie zum Vater, „„da schaut uns Jemand über den Zaun herein zu.““ Er hielt die Hand über die Augen, um sich vor den Sonnenstrahlen zu schützen, und betrachtete die Fremde aufmerksam. Dann erhob er sich langsam und rief einige Schritte vortretend: „„Magst etwa mithalten, wir haben Alle genug!““ So ist’s im Unterinnthal der Brauch, da sind die Bauern nicht so nothig und gönnen einem Hungerigen gern einen Löffel voll.

Das hat der Baronin gefallen. Sie nahm die Einladung an, wie einen Wink des Schicksals; die alte Bäuerin humpelte auch daher, und so aßen sie alle vier ruhig und friedlich. Nach dem Beten hat sie gefragt, ob sie ihr nicht ein Stübchen einräumen möchten, sie sei eine alte Jungfer und brauche nicht viel Pflege. Geld zum Zahlen besitze sie hinlänglich. Die haben freilich dreingeschaut und gemeint, sie sei närrisch, und die Händ über dem Kopf zusammengeschlagen, daß eine so vornehme Frau bei ihnen bleiben wolle, endlich aber, weil sie auf keine andere Gedanken zu bringen war, doch eingewilligt. Der Bauer hatte das Gut bereits dem ältesten Sohn übergeben, und sich nebst Weib und Tochter in das Häuschen zurückgezogen, nachdem er sich jährlich eine Summe Geld, Korn und Schmalz ausbedungen.

Sie glauben vielleicht, die Baronin habe zu jenen überspannten Städtern gehört, wie sie wohl auch mir in das Haus laufen und meinen, auf dem Lande sei lauter Schönheit, Rechtschaffenheit und Tugend? Dem ist nicht so. Sie war im Lauf der Welt sattsam gewitzigt, und wußte gar wohl, daß einer, der den Lodenkittel trägt, deswegen nicht besser als der im Frack ist. Hab’ mein Lebtag unter den Bauern gelebt, und muß doch lachen, wenn ich les’ wie man sie jetzt hinaufsetzt, als ob Bildung und Gelehrsamkeit fast nur bei Lumpen anzutreffen sei. Menschen bleiben eben Menschen, mögen sie nun dieses oder ein anderes Röcklein tragen. Unter den Herrschaften, welche mich im Sommer beehren, habe ich recht viel kennen gelernt, die so gut, ja besser sind als die besten Bauern. Doch Ihnen brauche ich das nicht zu sagen, Sie haben es so gut erfahren wie ich, und die Baronin verstand es auch. Was sie suchte, [195] das war ja nur eine natürliche Lebensweise, zu welcher die Verhältnisse auf dem Lande zwingen, und eine größere Natürlichkeit der Menschen, die daraus entspringt.

Der Sommer ist ihr so recht angenehm verflossen. Meistens ist sie im Freien herumgegangen, da und dort auf ein Berglein, und wer ihr eine rechte Freud machen wollt’, hat ihr Jochblumen bracht. Es war den Leuten kein Schade, zwar schaute ihr auch Niemand auf die Hände, wie’s dort ist, wo viel Fremde durchziehen. Bei uns im Achenthal werden die Leute schon verdorben, und nach und nach wird es wohl dahin kommen, daß man, wenn man niest und einer „Helfgott!“ sagt, einen Sechser zahlen soll. Sie hat, was ihr die Großen Freundlichkeit erwiesen, an den Kindern vergolten; gar manches Bübel und Madele hält noch das Stücklein Gewand in Ehren, womit es beschenkt worden. Deßwegen haben sie alle Leute gern gesehen und jedes zu ihr ordentlich „Grüß Gott!“ und „B’hüt Gott!“ gsagt. Sie ist eigentlich zwar lutherisch gewesen, aber Jemand verkehren zu wollen, wär’ ihr gar nicht eingefallen. Die Predigt ist auf dem Land, wie Sie wohl selbst erfahren haben, wenn Sie dieselbe schwänzen wollten, zwischen Evangelium und Sanctus eingeschaltet, da kam sie regelmäßig und ging nicht fort, bis alles vorbei war. Ja sogar eine seidene Stola hat sie dem Pfarrer gestickt, ohne daß er es verlangte, weil sie sah, daß die, welche er am Maria Himmelfahrtstag trug, ziemlich abgeschabt war. Kein Mensch ahnte, daß sie eine Ketzerin sei. Wenn aber der Teufel Unkraut säen will, so braucht er die Hand eines bösen Weibes oder, verzeih mir’s Gott! – eines unfriedlichen Geistlichen. So auch hier. Im Herbste traf ein junger Cooperator ein, dieser hatte an der guten Dame allerlei auszusetzen, vorzüglich mißfiel ihm ihre feine Aussprache. Er redete freilich wie eine Stalldirne. Nu, das wäre übrigens gleich gewesen, sprech’ jeder wie ihm der Schnabel gewachsen; abscheulich scheint es mir aber, daß er anfing, der Baronesse auf Schritt und Tritt nachzuspüren, ja einmal ließ er sich, als die Eltern fort waren, von der Tochter das Zimmer des Gastes öffnen und durchsuchte haarklein ihre Schriften und Bücher. Da waren sauber gebunden Goethe und Schiller, auf die sie draußen so viel halten; er schüttelte unwillig den Kopf und spürte nicht übel Lust, einige Bände mitzunehmen, stellte sie jedoch wieder säuberlich auf den alten Platz. Nun fragte er, ob sie einen Rosenkranz oder ein Gebetbuch etwa von Weninger oder Patis besitze? Auf die Erwiderung, das sei ihr unbekannt, verlangte er gar noch, sie möge ihm die Kästen aufsperren. Das war sogar dem einfältigen Mädchen, dem jedes Wort des Priesters für ein Evangelium galt, zu viel, es weigerte sich die Schlüssel, welche der Hochwürdige aus dem Sack zog, zu versuchen. Die Baronin hatte die ihrigen bei sich.

„Du mußt,“ begann er wieder, „scharf darauf achten, ob sie etwa Morgens und Abends singt und was sie für Lieder singt.“

„O, das kann ich schon sagen,“ rief das Mädchen, „herrliche Gsatzele sind’s, die sie mit lauter Stimme losläßt.“ –

„Zum Beispiel?“

Sie dachte eine Weile nach und summte dann:

„Wer nur den lieben Gott läßt walten
 Und hoffet auf ihn alle Zeit,
Den wird er wunderbar erhalten
 In aller Noth und Traurigkeit.“

„Kind!“ rief der Hochwürdige entsetzt, „die Verse hat der Teufel eingegeben, die sind lutherisch.“

„Lutherisch? Sind denn die Lutherischen wirklich so fromm, daß sie solche christliche Lieder singen?“

„Das verstehst Du nicht!“ war die barsche Antwort.

Er stürzte fort und ging von Haus zu Haus die Kinder zu verhören, welche von der Baronin beschenkt worden. Da stellte sich heraus, daß sie mit ihnen oft von Gott gesprochen und gesagt: „Wir haben alle nur einen Gott und Vater!“ die heilige Jungfrau aber so wenig je erwähnt habe, als Luther und Calvin.

Der Cooperator hetzte und hetzte im Stillen, bis es ihm endlich gelang, die Leute aufzurütteln. Bald bemerkte die Baronin, daß man ihr scheu auswich, die Kinder, welche sie sonst lächelnd erwartet hatten, liefen vor ihr davon, und eines Tages traf sie die Tochter ihres Bauern mit verweinten Augen. Theilnehmend erkundigte sie sich um die Ursache ihres Schmerzes. Nach langem Zögern platzte das Mädchen heraus: „Weil Du zum Teufel fahren mußt, und ich hab’ Dich doch so gern!“ Sie erstaunte ob diesen Worten und brachte endlich auch die Ursache heraus, zugleich vernahm sie, daß ihr der alte Bauer schon längst gern die Wohnung gekündigt hätte, um mit dem Cooperator, der fortwährend trieb und hetzte, in Frieden zu leben, wenn er sich getraut hätte. So aber hemmte ihn das Gefühl des Dankes, den er für so manche Wohlthat und Gefälligkeit der Baronin schuldete. Diese schüttelte schmerzlich lächelnd den Kopf, – sie kannte ja die Menschen! setzte sich an den Tisch und schrieb einige Zeilen, welche sie einem Bauernburschen nach Schwaz zu bestellen gab. Am nächsten Morgen hielt ein Wagen vor der Thüre. Sie dankte noch ihrem Wirthe für den Unterstand, den sie freilich bereits zehnfach bezahlt hatte, und fuhr davon, ohne sonst von jemand Abschied zu nehmen. Die Armen und Kranken haben freilich geklagt, das hat aber den Cooperator nichts angefochten. Er war roh genug, der Fremden sogar übel nachzureden, das wurde ihm aber bald von den Bauern gelegt, und er fiel nach und nach in solche Mißachtung, daß man ihn versetzen mußte.

Vorläufig ist sie nach Jenbach gefahren. Man rieth ihr die Geschichte in die Zeitung zu geben, sie meinte jedoch, es sei ihretwegen nicht der Mühe werth, Scandal zu machen. Dort lernte sie auch Hans kennen; sie wollte nämlich eine Höhe besteigen, konnte jedoch den Weg nicht finden und war schon im Begriffe umzukehren, als er sich freiwillig erbot, sie zu begleiten. Nun unterhielt sie sie sehr gut, er schüttelte tausend Geschichten und Schnurren aus dem Aermel und lachte, wenn sie lachte, selbst recht herzlich mit. Auf dem Rückwege redete sie mit ihm auch von ernsthaften Sachen. Seine Offenheit gefiel ihr eben so wie die verständige Klarheit, mit der er sich über alles äußerte. Auch er fragte sie hier und da, jedoch ohne zudringlich zu werden, und sie gab ihm gern Bescheid. Auf einem Vorsprung, wo’s eine stattliche Birke giebt, blieb sie stehen und blickte Thal auf Thal ab, über all die Fülle des Segens, wie ihn nur das schöne Unterland spendet. „Ach,“ seufzte Hans, „wie prächtig wär’ es, wenn man da ein Stücklein Boden sein nennen könnte und eigener Herr wäre! Wahrlicht, ich wünsch’ es nicht aus Hochmuth oder Faulheit, arbeiten wollt’ ich ebenso wie jetzt als Knechtlein früh bis spat; heut’ bin ich aber gerad dreißig Jahr alt und all’ diese dreißig Jahr mußte ich fremdes Brod beißen. Ich hab’ nie ein Heimathl gehabt und meine Eltern auch nie. Das sind Dörcher gewesen; im Winter und Frühling führten sie auf einem Karren Geschirr herum, im Sommer und Herbste Obst. Ich weiß es noch recht gut, wie wir in den Stadeln auf dem Heu schliefen und ich dabei jämmerlich fror. Sie starben bald nach einander, als ich kaum das achte Jahr überschritten hatte. Gott hab’ sie selig! Mein Vater liegt in Baiern, die Mutter im Pinzgau begraben. Meiner erbarmte sich ein Bäuerlein im Zillerthal. Es war ein rechter Nothleider und besaß wenig genug, oft kriegte ich mehr Prügel als Nudeln, vergelt ihm’s Gott, und ’s ging kein Streich verloren, und die Dörcherei, die mir schon im Blut steckte, wurde durch den Ochsenziemer gründlich ausgetrieben. So lernte ich alle Arbeit, daß ich einem Gütchen mit Ehren vorstehen könnt’; – ja, wenn man ein Heimathl hätt’!“

Er schwieg traurig, die Baronin blickte ihn ernst an.

Da erhob er plötzlich das Haupt, heiteres Lächeln spielte um seinen Mund, er rief: „Wahr ist’s, es ging nichts über ein Heimathl, der Herrgott hat aber meine Armuth auch nicht schlecht ausgestattet und mir einen lustigen Sinn verliehen, daß ich mit manchem reichen Bauern, der fünfzig Küh’ auf die Alm treibt und voll Grant wirthschaftet, nicht tauschen möcht.“

Sie gingen wieder bergab. Die Baronin war stumm und nachdenklich geworden.

Endlich wandte sie sich an Hans: „Wenn Du willst, kannst Du einem Gütchen als Schaffner vorstehen. In drei Wochen erfährst Du, wo.“

„Beim Bauern hab’ ich jährlich dreißig Gulden, ist ein kleines Löhnlein, was willst aber von einem armen Häuter verlangen? Uebrigens könnt’ ich auch gehen, sein Bub wird immer größer, und er braucht mich nicht mehr.“

„Sag’ bis Lichtmessen auf.“

„Wo erfrag’ ich Dich nachher und weiß, ob Du’s nicht umstehst?“

Sie zog ihre Börse, nahm zwei Kronenthaler heraus und gab sie ihm als Drangeld.

Hans gelobte ihr auf die Hand, sobald sie es fordere, zu kommen.

In Tyrol mochte sich die Baronin nach der Erfahrung in [196] Gargan nicht mehr ansiedeln, sie reiste nach See und kaufte dort, um eine Stätte zu besitzen, von der sie niemand vertreiben könne, ein kleines Gütchen unweit der Quirini-Capelle. Es ist nicht leicht ein schöneres Plätzchen zu finden, gleich neben dem Hause entspringt ein klares kaltes Bächlein und wässert die Wiesen. In den Wald ist’s auch nicht weit, übrigens stehen vor der Thüre zwei Linden, daß man weithin keine solchen sieht. Den Winter über blieb die Baronin auf der Post, stattete jedoch das Häuschen nach und nach wohnlich aus, so daß sie zu Lichtmessen frisch hineinsitzen durfte. Der schwarze Hans war längst schon verschrieben und stellte sich am Lichtmeßtag zum Abendessen, der arme Teufel war gelaufen, was die Füße aushielten, um ja nicht die Einstandszeit zu versäumen. Er wohnte zu ebener Erde neben dem noch leeren Stalle, eine alte Dirne leistete ihm Gesellschaft, den obern Stock behielt die Baronin mit einer Magd, welche sie bedienen sollte. Morgens noch dem Frühstück wurde er gerufen. Den Hut in der Hand trat er barfuß ein; denn die schwergenagelten Schuhe hatte er, um den Boden nicht zu verderben, vor der Thüre gelassen. Die Baronin hieß ihn sie holen. Er gehorchte unter tausend Entschuldigungen. Sie forderte ihn auf, mit ihr die Felder zu begehen, wegen der sonnigen Lage war der Schnee bereits geschmolzen, dann ihr Stückchen Wald anzuschauen, um ihr Bericht zu erstatten.

„Verwahrlost in jeder Beziehung!“ lautete sein Urtheil. „Bis Georgi giebt es genug zu thun und dann noch mehr. Vor allem müssen die Zäune geflickt, der Stallboden neu gelegt, die Barren festgenagelt und die Fenster glast werden. Ist Werkzeug da?“

„Was fehlt, kaufe.“

„Dann sieht’s auch im Tennen schüch aus, da brauchst Du die Zimmerleut und zwar bald.“

„Das ist Deine Sache, Du bist Schaffner.“

„Die Felder sind ausgemergelt. Wie haben wir es mit dem Mist? Wenn wir auch gleich Kühe kaufen, bringen wir doch nicht so viel zusammen, die Aecker ordentlich zu düngen.“

Die Baronin lachte und sagte: „So bestellen wir Guano!“

„Das wird dasselbige künstliche Zeug sein, wie’s der Pfretschner zu Jenbach anwendet. Kostet Geld! Wie haben wir es aber mit den Kühen? die sind vor allem nothwendig.“

„Wie viel können wir halten?“

„Wenn mich das Augenmaß nicht betrügt, vier und etwa zehn Schafe. Diese kaufst Du erst im Herbst, bis dort ist Heu aus dem Moos vorräthig.“

„Samstag ist zu Miesbach Viehmarkt, geh’ hin und hol’ was wir brauchen.“

Sie waren wieder nach Hause gekehrt.

Am nächsten Morgen um vier Uhr polterte es an die Thür der Baronin, erschrocken fuhr sie auf. Eine Stimme rief draußen: „Hoi! thu’ auf, ich bin zum Markt gerüstet!“ Sie antwortete: „Laß mir nur Zeit zum Ankleiden, dann geb’ ich Dir Geld. Wie viel etwa?“

„Ja, die Kuhselen haben aufg’schlagen, wenn Du leere Häut’ willst, kriegt man das Stück etwa um neunzig Gulden. Ersparst aber nichts dabei. Das Heu, welches Du verfüttern mußt, bis sie voll werden, ist mehr werth als der Zuschlag auf gutes Hornvieh abträgt.“

„Kauf ordentlich!“

„Dann mußt Du Dich aber tummeln; denn die Bauern stehen früh auf und wollen früh heim.“

Sie war angekleidet und öffnete. Hans hatte den schönsten Staat angelegt, denn der Kauf einer Kuh ist für den Aelpler fast so wichtig, wie die Ausstattung einer Tochter. Und nun gar vier! Da sollt’ ihn Niemand über die Achsel anschauen und möcht’ er eine noch so schwere Geldkatze um den Leib tragen.

