Die Gartenlaube (1864)/Heft 30
(Fortsetzung.)
Kaunitz begab sich in das ihm angewiesene Gemach im Schlosse, welches im zweiten Stockwerke lag, über den von der Marchesa von San Damiano bewohnten Gemächern. Er fand die Wachskerzen auf seinem Schreibtische entzündet und seinen Diener auf ihn harrend, um ihm beim Auskleiden behülflich zu sein.
„Hast Du Dir die kleine Leiter verschafft, Franz?“ fragte er halblaut den Wartenden.
„Sie steht bereits im Kamin,“ antwortete Franz, „auch habe ich die eine von den beiden Stangen so zurückgebogen, daß Ew. Gnaden schon werden durchschlüpfen können.“
„Gut, so kannst Du gehen, zum Auskleiden brauch’ ich Dich nicht.“
„Aber befehlen Ew. Gnaden nicht, daß ich bei Ihnen bleibe … man weiß doch nicht, was geschehen könnte und wie Ew. Gnaden mich brauchten.“
„Das heißt, Du bist neugierig, Franz … das ist eine schlechte Leidenschaft! Wo ist der schwarze Domino?“
Ein schwarzer Domino lag in der Ecke des Sophas. Franz holte ihn herbei und warf ihn seinem Herrn um.
„So, nun geh und leg Dich auf’s Ohr!“ sagte dieser.
Franz verbeugte sich und gehorchte.
Als Kaunitz allein war, nahm er eines der Lichter und trat damit zu dem Kamin, in den er hineinleuchtete. Die eiserne Klappe, welche jenen während der Sommermonate verschloß, war aufgeschlagen und hatte einer leichten, etwa acht Fuß langen Leiter Platz gemacht, die hineingeschoben war trotz der zwei Querstangen, die, in Mannshöhe angebracht, das Eindringen irgend eines unberufenen Schlotfahrers durch den Kamin in das Zimmer verhindern sollten. Eine dieser Stangen war auf gewaltsame Weise so weit zurückgebogen, daß sie der Leiter Raum ließ und daß eine schlanke Gestalt neben ihr emporsteigen konnte, ein Experiment, welches der schmächtige junge Diplomat sogleich versuchte, und zwar mit dem besten Erfolg. Er fand dann einen vortrefflichen Standpunkt auf den beiden Querstangen.
„Wohin nicht eine gute Diplomatie muß kriechen können!“ sagte er lächelnd für sich und öffnete nun eine in der Höhe seiner Brust befindliche und in der Mauer des Schlots eingesetzte kleine viereckige Thür von Eisenblech, welche eine Verbindung mit dem Kaminschlot des nächsten Zimmers herstellte und zur Bequemlichkeit der Kaminfeger da angebracht war, die so in dem einen Schlot hinunter und in dem benachbarten wieder emporfahren konnten, ohne jedesmal eine Doppelreise machen zu müssen.
Nachdem Kaunitz diese Thür so unhörbar wie ihm irgend möglich geöffnet hatte, lauschte er eine Weile, ob er aus dem daneben liegenden Raume keine Stimme oder kein Geräusch vernehme. Aber Alles war still drüben und der Rauchfang völlig dunkel.
Deshalb lehnte er die kleine Eisenthür möglichst dicht an, ohne sie zu schließen, und verließ seinen Lauscherposten.
„Wir müssen warten,“ sagte er, als er wieder in seinem Zimmer stand und den Schmutz, der auf ihm hängen geblieben war, von seinem schwarzen Domino abstäubte; dann warf er diesen zur Seite und setzte sich an seinen Schreibtisch, um seine Depesche zu beginnen.
Er mochte etwa eine Viertelstunde geschrieben haben, als er plötzlich aufhörte, sich erhob und näher zum Kamin trat. Er vernahm ein Geräusch, welches durch die von ihm geöffnete kleine Eisenthür aus dem Nebenzimmer kommen mußte – ein Hin- und Hergehen und Anstoßen von Möbeln, ein Hüsteln, ein Rauschen wie von einem Kleide.
„Ah,“ sagte Kaunitz leise für sich hin und aus seiner Lauscherstellung neben dem Kamin sich erhebend, „dacht’ ich’s doch … es ist eine Dame, von deren Nachtquartier diese Wand uns trennt, eine Dame! Aber hoffentlich keine, die um Mitternacht zum Schornstein hinausfährt und dadurch den Rumor im Kamin macht, der mich so oft im Schlaf gestört hat … aber bescheiden wir uns und warten die weitere Entwickelung ab.“
Er setzte sich wieder und begann abermals zu schreiben. Als die Depesche fertig war, stand er auf und verließ sein Zimmer, um sie selbst dem Grafen Traun zu überbringen. Er schritt dazu durch ein paar Vorzimmer, dann über einen kleinen Vorplatz und eine schmale Treppe hinab, die ihn in einen breiten und großen Corridor im ersten Stock brachte. In diesem Corridor, an dessen rechter Seite die Zimmer der Marchesa von San Damiano lagen, pflegte eine Wache aufgestellt zu sein, welche die Cavaliergarde wie alle Posten im Innern der königlichen Wohnung zu beziehen hatte. Kaunitz bemerkte, daß sie für heute Nacht zurückgezogen sei, wenigstens nahm er den sonst hier fast immer auf- und abschildernden Gardisten nicht wahr; er wandte sich jetzt in einen kleinen Seitengang links und trat hier durch eine Flügelthür in die Wohnung des österreichischen Gesandten ein. Nach kaum einer Viertelstunde kehrte er zurück und begab sich möglichst lautlos wieder hinauf in sein Zimmer. Als er es wieder betreten hatte und nun, in der Mitte desselben stehend, den Athem anhielt, um zu horchen, zuckte er leise zusammen und schlich dann still und völlig unhörbar rasch zum Kamine.
[466] „Unser Spuk ist da,“ flüsterte er für sich, „und nun werden wir diesen Rauchfang-Unterhaltungen hoffentlich auf die Spur kommen.“
Er ging seinen Domino überzuwerfen und kletterte darauf still auf der kleinen Leiter empor, und als sein Kopf die Höhe der Eisenthür erreicht hatte, legte er das Ohr an diese, die er unmerklich offen stehen gelassen. Gleich darauf aber zog er den Kopf wie unwillkürlich wieder zurück, betroffen von dem Klang einer Stimme, welche in dichtester Nähe in dem Zwillingsrohre der Kaminesse neben ihm in heiterem Tone die Worte sprach:
„Ich habe eine vortreffliche englische Feile mitgebracht … soll ich beginnen?“
„Untersteh’ Dich!“ antwortete aus der Tiefe des jenseitigen Zimmers eine hellklingende Frauenstimme heraus.
Kaunitz horchte gespannt auf, etwas wie eine dämonische Freude hätte ihn fast ein leises und doch verrätherisches Ah! ausstoßen lassen; aber er besann sich und lauschte weiter.
„Du bist abscheulich,“ fuhr die Stimme neben ihm – es war eine jugendliche Männerstimme – fort. „Du bist abscheulich; Du liegst warm und weich gebettet in Deinen Kissen, und ich sitze hier auf den zwei infernalischen Stangen, welche mich hindern, in Dein Zimmer zu kommen…“
„O, die Stangen sind ganz gut,“ versetzte die Stimme aus dem Zimmer; „wenn sie nicht da wären, müßte man sie ganz besonders für Dich erfinden …“
„Boshaftes Geschöpf, das Du bist … und ich bin gewiß, wenn Du sie erfunden, hättest Du sie auch so mit den Kanten in die Höhe gestellt, um das Sitzen darauf desto angenehmer zu machen!“
Die Frauenstimme unten ließ ein unterdrücktes Lachen vernehmen.
„Poverino!“ sagte sie dann, „wenn es so angenehm ist, darauf zu sitzen, weshalb kommst Du dann … ist es anständig, durch den Kamin zu jungen Mädchen hinabzusteigen und sie um ihre Nachtruhe zu bringen? Geh, ich will schlafen!“
„Nicht eher, als bis Du mir eine Antwort gegeben hast… wirst Du kommen oder nicht?“
„Nein!“
„So geh’ ich nicht! Ich werde die ganze Nacht hier bleiben!“
„Meinethalben! Ich werde jetzt einschlafen.“
„Einschlafen … das wirst Du nicht!“
„Weshalb nicht … glaubst Du, ich fürchtete mich, weil ich weiß, daß eine große Fledermaus in meinem Kamin ist?“
„Ich werde anfangen, die Stange zu durchfeilen!“
Diese Drohung schien zu wirken. Die Stimme von unten antwortete im bittenden Tone: „Gennaro, ich bitte Dich, geh jetzt …“
„Wirst Du kommen?“
„Aber ich kann ja nicht … meine Tante bewacht mich unausgesetzt …“
„Während sie Siesta hält?“
„Es ist nahe an ein Uhr,“ fuhr die Stimme unten fort; „die Ablösung wird kommen und entdecken, daß Du nicht auf Deinem Posten bist!“
„Es ist noch lange nicht ein Uhr, und die Ablösung kommt erst um zwei,“ lautete die Antwort. „Soll ich meine Feile hervorziehen?“
„Um Gotteswillen!“
„Wirst Du kommen?“
„In den Pavillon? Nimmermehr … wenn man uns entdeckte! Wir wären für ewig unglücklich!“
„Wohin denn?“
„Lästiger, abscheulicher Mensch!“
„Daß ich das bin, weiß ich; ich möchte wissen, wohin Du kommen wirst?“
„Willst Du dann gehen?“
„Sogleich!“
„Nun wohl, da, wo ich heute Abend war, in den Gebüschen hinter der Flora. Aber nun gehe auch!“
„Ich gehe schon. Aber gewiß, Bianca? Ist es ganz gewiß?“
„Ich schwöre es Dir.“
„Dann leb wohl, anima mia, schlafe sanft und träume ein wenig von mir, willst Du?“
„Wenn Dir daran liegt, mir in meinen Träumen als Fledermaus, oder als Vampyr, oder als Dämon so schwarz wie ein Schlotfeger zu erscheinen … weshalb nicht?“
„Bosheit! Schlaf wohl, Bianca!“
„Schlaf wohl, Gennaro!“
Gennaro machte eben Anstalt, sich von seinem unbequemen Sitze zu erheben und seine Luftreise nach oben anzutreten, als Kaunitz rasch ein paar Sprossen seiner Leiter höher hinanstieg, das eiserne Thürchen aufriß, seinen Kopf hineinsteckte und mit dem freundlichsten Tone von der Welt sagte: „Signor Cavaliere, wollen Sie nicht Ihren Weg durch dieses Loch hier und dann durch mein Zimmer nehmen … es ist viel bequemer so für Sie!“
Bei den ersten Lauten dieser Stimme fuhr dem Signor Cavaliere ein Todesschreck durch alle Glieder … er blickte auf und sah einen dicht über ihm aus der schwarzen Mauer sich vorstreckenden dunklen Kopf und zwei funkelnde Augen darin. Es war eine entsetzliche Ueberraschung!
„Madre di Dio!“ hauchte er athemlos.
„Bitte, kommen Sie hierher,“ fuhr die freundliche Stimme unsers Diplomaten fort.
„Herr,“ rief endlich der Cavaliere sich sammelnd und ein paar Mal tief Athem schöpfend aus … „wie kommen Sie hierher – wo sind Sie?“
„Mein Gott, was ist – mit wem sprichst Du da, Gennaro?“ rief jetzt eine erschrockene Frauenstimme aus der Tiefe des Kamins.
„Beruhigen Sie sich, Fräulein Bianca,“ rief Kaunitz zur Antwort hinab, „es ist Niemand als Ihr Zimmernachbar, der sich die Ehre nimmt, Ihnen eine gute Nacht zu wünschen!“
„O santissima Vergine!“ rief es in der höchsten Angst zurück.