Die Baronin betrachtete ihn mit Wohlgefallen, wie er im grauen Lodenrock mit schneeweißen Strümpfen, den grünen Spitzhut mit dem kecken Spielhahnstoß auf dem Kopf, drall vor ihr stand. Sie zählte ihm sechshundert Gulden auf, er schob die Thaler schmunzelnd in den breiten Bauchgurt, auf welchem die Anfangsbuchstaben seines Namens J. M. weiß eingestickt waren. Dann blieb er wartend stehen.

„Brauchst Du noch etwas?“ fragte die Baronin.

„Du sollst mir sagen, wie viel ich verzehren darf. Oft schließt sich ein Handel im Wirthshaus am leichtesten.“

„Iß und trink was Dir schmeckt. Rausch wirst Du keinen kriegen.“

„Gewiß nicht! dann muß ich aber auch einen Buben anstellen, der mir, während ich sonst zu thun hab’, das Vieh zusammenhält und treiben hilft. Was giebst dem zu Lohn?“

„Das ist alles Deine Sache, Du bist ja Schaffner!“

„Wär’ schon recht! Schaffner, aber nicht Dein Mann. Also solltest Du befehlen.“

Die Baronin kehrte sich um, die aufsteigende Röthe zu verbergen; dann sagte sie ruhig: „Ich vertraue ganz auf Deine Redlichkeit.“

„Wenn das ist,“ erwiderte er, „dann geh’ ich.“ Unter der Thür kehrte er sich noch einmal um: „Wie sollen die Kühe sein, was hast’ für eine Leibfarbe?“

„Meinetwegen braun mit Blässen auf der Stirn.“

„Lang- oder kurzstutzig?“

„Geh’ nur und schau, daß Du was Rechtes kriegst!“

Er wünschte guten Morgen und ging.

Von der Straße herauf hörte sie ihn noch pfeifen und singen.

Abends vor dem Gebetläuten zog er wieder ein, vier prächtige Kühe vorauf. Die Baronin war ihm, durch das Muhen aufmerksam gemacht, entgegengegangen.

„Bist’ zufrieden?“ fragte er mit strahlenden Augen.

„Ich danke Dir, Hans,“ erwiderte sie und streichelte die schönen glatten Thiere.

Er öffnete die Stallthüre, legte die Kühe an die Ketten und warf ihnen Heu in die Raufe. Dann ergriff er ein Stück Kreide und bezeichnete den Pfosten über dem Eingang mit einem lateinischen C + M + B + zu Ehren der heiligen Dreikönige, daß sie das Vieh vor Hexen und Zauber schützen sollten.

Bald begannen auf dem Felde die Arbeiten, wie sie die Jahreszeit bedingt. Die Baronesse sah überall nach, ließ sich belehren und gab dadurch deutlich zu verstehen, wie sehr ihr die Sache gefalle und am Herzen liege. Dadurch kam sie fast stündlich mit Hans in Berührung; wegen der Lauterkeit seiner Sitten, der Anhänglichkeit und Treue, die er ihr bewies, gewann sie ihn von Tag zu Tag lieber, und er rückte vom Knecht allmählich zum Freund empor, mit dem sie nicht blos die Geschäfte des Feldbaues, sondern auch mancherlei andere Dinge besprach. Er wurde, ohne daß sie seinen Schullehrer machen wollte, auch immer gescheidter, indem ihn ihre Rede auf Manches hinleitete, was ihm früher entgangen war. An einem Feierabende überraschte er sie plötzlich mit der Bitte, sie möge ihn doch auch in einem der Bücher lesen lassen, durch welche die Herrenleute so gescheidt würden. Da gab sie ihm denn allerhand schöne und nützliche Bücher zu lesen von Land und Leuten und mit hübschen Geschichten. Ja selbst Verse gab sie ihm.

Hätt’ ich nur mehr Zeit, ich wollt’ auch Manches lesen, es waren meine vergnügtesten Stunden, als ich im Bücherkasten meines Vaters, des vielberufenen Chirurgen Hochmair, den Adolf von Dassel, Hermann von Goethe, Udo von Drudenstein und wie sie Alle heißen, entdeckte und, in einen Winkel des Stadels gekauert, heimlich lesen konnte. Jetzt muß ich Strauben backen und Salat anmachen, das trägt freilich mehr, aber hie und da möcht’ man zum täglichen Brod auch noch was Anderes. – Als der Schnee von den Gipfeln der Berge geschmolzen war, stieg der Hans an einem Sonntag nach der Frühmesse hinauf, um über das Land auszuschauen. Vergebens wartete die Baronesse, welche ihn ungern einige Stunden vermißte, er kam erst Mittags zurück. „Aber wo bist denn so lang gewesen?“ sagte sie mit einem Anfluge von Schmollen.

„Droben auf dem Berg,“ erwiderte er, „man sieht dort München. Du hast mir so viel von großen Städten erzählt, daß ich dem Gelüst, auch einmal eine solche anzuschauen, nicht widerstehen konnte. Ich bin aber nicht gescheidt worden, vor mir lag an der Isar ein großer grauer Fleck, über den zwei Thürme fast wie Türken mit dem Turban emporragten. Aber das Flachland! Diese Walder und Felder, da muß den Bauern das Geld vor der Thür wachsen!“

Wenige Tage später saß Hans auf dem Bock einer Kalesche. Die Peitsche in der Hand, kutschirte er die Baronin nach München, wo sie Allerlei für den Hausbedarf einkaufen wollte. Bisher hatte er nur das Thal und die Dörfer seiner Heimath gekannt, Schwaz war die größte Ortschaft, welche er je besucht, zu München wußte er gar nicht, wo an und aus; den ersten Tag hatte er nur zu schauen und zu staunen und redete fast nichts. Als er den ersten Eindruck überwunden, nahm das Fragen kein Ende, er durfte die Baronin überall begleiten, und sie gab dem großen Kinde mit größter [197]

Abgang des pneumatischen Depeschenzuges von der Hauptstation auf dem Bahnhofe von Euston-Road in London.
Originalzeichnung unseres Londoner Specialartisten.




Freude Aufschluß; ja sogar einen Tag länger blieb sie, als beabsichtigt war, um ihm auch die Bavaria zu zeigen.

Nachdem sie wieder nach Hause zurückgekehrt waren, dankte er der Baronesse und sagte: „Diese Reise hat mich um zehn Jahre klüger gemacht, jetzt erst versteh’ ich Vieles in den Büchern, was ich früher gar nicht begreifen konnte. Was man nicht gesehen hat, weiß man eben nicht.“

So stand er zur Baronin. Auf dem Land ist es aber nicht, wie in der Stadt, wo sich die Leute, welche die gleiche Gasse, ja dasselbe Haus bewohnen, gar nicht um einander kümmern. Auf dem Land lebt man weiter auseinander und ist sich doch näher, Einer kennt den Andern, Eines guckt dem Andern in den Topf, und die Spatzen auf dem Dache zwitschern davon, wenn ein neuer Rock gekauft wird. Wäre die Baronin im Sommer gekommen, so hätte man sie unter der Menge von Gästen weniger beobachtet, aber so siedelte sie sich häuslich an und erwarb sich durch ihren Kauf ein Recht an die Gemeinde. Wer durfte bestreiten, daß auch diese vom reichsten Bauern bis zum Gänsehirten herab ein Recht auf sie habe? Die Baronin begegnete Allen friedlich und liebevoll, bald war sie bei den Nachbarn so heimisch und gern gesehen, als zu Gargan, ohne daß sie wegen ihres Glaubens einen Angriff zu besorgen hatte, denn die Leute waren hier durch den Fremdenverkehr aufgeklärter, und überdies sind ja in Baiern Lutherische und Katholiken gleichberechtigt. – Redlichkeit und Kenntniß des Landbaues erwarb unserm Hans bald die Achtung der ältern Bauern. Die Bursche, mit denen er hie und da im Wirthshause zusammentraf, kümmerten sich um den Tyroler wenig und verfolgten ihn auch nicht mit Sticheleien, durch die sich jeder Fremdling auf dem Land gewissermaßen erst einkaufen muß; er war älter als die meisten, und zu bescheiden, um sie herauszufordern. Ueber den gewöhnlichen [198] Schlag der Knechte erhob ihn seine Stellung als Schaffner. Nur ein wichtiger Mann war unzufrieden.

Der Landrichter, in dessen Bezirk das Gut der Baronin lag, glaubte sich beleidigt, weil sie es unterlassen, ihm die pflichtschuldige Aufwartung zu machen. Diese Herrn in Baiern sind noch manchmal wie die Paschas; darum wenigstens dürfen wir Tyroler unsere Nachbaren gewiß nicht beneiden. Ueberdies hegte er einen Widerwillen gegen unsere Landsleute, selbst Kärrner und Handwerksbursch tyrannisirte er; es war ihm daher ein Dorn im Auge, daß ein Tyroler, die er verachtete und haßte, den schönen Dienst bei der Baronin behaupten solle. Obenein wollte er sie necken, ihr beweisen, wen sie beleidigt und hintangesetzt. Hans hatte aus Unkenntniß unterlassen, vorschriftsmäßig Paß und Heimathschein vorzuzeigen, ja er besaß nicht einmal einen solchen. Da kam eines Morgens der Gerichtsdiener und lud ihn vor. – Betrübt kehrte er nach Hause. Der Landrichter, bei dem er keine Urkunden vorzulegen hatte, fuhr ihn barsch an, und stellte ihm die Frist von zweimal vierundzwanzig Stunden, binnen der er Baiern zu verlassen habe, wenn er nicht mit Schub abfahren wolle.

Traurig kam er nach Hause und erzählte der Baronin allsogleich, was vorgefallen. „Schau, ich will Dir’s gerad sagen, es ist mir nicht wegen dem Dienstl, denn ich hab’ zwei gesunde Arm und bring’ mich leicht überall durch, aber Du bist mir so lieb worden wegen Deiner Gutheit, daß ich Dir lieber umsonst, als Andern um doppelten Lohn arbeiten möchte.“ Sein Auge wurde feucht.

„Laß sein,“ antwortete die Baronin, „ich werde die Sache schon einrichten.“

Der Herr Landrichter saß im Bureau, rings um ihn knackten die Federn in der Hand der Kanzleiknechte, welche sich tief auf die Acten niederbeugten. Er gähnte, steckte eine Cigarre in den Mund und faltete die fleischigen Hände über dem üppigen Bierwanst. Von Zeit zu Zeit flog aus den kleinen Aeuglein unter den buschigen Brauen hervor ein Blick auf die Schreiberknechte, die im Schweiße des Angesichts roboteten. Da klopfte es, und die Baronesse trat ein. Ohne den Stummel bei Seite zu legen, maß er sie vom Kopf bis zum Fuße.

Sie begann ruhig: „Mein Schaffner hat aus Unwissenheit die gesetzliche Form verabsäumt, ich bin hier, um mich für ihn zu verbürgen, bis er die nöthigen Papiere aus der Heimath erhält.“

„Ich nehme meinen Befehl nicht zurück,“ fuhr er auf, „er hat das Land zu verlassen. Ueberhaupt begreife ich nicht, warum Sie hier in Baiern keine Leute für den Dienst finden!“

„Das ist meine Sache,“ erwiderte sie kalt, „für mein Geld bestelle ich, wen ich will.“

„Wen Sie wollen?“ sagte er höhnisch lachend, „ja, ja, man weiß schon, wozu solche Tyrolerbursche bei Damen gut sind!“

Sie erblaßte; dann aber rief sie, sich stolz aufrichtend: „Keine Rohheiten, mein Herr, ich dulde das nicht!“

Das Kanzleipersonale war aufmerksam geworden. Erstaunt über diese Keckheit, setzte ein Praktikant die Brille auf und schaute nach dem Gerichtsdiener um, ob dieser nicht mit einem Satz auf die Verbrecherin losspringe und sie in den Abgrund stoße; der alte Actuar verzog höhnisch den Mund, und der Landrichter schwang sich auf wie ein Seiltänzer.

„Noch heut mit Schub fort!“ donnerte er.

„Das werden Sie bleiben lassen,“ entgegnete die Baronin gemessen, „wohl aber will ich noch heut an den Gesandten meines Fürsten, mit dem ich persönlich bekannt zu sein die Ehre habe, schreiben, daß er mir bei Ihrem Minister Genugthuung verschaffe. Auf Wiedersehen!“

Sie verbeugte sich und ging. Die Kanzlisten wuselten über diesen ganz ungewohnten Auftritt durcheinander wie Ameisen, es war jedoch kein Beamter, der seinem Pascha die Demüthigung und die zu erwartende Nase nicht vergönnt hätte. Diese blieb auch nicht aus.

Die Baronin schrieb allsogleich dem Gesandten, und wie da eine Hand die andere wäscht, machte dieser dem Minister die Anzeige, der Landrichter wurde in einen Winkel des bairischen Waldes versetzt und dann, weil die Sache zufällig durch einen Correspondenzler einer Zeitung verrathen wurde, gar pensionirt. – Als sie den betreffenden Brief geschrieben hatte, rief sie Hans.

„Du hast mir,“ begann sie zögernd, „gesagt, daß Du mich gern habest?“

„Gewiß, von Herzen,“ antwortete er, „Du glaubst nicht, wie, ich trau mir’s gar nicht zu sagen.“

„Nun gut,“ sagte sie rasch, die Stirn hebend, „dann wär es ja das Beste, wenn wir heiratheten!“

Dunkles Roth goß sich über ihr Gesicht, sie senkte den Kopf und faßte die Lehne des Sessels.

„Jesus Maria,“ rief er, „Du hast mich fast erschreckt! Schau, das hab’ ich mir schon lang denkt, Du bist nicht mehr jung und ich auch nicht; wärst eine Bäurin, hätt’ ich Dich schon längst drum angesprochen, aber so – – Du bist gescheiter als ich, bring’ Du’s in Ordnung, – das will ich Dir auch noch sagen: Dich oder Keine! Zu Dir wagte ich nicht das Aug’ zu heben, deswegen war ich darauf gefaßt: Keine! und wollte bei Dir bleiben mein Lebtag!“

„Du hättest mir das,“ sprach die Baronin nach dieser Ergießung, „nie gestanden, ich weiß es, allein gestern konnte ich in Deinem Herzen lesen. Auch ich würde stets geschwiegen haben, Du wurdest jedoch meinetwegen erniedrigt, so fühlte ich mich gedrungen, zuerst zu reden.“ Sie reichte ihm tiefaufathmend die Hand.

Es wurde über diese Sache kein Wort mehr zwischen ihnen gewechselt, fast schien es, als scheue sich Jedes, noch einmal darauf zurückzukommen.

Am nächsten Morgen in der Frühe waren sie auf dem Wege nach Tyrol. Sie saß in der Kalesche, Hans kutschirte vom Bock aus. Obwohl sie ihn eingeladen hatte, neben ihr Platz zu nehmen, weigerte er sich doch dessen: das sei vorläufig zu viel Ehre. Es schien ihm, als ob sie noch unermeßlich hoch über ihm stünde. – Sie reisten in seinen Geburtsort, um dort die zur Trauung nöthigen Documente zu holen. Der Pfarrer des Ortes suchte Hans bei Ausstellung des Taufscheines von der Lutheranerin wegen des ewigen Seelenheiles abspenstig zu machen, dieser verbat sich jedoch kurz und bündig jede Einmischung, da er nicht im Sinne habe, sich in Tyrol, wo man die Ketzer so entsetzlich fürchte, festzusetzen. Auf dem Rückweg kamen sie in’s Achenthal. Bei diesem Anlaß sind Sie ihnen auf dem See im Schifflein begegnet.“

„So wären wir also,“ unterbrach ich Benedicta’s lange Erzählung, „glücklich bei der Hochzeit angelangt?“

„Allerdings,“ entgegnete sie. „Vor der Hochzeit, welche nach Peter und Paul, wo der Roggen bereits geschnitten ist, angesetzt war, trug sich aber noch ein merkwürdiges Ereigniß zu, das auch zur Sache gehört, Sie müssen mich daher ausreden lassen. Zu Hause lebten sie ganz wie früher, er als Schaffner, sie als Herrin, so daß Niemand das Verhältniß von Bräutigam und Braut geahnt hatte und, wie sie der Pfarrer von der Kanzel verkündete, Jeder überrascht war. Er dachte, zum Lallen und Trallen sind wir bereits zu alt, und hätte auch nicht gewagt, sich irgend eine Vertraulichkeit zu erlauben; bei ihr, so sehr sie ihn liebte, überwog die weibliche Schüchternheit, sie wollte nicht noch einmal den Anfang machen. Es sollte jedoch anders kommen.

Hans hatte bereits seit einigen Tagen in der Dämmerung etliche Bursche bemerkt, welche um das Haus schlichen und sich, wenn sie ein Geräusch hörten oder Jemand sahen, allsogleich zurückzogen, fast als fürchteten sie, erkannt zu werden. Er hätte sie auch nicht zu nennen vermocht; denn dazu besaß er viel zu wenig Bekanntschaft in der Gegend. Endlich wurde ihm die Sache verdächtig, er legte sich einen derben Knüttel zurecht, um sie damit das nächste Mal um ihren Zweck zu fragen. Zufällig mußte er Nachts im Stalle wachen, weil eine Kuh kalben sollte. Da hörte er etwa um zwei Uhr im obern Stock Geschrei um Hülfe, welches plötzlich verstummte. Rasch ergriff er den Knüttel, sprang über die Treppe empor und horchte an der Thür der Baronin. Er vernahm lautes Gepolter, fast schien es, als falle ein schwerer Gegenstand auf den Boden. Da besann er sich nicht mehr länger, mit beiden Füßen sprang er an die verschlossene Thüre, daß sie, der Gewalt der schwergenagelten Schuhe weichend, mit lautem Krachen zerbarst. Ein Schuß blitzte ihm entgegen, aus dem Rauche erhob sich eine schwarze Gestalt und schwang den Kolben des Gewehrs. Nun schlug Hans zu, daß der Kerl heulend zu Boden stürzte. Der Zweite, welcher das Pult der Baronesse zu erbrechen versucht hatte, wollte durch das Fenster flüchten, verfehlte jedoch jenes, dessen Stäbe die Lumpen durchsägt, und blieb, während von unten noch zwei Schüsse krachten, eingeklemmt in der Luft hängen. Hans bearbeitete mit dem Knüttel den wüsten Strolch so ausgiebig, daß er fürchterlich brüllte. Auf den Lärm liefen die Nachbaren mit Dreschflegeln und [199] Sensen zusammen, die Stalldirne öffnete ihnen die Thür und Alles eilte in die Stube. Dort nahmen sie den Schelm in Empfang, und während ihn Einige beim Waschel über die Treppe schleppten, trat Hans zum Bette der Baronin, welche ängstlich zitternd unter der Decke kauerte. „Haben sie Dir nichts than?“ fragte er voll Sorge.

„Mir fehlt nichts,“ erwiderte sie, „Nachbarn, ich danke Euch für Eure Hülfe. Bist Du nicht verwundet?“ setzte sie leise bei.

„Nein,“ erwiderte er, „weil nur Du g’sund bist!“

Sie bat jetzt die Versammelten, das Zimmer zu verlassen, und blieb mit ihrer Magd allein. Hans legte sich jedoch, um ja jedem Falle zu begegnen, mit dem Knüttel vor die Thürschwelle. Sie konnte nicht schlafen, tausend Gedanken kreuzten sich in ihrem Kopfe, endlich faßte sie wie auf höhere Eingebung einen Entschluß. Unterdeß war schon der Tag angebrochen, sie kleidete sich an und wollte das Zimmer verlassen. Da lag Hans ruhig schlafend auf dem Boden, in der Rechten den Knüttel, den linken Arm unter den Kopf gelegt; sie berührte sanft seine Stirn, er fuhr rasch empor.

„Hans,“ sagte sie, „ich verdanke Dir mein Leben und vielleicht noch mehr. Deswegen muß ich mit Dir aufrichtig sein. Vor zwölf Stunden konnte Dir meine Hand nicht ganz unerwünscht scheinen; besaß ich doch so viel, um Dir und mir ein sorgenfreies Dasein zu bereiten. Nun bin ich aber ausgeraubt; denn um meine Staatspapiere zu retten, kamst Du zu spät; — die Schelme warfen sie aus dem Fenster —, ich besitze nichts mehr, als dieses Gütchen, welches beim größten Fleiß nur ein Leben von der Hand in den Mund gestattet. Es wäre schlecht von mir, wollt’ ich Dich halten, ich gebe Dir Dein Wort zurück.“

Hans starrte sie einen Augenblick an, dann stürzte ein Strom von Thränen aus seinen Augen. Als er sich gefaßt hatte, sprach er mit tiefem Schmerz: „Wär’s mir doch lieber, Dich auf der Todtenbahr zu sehen, als so zu verlieren. Daß Du mich für einen schlechten Kerl hältst, der sein Wort umsteht, das hat mir noch am wehesten gethan von all dem Leid, das ich erfahren. Schau, ich bin gesund und stark, Dich und mich kann ich noch ernähren, das Gütchen ist ja nicht so schlecht, und Du hast mittlerweile auch schon was gelernt. Zuerst hast Du mir die Hand geboten, jetzt thu’ ich’s, denn jetzt sind wir gleich!“

„Ja, gleich,“ rief sie freudig, „ich brauche nicht zu Dir herunter, Du bist zu mir emporgestiegen. Jetzt erst bin ich Dein für immer!“

So standen sie und guckten sich fest in die Augen, da sagte Hans mit g’schämigen Backen: „Jetzt darf ich Dir aber auch ein Bussel geben!“ Früher hatte er sich kaum erlaubt, sie mit einem Finger anzurühren.

Ein Kuß beschloß den Bund für das ganze Leben. Daß die Baronin ihr Vermögen nicht verloren hatte, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen. Ihre Rede war ersonnen, nicht um die Liebe ihres Bräutigams, an der sie ohnehin nie zweifelte, zu prüfen, sondern um die Schranke, welche zwischen Beiden bestand, für immer niederzureißen.“




Bilder aus dem Londoner Verkehrsleben.
1.
Das Ungeheuere des Londoner Verkehrs. – Die nothwendig werdenden neuen Verkehrsmittel. – Achtzehn neuprojectirte Eisenbahnen durch die Stadt, über und unter den Straßen. Eine mitten unter der Themse. – Die Untergrund-Eisenbahn. – Die Charing-Croßbahn mit ihrer achtzehnfachen Straßenüberbrückung. – Die pneumatische Brief- und Paketbeförderung und ihre Hauptstation.


Wer weiß nicht, daß um das Jahr 4000 unserer Zeitrechnung der berühmte neuseeländische Tourist des seligen Lord Thomas Babington Macaulay auf seiner alterthumsforschenden Weltfahrt kommen wird, um auf dem meilenweiten Trümmerfelde, wo dereinst die Stadt der Städte, das Ungeheuer London, sich gebrüstet hat, seine philosophisch-elegischen Monologe über das „Sic transit gloria mundi“ vom Stapel laufen zu lassen? Der hochcivilisirte und urgelehrte australische Staatsbürger der Zukunft wird sich aber in die Lüfte aufschwingen oder unter die Wellen der Themse hinabsteigen müssen, wenn er die merkwürdigsten Ruinen der alten britischen Herrlichkeit, die Reste der kühnsten und gewaltigsten Stein- und Eisenschöpfungen aufstöbern will, welche die englische Riesenmetropole mit ihren Millionen von Bewohnern und ihrem unerschöpflichen und unendlichen Verkehre dereinst zum Wunder der Welt gemacht haben.

Der Leser fühlt schon heraus, daß wir nicht eigentlich vom heutigen London sprechen, mindestens nicht von dem, wie es heute schon fix und fertig dasteht, wohl aber von einem London, zu dem der Plan auf’s Papier geworfen und zum Theil bereits in Verwirklichung begriffen ist. Doch was sagen wir von Plan? Nein, Pläne, ein paar Dutzend Pläne in Eins muß es heißen; denn volle dreiundzwanzig Projecte für die umfassendste Umgestaltung Londons, insbesondere der lebenwimmelnden City, – der Alt- und eigentlichen Großgeschäftsstadt, die politisch allein als „Commune London“ betrachtet wird, am östlichen Nordufer der Themse – liegen dem gegenwärtig tagenden Parlamente zur Begutachtung und Genehmigung vor. Wie in den dreißiger und Anfangs der vierziger Jahre ist John Bull mit einem Male von einem neuen tollen Eisenbahnfieber ergriffen worden; nur beziehen sich alle die Schienenwege, die er jetzt ausheckt, lediglich auf London selbst. Daß, was seither auch in den größten anderen Städten, selbst in Paris, noch nicht zu geschehen brauchte, die einzelnen Theile dieser häuserbedeckten Provinz durch Eisenbahnen verbunden sind, welche die meilenlange Peripherie der Stadt umgürteln, weil sich trotz aller der unzähligen Omnibusse, Cabs, Frachtkarren und anderen Vehikel, die sich auf den Straßen zu einem permanenten Chaos zusammenstopfen, trotz der Menge von Dampfbooten, welche unablässig themseauf und themseab schießen, das Bedürfniß neuer Verkehrsmittel dringend geltend machte; daß mehrere Bahnen ihre tosenden Züge hoch über die Dächer der südöstlichen und südwestlichen Vorstädte hinwegjagen; daß eine andere selbst in die geheimnißvolle Tiefe hinabgeklettert und in das noch geheimnißvollere Geflecht der Abzugs- und Wasserleitungscanäle gedrungen ist, um halb London zu untertunneln: das ist schon nichts Unerhörtes mehr, wenn gleich uns, die wir an minder überschwängliche Verhältnisse und ruhigern Lebensfluß gewöhnt sind, der Kopf schwindelt bei dergleichen Ungeheuerlichkeiten. Alles dies aber erscheint blos wie ein schüchterner Anfangsversuch gegen die fabelhaften Ungethüme von Unternehmungen, welche plötzlich in’s Werk gerichtet werden sollen.

Von den dreiundzwanzig Projecten, meist mit pompösen Namen, über deren Verwirklichung die Herren am Westminsterplatze entscheiden sollen, streben zwei Drittel den Bau neuer Stadteisenbahnen an. Allerdings hat die mit der Prüfung dieser Pläne betraute Parlamentscommission davon einen und den andern als gar zu chimärisch und abenteuerlich ad acta verwiesen, einige sind von ihren mittlerweile ernüchterten Schöpfern selbst zurückgezogen worden, indessen mehr als anderthalb Dutzend, man denke sich weit über ein Dutzend neue Eisenbahnen in und über und unter der Stadt, sollen wirklich dem Parlamente zur Sanctionirung empfohlen werden, zum Schrecken manches guten Londoner Spießbürgers – denn auch in London giebt es Spießbürger – der im buchstäblichen Sinne des Worts sich den Boden unter den Füßen weggezogen sieht und nicht weiß, wohin er sich in Sicherheit bergen soll.

Wer während der eigentlichen Geschäftszeit, von zehn Uhr Morgens bis vier Uhr Nachmittags, wo der Verkehr zwei Mal zu seiner Fluthhöhe anschwillt, jemals nur einen einzigen Tritt in die City gethan hat, der begreift, wie man nachgerade darauf sinnen muß, dem mit jedem Jahre wachsenden Menschen-, Wagen- und Roßgewirr in Fleetstreet und Ludgatehill, um den St. Paulsdom herum, in Cheapside und namentlich auf Londonbridge, das mit seinen täglichen anderthalbtausend Omnibus und seinen 20,000 sonstigen Vehikeln schließlich jede Ortsbewegung paralysirt und immer lebensbedrohlichere Collisionen in Aussicht stellt, irgendwie einen Ausweg zu schaffen. Soll man etwa Compagnien blaufräckiger Constabler an jede Straßenecke und auf alle Plätze postiren, damit sie die in der Richtung der City heranbrausenden Menschenwogen stauen, indem sie dieselben sectionsweise abtheilen und immer nur ein wohlabgezähltes Menschen- und Wagenquantum auf einmal [200] passiren lassen? Wo in einer einzigen Straße und innerhalb nur dreier Stunden, von 1–4 Uhr Nachmittags, eine halbe Million, im Durchschnitt, auf verhältnißmäßig engem Raume, aber mindestens eine volle Million Menschen tagtäglich, d. h. blos in der oben angeführten Geschäftszeit, auf den Beinen ist, die gefährlichen Vierfüßler sammt ihren rollenden Anhängseln gar nicht gerechnet, – ein ungefähr ebenso erfolgverheißendes Beginnen, als wenn man die Wasser der Themse mit einem Theelöffel ausschöpfen wollte.

Wie also sollen dieser bedrohlichen Ueberfülle Schranken gezogen werden, – ohne dem Verkehr die freie Bewegung zu weiterer Ausdehnung zu hemmen? Es bleibt kein anderes Auskunftsmittel, als durch neue Eisenbahnen einen Theil der Verkehrsströmung über oder unter das Niveau der Straßen zu verweisen. Diese Ueberzeugung hat sich jetzt des Publicums bemächtigt. Und so ist plötzlich jener Wetteifer von Abhülfsprojecten angestachelt worden, die, wie Alles in London, sofort in’s Ungeheuere und Ungeheuerliche geschossen sind.

Man stelle sich vor, daß die für die City in Aussicht genommenen Schienenwege allein die Länge von mehr als vier deutschen Meilen erreichen werden. Ihr Bau berührt mittel- und unmittelbar ein Areal von nahe an vierzig deutschen Meilen und etwa dreihundert der begangensten und befahrensten Straßen und Communicationen, so daß schwer abzusehen ist, wie er überhaupt ausführbar wird. Wohin in der Zwischenzeit, auf Jahre vielleicht, mit dem Menschen- und Wagenstrome? Doch der Brite, wenn er einmal ein Ding in’s Auge gefaßt hat, pflegt nicht der Mann zu sein, der vor Schwierigkeiten oder Opfern zurückbebt. „Durch“ ist seine Losung. Englischer Unternehmungsgeist, englische Willenskraft, das Genie englischer Ingenieure und Techniker sind bewundernswerth. Hier haben wir von den Briten noch unendlich viel zu lernen. Man darf daher mit Sicherheit behaupten, daß die meisten der dem Unterhause eingereichten Pläne in Angriff genommen und verwirklicht werden, überkühn wie sie sind, welche kolossalen Geldmittel sie beanspruchen und ob dadurch auch die gesammte Physiognomie der Stadt eine derartige Umwandelung erfährt, daß man, nach Verlauf weniger Jahre, selbst die Lage der jetzt bekanntesten und meistgenannten Londoner Localitäten, die Plätze und Oertlichkeiten, an welche sich die interessantesten und theuersten Erinnerungen knüpfen, nicht mehr zu bezeichnen im Stande sein wird. Mit einem Worte, noch nie ist eine Stadt in der Welt von solch’ einem radicalen Umsturze bedroht gewesen. Die Prachtbauten, die Anlage von Straßen, von Boulevards und ganzen Stadtvierteln, womit der dritte Napoleon ein neues Paris geschaffen hat, all das, an sich imposant und gewaltig, schrumpft in’s Unbedeutende zusammen, der völligen Umgestaltung gegenüber, welcher die Metropole an der Themse entgegengeht. Und wie verschieden sind die Ursachen dieser Umgestaltungen der beiden „Hauptstädte der Welt“, so verschieden wie Geist und Charakter der beiden Nationen selbst! An der Seine kommt die Metamorphose wesentlich nur auf Rechnung der Laune und Eitelkeit eines Autokraten, der das neue Paris nach dem Principe „tel est mon plaisir“ octroyirt und dabei auf das Streben nach Glanz und Luxus seiner Pariser richtig speculirt, – jenseit des Canals ist’s allein das bürgerliche Regen und Rühren, das geschäftliche Gedeihen, die mit der Arbeit wachsende Ausdehnung der Stadt und umgekehrt der mit dem endlosen Umfange dieser letztern in’s Endlose anschwellende mercantilische und gewerbliche Verkehr, die freie Vereinigung von Privatleuten, kein Impuls von oben, was London seine neue wunderbare Physiognomie verleiht. –

Es ist unmöglich, auch hier nicht am Orte, alle die Projecte aufzuzählen, die London zu oberst zu unterst kehren sollen; wir wollen nur einiger der hervorragendsten gedenken. Da machen sich unter andern zwei verschiedene Pläne zu einer Weiterbeführung und nutzbringenden Ausbeutung des jetzt als trübselige Curiosität lediglich von den Fremden aufgesuchten, nie aber seiner Bestimmung gemäß als Verbindung von einem zum andern Ufer gebrauchten, völlig inproductiven Themsetunnels anheischig; zwei Compagnien erbieten sich zwischen dem Tower und Londonbridge zwei neue grandiose Brücken über den Strom zu schlagen, jede von 800 Fuß Bogenspannung und das Hochwasser der Themse über mehr als 100 Fuß überragend; außerdem soll noch weiter ostwärts, in der Nähe der Westindia-Docks, eine dritte Brücke errichtet und das Westend gar mit fünf neuen Brücken auf einmal beschenkt werden. Mehrere Bahnen werden dicht am nördlichen, einige andere drüben in Southwark und Borough längs des Südufers der Themse hinlaufen, eine als das Wunder der Wunder, gar mitten im Strombette in langem Tunnel unter den rauschenden Wässern! Viele Parks und zahllose Plätze werden durchschnitten, unterminirt oder überbrückt, so daß hoch über und tief unter dem Menschen- und Wagengetümmel zugleich und unaufhörlich die schweren Locomotiven schnauben und pusten werden. Kaum ein Winkel der City ist sicher vor der Revolution, die sich vorbereitet; nur die Kirchen wird man nicht antasten. Um sie zu schonen, sollen hier und da selbst die weitesten Curven nicht gescheut werden, während man dagegen den mitten in der Stadt noch immer nicht überall beseitigten Friedhöfen wenig Rücksicht zudenkt und somit endlich einmal aufräumen wird mit einem von Londons schreiendsten Mißständen. So wird schließlich das eigentliche Herz Londons und des gesammten Großverkehrs der Erde überhaupt ein Gepräge erhalten, für das uns bis jetzt jedwede Vorstellung gefehlt, dem zu keiner Zeit irgendwelche Stadt auf diesem oder dem andern Continente Analoges an die Seite zu stellen gehabt hat. Ein Unicum, wie es eben nur London sein kann.