„Herr, ich begreife nicht, wie Sie sich unterstehen können …“ sagte jetzt in aufkochendem Zorn der Cavaliere; aber bevor er geendet hatte, fiel Kaunitz ein: „Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Sie es bequemer haben, wenn Sie durch dies Thürchen kriechen und durch mein Zimmer zurückkehren? Ich glaubte, Ihnen einen Dienst zu leisten …“
„Zum Teufel mit Ihrem Dienst, ich –“
„Bitte, kommen Sie,“ sagte Kaunitz jetzt sehr bestimmt, „ich muß darauf bestehen, damit mir Gelegenheit werde, Ihnen meine Entschuldigungen zu machen.“
„Ich brauche Ihre Entschuldigungen nicht und …“
„Doch brauchen Sie vielleicht mein Stillschweigen, Signor Cavaliere, und da ich dies an die Bedingung knüpfe, daß Sie meine freundliche Einladung annehmen, so werden Sie jetzt hier durch diese Maueröffnung steigen und herunter in mein Zimmer kommen!“
Diese letztere Bemerkung schien Eindruck auf den jungen Mann zu machen.
„Nun, meinethalb,“ sagte er, und dann rief er hinunter: „Fürchten Sie nichts, Bianca, ich werde in das Zimmer des Herrn gehen, und wir werden uns hoffentlich verständigen, so oder so … seien Sie ohne Sorgen um mich!“
„O mein Himmel, was wird daraus werden?“ rief es halblaut von unten zurück, und währenddem hob sich der Oberkörper des Cavaliere durch die Maueröffnung.
„Sie können auch hier auf die Stangen treten und dann auf der Leiter niederkommen,“ sagte Kaunitz, der schon unten war, ein Licht herbeigeholt hatte und damit in den Kamin emporleuchtete.
Nach wenigen Augenblicken stand der junge Mann im Zimmer des Grafen Kaunitz. Auch er trug einen schwarzen Domino, der, als er von den Schultern zurückgeworfen wurde, eine reiche Scharlachuniform sehen ließ.
„Ebenfalls im Domino!“ sagte Kaunitz lächelnd, während er den seinen zu Boden gleiten ließ. „Schade, daß uns kein Philologe sieht, er würde plötzlich entdecken, weshalb man solch ein Ding Chauve-souris nennt.“
Dann stellte er den Leuchter auf einen kleinen Tisch vor dem Sopha und sagte mit einer Verbeugung und einer Stimme, deren Ironie nicht zu verkennen war:
„Haben Sie die Gnade, Platz zu nehmen, Herr Cavaliere di Lucano.“
[467] „Ich würde vorziehen, mich sofort wieder auf meinen Posten begeben zu können,“ versetzte der Cavaliere im Tone eines kaum zu bewältigenden Aergers; „ich hoffe, Sie erlauben das, Herr Graf, da ich Ihnen ja den Willen gethan, diesen Weg zu wählen, und dagegen nun das Versprechen Ihrer Discretion habe …“
„Sie haben allerdings den ersten Schritt, sich diese zu sichern, gethan, Cavaliere, doch noch nicht das Gelübde derselben von mir erhalten. Bitte, gewähren Sie mir die Ehre Ihrer Anwesenheit noch für einige Minuten; setzen wir uns.“
„Aber wenn ich Ihnen sage, daß ich durchaus keine Lust habe …“
„So sagen Sie mir freilich nichts, was ich mir nicht lebhaft vorstellen könnte,“ fiel ihm Kaunitz in’s Wort, indem er sich ruhig setzte, während der junge Mann vor ihm stehen blieb; „aber Sie wissen, Cavaliere: Necessità c’induce, e non diletto! und darum fügen Sie sich und … plaudern wir ein wenig. Sie wissen, ich bin Diplomat und also etwas neugieriger Natur – wollen Sie die Güte haben, mir einige Fragen zu beantworten?“
„Herr Graf,“ antwortete der junge Mann auffahrend, „ich meine, Fragen zu stellen, dazu wäre zunächst ich befugt. Ich begreife nicht, was Sie veranlaßt, sich so in meine Geheimnisse, die dazu nicht blos meine Geheimnisse sind, einzudrängen … ich muß Ihnen gestehen, daß ich diese Ueberrumpelung ein wenig unritterlich finde …“
„Still, still, Signor Cavaliere, machen Sie mich nicht zu Ihrem Feinde … wenn der König erführe, daß Sie Ihren Posten verlassen haben, und die Frau Marchesa von San Damiano, zu welchem Ende Sie dies thun … und wie Sie die ihrem Schutze anvertraute Signora Bianca um ihre Nachtruhe bringen – so wäre es für immer um Sie geschehen … Sie sehen ein, daß Sie mich zu Ihrem Freunde machen müssen! Nicht wahr?“
„Und wollen Sie sich diese Freundschaft abkaufen lassen … durch Bedingungen, die Sie daran knüpfen?“
„Allerdings, ich bin so unritterlich!“
„So reden Sie!“ versetzte der Cavaliere, indem er sich in tiefstem Unmuth in einen Sessel warf.
„Sie lieben die Nichte der Marchesa?“
„Ja!“
„Und weshalb wählen Sie diese halsbrecherischen Wege, um sie sprechen zu können?“
„Halsbrecherisch sind sie eben nicht,“ versetzte der junge Mann mit einem stolzen Lächeln. „Auf dem Dachboden über uns ist eben eine solche Maueröffnung und Thür im Schlot, wie die, durch welche ich in Ihr Zimmer gestiegen bin, so daß man sich ganz bequem hinablassen kann …“
„Und Ihr Savoyarden seid geborene Rauchfangfahrer!“ rief Kaunitz lachend aus. „Aber was verhindert Sie, Ihre Neigung offen zu gestehen und bei der Marchesa um die Hand ihrer Nichte zu werben?“
„Die Marchesa würde es nie zugeben!“
„Und weshalb nicht? Sind Sie nicht ein junger Mann aus dem besten Hause, wohlhabend, ja reich, so viel ich weiß, mit glänzenden Hoffnungen …?“
„Und dennoch würde sie es nie zugeben!“
„Aber der Grund?“
„Weil sie ein Weib ist,“ versetzte der Cavaliere mit einem Aufwerfen der Lippen, das unverkennbar den Ausdruck der Verachtung hatte.