Der Anfang zu diesem neuesten London, das in seiner Vollendung das größte bauliche Wunder der Welt wie den Gipfelpunkt menschlicher Verkehrsthätigkeit repräsentiren wird, ist seit Jahren bereits gemacht. Schon sind viele Straßen zweiten und dritten Ranges völlig andere und neue geworden, abermals Tausende von Wohnungen, die noch den Armen und Aermsten Obdach boten, von der Erde weggefegt und ihre unglücklichen Insassen auf’s Neue in entlegene Winkel oder Gott weiß wohin verjagt, freilich aber auch durch Abbruch einer Menge von düstern unsaubern Gängen, Höfen und Gäßchen eine beträchtliche Anzahl von grausigen Schlupfwinkeln des Trunks und des Verbrechens beseitigt worden, und die Umwandelung dauert stetig fort und nimmt mit jedem Jahre kolossalere Dimensionen an, so daß sich der ortserfahrenste Londoner oft schon mitten auf den ihm von Kindesbeinen an geläufigsten Gassen und Plätzen nicht mehr mit Sicherheit „auszukennen“ im Stande ist. Wer mag’s ihm daher verargen, wenn er zu manchen dieser Wandelungen bedenklich den Kopf schüttelt und gern dem sich vollziehenden Umstürze Halt geböte, welchem so viele seiner Anschauungen und Gewohnheiten zum Opfer fallen sollen?

Was britischer Unternehmungsgeist und britische Ausdauer in Verbindung mit britischem Capitale vermögen, beweist vor vielem Andern die obenerwähnte Untergrund-Eisenbahn, die seit vierzehn Monaten als eine gelungene Thatsache dasteht und in nicht vollen zwei Jahren eine Strecke von ziemlich einer deutschen Meile mit täglichen 170 Zügen befährt. Ein nächstes unserer „Bilder aus dem Londoner Verkehrsleben“ wird diesem Meisterstücke menschlicher Technik gewidmet sein und, nach einer trefflichen Originalzeichnung, an einem der interessantesten Knotenpunkte des Straßenverkehrs einen Einblick in die mit genialer Kühnheit dem Dienste der Oberwelt tributpflichtig gemachte Unterwelt gewähren. Wir begnügen uns also hier einfach mit der Bemerkung, daß die Weiterverzweigung des unterirdischen Schienenstranges nach bis jetzt von ihm noch nicht berührten Stadttheilen auch unter den zwei Dutzend neuen Londoner Projecten figurirt.

Zwar nicht in die unheimlichen Regionen der finstern Tiefe tauchend, vielmehr, im diametralen Gegensatze, meist hoch in der Luft schwebend, doch durch Gedanken und Ausführung kaum minder großartig, ist ein anderes Actienunternehmen, das, ebenfalls dem alle Banden sprengenden Verkehrsstrome seine Entstehung verdankend, seit einigen Jahren das Londoner Publicum in Aufregung versetzt und den englischen illustrirten Blättern zum permanenten Ideenmagazine für Text und Bilder herhalten muß. Wir meinen die sogenannte Charing-Croß-Eisenbahn, die ihren Ausgang nimmt unweit dem alten Platze von Charing Croß, der heutzutage, nach Nelson’s Siege, zum Trafalgar-Square avancirt ist und in seiner Einfassung von Statuen und Denksäulen eine wahre Blüthenlese englischen Ungeschmacks vorstellt. Die ganze Linie dieser Bahn ist zwar kaum eine halbe deutsche Meile lang, macht aber nicht weniger als einhundert und neunzig Brückenbogen nothwendig, von denen allein achtzehn lebhafte Straßen überspannen, während sich ein eiserner Viaduct von über 400 Fuß Länge quer über einen vielbesuchten Marktplatz in den am Südufer des Stromes gelegenen industrieerfüllten Borough schwingt. Schon folgen sich von sieben Uhr Morgens bis halb ein Uhr Nachts die Züge dieser luftigen Bahn in nur viertelstündigen Intervallen, um nach und von Greenwich allein 140 Mal des Tags ihre lebendige und todte Fracht ein- und auszuladen.

[201] Noch bleibt uns in unserm heutigen allgemeinen Ueberblick über die theils sich anbahnenden, theils bereits in Anwendung gebrachten neuen Londoner Verkehrsmittel übrig, eines von jenen dreiundzwanzig Plänen zu gedenken, desjenigen, auf den sich unsere Abbildung bezieht. Wir erwähnen desselben zuletzt, nicht weil wir ihm die mindeste Wichtigkeit beimessen, sondern weil er auf absolute Neuigkeit keinen Anspruch machen kann und, nach stichhaltigem Versuche im kleinen Maßstabe, jetzt lediglich um eine Ausbreitung in’s Größere und Große bittet.

Die Leser der Gartenlaube haben von der sogenannten pneumatischen Brief- und Paquetbeförderung schon gehört, als man in London vor einigen Jahren zuerst auf die Idee kam, durch den Luftdruck Frachtstücke und selbst Passagiere zu befördern und Versuche im Kleinen damit anstellte; nur wenigen aber wird es, wie dem Zeichner unsers Bildes, vergönnt gewesen sein, dem Abgange des pneumatischen Depeschenzuges auf der derzeitigen Hauptstation desselben, dem Bahnhofe von Euston-Road, jenem großen Ausgangspunkte Londons nach dem englischen Nordwesten, nach Manchester und Liverpool, beizuwohnen. Wir dürfen daher unsere Illustration wohl noch mit einigen erläuternden Worten begleiten.

Der Gedanke, den Luftdruck als Beförderungsmittel und Locomotor zu gebrauchen, ist kein neuer. Er stammt bereits aus dem siebenzehnten Jahrhundert, wo Papin, von dessen luftdicht verschlossenem Topfe wir Alle in der Schule gelernt haben, auf den Grundsatz zuerst aufmerksam machte. Sowohl er aber, wie seine Nachfolger, gingen blos von der Idee aus, comprimirte Luft von hinten auf die zu bewegenden Gegenstände wirken zu lassen, dieselben also, wie eine Kugel aus dem Rohre, zu blasen. Erst Medhurst war es, der, vor ungefähr fünfzig Jahren, den Grundsatz aufstellte, die zu befördernden Dinge nicht durch verdichtete Luft fortzublasen, sondern durch ausgepumpte heranzuziehen, ganz ähnlich, wie das Wasser mittels eines Strohhalmes oder einer Glasröhre unsern Lippen zugeführt wird. Eine Ausführung in größerem Maßstabe fand diese Idee, die unserer pneumatischen Depeschenbeförderung zu Grunde liegt, zunächst in der sogenannten atmosphärischen Eisenbahn, die im Jahre 1840 von Clegg und Samuda auf dem West-Londoner Schienenwege versuchsweise in’s Werk gerichtet wurde. Indeß bewährte sich der Gedanke in der Praxis nicht, so daß man den Versuch bald fallen ließ und, wenn wir recht unterrichtet sind, das Princip nur noch auf einer Eisenbahn Irlands anwendet. Dagegen hat man den Grundsatz wieder aufgenommen, um ihn als Postboten zu verwerthen, für jetzt zwar nur zwischen einigen Bahnhofsstationen Londons, doch unterliegt es keinem Zweifel, daß die Pneumatische Beförderungsgesellschaft, the Pneumatic Despatch Company, – eine Privatactienunternehmung, die jetzt das Parlament um Concession zu weiterer Ausdehnung ihrer Thätigkeit ersucht, – in kurzer Zeit ihre Stationen und Linien durch ganz London errichtet und eine totale Revolution der gesammten Postbestellung verursacht haben wird.

Sehen wir uns jetzt unser Bild etwas näher an. Wir befinden uns, wie erwähnt, auf dem Bahnhofe von Euston-Road. Derselbe liegt auf jenem großen Verkehrswege, der am Nordsaume des eigentlichen Londons die Verbindung zwischen dem Westen und dem Osten der Stadt herstellt. Als End- und Anfangsstation der Hauptlinie von und nach Lancaster und Liverpool, gehört er zu den frequentesten Londons, und die Anzahl der von ihm abgehenden und auf ihm ankommenden Poststücke aller Art übersteigt unsere deutschen Vorstellungen.

Es ist eben Abgangszeit. Der eiserne Wagen, der einer Wiege nicht unähnlich ist, wird mit den Briefbeuteln gefüllt, die vor wenigen Augenblicken aus dem Norden und Nordwesten des Reichs angelangt sind. Sobald dies geschehen, zeigt es der dicht daneben befindliche Telegraph der nächsten Station an. Der Wagen gleitet in die Röhre, in die man mittels einer Dampfmaschine die Luft einbläst, die Klappe schließt sich, und fort saust der Wagen mit einer Geschwindigkeit, welche in einer halben Minute die Entfernung von etwa einer Viertelstunde zurücklegt. Die nächste Station ist das Zweigpostamt von Eversholt-Street, etwa 1800 Fuß vom Euston-Bahnhofe entfernt. – Der Haupttheil des nothwendigen Apparates stellt sich in Form eines großen flachen Gehäuses mit rundem Obertheile dar, das, vier Fuß über dem Boden, von einer auf gußeisernem Gestelle laufenden schmiedeeisernen Welle durchzogen ist und „Auswerfer“ – pneumatic ejector – heißt. Er hat die Bestimmung, die Luft in Bewegung zu setzen, um auf der Euston-Station die Wagen durch Einblasen und zurück durch Aussaugen von Luft zu befördern. Hinter diesem großen Gehäuse – rechts auf unserer Abbildung – mit seinem Ventilator von mehr als zwanzig Fuß Durchmesser, ist eine Hochdruckdampfmaschine von zehn Pferdekräften aufgestellt. Sie ist es, welche mittelbar die Function des Lufteinblasens und Luftaussaugens zu versehen hat. Elektrische Telegraphen besorgen, wie wir schon erfuhren, zwar die Correspondenz zwischen den beiden Endstationen; man kennt aber ohnedem die Ankunft an beiden Stationen so auf die Minute genau, daß die Klappe, welche die Röhre schließt, immer rechtzeitig vorher geöffnet und mit der wieder einströmenden Luft jedweder ungestüme Anprall des ansausenden Zugs vermieden wird. Ueberdies sind die einzelnen Wagen, welche den Briefzug bilden, mit Gummipuffern versehen, so daß auch hierdurch der Stoß sich abschwächt.

Für jetzt werden täglich etwa zwanzig Briefwagenzüge auf der erwähnten Strecke hin- und herbefördert. Selbstverständlich erschöpft dies noch nicht die Leistungsfähigkeit des Apparates, so daß augenblicklich der Dampfverbrauch verhältnißmäßig noch ein viel zu großer ist. Trotzdem aber stellt sich der tägliche Consum von Brennmaterial immer nicht viel höher als sechs Schillinge oder etwa zwei Thaler, und mithin würden sich die Kosten für eine Doppelfahrt auf nicht mehr als ungefähr 5 Pence oder nicht ganz 4 Sgr. berechnen. Zieht man vollends die Zeitersparniß dieser Postbeförderung in Betracht und bedenkt, daß in London das englische Dictum „Zeit ist Geld“ mehr als irgendanderswo seine Berechtigung hat, so scheint uns kaum noch zweifelhaft, daß die Luftpost, die ihre jetzige Vervollkommnung hauptsächlich dem Ingenieur Rammel verdankt, in nicht zu ferner Zukunft nicht blos durch London, sondern durch alle größeren Städte Großbritanniens und des Festlands zu jenen dauernden Errungenschaften zählen wird, die unabhängig sind von den jeweiligen politischen Windströmungen.




Auf der Rhede von Cuxhaven.
Eine Erinnerung an die deutsche Flotte.


Es war am 4. Juni 1849, als nach dem Seegefecht bei Helgoland die deutschen Dampfer Friedrich I. Barbarossa, Hamburg und Lübeck, verfolgt von einem weit überlegenen dänischen Geschwader, gegen Abend der Elbe zusteuerten. Der Weg nach der Weser, von wo sie am Morgen ausgelaufen und wohin sie hätten zurückkehren sollen, war ihnen abgeschnitten. Obgleich fast uns Allen an Bord das Gefecht zu früh beendet schien und wir trotz der widrigen Umstände, welche eingetreten waren, gern dem Feinde noch näher auf den Leib gerückt wären, so machte unserem nur auf Unkenntnis und Tollkühnheit begründeten Unmuthe doch bald wieder die heiterste Laune Platz; es war ja das erste Gefecht, welches die junge Flotte bestanden, und Jeder an Bord, vom Capitain bis zum Schiffsjungen, hoffte mit Zuversicht, es werde nicht das letzte sein.

Ich war noch eine vollständige Landratte, denn erst am 3. Juni, also am Tage vor dem obenerwähnten Gefechte, hatte ich das erste Mal das Deck eines Seeschiffes betreten. Ich war Seejunker an Bord der Dampfcorvette Lübeck. Obgleich der zuletzt an Bord gekommene Seejunker, hatte ich doch von den Uebrigen meines Ranges wenig zu leiden, da die Meisten derselben gleich mir noch nicht auf See gewesen waren und ich auch zu den Aelteren und Stärkeren gehörte. Zum Lachen gaben wir Landratten aber Alle – hierzu gehörten auch der Doctor und der Zahlmeister – oft genug Veranlassung, am meisten natürlich diejenigen von uns, welche, nicht in der Nähe der See geboren, ganz vor Kurzem dieselbe zuerst gesehen und kennen gelernt hatten.

So war es am Morgen nach dem Gefechte bei Helgoland, daß unser Doctor, ein Rheinländer, der sich übrigens schon länger als einen Monat an Bord befand und bereits etwas auf seine maritimen Erfahrungen einbildete, seine Unkenntniß in See- und Schiffssachen bitter zu büßen hatte. Als er nämlich auf Deck kam, war er sehr erstaunt, Cuxhaven nicht mehr auf derselben Seite der Elbe zu erblicken, auf welcher es seiner Ansicht nach am Abend [202] vorher gelegen hatte. Er versicherte hoch und theuer, Cuxhaven habe gestern ihm zur Linken gelegen, wenn er, auf dem Hinterdeck stehend, das Gesicht dem Großmast zugewendet; heute lag es ihm, obgleich er ebenso stand, zur Rechten. Es wurde ihm nun eingeredet, er habe gestern wohl zu Ehren des glücklich überstandenen Gefechtes im ungewohnten Grog des Guten zu viel geleistet. Das wollte er aber durchaus nicht Wort haben und stritt auf Tod und Leben in der ihm eigenen lebhaften und lauten Weise und in seiner rheinischen, an Bord wenig bekannten Mundart über die besagte Erscheinung, die er sich schlechterdings nicht erklären konnte. Daß die anwesenden Officiere, der Commandant nicht ausgenommen, so herzlich lachten, wie es nur irgend die Etiquette auf dem Quarterdeck erlaubt, kann sich Jeder leicht denken, welcher die bezüglichen Verhältnisse kennt. Dem guten Doctor war es nämlich entgangen, daß das Schiff geswait hatte und, während es am Abend unserer Ankunft vor Fluth gelegen, am nächsten Morgen zufällig vor Ebbe, sonach am Abend mit der Backbordseite, am Morgen dagegen mit der Steuerbordseite Cuxhaven gegenüberlag.