„Ich verstehe,“ sagte Kaunitz mit einem schlauen Lächeln … „weil sie ein Weib ist! In der That, das ist schlimm! Bianca wird also für’s Erste nicht die Ihrige werden – es sei denn, daß sich die Diplomatie, die allein über ,Weiber’ etwas vermag, in’s Mittel legte!“
„Was wollen Sie damit andeuten?“
„Meinen Vorsatz, Ihnen zu helfen.“
„Sie sind sehr gütig, aber …“
„Wenn ich nun Ihre Hülfe nicht will, wollen Sie sagen …?“
„Das wollte ich allerdings!“
„So wollen Sie doch meine Freundschaft und meine Discretion erkaufen – – darüber waren wir einig.“
„Ja, Ihre Discretion … nennen Sie Ihre Bedingungen, Herr Graf!“
„Wenn nun die erste wäre, daß Sie ein wenig Ihren Groll gegen mich schwinden ließen und mit mehr Vertrauen auf meine Theilnahme für Ihre hoffnungslose Neigung bauten?“
„So würde ich diese Bedingung annehmen,“ sagte der junge Mann nach einer Pause mit verändertem Ton, wie durch den warmen und aufrichtigen Ausdruck, mit dem Kaunitz gesprochen hatte, betroffen.
„Meine zweite Bedingung,“ fuhr Kaunitz fort, „ist eine, die Ihnen schon etwas schwerer einzugehen sein wird; aber was wollen Sie – sie ist unerläßlich – und Sie müssen sich darein fügen!“
„Nennen Sie diese schwere Bedingung … sie wird nichts Unritterliches oder Unwürdiges enthalten, da Graf Kaunitz sie mir stellt!“
„Nichts Unritterliches – gewiß nicht,“ fiel Kaunitz mit ironischem Lächeln ein, „nur ein Bischen Untreue und Verrath gegen Ihre Geliebte, und das verstößt ja nicht gegen den Ehrencodex junger Ritter – Sie sollen nämlich für die nächsten acht bis vierzehn Tage Ihre Bianca zu vergessen scheinen und Mademoiselle Aimée de Brissac, der Verwandten des Barons von Breteuil, auf Tod und Leben den Hof machen!“
„Ist das Ihr Ernst!“
„Meine Bedingung, an die sich für Sie die Rettung aus einer sehr verzweifelten Situation und – die Hand Bianca’s knüpft.“
„Darf ich Bianca einweihen?“
„Nein, das dürfen Sie nicht. Ich werde Ihr Ehrenwort fordern, daß Sie schweigen! Nur unter dieser Bedingung werde auch ich schweigen und für Sie wirken!“
Der Cavaliere schien mit sich zu kämpfen.
„Sie fürchten Ihre Bianca zu verletzen, ihr den Schmerz der Eifersucht zu machen,“ fuhr der junge Diplomat fort, „aber würde es Sie weniger schmerzen, wenn man Sie morgen als untreuen Soldaten, der seinen Posten verlassen hat, in’s Fort Bard oder Gott weiß wohin auf viele Jahre als Gefangenen sendete?“
Die Gesichtszüge des Cavaliere zogen sich zornig zusammen, seine Augen sprühten Blitze auf Kaunitz.
„Und Sie wären wirklich im Stande, mich zu denunciren?“
„Täuschen Sie sich darüber nicht, Cavaliere … ich bin fest entschlossen, das zu thun! Gewiß nicht aus Freude am Unheilstiften; aber aus gebieterischen Gründen, die ich Ihnen nicht enthüllen kann und die Sie immerhin als mit meiner politischen Mission zusammenhängend annehmen dürfen “
„Nun, dann bin ich freilich völlig in Ihrer Hand!“
„Allerdings, aber diese Hand wird Sie zu Ihrem Glücke führen, glauben Sie mir das! Also, hab’ ich Ihr Wort? Wollen Sie thun, was ich verlange? Wollen Sie Demoiselle de Brissac mit einem Eifer den Hof machen, daß es die Gesellschaft bemerkt, und wollen Sie die Gunst der jungen Dame in einem Maße sich zu sichern suchen, daß Sie ihr ein Geschenk anbieten dürfen?“
„Welches Geschenk?“
„Nun, es wird sich finden! Also, hab’ ich Ihr Wort?“
„Kann ich Nein sagen?“
„So geben Sie mir Ihr Wort – geben Sie mir Ihre Hand darauf, daß Sie thun wollen, was ich verlangt, und daß Sie Ihrer Bianca mit keiner Sylbe verrathen wollen …“
„Wie lange soll diese Schauspielerei dauern?“
„Höchstens vierzehn Tage, dann werden Sie der Bräutigam Bianca’s sein!“
„Sie sagen das mit einer solchen Bestimmtheit, Herr Graf …“
„Daß Sie beginnen mir zu glauben? Desto besser! Desto eifriger werden Sie Ihr glänzendes Talent, Rollen zu spielen, das wir heute bewunderten, entwickeln. Also, ich habe Ihr Ehrenwort?“
„Sie haben mein Ehrenwort, Graf Kaunitz!“
„Nun, dann können wir uns als gute Freunde und Verbündete trennen. Ich darf nicht sagen: Schlafen Sie wohl, Cavaliere, – nur: eilen Sie jetzt auf Ihren Posten zurück und denken Sie nach, wo Sie sich gleich morgen Mademoiselle de Brissac nähern können! Addio, Signore!“
Der junge Mann stand auf, verbeugte sich leicht vor Kaunitz, und dieser leuchtete ihm durch seine Vorzimmer. Als er zurückgekommen, lag ein triumphirendes Lächeln auf seinem Gesichte.
„In welch’ vortreffliche Geschichte hat sich dieser Kaminspuk für uns aufgelöst!“ sagte er, „und,“ setzte er leiser und nach dem Kamin hin horchend hinzu … „welche liebenswürdige Nachbarin haben wir da entdeckt!“
Es waren etwa zehn Tage verflossen. Der Cavaliere di Lucano hatte sein Kaunitz gegebenes Wort erfüllt. Er hatte sich dem französischen Gesandten zu nähern gesucht und hatte Mademoiselle de Brissac den Hof gemacht mit all der Lebhaftigkeit, womit ein junger Mann, dessen Herz in anderen Banden liegt, einem jungen Mädchen die Cour machen kann, das sehr hübsch, sehr liebenswürdig und sehr kokett ist.
„Ich bin mit Ihnen ganz ausnehmend zufrieden,“ flüsterte ihm Kaunitz eines Abends zu, als er ihm im Abendcirkel des Königs begegnete. „Es scheint, Sie finden Ihre Rolle nicht so schwer, als es Ihnen im ersten Augenblicke vorkam! Wie sollte man auch, wenn man für Rollen in Schäferspielen berühmt ist!“
„Die Rolle, welche Sie mir gegeben haben, ist allerdings nicht so schwer,“ antwortete der Cavaliere mit einem mißmüthigen Lächeln. „Schwer dabei ist nur den vorwurfsvollen Augen Bianca’s begegnen zu müssen, und ihr nicht anders als mit verstohlenem Achselzucken und leidenschaftlichen Blicken antworten und eine Erklärung geben zu können.“
„Glauben Sie, daß Bianca eifersüchtig ist?“
„Wie sollte sie anders – ich bin wenigstens eitel genug, es zu glauben, obwohl ich sehe, daß Sie Alles aufbieten, ihr einen Ersatz für das plötzliche Aufhören meiner Huldigungen zu bieten!“
Der junge Mann sprach diese Worte mit einer Schärfe, deren Bedeutung Kaunitz nicht entging. Er erröthete leicht.
„Sie scherzen, Cavaliere,“ sagte er, „wie könnte ich daran denken, Bianca Pallavicini einen Ersatz zu bieten für einen so glänzenden …“
„O, fügen Sie nicht auch noch Spott hinzu,“ fiel ihm der junge Mann in’s Wort, „der ganze Hof sieht es ja, wie auffällig oft Sie an ihrer Seite sind und wie vortrefflich Sie Bianca zu unterhalten wissen!“
„Der ganze Hof hat eben nichts Besseres zu thun, als solchen Klatsch zu erfinden …“
„Nun, so lassen wir den Hof aus dem Spiele; es ist genug an dem, was ich selbst mit eigenen Augen sehe!“
„Sie täuschen sich, Cavaliere, Sie sagten ja eben selbst, daß Bianca Sie mit vorwurfsvollen Blicken verfolge.“
„Mit vorwurfsvollen, die vielleicht auch ein wenig triumphirend sagen: Sieh, wie rasch ich Dich vergessen und mein Herz einem Andern zu eigen gegeben habe … wer versteht, was solche Frauenblicke sagen!“
„Seien Sie ruhig, Cavaliere,“ versetzte Kaunitz mit einem etwas verlegenen Lächeln, „ich habe Ihnen versprochen, was ich für Sie thun wolle, und wissen Sie, ob ich dazu nicht auch der Beihülfe Bianca Pallavicini’s bedarf und zu dem Ende mit ihr zu reden habe?“
„Nun, so will ich Ihnen trauen, aber dann bitte ich Sie, lassen Sie das grausame Spiel enden, Herr Graf. Ich bitte Sie dringend darum. Ich kann die Blicke Bianca’s nicht länger ertragen, mögen sie nun ausdrücken, was sie wollen; und wenn das so fortgeht mit Aimée de Brissac, wie soll ich das Verhältniß wieder lösen?“
„Fürchten Sie nichts, Cavaliere, nur noch einige Tage Geduld, nur noch wenige Tage. Und führen Sie noch heute Abend bei Fräulein von Brissac eine Gelegenheit herbei, ihr ein Geschenk machen zu können; gehen Sie eine Wette ein, die Sie verlieren …“
„Und welches Geschenk soll ich ihr machen?“
„Eine hübsche Perle von einer seltnen Art, die ich Ihnen, sobald wir in unsern Zimmern sind, durch meinen Kammerdiener übersenden werde. Sie hat einigen Werth, und Sie werden Ehre damit einlegen!“
„Aber wird sie verschweigen, daß sie von mir kommt? und wenn Bianca erfährt …“
„Sie wird sie zuerst ihrem Verwandten, dem Gesandten, zeigen, und dieser wird dafür sorgen, daß sie es verschweigt … mein Wort darauf!“
„Aber ich begreife nicht …“
„Still, still, Sie kennen unsern Contract, Cavaliere, und müssen mir folgen; ich will Ihnen auch den Trost geben, daß Ihre Hauptaufgabe damit zu Ende ist und daß ich Sie bald des Dienstes bei Aimée von Brissac entlassen werde; für jetzt aber müssen Sie Ihre Rolle mit demselben glänzenden Erfolg, wie bisher, weiter spielen; sehen Sie nicht, wie die schöne Französin Sie mit ihren Augen sucht? gehen Sie zu ihr, gehen Sie, man darf uns nicht so lange zusammen sprechen sehen.“
Kaunitz wandte sich ab, um zu einer nahen Gruppe von Herren zu treten, und der Cavaliere näherte sich ziemlich mißmuthig dem Gegenstände seiner Huldigungen.
Eine Weile darauf kam Graf Traun an Kaunitz vorübergeschritten und da er ihn erblickte, winkte er ihn zu sich und trat mit ihm in eine Fensterbrüstung.