Am selben Morgen war es ferner meine Wenigkeit, die den Stoff zum Tagesgespräch auf allen drei Schiffen des Geschwaders lieferte. Kurz vor Mittag wurde am Besanmaste des Barbarossa, auf welchem sich Commodore Brommy als Befehlshaber des Geschwaders befand, das Signal aufgehißt: „Der Seejunker Nr. 4“ – das war ich – „soll an Bord kommen!“ Da ich speciell genannt war, so konnte es sich nicht um einen abzuholenden Befehl handeln, sonst wäre ein beliebiger Seejunker oder der Schiffssecretair gerufen worden. In weniger als fünf Minuten war ein Seitenboot bemannt, ich saß darin und fuhr dem Commodoreschiff zu. Es war erbärmliches Wetter, ein steifer Südwest mit starkem Regen und hohem Seegang; dies focht mich aber wenig an, und ich merkte nicht einmal, daß ich bis auf die Haut durchnäßt wurde, da ich in der Eile ohne Regenmantel und Südwester (Kopfbedeckung) abgefahren war. All mein Denken concentrirte sich im Nachgrübeln über die Ursache meiner Berufung auf das Commodoreschiff. Wie Mancherlei durchkreuzte mein armes Gehirn! Vor Allem aber quälte mich die an Bord noch im letzten Augenblick von meinen Cameraden ausgesprochene Vermuthung, ich sei gerufen worden, um vor ein Kriegsgericht gestellt zu werden, weil ich während des Gefechts, mit dem Beobachten der Signale betraut, das Signal „Umkehren“, welches den Rückzug der Schiffe befahl, nicht – wie es auch wirklich der Fall war – augenblicklich gesehen und dem Commandanten der Lübeck gemeldet hätte.

Das Boot ging auf und nieder und die hohen Wellen verbargen mitunter den Barbarossa, auf welchen mein Blick gerichtet war. Ich glaube, ich wünschte damals, wir möchten ihn nie erreichen! Kriegsgericht, strenge Strafe oder gar Entlassung aus dem Flottendienst, das waren die Popanze, die mich bis unter Bord des Commodoreschiffes geleiteten. Nur mit Mühe konnte angelegt werden, nachdem man uns von Bord aus ein Tau zugeworfen hatte. Mit einem kühnen Sprung schwang ich mich, als das Boot durch eine Welle hoch genug emporgeworfen worden war, auf die Fallreepstreppe, im nächsten Augenblicke stand ich auf Deck. Zum Glück blieb ich ruhig stehen und wartete auf einen weiteren Befehl; denn ich wäre sicherlich, statt nach dem Quarterdeck, nach vorn gegangen, was übrigens auch einem weniger befangenen Anfänger begegnen kann, aber stets Spötteleien und Witze der Anwesenden nach sich zieht. Man führte mich schweigend hinunter zur Kajüte des Commodore; die Thüre öffnete sich, ich trat ein. Um einen schwarzbehangenen Tisch, o schrecklicher Anblick! saßen fünf oder sechs Officiere; am untern Ende Commodore Brommy, ihm zur Rechten der Commandant des Barbarossa, Capitain King, zur Linken ein Herr in mir fremder Uniform; die übrigen Officiere kannte ich nicht. Es herrschte eine feierliche Stille. Der Commodore winkte mir, heranzutreten. Ich glaube, ich habe damals gezittert; jedenfalls hätte ich mich viel behaglicher an Bord eines brennenden Schiffes, als in besagter Gesellschaft befunden. Doch ich faßte Muth und ging in militärischer Haltung auf den Commodore zu. Eine strenge Bewegung seiner Hand gebot mir Halt; ich war noch drei Schritte von ihm entfernt. „Herr Seejunker,“ begann er hierauf, „vermissen Sie keine Papiere, Briefschaften und dergleichen?“

„Daß ich nicht wüßte, Herr Commodore,“ war meine Antwort.

„Keinerlei Zeichnungen, Bleistiftskizzen und dergleichen?“

„Nein, Herr Commodore.“

„Treten Sie näher,“ sprach er nun und deutete nach einem Haufen Papiere, die, vorher in ein Paket zusammengebunden, auf dem Tische ausgebreitet waren. Sofort erkannte ich diese Papiere. Ein jäher Schreck fuhr mir durch die Glieder. Mit bebender Stimme antwortete ich auf die Frage des Commodore: „Kennen Sie diese Papiere?“: „Ja, Herr Commodore, sie gehörten mir zu, ich warf sie gestern Abend über Bord, um sie zu vernichten.“

Mit diesen Papieren hatte es aber folgende Bewandtniß. Nachdem ich mich eingeschifft hatte, war ich zu meinem Leidwesen gewahr geworden, daß es in der engen Seejunker-Kajüte keinen verschließbaren Raum für jeden Einzelnen gab, daß vielmehr daselbst Gütergemeinschaft in des Worts verwegenster Bedeutung herrschte. Ich besaß aber einige Briefe, Scripturen und Zeichnungen, die ich ungern den Augen meiner nichts weniger als discreten Cameraden ausgesetzt hätte und daher zu vernichten beschloß. Ich erhaschte hierzu, es war gerade vor dem Einlaufen in die Elbe, einen freien Augenblick, band die der Vernichtung geweihten Papiere zusammen, und übergab sie der hochgehenden See, fest überzeugt, diese werde meine kleinen Geheimnisse in ihrem dunklen Schooße am besten und auf ewig verbergen. Dem war aber nicht so: die See hatte vielmehr, wie ich sah, den schmählichsten Verrath an mir geübt. Unter den erwähnten Papieren befand sich nämlich nicht nur eine Anzahl rosarother Briefchen mit getrockneten Blümchen und Blättchen darin, sondern auch nebst andern ganz harmlosen Skizzen und das war das Schrecklichste! – ein Blatt, auf welchem ich den Commodore in nicht zu verkennender Aehnlichkeit skizzirt hatte. Eine Caricatur konnte man zwar die Skizze nicht nennen, nur hatte ich Schnurrbart und Leib des Mannes nicht unbedeutend vergrößert, seiner Körperlänge aber unverhältnißmäßig Abbruch gethan.

Commodore Brommy war nämlich von mittlerer Statur, hatte einen etwas starken Leib und trug einen über die Lippen fallenden, ziemlich langen Schnurrbart. Die faltenreiche Stirn und das finsterblickende Augenpaar schienen auf meiner Skizze ein nahes Donnerwetter zu verkünden. Außerdem hatte ich dem Hute eine der napoleonischen ähnliche Form und dem Säbel eine etwas mehr als türkische Krümmung beigelegt. Mit einem Worte, ich hatte meiner Phantasie freien Spielraum gelassen, um der Figur etwas recht Tyrannisches zu geben. Der Commodore konnte mitunter sehr heftig sein und fürchterlich poltern, zumal wenn er Verweise gab. Davon war mir schon einmal eine Probe geworden, als ich in Bremerhaven eines Tages versäumt hatte, einen höheren Officier zu salutiren.

Ueber den Grund meines Verfahrens hinsichtlich der Vernichtung jener Papiere befragt, machte ich dem Commodore eine kurze, aber genügende Mittheilung. Seine Stirn, die vorher in ernste Amtsfalten gelegt war, glättete sich plötzlich, und indem seine Züge jenen freundlichen Ausdruck annahmen, der ihm stets so gut stand, sprach er lächelnd zu mir, der ich wie neu belebt nun wieder aufathmete: „Sehen Sie, junger Herr, diese Papiere hat soeben der Herr Amtmann hier“ – er deutete auf den Herrn in der mir fremden Uniform – „an Bord gebracht. Ihm hat sie ein Fischer, der sie am Elbestrande, anderthalb Meilen stromaufwärts, gefunden hat, heute Morgen übergeben. Für die Zukunft rathe ich Ihnen, um die Leute nicht wieder unnöthigerweise zu beunruhigen und zu bemühen, Ihre entbehrlichen Papiere lieber zu verbrennen, als über Bord zu werfen. Auch lassen Sie sich über die Verhältnisse von Ebbe und Fluth an den Flußmündungen belehren, denn es scheint Ihnen merkwürdig vorzukommen, daß Ihre Papiere, die Sie vor der Elbemündung über Bord warfen, anderthalb Meilen stromaufwärts am Elbeufer gefunden wurden. Nicht wahr, so ist es?“

Ich verzog den Mund zu einem verschämten Lächeln. Der Commodore machte eine kleine Pause, dann fuhr er fort:

„An der Adresse der Briefe hat man den muthmaßlichen Besitzer des Pakets erkannt; aber wer ist denn, wenn man fragen darf, der Künstler, der diese vortrefflichen, leider ein wenig durchnäßten Bleistiftskizzen verfertigt hat?“

Vertrauend auf die freundliche Sprache des Commodores erwiderte ich offenherzig: „Ich, Herr Commodore!“

„Nun,“ sagte dieser, „ich gebe Ihnen hiermit Ihre Papiere bis auf eines zurück; eine Ihrer Skizzen werde ich nämlich so frei sein, für mich zu behalten, das heißt dem Fischer abzukaufen, dem das Paket doch eigentlich jetzt zugehört, da er es am Strande gefunden hat. Denn, nichtwahr, Herr Amtmann, hier gilt ja noch [203] das alte Strandrecht, und es wird sogar auf der Kanzel jeden Sonntag gebetet: „„Gott segne unseren Strand,““ – nämlich mit gestrandeten Schiffen?“

Hierauf reichte der Commodore die ihn vorstellende Skizze dem Amtmann, der mit offenbar großer Mühe sein steifes Actengesicht zu einem Lächeln zwang, und bat denselben, sie im Kreise weitergehen zu lassen. Dann stand er auf und holte eine verschließbare Briefmappe herbei, die er mir mit den Worten übergab:

„Hier haben Sie etwas zur Aufbewahrung Ihrer Papiere, und nun können Sie wieder an Bord zurückkehren. Guten Morgen!“

Ich war wahrhaft gerührt und machte eine tiefe, ich glaube, recht unmilitärische Verbeugung. Wer war aber froher als ich mit meiner Mappe! Wie beneidete man mich in der Seejunker-Kajüte um mein kleines Erlebniß! – Das deutsche Geschwader sollte längere Zeit auf der Rhede von Cuxhaven bleiben. Obgleich kein Seehafen so wenig Unterhaltung bietet, wie dieser, und auch in jetziger Periode wegen des Krieges beinahe gar keine Badegäste erschienen waren, so unterhielt man sich doch mitunter vortrefflich am Lande; denn es durchwehte das junge Volk unserer Schiffe ein so froher, frischer Geist, wie ich ihn nicht leicht anderswo im Leben wiedergefunden habe. Auch der Commodore und die Commandanten schienen sich am Lande gut zu gefallen und folgten öfters den Einladungen der Hamburger und hannoverischen Amts-Notabilitäten von Cuxhaven, Ritzebüttel und Umgegend. Als Revanche hierfür beschloß der Commodore denselben ein solennes Frühstück an Bord des Barbarossa zu geben. Dieses sollte am 14. Juni stattfinden. Schon einige Tage vorher ergingen die Einladungen und wurden Vorbereitungen dazu getroffen, deren Vielseitigkeit auf ein großartiges Fest schließen ließ. Am Lande wurden Bestellungen aller Art gemacht, und die letzten Tage vor dem Frühstück sah man Boote in Menge zwischen der Stadt und dem Barbarossa unaufhörlich hin- und herfahren. Sie brachten der Herrlichkeiten gar viele an Bord, Wildpret und Geflügel, Fische, Austern und selbst Schildkröten, Gemüse und Obst aus dem Süden, aber auch Körbe voll Flaschen, darunter zahlreiche Silberköpfe und rheinische Langhälse. Die Boote fuhren alle unter der Lübeck her und gaben ihren kostbaren Inhalt den mitunter lüsternen Blicken der auf Deck Befindlichen preis.

Am Lande wurde von nichts Anderem gesprochen, als von dem Feste, welches der Commodore geben würde. Manchem wässerte wohl schon der Mund nach den Leckerbissen und den köstlichen Weinen, die von Hamburg und noch weiterher angelangt waren. So waren der Abend und die Nacht des 13. Juni herangekommen. Mich hatte die Hundswache, d. i. die Wache von Mitternacht bis vier Uhr Morgens, getroffen. Eine Stunde dieser unangenehmsten aller Wachen war glücklich vorüber und ich beschäftigte mich, um nicht einzuschlafen, damit, die Schritte des Decks von vorn nach hinten und wieder zurück zu zählen, als ich ein Gerassel, wie wenn auf einem der beiden anderen Schiffe des Geschwaders ein Boot in’s Wasser gelassen würde, zu hören glaubte. Vom Wachofficier war dieselbe Wahrnehmung gemacht worden. Wir hatten uns nicht getäuscht. Kurz darauf löste sich ein schwarzer Körper von dem Commodoreschiff ab und bald sahen wir denselben der Lübeck zuschwimmen. Es war ein Boot, welches mit leisem Ruderschlag auf uns zusteuerte. Wenige Minuten später praiten wir dasselbe an und auf unserem Ruf: „Boot ahoi!“ ertönte daraus die Erwiderung: „Lübeck an Bord!“ Das Boot legte an, ein Seejunker sprang auf die Fallreepstreppe und übergab eine versiegelte Depesche, welche augenblicklich dem Commandanten zu behändigen sei. Dann stieß der Ueberbringer wieder ab und steuerte der Hamburg zu. Noch war er nicht dort angelangt, als unser Commandant, den man sofort geweckt hatte, schon auf Deck kam. Fast gleichzeitig erschienen daselbst der erste Lieutenant, der erste Maschinen-Ingenieur und der Bootsmann, welche der Commandant bereits hatte rufen lassen. Er sprach einige Worte leise mit ihnen, worauf die beiden Letztgenannten nach vorn und hinab in das Zwischendeck eilten. Ohne daß die Bootmannspseife und der Ruf: „Alle Mann an Deck!“ erschallt wäre, kam kurz darauf die Mannschaft, allerdings ein wenig verschlafen und vereinzelt, an Deck. Rasch waren die Hängematten in die Finknetze gestaut, und in der Maschine wurde es hell und lebhaft. Die Feuer wurden angezündet. Inzwischen waren auch sämmtliche Officiere und Seejunker auf Deck gekommen. Nach Verlauf einer halben Stunde, während welcher Alles seeklar gemacht worden war, eilte auf einen halblaut ertheilten Befehl die Mannschaft zum Gangspill, welches sich alsbald, diesmal ohne die belebende Musik von Trommel und Pfeife, aber dennoch so rasch, wie nur jemals, zu drehen begann. Eben waren unsere Anker gehoben, als der Barbarossa seine Räder in Bewegung setzte und nach See zu dampfte. Unmittelbar darauf thaten wir das Gleiche, indem wir ihm in seinem Kielwasser nachsteuerten. Wenige Minuten nachher verließ auch die Hamburg ihren Ankerplatz und folgte der Lübeck. Der Leuchtthurm von Cuxhaven lag bald weit hinter uns, und das Geschwader befand sich auf hoher See. Dasselbe steuerte nun westlich und hielt sich den Watten so nahe, als dies nur irgend ohne Gefahr für die Schiffe möglich war.

Bald brach der Tag an, und wie eine riesige Glühkugel stieg im Osten die Sonne auf. Aber siehe da! außer ihr tauchten in der gleichen Richtung noch zwei andere Dinge aus der Fluth empor: es waren die dänischen Fregatten Thetis und Bellona, welche, wie man wußte, vor der Elbe kreuzten. Sobald diese uns wahrgenommen, änderten sie ihren südwestlichen Curs und steuerten uns bei frischer Ostbrise mit vollgebraßten Segeln nach. Unsere kleinen Dampfer hätten es alle drei nicht mit einer einzigen dieser Fregatten aufnehmen können, wie viel weniger mit beiden; denn während jede derselben über vierzig Geschütze trug, zählten wir deren zusammen nur dreizehn. Wir fuhren daher alle mit vollster Kraft, aber die Lübeck, welche die schwächste Maschine des Geschwaders besaß, blieb zurück. Nach Verlauf von zwei Stunden hatte uns die Thetis soweit eingeholt, daß wir den Standort des Commodore Steen-Bille am Vortop mit dem Fernrohr gut unterscheiden konnten. Einige Kugeln, welche sie mit ihren Jagdgeschützen uns nachfeuerte, fielen indeß mehrere Kabellängen von unserem Deck entfernt in See. Wir erwiderten die Schüsse mit unserem weittragenden Zweiunddreißigpfünder, liefen aber gleichzeitig unter der Führung des trefflichen Weserlootsen zwischen zwei Watten hindurch. In dieses enge und niedrige Fahrwasser konnten uns die tiefgehenden Fregatten, welche in näherer Distanz verderbenbringend gewesen waren, nicht folgen. Barbarossa und Hamburg waren schon weit voraus – unser kleines Geschwader war den Dänen glücklich entronnen. Als dies die Fregatten sahen, schlugen sie einen nordwestlichen Curs ein und verschwanden bald darauf unseren Blicken. Eine Stunde nachher liefen wir in die Wesermündung ein und gingen unweit der Bremer Baake vor Anker.