„Nun, wie weit sind Sie mit Ihrer Intrigue, Kaunitz,“ sagte der Graf. „Ich sehe unsere Perle noch immer nicht an der Brust der Marchesa und den Baron Breteuil noch immer so in der vollen Gunst des Königs, daß er ihn eben zu seinem Spiele gezogen hat.“
„Wir müssen eben Geduld haben, dafür sind wir ja Deutsche,“ versetzte lächelnd der junge Diplomat. „So viel kann ich Ihnen sagen, daß Fräulein Aimée ohne Rückhalt in die Schlinge geht, welche wir ihrem Oheim legen.“
„Nun, das ist etwas! Und weshalb sollte sie nicht? Dieser Cavaliere di Lucano ist der glänzendste junge Mann am Hofe, der Erbe eines sehr vornehmen und sehr reichen Hauses – und am Ende …“
„O, am Ende,“ fiel Kaunitz ein, „müssen wir doch unser Wort halten, und Sie wissen, daß dies auf eine andere Entwicklung der Dinge hinausläuft …“
„Allerdings, nach dem leichtsinnigen Versprechen, welches Sie gegeben haben, ich bin in der That gespannt darauf, wie Sie es lösen werden!“
Kaunitz lächelte selbstzufrieden, während er antwortete: „O gewiß, Excellenz, wir werden es lösen, zweifeln Sie nicht daran; während Sie die großen Staatsactionen durchführen, wird doch Ihr Attaché solch’ eine kleine Partie zu Stande zu bringen wissen …“
„Nun, thun Sie Ihr Bestes … und vergessen Sie nicht, daß die Zeit drängt, daß man in Wien ungeduldig wird und daß man die Perle dort nur hergegeben hat in der Voraussetzung, daß wir mit diesem hohen Preise einen vortheilhaften Handel machen!“
Der Graf verließ seinen Attaché und mischte sich in die Gesellschaft.
Es giebt scharf ausgeprägte Charaktermenschen, deren ganzes oft wechselvolles Leben von einem einzigen, sei es humanistischen, freiheitlichen oder künstlerischen und poetischen Ideale beherrscht wird und die bei allem Wechsel des Geschickes, bei aller bunten Verkettung der Erlebnisse nur für die Verwirklichung ihres Ideals die Mühen und Arbeiten des Lebens einsetzen. Zu solchen gekennzeichneten Charakteren gehört Gustav Adolph Wislicenus, in einem Pfarrhause bei Eilenburg den 20. Novbr. 1803 geboren. Sein lebenbeherrschendes Ideal ist die religiöse lichtfreundliche Freiheit, verbunden mit einer geschichtlich-wissenschaftlichen Auffassung des Christenthums, mit einer freien Prüfung seiner Urkunden, des Buches der Bücher. Sein bewegtes, oft trübes Leben war bis zu seinem jetzigen 61. Lebensjahre getheilt in Erziehung der Jugend nach diesem Ideale und in Erziehung des häufig unmündigen und unfreien Volkes durch Wort und Schrift, in Erziehung beider für eine vorurtheilslose Auffassung der Bibel. Die Hingabe einer ganzen Lebensarbeit an ein Ideal setzt immer voraus, daß das Ideal Herz und Kopf ganz ausfüllt, daß der zu einem solchen Ziele providenziell Berufene bei allen Hemmnissen und Wechselfällen immer nur zur Arbeit für dieses eine Ideal getrieben
[469]wird. So war es mit den Aposteln der politischen Freiheit, mit dem Friedensapostel Elihu Burritt, und so ist es mit Wislicenus, dem Apostel der religiösen Freiheit. Von frühester Jugend den religiösen Gefühlen hingegeben, wählte er 1822 Theologie und Pädagogik zu seinem Studium und Beruf, versenkte sich in die religiösen Mysterien des Christenthums, lernte aber auch bald die Religion mit der Freiheit verbinden und wurde endlich durch die Werke von Feuerbach und Strauß zu seinem Ideale der religiösen Freiheit geführt.
Als Prediger zu Klein-Eichstedt bei Querfurt (1834) und später als solcher in Halle trat er bereits dem starren Dogmenglauben feindlich entgegen; schon damals proclamirte er die freie wissenschaftliche Forschung über die Urkunden der Religion, über die Bibel. Er war aber niemals ein egoistischer Idealist, welcher die erkannte religiöse Freiheit in sich verschließen mochte, vielmehr sträubte sich sein gerader, ehrlicher und fester Sinn gegen die Zumuthung, die eigene Gesinnung nicht praktisch zu bewähren, die Ueberzeugung nicht zur Geltung zu bringen. Es drängte ihn stets, sein Denken und Handeln im Einklang zu erhalten und eine lichtvolle Bibelerkenntniß zu verallgemeinern. In dem Streben, das Volk über Religion und Bibel aufzuklären, trieb es ihn zu Anfang der vierziger Jahre, eine religiöse „Genossenschaft der Lichtfreunde“ zu fördern und 1844 in der „Versammlung der protestantischen Freunde“ einen Vertrag über die Frage zu halten: „Ist die buchstäbliche Auffassung der Bibel oder nur die rationelle Erklärung derselben als Glaubensnorm zulässig?“ Ohne auf Amtsentsetzung (1846) oder Verfolgung zu achten, schritt er in seinem Streben die erkannte religiöse Freiheit zu lehren, immer weiter und weiter. Seinem Werkchen „Ob Schrift, ob Geist“ folgte die Gründung einer „freien Gemeinde“, welche das dogmatische Christenthum mit der Religion des Menschenthums, mit der ethischen und humanisirenden Weltbildung vertauschte. Seine Zeitschrift „Reform“ und seine „Bibel im Lichte der Bildung unserer Zeit“ (1852) waren die nächsten schriftstellerischen Ausläufer seines Ringens nach religiöser Freiheit, während er, von Staat und Kirche abgesetzt und verfolgt, in errichteten Pensionaten, bei New-York und später in Zürich, sein ideales Ziel verfolgen konnte. Er verschmähte die Weltklugheit mancher seiner Amtsbrüder, vermochte sich nicht zur Heuchelei so vieler seiner gleichgesinnten Genossen, sich auch niemals zum Widerruf oder nur zur Milderung seiner mit ihm verwachsenen Grundsätze zu verstehen und ertrug lieber Amtsentsetzung, Gefängniß, Exil und die Herbigkeit der Entbehrung auf dem Ocean einer ungewissen Zukunft, als das Aufgeben seines Ideals.
Dem Abende seines Lebens zuschreitend, concentrirte er endlich [470] seine ganze Geistesthätigkeit auf die Ausarbeitung eines nun im Erscheinen begriffenen großen Werkes – „Die Bibel für denkende Leser betrachtet“ – worin sein Ideal von religiöser Freiheit sich abspiegelt, die rationellen Erklärungen der Urkunden der Religion sich gipfeln, und dieses Werk verspricht ein Volksbuch für die religiöse Freiheit zu werden. Hat ihm die orthodoxe Kirche den Priestertalar entzogen und die Kanzel versperrt, so ist er ein Priester der Jugend und des Volks geworden, und ist sein Haar im Kampfe mit dem starren Dogmenglauben gebleicht, so bezeugt sein Bibelwerk, das hier in Hauptpunkten beleuchtet werden soll, die Jugendfrische seines Ideals, sein Ringen nach religiöser Freiheit.
Das gläubige Volk sucht und findet in der Bibel die Quelle der überlieferten Religionslehren, das Buch der Erkenntniß für die edelsten Sittengesetze, das Trostbuch für das leidende und verzweifelte Gemüth, den Pharus für die Schiffbrüchigen auf dem stürmischen Ocean des Lebens. In den biblischen Erzählungen über die Urgeschichte der Menschheit, über die Erscheinungen der Natur und über die Begebnisse eines alten Urvolkes sieht der religiöse Sinn nur offenbarte, unbedingte Wahrheit, nicht aber eine zu prüfende Erscheinung der Geschichte. Die Kirche verlangt Glauben, die Geschichte fordert Wissen, und Wissen ist das Urtheilen des denkenden Menschen. Die Kirche wie die Synagoge haben das biblische Schriftthmn heilig gesprochen und es als Band – religio – betrachtet, welches den materiellen und ungezügelten Menschen mit Gott verbindet. Aber auch die Bücher der Geschichte führen den denkenden Menschen dem Geistigen zu, ohne die Vernunft gefangen zu nehmen.
Fromm und frei unternahm es der muthige und wahrheitsliebende Wislicenus, die Bibel als Erscheinung der Geschichte darzustellen. Die großartigen Ergebnisse der freien Wissenschaft, die seit Jahrhunderten, oft mit Verlust der persönlichen Freiheit, erzielt wurden, verdienen in unserer Zeit, daß sie in eine verständliche, volksthümliche Sprache umgegossen und Gemeingut der denkenden Leser werden. Das gereifte und selbständig denkende Volk will auch seine Religion und seinen Glauben nicht auf blinde Autorität hinnehmen; es will wissen und selbst erkennen. Wie unser Volk nach Einsicht und Verständniß über seinen gesunden und kranken Leib strebt und ringt und die Männer als seine Apostel hochschätzt, welche ihm diese Erkenntniß in volksmäßiger Sprache zuführen, ebenso dürstet und lechzt es nach Verständniß der Religionsquellen für seinen gesunden und kranken Geist und würde die Dolmetscher preisen, die ihm klare Einsicht in die biblischen Schriften verschaffen. Die fortgeschrittene Naturwissenschaft hat durch faßliche und populäre Darstellung im denkenden Volke einen großen Leserkreis gefunden; die wissenschaftlichen Forschungen über die Bibel harren noch der Popularisirung. Die biblischen Urkunden beider Testamente, auf deren Grund die Kirche ihren glänzenden Riesendom aufgebaut hat, um die Völker in Beziehung alles Menschlichen auf eine göttliche Weltordnung zu leiten, sind wie die Verfassungen im Staatsleben. Jedes Staatsmitglied sucht in der Verfassung seine Beziehung zur Staatsordnung; und wie die genauste Kenntniß der Verfassung heilige Pflicht der Bürger ist, um nicht unversehens von solchen, die sie bewußt oder unbewußt falsch auslegen, zur Verantwortung gezogen zu werden, ebenso will das gereifte Volk in seinen religiösen Interessen sich durch Prüfung überzeugen, will die Verfassungsurkunde der Kirche, die Bibel, selbst verstehen.
Das Bibelwerk von Wislicenus popularisirt die biblische Wissenschaft für denkende Leser. Was die erleuchteten und scharfsinnigen Gelehrten seit Jahrhunderten in allen wesentlichen Theilen der Bibel ermittelt, die Gesichtspunkte und Ergebnisse, die sie durch Kritik und Gelehrsamkeit zu Tage gefördert haben, das wird in diesem Bibelwerk in eine dem Volke genießbare Sprache umgesetzt und gedolmetscht. Die freie Forschung hat den Kerker der Kritik verlassen und ist auf den weiten Markt des Volkes getreten; sie hat die ungelenke und schwer verständliche Sprache der Gelehrten aufgegeben und die volksthümliche Redeweise angenommen. Bei dieser Wandlung hat die Bibel nunmehr keine Ausnahmestellung, ist kein Buch, das sich der wissenschaftlichen Beurtheilung, der menschlichen Prüfung entzieht, kein exclusiv theologisches Werk, sondern eine Erscheinung der Geschichte. Wislicenus tritt mit seiner Bibel nicht als Anwalt einer herrschenden Kirche, sondern als Priester von Volksgnaden auf; seine erworbenen fremden und eigenen Ergebnisse in der Erklärung dieses uralten schönsten Buches der Bücher theilt er dem denkenden Volke in der Ueberzeugung mit, daß nur die unbestechliche Wahrheit geistig frei macht und daß nur Wissen und Verständniß die Religion der Zukunft sein kann. Die Betrachtung der Bibel im Geiste eines hochpoetischen, großartigen geschichtlichen Schriftthums, als durchwoben von Mythe und Sage, von Dichtung und Wahrheit, führt zur Emancipation von Irrglauben, zur Befreiung von den Fesseln einer autokratischen Kirche, zu einer idealen Religion des Geistes.