Wie mögen sich die Cuxhavener am Morgen dieses Tages gewundert haben, als sie sahen oder erfuhren, daß die deutschen Schiffe nicht mehr auf ihrer Rhede lagen, und wie schwer hat sich wohl Mancher der Eingeladenen über das zu Wasser gewordene Frühstück auf dem Barbarossa geärgert! Mit diesem Frühstück verhielt es sich aber folgendermaßen: Man wußte nur zu gut, daß es in Cuxhaven Leute gäbe, die es niederträchtigerweise mit dem Feinde hielten, ja den Verrath am Vaterlande soweit trieben, daß sie den vor der Elbe kreuzenden feindlichen Schiffen alle Tage den möglichst genauen Rapport über Thun und Lassen der deutschen Truppen und Fahrzeuge, zumal unseres kleinen Dampfer-Geschwaders, erstatteten. Ganz natürlich mußten die Dänen auch von dem projectirten Frühstück hören. Dem Commodore Brommy war es aber vor Allem darum zu thun, mit dem kleinen Geschwader wieder in die Weser zurückzugelangen, wo die übrigen deutschen Dampfer, in ihrer Ausrüstung begriffen, lagen. In der Voraussetzung nun, die Dänen würden, wenn sie von dem besagten großartigen Frühstücke vernähmen, wenigstens in einer oder der anderen Art durch Sorglosigkeit bei Ueberwachung der Elbemündung die Ausführung seines Vorhabens erleichtern, hatte er die Kriegslist gebraucht, in der ostensibelsten Weise jenes Fest, welches niemals stattfinden sollte, vorzubereiten, um gerade an dem hierfür festgesetzten Tage die Elbe zu verlassen. Ihm wurde die Genugthuung, daß wir wirklich den glücklichen Erfolg des Unternehmens dieser Kriegslist zu danken hatten. Die Dänen waren, wie wir später hörten, in der That gerade am 13. Juni weiter nördlich gesegelt, als an irgend einem Tag vorher seit dem 4. Juni, und kamen Tags darauf erst wieder in die Nähe der Elbemündung, als wir dieselbe bereits verlassen und hinreichenden Vorsprung gewonnen hatten.

Den für das unterbliebene Frühstück angekauften frischen Proviant ließ aber der Commodore derart vertheilen, daß auch die stets bedürftigen Seejunker-Kajüten einen, wenn auch nur kleinen, Theil davon erhielten. Und da klang denn manches: „Hoch Vater Brommy!“ „Pereant die Dänen!“ und „Hoch Deutschland zur See!“


[204]
Aus den Landen des verlassenen Bruderstammes.
5. Schloß Gottorp.

Es war ein ungewöhnlich stürmischer und kalter Maitag im Jahre 1849, wie man sie trotz des Nachtigallenschlages in den herrlichen Buchengehölzen nur auf der schmalen cimbrischen Halbinsel kennt, als ich allein in einer wenig comfortablen Postkutsche von Eckernförde aus mich zum ersten Male der uralten Schleistadt, dem historisch berühmten Schleswig, näherte. Wir hatten den Bustorfer Teich, den man auch See nennen könnte, erreicht, welcher sich vor der Vorstadt Friedrichsberg in die Schlei ergießt, da gewahrte ich gerade vor mir einen durch nichts Besonderes sich auszeichnenden Thurm von nur geringer Höhe.

„Schloß Gottorp!“ sagte der Postillon, ließ am Eingange der Stadt sein Horn erklingen und trieb die Pferde zu rascherem Laufe an. Zwischen den Häusern von Friedrichsberg verlor ich das berühmte Schloß, mit dessen Namen die Geschicke des Landes so eng verknüpft sind, schnell wieder aus den Augen, und bekam es erst in seiner vollen Ausdehnung auf dem breiten Dammwege zu Gesicht, welcher, Gottorp in kurzer Curve umgehend, nach der eigentlichen Stadt Schleswig führt.

Gottorp liegt auf einer Insel am äußersten Westende des Schleibusens, welcher durch den eben erwähnten Chausseedamm von dem eigentlichen Meerstrome abgeschnitten ist und nur einen kleinen, stillen, an manchen Stellen reich mit Schilf bewachsenen Teich oder See bildet. Der Bau des Schlosses fällt in die Mitte des zwölften Jahrhunderts. Architektonische Schönheiten wüßte ich demselben nicht nachzurühmen; es imponirt jedoch durch seinen gewaltigen Umfang wie durch seine Höhe und macht einen bedeutenden Eindruck. Daß man dem abseit von der Stadt gelegenen ernsten Bau zuerst und immer gern wieder von Neuem seine Blicke zuwendet, dazu mag für denjenigen, welcher geschichtlichen Sinn hat, sowohl die Vergangenheit des Schlosses selbst wie sein Name viel mit beitragen.

Ursprünglich war das Schloß Residenz des Bischofs von Schleswig, auf dessen Befehl es erbaut ward. Noch heute macht es den Eindruck einer fürstbischöflichen Hofhaltung, an welche besonders auch die verhältnismäßig geräumige Schloßkirche, in der Mitte des gewaltigen Vierecks gelegen, erinnert. Geistliches Eigenthum blieb indeß Gottorp nur reichlich hundert Jahre; denn schon 1268 erwarb es Herzog Friedrich II. durch Tausch und gestaltete es sofort zu einer Festung um, zu welcher es sich durch seine abgeschlossene Lage mitten in dem tiefen, schwer zugänglichen See vortrefflich eignete. Diesen Charakter, dem es in zahlreichen Kämpfen während des Mittelalters Ehre machte, hat es bis auf den heutigen Tag behalten, obwohl es schon seit dem Jahre 1544 zur Residenz für die Herzöge von Holstein-Gottorp durch den dänischen König Friedrich II. umgestaltet ward. Bis zum Jahre 1713 blieb es fortdauernd Residenz dieser Herzöge. Später verlegte man den Sitz der Regierung für Schleswig-Holstein, sowie das schleswig’sche Ober- und Landesgericht in die umfangreichen Baulichkeiten des Schlosses, wodurch leider die Mehrzahl seiner Gemächer ihr fürstliches Aussehen verloren. Noch in den ersten Jahren nach der Erhebung war es Sitz der Regierung der Herzogthümer, wie denn vorzugsweise in der Stadt Schleswig sich die Intelligenz des ganzen Landes concentrirte.

Nach Entwaffnung der Herzogthümer 1851 und dem darauf folgenden Wiedereinzug der Dänen in die ihnen verhaßte Schleistadt verwandelte man Gottorp in eine Caserne, die es bis auf die Gegenwart geblieben ist. Nur einige Zimmer wurden in wohnlichem Zustande erhalten, damit gelegentlich in Schleswig eintreffende und daselbst kurze Zeit sich aufhaltende fürstliche Personen ein ihrem Range angemessenes Unterkommen finden möchten. Oft freilich ward Schleswig dieser Ehre nicht theilhaftig. Der verstorbene König Friedrich VII. wußte zu gut, daß die braven Bewohner dieser Stadt ihm und seiner Regierung zu grollen das vollste Recht hatten. Er vermied es daher, Schleswig zu besuchen, wenn nicht gerade ein besonderer Anlaß dazu vorlag. Die Herzöge aber aus dem Hause Glücksburg lebten theils in Kopenhagen, theils in Kiel oder traten in auswärtige Kriegsdienste. Der einzige Glücksburger, welcher als Oberhaupt der ganzen Linie wohl gern in Gottorp Hof gehalten haben würde, Herzog Carl, ältester Bruder des jetzigen Königs Christian IX. von Dänemark, durfte dies schon aus Klugheit nicht thun, um sich nicht den unversöhnlichen Haß der ganzen dänischen Nation, den er ohnehin schon besaß, in noch höherem Grade zuzuziehen. Er lebte im Winter auf dem Schlosse in Kiel, während er Frühjahr und Sommer auf dem ihm gehörenden Schlosse Louisenlund an der Schlei zubrachte. Herzog Carl von Glücksburg kämpfte nämlich während der Erhebungsjahre in den Reihen der schleswig-holsteinischen Armee als guter Deutscher gegen Dänemark und mußte sich später als Amnestirter möglichst ruhig verhalten.

Schloß Gottorp, das mit seinen Mauern, welche geräumige Plätze umschließen, ein unregelmäßiges Viereck bildet, ließe sich gewiß mit Leichtigkeit zu einem respectabeln festen Platze machen, dem schwer beizukommen wäre. Da man jedoch neuerdings sich mit Belagerung und Berennung fester Plätze nur dann abgiebt, wenn sie den ferneren Kriegsoperationen durch ihre Lage hinderlich oder gar gefährlich werden können, so haben die Dänen wohl ganz recht daran gethan, daß sie von einer ernsthaften Befestigung des berühmten Fürstensitzes Abstand nahmen. Von den nahen Höhen des Thiergartens im Norden wäre das Schloß mit wenigen Bomben in Brand zu schießen, auch würde es sich leicht aushungern lassen. Jedenfalls lag es aber ursprünglich nicht in der Absicht der Dänen, Gottorp ohne vorhergegangenen Kampf in größter Eile zu räumen, sonst könnte die nächste Umgebung desselben unmöglich so aussehen, wie sie sich gegenwärtig darstellt.

Wie schon bemerkt, führt von der Südseite, welcher sich die Fronte des ehrwürdigen Schlosses zukehrt, nach dem geräumigen Schloßhofe, in dem sich eine ganz stattliche Streitmacht versammeln ließe, ein breiter Dammweg durch den See, den früher zu beiden Seiten prächtige alte Lindenbäume umsäumten.

Von diesen malerischen Bäumen ist gegenwärtig kaum noch eine Spur vorhanden. Die Dänen hatten sie alle, wahrscheinlich erst nach dem Vorrücken der österreichisch-preußischen Truppen, umgesägt, aber so mit Balken gestützt, daß sie noch beim Einzuge der Oesterreicher in die Stadt aufrecht standen. Ohne Zweifel also wollte man im Fall eines Durchbruches der Deutschen auf irgend einem Punkte der so weit ausgedehnten Danewerkstellung sich im Schlosse selbst noch eine Zeit lang zu halten suchen, um den Rückzug der Armee zu decken. Mittels der abgesägten Bäume war der Zugang zum Schlosse durch ein starkes Verhau leicht zu sperren, und unterhielten die Dänen aus den Fenstern Gottorps ein wohlgezieltes Musketenfeuer auf die ungestüm vordringenden Deutschen, so konnte es immerhin Blut genug kosten. Zwei Tage noch vor dem Abzuge der dänischen Armee aus dem so furchtbar verschanzten Danewerke hatte König Christian IX. sein Hoflager in dem uralten Schlosse seiner Väter aufgeschlagen. Der Aufenthalt kann für den arg bedrängten Monarchen, für welchen die Dänen kein Herz haben, weil er ein Deutscher ist und sie ihm nicht trauen, und den alle Schleswig-Holsteiner als den gefährlichsten Feind ihrer gerechten Sache betrachten müssen, nicht viel Anziehendes gehabt haben. Aus den Fenstern der von ihm bewohnten Zimmer erblickte er ebenso die von seiner Armee vertheidigten Schanzen des Danewerkes gerade da, wo die stärksten Befestigungen sich befanden, wie er das Aufblitzen der feindlichen Geschütze nach der Erstürmung des Königsberges bei Ober-Selk gewahren mußte. Bis nahe an das Schloß rollten die Granaten der Deutschen, und das Eis der Schlei war mit gesprungenen Hohlgeschossen bedeckt. Nur Flucht, schleunige Flucht, konnte den ungeliebten König vor größeren Gefahren schützen. . .

Den siegreich vorgehenden Oesterreichern blieb keine Zeit, auf dem Schloßhofe aufzuräumen, weshalb man denselben noch mehrere Tage später fast ganz in demselben Zustande antraf, den er zur Zeit des nächtlichen Rückzuges der Dänen gehabt haben mochte.

Da lagen neben einer Unmasse zerstampften Strohes ungeheure Stöße von Faschinen und Pfählen zu Palissaden, dort Schanzkörbe und jene abscheulichen spanischen Reiter, auf deren spitzen Eisenklingen bei nothwendig gewordenem und wirklich unternommenem Sturme auf die Schanzen mancher brave Soldat elendiglich seinen Tod gefunden haben würde. Kugeln endlich der verschiedensten Größe waren überall zu hohen Pyramiden aufgeschichtet.

Nachdem der Kriegsschauplatz weiter nach Norden verlegt wurde, trat in Schleswig wieder die alte Stille ein, die nur durch das

[205]

Oesterreichische Militärschenke im Keller von Schloß Gottorp.
Originalzeichnung unsers Specialartisten E. Wolperding.

[206] Kommen und Gehen von Truppen, welche der Armee nacheilten, unterbrochen ward. Einer starken Besatzung, damit nicht etwa die öffentliche Ruhe gestört werde, bedarf keine Stadt des Herzogthums weniger, als gerade Schleswig. Die Bevölkerung ist grunddeutsch; die verhaßten dänischen Beamten wurden schon in den ersten Tagen der Befreiung in aller Ruhe entfernt, und nach ungeordneten Zuständen, welche die furchtbar bedrückten und in Folge dessen auch etwas gedrückten Schleswiger zur Genüge kennen lernten, trägt Niemand Verlangen. Mit den Oesterreichern aber, die Jeder als Befreier ehrt, die man mit der größten Zuvorkommenheit pflegt, wie dies die vielen Kranken und Verwundeten aus dem überaus blutigen Treffen von Oeversee bezeugen können, mit diesen Oesterreichern, die gar nichts Abstoßendes, nichts Gemachtes oder gar Hochfahrendes haben, steht sich Jung und Alt gut.

Es ist aber auch wirklich ein harmloses, dabei fröhliches und originelles Volk, das der Krieg aus den verschiedenen Provinzen und Kronländern der gewaltigen österreichischen Monarchie hier zusammengeführt hat. Wohl Keiner von Allen ließ es sich vor wenigen Monaten träumen, daß er eines kalten Wintertages sein Roß an den Ufern der Schlei tummeln und nach dem Takt des feurigen Radetzkymarsches durch den Lollfuß marschiren werde!

Außer dem Dienste ist der österreichische Soldat, welcher Nationalität er auch angehören mag, ein munterer Geselle, und was sehr für die österreichische Armee-Einrichtung spricht, das ist das trauliche, ja herzliche Zusammenleben der Officiere mit den Soldaten, der durchaus zwanglose Verkehr, welcher unter allen Truppengattungen herrscht, wenn nach Strapazen und schwerem Dienst die Stunde der Ruhe und Erholung schlägt. Früher mag das anders gewesen sein; auch heute noch herrscht ohne Frage die strengste Mannszucht im österreichischen Heere, aber es weht doch ein eigenthümlich belebender Geist durch diese in so vielen verschiedenen Zungen sprechenden Bataillone. Möglich, daß dieser Geist und der ungenirte Verkehr zwischen Vorgesetzten und Untergebenen eine Folge ist der heißen Kämpfe in der Lombardei im Jahre 1859. Von den französischen Truppen haben die Oesterreicher bei Magenta und Solferino jedenfalls mehr gelernt, als durch theoretische Studien, durch Märsche und Manöver in zehn Friedensjahren.

Im Schlosse Gottorp, das gegenwärtig zu Allem dienen muß, wie eben die Umstände es erheischen, hat man der geselligen Unterhaltung wegen auch eine Schenke in einem Kellerlocale errichtet. Hier nun trifft man immer militärische Gesellschaft; denn der österreichische Soldat, tapfer, unermüdlich, mit Ungestüm den Feind angreifend und dann gewöhnlich auch werfend, pflegt nach gethaner Arbeit gern der Ruhe und ist ein ebenso tapferer Trinker als leidenschaftlicher Tabakraucher und Tänzer.

Ein Bekannter, welcher in Geschäften auf Gottorp zu thun hatte, bot mir an, ich möge ihn begleiten, um zu sehen, wie es jetzt in dem alten Fürstensitze zugehe. Es war ein rauhes, wildes Winterwetter. Der Oststurm jagte Wolken von Schnee und Hagel über die Schlei, deren brandende Wellen zischend ihre hochspritzenden Schaumkämme über den Chausseedamm peitschten. Aus dem Schloßhofe aber scholl uns Gelächter, Gesang, Gläserklang und Musik entgegen ... Wie furchtbar grell stellt sich doch das Heterogenste hart neben einander im Leben! Nie aber schlimmer, schreiender, als in kriegerischen Zeitläufen ... Gott weiß, wie Viele da oben auf ihrem Schmerzenslager seufzten, wie Manchem das Herz zitterte, wie die vom Todesengel schon berührte Lippe ein letztes Gebet sprach oder einen letzten Gruß der fern lebenden Mutter oder Geliebten sendete ... Unten im Keller bei Wein, Bier und Grog forderte das Leben sein ganzes, volles Recht, und in vollen Zügen genoß es Jeder, der sich noch ungeschwächter Kraft und guter Gesundheit erfreute.

Ein sonderbares Bild, diese österreichische Militärschenke, romantisch, fesselnd, zu Ernst und Wehmuth stimmend und doch wieder unwiderstehlich mit fortreißend zu fröhlichem Genießen! .. Da saßen und standen, lehnten und hockten in dem weitgespannten bombenfesten Gewölbe etwa dreißig Soldaten zusammen, fast alle ungarischen Regimentern angehörig, mit den enganliegenden blauen Beinkleidern und den niedrigen Schnürstiefeln, und rauchten und plauderten gemüthlich mit einander, als wenn es keinen nahen Kampf und keinen vielleicht eben so nahen Tod gäbe. Im Hintergrund hatte sich die Marketenderin postirt, eine stattliche, dralle Gestalt, und bemühte sich angelegentlich, den vor ihr sitzenden Officier, einen jungen Oberlieutenant, nach besten Kräften zu unterhalten. Als wir eintraten, fragte Keiner: wer ist’s, der da kommt, ohne vorgestellt zu werden? nein, drei, vier Hände auf einmal streckten sich uns entgegen, und der bei den Oesterreichern vielgehörte Gruß, aus Ungarn stammend, ward auch uns zu Theil. „Servus, Mischko!“ so klang es von links und rechts. Dann ward Platz gemacht, hier eine Cigarre, dort eine Pfeife angezündet, angestoßen mit vollen und halbvollen Gläsern, und „Hoch lebe der Kaiser!“ „Hoch Schleswig-Holstein!“ „Teremtete “ Dänemark!“ „Eljen Magyar!“ schwirrte und summte es durcheinander, daß an ein verständliches Gespräch zuvörderst nicht zu denken war.

Später theilte wohl der Eine und Andere etwas von den persönlichen Erlebnissen der jüngst vergangenen Tage mit, nie aber in bramarbasirendem Tone. Als könne es gar nicht anders sein, so ward das Erlebte erzählt, unter Lachen und Scherzen besprochen. Es ist das Geschäft, die Pflicht des Soldaten, wenn der Befehl an ihn ergeht, sich in Kampf und Tod zu stürzen! .. Die Frage: wofür? ob sie wohl Vielen sich aufdrängt? .. Einzelnen gewiß, der Mehrzahl aber, wenigstens in den Reihen der Oesterreicher, sicherlich nicht. Sie kämpfen und sterben zunächst für ihren Kaiser, nicht für eine Idee! Und daß diese ungarischen Husaren von den Pusten der Theiß, diese dunkeläugigen Polen und Czechen die schleswig-holsteinische Frage, welche Lord Palmerston elend und langweilig nennt, weil er sie nicht verstehen will, studiren sollten, ist auch wirklich nicht zu verlangen. Es liegt einem aber nahe, diese Frage gerade an den Soldaten zu richten, der sein Blut dafür verspritzt, seine Gesundheit dafür opfert. Sollten diese herrlichen Güter des Lebens für ein leeres Nichts, für ein Phantom, für eine lockende Fata Morgana, die ein Windhauch verwehen kann, dahingegeben werden? Es warf sie jedoch Keiner auf, auch nicht die Schleswiger, welche schweigsam, lächelnd und mit Blicken des Dankes dies lustige Treiben ihrer Befreier betrachteten.

Da rief ein gelenker Jüngling, muskelkräftig, aber nur von mittler Größe, den Schnurrbart sich streichend: „Csarda!“ (Czarda!). Augenblicklich wurden die Bänke zusammengerückt und es begann einer jener charakteristischen, leidenschaftlichen, das Blut erhitzenden und alle Zuschauer elektrisirenden Nationaltänze, an denen die Ungarn reicher sind, als jede andere Nation. Bald tanzte die Hälfte der Anwesenden in dem beschränkten Raume. Der Soldat, an Bequemlichkeiten nicht gewöhnt, weiß sich in Alles zu schicken. Aber der Reiz dieser Csardase mit ihren originellen Weisen, die von den ihrer Kundigen in raschem Tempo halb gesungen, halb geträllert werden, wirkt so ansteckend, daß Tanzlustige der Aufforderung, mit von der Partie zu sein, kaum widerstehen können. –

Es dunkelte schon, als ich den Rückweg über den Dammweg antrat. Eine Drehorgel leierte die bekannte Melodie: „O Tannebohm, o Tannebohm“ etc., die zu dem winterlichen Landschaftsbilde, das an die Weihnachtszeit erinnerte, wohl paßte. Als der Drehorgelmann aber seine Stimme erhob, war’s ein plattdeutsches Lied, funkelnagelneu, das mit gutem, derbem niedersächsischen Humor die Flucht der Dänen aus Schleswig geißelt. Zum Ergötzen vieler Ihrer Leser mögen die bezeichnendsten Verse dieses holsteinischen Volksliedes, dessen Verfasser sich bezeichnend Peter Klooksnuut nennt, diese Skizze schließen.

O Hannemann, Du Hampelmann, wat hest Du veel to seggen,
Denn Schleswig-Holstein büst Du quitt, dat mußt Du überleggen;
Denn ohne dat da büst Du nix, se bind die bannig op de Büx;
O Hannemann, Du Hampelmann, wat hast Du veel to seggen.

O Hannemann, Du Hampelmann, Du dacht’st noch veel to kriegen,
Nu sünd de Bundestruppen da, de Rest vor di is swiegen;
Denn Schleswig Holstein smekt so nett, un maakt di ook ganz bannig fett.
O Hannemann, Du Hampelmann, Du dacht’st noch veel to kriegen,

O Hannemann, Du Hampelmann, un gift dat smale Happen (Bissen),
De Magen, glöf mi, ward di bald, as wie de Tüffeln (Pantoffeln) klappen:
Mien gode Jung, lop Du man to na Dänemark op holten Schoh (Holzschuh);
O Hannemann, Du Hampelmann, un gift dat smale Happen.

O Hannemann, Du Hampelmann, un büst Du bald im Buddel,
Du schreest un blaarst as wie een Göhr (Kind) bie düssen Kuddelmuddel.
Drum kratz man unt, man höger rep (höher hinauf) un hol di jo un jo nich op.
O Hannemann, Du Hampelmann, nu büst Du bald im Buddel.
O Hannemann, Du Hampelmann, nu büst Du bald imE. W.

[207]
Blätter und Blüthen.

Wiedereroberter Raub. Auf ihren Siegeszügen hatten bekanntlich die Franzosen in Deutschland und Italien, in Belgien und Holland die Museen und Galerien geplündert und die werthvollsten Kunstschätze nach Paris geschleppt. Nachdem aber die Verbündeten in der Weltstadt an der Seine siegend eingezogen waren, wanderten die meisten dieser Bilder und Statuen wieder in ihre alten Räume heim, zum bittern Verdrusse der Pariser, deren Eitelkeit diese Minderung ihres hauptstädtischen Glanzes empfindlichst verletzte.

Mit der Rücknahme der geraubten Kunstwerke hat es aber eine eigenthümliche Bewandtniß gehabt, die bis jetzt nur wenig zur Kenntniß des größern Publicums gekommen zu sein scheint. Wir erzählen den Hergang der Sache nach den uns gewordenen Mittheilungen eines Veteranen, der, den oberen Schichten der Gesellschaft entsprossen und heute in höherer bürgerlicher Stellung, damals als Freiwilliger mit in Paris eingerückt war und den weiter unten geschilderten Scenen als Augenzeuge beigewohnt hat.

Zu der Rücknahme unserer Kunstschätze, sagt er, sind wir recht unschuldiger Weise gekommen. Der Impuls dazu ging von einem einzelnen preußischen Freiwilligen aus. Dem russ. General Thielemann nämlich war ein junger Kölner, C. de Groote, zugetheilt, der von seinem Chef mit einem Briefe in das Hauptquartier gesandt wurde, als sich dasselbe während der Capitulation von Paris in St. Cloud befand. Der junge Mann, von warmer Liebe zu seiner Vaterstadt beseelt, benutzte den Anlaß, sich an Gneisenau zu wenden, damit dieser seinen Einfluß geltend mache, daß die von den Franzosen aus Köln entführten Kunstwerke ihrer rechtmäßigen Bestimmung zurückgegeben würden. Gneisenau hörte den Bittsteller wohlwollend an und verfügte sich ungesäumt mit ihm zum Feldmarschall Blücher. Dieser ermächtigte Groote, die demselben wohlbekannten Gemälde aus dem Louvre entfernen zu lassen und heimzuschicken.

Mit dem berühmten Bilde von Rubens, der Kreuzigung Petri, das noch heute alle reisenden Kunstfreunde nach den düstern Kreuzgängen der Peterskirche in Köln zieht, für die es gemalt ward, machte man den Anfang. Die Nationalgarde, welche den Wachdienst vor und in dem Galeriegebäude versah, wollte das Gemälde nicht passiren lassen. Da mußten preußische Truppen vor dem Palaste aufmarschiren, welche dem Officier der Bürgerwehr zehn Minuten Bedenkzeit gaben. – Generalinspector der französischen Museen war Dénon, der Napoleon auf den meisten Feldzügen begleitet hatte, um in den eroberten Ländern die Kunstschätze auszuwählen, welche als Siegesbeute nach Paris gebracht werden sollten. Voller Bestürzung eilte er jetzt in die Tuilerien, um das Unerhörte zu berichten und Verhaltungsbefehle einzuholen. Ludwig der Achtzehnte fürchtete sich vor einem Conflicte zwischen den fremden Truppen und der Nationalgarde und bestimmte, daß man den heiligen Petrus in Frieden ziehen lassen und kein weiteres Aufsehen davon machen solle.

Rasch kamen nun andere Reclamationen in Betreff der Restitution der geraubten Kunstwerke. Allein mehr als vier Wochen verstrichen, ehe nur die wenigen Gemälde, etwa zwanzig an der Zahl, weggeschafft waren, die aus Preußen hatten nach Paris wandern müssen. Nach uns meldeten sich die Hessen, um die aus Kassel entführten Bilder wieder zu erhalten. Ihre Liste von den ihnen entrissenen Stücken war in so guter Ordnung, ihr Originalrecipisse so beweiskräftig, daß man nicht umhin konnte, einzugestehen, was den Preußen recht gewesen, sei den Hessen mindestens billig. Das ließ nun schon mehr Lücken an den Wänden der Louvresäle; denn Kassels Galerie war gehörig geplündert worden.

Jetzt begehrten die Niederlande, namentlich Antwerpen, ebenfalls ihr Eigenthum zurück. Das aber ward Dénon, der in seinen Museen lebte und webte, zu arg. Ingrimmig schloß er den Louvre. Allein Wellington ließ sich zum Fürsprecher der Niederländer bereit finden, und so half es nichts, die prächtigen Rubens und Rembrandts, die Van Dyks und Wouvermans und manche andere der ältern holländischen Schule angehörende Perle mußten aus dem Louvre entlassen werden.

Endlich machten auch die Florentiner und der Papst ihre Ansprüche geltend. Ihnen aber, die, wie man meinte, nichts beigetragen hätten zur Wiederherstellung der Bourbonen, setzte man offenen Widerstand entgegen. Der Tumult wuchs zu einem solchen Grade an, daß man alle zehn Schritte einen Wachposten in der Galerie aufstellen mußte. Dénon selbst war vor Aerger und Kummer krank geworden und reichte sein Entlassungsgesuch ein. Nun war von einem Ausliefern nach Verzeichnissen und Katalogen nicht mehr die Rede. Die Franzosen gaben das Museum preis, und die Sieger schalteten darin ganz nach Lust und Gutdünken. Binnen drei Wochen waren von 1500 Gemälden, welche die Sammlung des Louvre unter dem Kaiserreiche gebildet, nur die 250 noch übrig, welche die Galerie vor dem Ausbruche der Revolution besessen hatte.

Von der Wegführung der Gemälde schritt man zu der der Statuen. Florenz holte sich zuerst seine Medicäische Venus wieder; darauf ließ Canova den Apoll von Belvedere und die Gruppe des Laokoon einsacken, und so ging es lustig weiter, bis die Antikensäle sich auf ungefähr die Hälfte der Sculpturwerke reducirt sahen, die sie während des letzten Jahrzehntes geziert hatten. Die Statuen, welche Napoleon in Italien gekauft hatte, insbesondere die aus der Villa Borghese in Rom, blieben ihrem gegenwärtigen Platze erhalten. „Gott im Himmel, man läßt uns ja nichts als die kahlen Mauern!“ jammerten die Pariser, wenn sie dem fröhlichen Hämmern und Wirthschaften, dem Losbrechen und Einkisten zusehen mußten, womit wir die Räume des Louvre erfüllten.

Mehr aber noch als die Ausräumung ihres Museums ging den Franzosen die Heimführung der Pferde zu Herzen, die, 1807 ihrem Platze auf dem Brandenburger Thore in Berlin entrissen, den Triumphbogen hatten schmücken müssen. Mit ihrer Wegnahme hatte man die Oesterreicher beauftragt. Diese betrieben indessen die Angelegenheit ziemlich lau, so daß uns Preußen schon die Angst kam, sie möchten die Quadriga mit ihrer Victoria am Ende ruhig stehen lassen, wo sie jetzt standen. Endlich ertheilte jedoch der höchstcommandirende Fürst Schwarzenberg dem Gouverneur von Paris, General von Müssling, den Befehl, nunmehr die ehernen Rosse und ihre Wagen von dem hohen Postamente herunternehmen zu lassen. Müssling benachrichtigte dienstgemäß den Befehlshaber der Pariser Nationalgarde, General Derolles, von dem Bevorstehenden; dieser aber bat, man möge ihm das Geschäft übertragen. Um Ludwig den Achtzehnten zu schonen, wolle er die Pferde des Nachts entfernen lassen. Da die Oesterreicher keine Pionniere in Paris hatten, so wurde eine Compagnie englischer Pionniere zu dem Werke beordert. Diese stiegen des Abends auf den Triumphbogen, fingen an zu hämmern und die Pferde loszumachen. Das hörten die Nationalgarden und die Gardes du Corps des Königs. Sie hielten einen Kriegsrath und rückten gegen halb 12 Uhr mit Fackeln aus den Tuilerien an, holten statt der Pferde die Engländer herunter und schickten sie nach Hause.

Andern Tagen herrschte großer Jubel in der Stadt. Man erzählte, wie die Engländer die Pferde hätten stehlen wollen, wie sie aber doch Furcht gehabt, es an hellem Tage zu thun, und wie man sie so schön erwischt. Les étrangers ont bien peur, war die allgemeine Meinung. Unter den Deutschen aber wurde diese Halbheit und die Höflichkeit, sich selbst lieber zu blamiren, um Ludwig den Achtzehnten zu schonen, sehr laut kritisirt und bemurrt.

Hatte dies nun geholfen, oder war man sonst in sich gegangen, – der Befehl kam, die Pferde bei Tage herunterzunehmen. Zwei Bataillone österreichischer Grenadiere stellten sich auf dem Carousselplatze auf und schlossen ein Viereck. Im Hintergrunde rückten vier Schwadronen Cürassiere an, und alle Zugänge zum Platze wurden mit doppelten Wachen besetzt. Die Gitterthore an den Tuilerien wurden geschlossen, und kein Franzose durfte den Platz ferner überschreiten. Nun begann ein fröhliches Leben. Alle Deutschen versammelten sich auf dem Carousselplatze, um dem Schauspiele zuzusehen. Im Innern des Triumphbogens führt eine steinerne Treppe zur Höhe empor, und die österreichischen Officiere ertheilten ohne Schwierigkeit die Erlaubniß, hinaufsteigen zu dürfen.

Wie die Mauerspechte kletterten die rothen englischen Officiere auf dem Monumente herum. Die Pionniere hieben die Steine hinweg, um die Pferde zu lösen, die ungefähr einen Fuß tief eingelassen und von eisernen Stangen und Klötzen festgehalten waren. Dabei wurde recht leidlich getrunken. Die Engländer warfen die leeren Flaschen hinab und sangen ihr Rule Britannia, von Officieren vieler Nationen umgeben. Es war ein erhebendes Gefühl, heute auf der Triumphpforte zu stehen, die Napoleon für sich gebaut hatte, und von da auf die Franzosen hinabzublicken, die noch vor kurzer Zeit so voller Stolz und Uebermuth unsere Herren gespielt hatten.

Alle Deutsche, die auf dem Triumphbogen standen, wollten ein Andenken an diesen Tag und an diese Stunde. Die schön vergoldeten Bleiornamente schienen dazu nicht unschicklich zu sein, und die englischen Pionniere waren sehr behülflich, sie abzubrechen. Für den Alten im Barte nähmen wir ein großes N mit. Schien es uns doch billig, daß „le nommé Jahn“, der seiner Zeit so herrlich im Moniteur prangte, nicht vergessen werde. Mir selbst theilte ich ein Stück des ehernen Lorbeerkranzes zu, so groß, daß ich es nicht nach Hause zu bringen wußte. So war in wenigen Stunden der Siegeswagen ganz kahl, bis auf den vorn angebrachten riesigen Adler, der Jedermann ein zu gewichtiges Andenken dünkte.

Unter Gläserklange und dem Jubel der Menge kam gegen 6 Uhr Abends das erste Pferd herunter; um 7 Uhr folgte das zweite. Da inzwischen die Nacht hereinbrach, so blieben die beiden anderen bis auf den folgenden Morgen verschont. Als die Pferde entfernt waren, zogen die Oesterreicher ab, und die Franzosen strömten auf den Platz und besahen den Siegeswagen und die beiden Genien des Ruhms und des Sieges, die dem Triumphbogen gelassen worden waren, obschon sie jetzt nichts mehr zu thun hatten und recht kläglich an das „Sic transit gloria mundi“ (so vergeht der Ruhm der Welt) mahnten.

Auch der große Adler war mittlerweile verschwunden, vermuthlich von einem kühnen Engländer in der Nacht herabgeholt.

Obschon die Pferde verhältnißmäßig nicht schwer sind, da jedes nur etwa 1500 Pfund wog, so war das Abnehmen doch mit einigen Schwierigkeiten verbunden, weil man kein Gerüst dazu aufgeschlagen hatte. Indessen praktisch wie immer wußten sich die Engländer auch hierbei geschickt zu helfen. Die Deichsel des Wagens hatten sie abgeschnitten, damit sie ihnen nicht hinderlich werde. Die obere, etwa fußdicke Steindecke des Triumphbogens war der Kürze wegen ebenfalls weggehauen worden, und die Pferde standen nun ganz frei, da die bleiernen Stränge, mit denen sie angeschirrt, sofort abgeschnitten wurden. Jetzt stellten sie über das erste Roß einen Dreifuß, in dem ein Flaschenzug hing, und zogen somit das Pferd in die Höhe. Darauf schoben sie einen zweiten Flaschenzug mit einem Ballen über den Triumphbogen hinaus, und über diesen glitt das Pferd vom Triumphbogen hinweg, ohne das Gesimse zu berühren, worin eigentlich die Schwierigkeit der Aufgabe lag, weil kein den Triumphbogen überragendes Gerüst vorhanden war. Die Franzosen hatten zur Aufstellung jedes einzelnen Pferdes volle acht Tage gebraucht!

Als am andern Tage die Oesterreicher den Marcuslöwen abnahmen, der auf der Fontaine vor den Invaliden stand, riß ein Seil, der Löwe fiel herunter und brach ein Bein, natürlich zu großer Genugthuung der Franzosen. [208] Aus den Tagen des gemüthlichen Absolutismus. Zwar hat sich mit den Veränderungen, welche das gesammte Staatswesen Europa’s im Laufe des letzten Vierteljahrhunderts erfahren hat, auch die Polizeigewalt allmählich den modernen constitutionellen Bedingungen des Staatslebenn einigermaßen angepaßt, aber im Principe hat bei ihr doch das alte absolutistische Wesen bis auf unsere Tage ohne Weiteres fortgedauert. Namentlich aber hat Oesterreich seiner Zeit die polizeiliche Aufsicht über seine Bevölkerung mit unbedingter Folgerichtigkeit durchgeführt. Es gehörte zu den besonderen persönlichen Liebhabereien des Fürsten Metternich, unmittelbar mit Hülfe des Polizeichefs, Sedlnitzky, die Polizeiaufsicht über seine liebe Stadt Wien zu führen. Jeden Morgen erhielt er deshalb zum Kaffee einen genauen Bericht von allen am vorigen Tage der Polizei gemeldeten Vorfällen. Er konnte auf solche Weise z. B. auch die geheimen Liebesgänge der auswärtigen Diplomaten genau controliren, denn die Wiener Polizei scheute sich nicht, sogar die sogenannten „wilden Gräfinnen“ als ihre geheimen Agenten zu benutzen, um auch noch bei den wüstesten Orgien der Cavaliere etwaige mißliebige politische Aeußerungen zu erlauschen. Jeder Reisende, welcher in der Metternichschcn Zeit zu Wien verweilte, hatte daher alle Ursache, sich wohl zu hüten, daß er nicht dem Netze der „Spitzeln“, die selber sich die „Vertrauten“ nannten, verfiel.

Diese polizeiliche Ueberwachung der Residenz kostete dem österreichischen Staate jährlich über neun Millionen Gulden, und dessenungeachtet hat sie es nicht vermocht, die naturgemäße liberale Entwickelung des Landes hintanzuhalten. In naher Verbindung mit der Polizei wurde dann die Postverwaltung in Wien gehalten. Es genügte den ängstlich besorgten Gemüthern des herrschenden Systems nicht, blos die äußeren Handlungen zu beobachten, sie wollten ebenfalls ihre geheimsten Gedanken aus ihren Briefen erfahren. Uebrigens befolgte man in Preußen lange Jahre hindurch ganz das nämliche System, bis einst der alte Kurfürst von Hessen dieses Spiel vor der deutschen Welt offen aufdeckte. Er hatte nämlich seit längerer Zeit in Erfahrung gebracht, daß seine an den Gesandten in Berlin gerichteten Briefe jedesmal unterwegs geöffnet würden. Um nun diesen Betrieb den preußischen Ministern offen darzulegen, schickte er seinem Vertreter an der Spree insgeheim ein neues Siegelwappen, aus welchem die Löwen statt hängender stehende Schweife hatten. Ferner aber kamen seine Briefe noch mit Löwen von hängenden Schweifen bei dem Gesandten an, bis dann endlich dieser die Thatsachen den Ministern offen darlegte, die sie auch nicht weiter ableugnen konnten.

Wie man sich denken kann, machte die Geschichte in Berlin ein ungeheures Aufsehen und wurde an höchster Stelle nicht eben sehr gnädig verspürt, so daß man sich darüber manche piquante Anekdoten erzählte, die sich indeß hier nicht wiedergeben lassen.

Mögen diese Zustände für immer der Vergangenheit angehören!




Eine wahre Scene aus dem jetzigen polnischen Kriege. Eines Tages im Monat September vorigen Jahren, Morgens, als der Tag graute, hörte der mit der Patrouille an der polnischen Grenze sich bewegende Unterofficier Wilhelm Fischer vom 12. ostpreußischen Uhlanen-Regiment das Nothgeschrei weiblicher Stimmen auf jenseitigem Gebiet. Er ließ die Patrouille auf der Grenze halten und sprengte allein dem nahen Walde zu, in welchem er fünf Russen erblickte, die zwei junge Damen aufhängen wollten. Er gab ihnen, den Russen, zu verstehen, daß er den Befehl habe, Verbrechen an der Grenze zu verhindern, mithin sie auffordere, die beiden Damen in Freiheit zu lassen. Sie opponirten sich, Fischer rief sein Commando herbei, ließ die Pistolen aufnehmen und forderte die Russen nochmals auf, die beiden Damen freizugeben. Zehn Uhlanen mit fertig gemachter Schußwaffe wirkten, und Fischer nahm die Damen in Empfang, die er vom nächsten Dorfe ab zu Wagen nach der Garnisonsstadt Willenberg bringen ließ. Sie erholten sich unterwegs von ihrem Schrecken und theilten dann Fischer mit, daß ihre Eltern mehrere Güter in Polen besäßen, welche die Russen in Sequestration genommen, weil ihre beiden Brüder sich den Insurgenten angeschlossen hätten. Um ihr Leben auf preußisches Gebiet zu retten, hätten sie mit ihren Eltern am Abend vorher die Flucht ergriffen, wären aber von Russen verfolgt und von ihren Eltern getrennt worden. In der Nacht wäre es ihnen gelungen, sich im Dickicht des Waldes zu verbergen, des Morgens bei Tagesanbruch hätten jedoch die Russen, ihre Spur verfolgend, sie ergriffen und, da sie ihre Angriffe muthig abgeschlagen, die Absicht gehabt, sie aufzuhängen. Als sie die weiteren Vorbereitungen dazu gemacht, hätte ihr Nothgeschrei ihre Retter herbeigeführt. Fischer meldete den Vorfall seinem Rittmeister, der ihm auftrug, die Damen in der Stadt Willenberg unterzubringen.

Am andern Morgen traf Fischer auf seinem Patrouillegange ein bejahrten Ehepaar höheren Standes, die Frau die Hände ringend und das Unglück ihrer Kinder beweinend. Ohne Paß und sonstige Legitimation mußten sie Fischer bis nach seiner Garnison Willenberg folgen und sich dort dem Rittmeister vorstellen, der Fischer befahl, auch sie unterzubringen. Im Glauben, sie würden wie in Polen nach dem Gefängniß abgeführt, folgten sie ängstlich bis in die Dachstube eines Gasthofs, wo die früher sicher geborgenen beiden Damen mit Freudengeschrei auf ihre Eltern losstürzten, die Mutter sich aber erst später nach einer Ohnmacht erholte, die sie befallen hatte. Eine Scene der Freude und Rührung, wie sie nur selten vorkommen kann, wurde Fischer bei der gegenseitigen Erkennung sichtbar. Der Vater ergriff den Letzteren beim Arme, und indem er ihm für die Rettung seiner beiden 19 und 21 Jahre alten Töchter dankte, sagte er, da seine jüngere Tochter noch nicht Braut sei, so solle sie ihm gehören. Die Verlobung folgte nach, und die flüchtige Familie, Namens Reich, hält sich zur Zeit noch in Willenberg und dort so lange auf, bis die durch die Vermittelung des preußischen Gouvernements bei der russischen Regierung behufs Rückgabe der Güter gethanen Schritte Erfolg haben werden.

Schmid, Premier-Lieutenant. 




Ueber die Sclaverei der conföderirten Staaten giebt der große medicinische Statistiker Boudin folgenden Aufschluß, welcher keines Commentars bedarf. Die Negerrace gedeiht in Nordamerika nur in jenen Distrikten, wo man sie für die Ausfuhr zum Verkauf züchtet, und auch da nur, indem sie fortwährend durch weißes Blut regenerirt wird, d. h. deutlicher, indem die Sclavenzüchter und deren Gehülfen ihre eigenen mit Negerinnen erzeugten Kinder in die Sclaverei verkaufen. In den eigentlichen Zucker- und Baumwoll-Staaten aber lebt ein importirter Sclave im Durchschnitt nur fünf Jahre. Die jährliche Todtenzahl einer Sclavenplantage in den Südstaaten beträgt 21/2 Procent. – In der Stadt Charleston, wo 22.640 Neger lebten, starben jährlich 522, also 21/3 Procent.


Nicht zu übersehen!

Mit dieser Nummer schließt das erste Quartal unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das zweite Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.


Wenn auch das Verbot unserer „Gartenlaube“ in Preußen die Auflage derselben etwas zu gefährden schien, so ist doch der Absatz unseres Blattes seit Neujahr wiederum auf das Erfreulichste, um nahezu 11.000 Exemplare, gestiegen, was uns von Neuem anfeuert, auf unserm bekannten Wege unverrückt weiter zu gehen.

Außer den trefflichen Beiträgen eines Bock, Schulze-Delitzsch, Carl Vogt, Berlepsch, Beta, Max Ring, L. Storch, Guido Hammer, Franz Wallner, Levin Schücking, Alfred Meißner, Temme, Fr. Bodenstedt etc. etc. werden im nächsten Vierteljahre unter Andern nachstehende interessante Artikel Aufnahme finden:

Der Schatten. Novelle von C. A. Heigel – Zweierlei Recht für die Reichen und für die Armen in England, von A. Härlin – Dorfanlage und Hausbau in Deutschland, von Wilhelm Jungermann, Verfasser der Artikel „der Fürstentag“ und „Charakterköpfe aus dem deutschen Abgeordnetentage“. Mit Illustrationen – Ein Tag in Shakespeare’s London. Zur nahenden Shakespearefeier, von Julius Rodenberg. Mit Illustrationen nach Originalzeichnungen von Paul Thumann – Der Decemberschrecken. Ein Stück Zeitgeschichte, von Johannes Scherr – Ein kleines Nürnberg. Culturstudie – Aus Firn und Eis. Ein Besuch des Pavillon Dollfuß-Ausset auf dem Unteraaregletscher. Mit Illustration nach einer Originalskizze von A. Mosengel – Ein Tag in Paris; zur Schreckenszeit von 1794, von Johannes Scherr – Eine Gletscherfahrt, von G. Studer. Mit Illustration – Bilder aus dem Londoner Verkehrsleben: Vor Postschluß am Freitag Abend. Die Schuhputzer und die Lumpensammlerbrigade; in der Unterwelt. Ein Stück der Untergrund-Eisenbahn. Sämmtlich mit Illustrationen nach an Ort und Stelle aufgenommenen Originalzeichnungen – Ein Besuch beim Altmeister Goethe in Weimar, von Ernst Förster – Alpenglühen und Meeresleuchten, von Ferd. Stolle – Die grüne Insel, die Zufluchtsstätte des deutschen Humors, von Franz Wallner. Mit Illustration – Eine vornehme Gaunerin – Aerztliche Winke für Badegäste – Aus einem deutschen Schriftstellerleben, von Fr. Hofmann. Mit Portrait – Unterofficier Jahn – Das Zellengefängniß der jugendlichen Verbrecher in Paris – Der tolle Platen, von Ferd. Pflug – Der Fang des Buchtenwalfisches, von O. Lübbert in Bergen in Norwegen. Mit Illustrationen – Im Omnibus, von Rud. Löwenstein. Mit Illustration nach einer Originalzeichnung von Th. Hosemann – Die Kindererziehung in Beispielen, von einem Schulmanne – Das Café de la Régence in Paris und seine Schachspieler. Mit Illustration – Die Geheimmittelwirthschaft – Eine Carrière in Rußland und eine in Deutschland – Der Componist des Freischütz, von Lobe – Eine Perle deutscher Baukunst. Mit Illustration nach einer Originalzeichnung von Sprosse – Bilder aus dem Thiergarten, von Brehm: Die Bisamochsen. Mit Illustration nach Originalzeichnung von Leutemann – Der letzte Sickingen. Mit Abbildung – Der deutsche Eisenbahnkönig, von M. M. von Weber – Die St. Maximuskapelle in Salzburg, von Ernst Förster. Mit Illustration – Eine andere Stätte, von wo Licht ausging, von Prof. Dr. Richter. Mit Illustration – Bilder aus dem kanfniännischcn Leben – Aerztliche Strafpredigt, von Bock – Ein Besuch bei Garibaldi auf Caprera, von Moritz Wiggers (schon in nächster Nummer) – Der Mensch denkt und Gott lenkt. Erzählung von Fr. Gerstäcker.

Daß wir den Ereignissen in Schleswig-Holstein nach wie vor die eingehendste Berücksichtigung angedeihen lassen werden, ist selbstverständlich. Bereits liegt uns eine Reihe der interessantesten Illustrationen von einem unserer Specialartisten auf dem Kriegsschauplatze vor, der durch ein Zusammentreffen besonders günstiger Umstände im unmittelbaren Gefolge der operirenden Armeen dem Feldzug beiwohnen darf und schon Oertlichkeiten und Scenen zu Gesicht bekam, wie dies während des jetzigen Kampfes noch keinem anderen Künstler und Berichterstatter vergönnt war.

Alle Postämter und Buchhandlungen nehmen Bestellungen an.
 Leipzig, im März 1864.
Ernst Keil.