Als Nationalliteratur eines naturwüchsigen, nach sittlicher Vollendung und geistiger Erhebung ringenden Urvolks birgt die Bibel in ihren Geschichten und Lehren, auch wenn sie als menschliches Werk behandelt und vom Standpunkt der Wissenschaft beurlheilt wird, alle Elemente der Religion. Denn auch die Geschichte ist, von höherem Ziele aus gefaßt, eine fortgesetzte Offenbarung. Wie jedes andere Buch des fernen Alterthums verfällt die Bibel der Kritik, der wissenschaftlichen Prüfung und dem Urtheile denkender Menschen, und nur der Absolutismus der Strenggläubigen konnte für sie eine mystische Ausnahmestellung beanspruchen. Aber die Lösung der wichtigen Ausgabe ist bei dem hohen Alter der biblischen Schriften, bei der Fremdartigkeit in Sprache und Anschauung nicht leicht, sie verlangt die Aufbietung des kritischen Scharfsinns, gepaart mit dichterischem Sinne, um die kindliche Weltanschauung eines Naturvolkes zu begreifen. Denn bald sind die nebelhafte Mythe und die dichterische Sage von der hellen und klaren Thatsache zu unterscheiden, bald ist die naive Anschauung von dem unmittelbaren Eingreifen der Gottheit in die menschlichen Begebnisse auf unsere reflectirende Betrachtungsweise zu übertragen. Die Satzungen und Sittenlehren beider Testamente, welche für ihre Zeiten ein Zeugniß von idealer Geistesentwickelung ablegen, muß die Wissenschaft nach ihren Motiven und Zwecken prüfen, um ihren Werth für die Zukunft danach zu messen. Solche freie und vorurtheilslose Geistesarbeit ging seit Jahrhunderten neben der starren, orthodoxen Anschauung von der Bibel einher. Die erste Prüfung galt der wissenschaftlichen Fassung des sogenannten mosaischen Fünfbuches nach Zeit und Verfasser, die auch Wislicenus an die Spitze seines Bibelwerkes gesetzt hat.
Schon der jüdische Gelehrte Ibn Esra aus Toledo im zwölften Jahrhunderte bewies, daß die fünf Bücher Mose’s vielfache fremde Einschiebsel enthalten, wie andere Bücher des Alterthums. Spinoza im siebzehnten Jahrhundert folgte ihm darin und stellte überzeugend dar, daß das Fünfbuch erst mindestens ein halbes Jahrtausend später entstanden sein könnte. Englische, französische, holländische und deutsche Gelehrte förderten mit Scharfsinn und unbestechlicher Kritik die rationellen Forschungen über die Bibel weiter und brachten dieselben endlich so weit, daß Wislicenus sie nur aus dem Banne der Gelehrsamkeit zu befreien brauchte.
Aber wäre es nicht zu vermessen, fragen religiös gestimmte Leser, einem Buche seine Echtheit abzusprechen, das bereits in den goldnen Träumen unsrer Kindheit als Buch der Bücher, als Religionsquelle angepriesen worden ist? Ist es nicht Leichtsinn, die uns überlieferte Verfasserschaft Mose’s bei einem Buche wegzuleugnen, das sich als Werk Mose’s ankündigt? Darauf müssen wir entgegnen, daß die ungeschminkte Erkenntniß, die uns Gewißheit und Ueberzeugung bietet, die freie wissenschaftliche Forschung, welche uns Wahrheit verschafft, nicht vermessen und leichtfertig genannt werden kann. Die Wahrheit hat das Recht, das Dämmerlicht kindlicher Träume durch Sonnenhelle zu verscheuchen. Es ist ein längst anerkanntes Ergebniß der Wissenschaft, daß gerade die alte Schriftstellerei auf religiösem Gebiete der Pseudonymität am meisten gehuldigt hat, daß, um den Büchern höheres Ansehen zu verschaffen, hochtönende angesehene Namen zu Verfassern von Büchern gestempelt und die wirklichen Autoren verschwiegen worden sind. Die Pseudonymität ist der Grundzug religiöser Schriftstellerei, und in der theologischen Welt ist diese Erkenntniß eine fertige und unbestrittene. Ein Gleiches ist mit den fünf Büchern Mose’s der Fall. Aus dem Inhalte und aus der ganzen Natur dieser Schriften, aus den Angaben von spätern Zeilen und Begebenheiten, aus dem örtlichen Standpunkte des Verfassers, der überzeugend auf Palästina hinweist, wohin Mose nie gekommen, aus den Rückweisungen auf Quellen, die zu Mose’s Zeiten noch gar nicht vorhanden gewesen, haben in unserem Jahrhundert sogar orthodoxe Theologen den Beweis geführt, daß der Verfasser ein halbes Jahrtausend nach Mose in Palästina gelebt haben muß, daß er den Stoff zur Urgeschichte der Menschheit und zur Vorgeschichte Israels aus verschiedenartigen [471] sich zuweilen widersprechenden Urkunden geschöpft habe und daß die erzählten Ereignisse sich häufig als mythische Abbilder späterer Verhältnisse erkennen lassen. Wislicenus hat nicht blos die Ergebnisse, sondern auch die Beweise der wissenschaftlichen Theologie selbst in seinem Bibelwerk für denkende Leser gegeben, während die orthodoxen Theologen ihre eigenen gelehrten Forschungen dem Volke absichtlich vorenthalten. Sie verschmähen die erforschte Wahrheit zu popularisiren, um ihr System von einer unmittelbaren Offenbarung, von der Gefangennahme der Vernunft zu stützen und die Unfreiheit zu erhalten.
Den Forschungen über Echtheit, Composition und Quellen der mosaischen Schriften, welche die erleuchtetsten Theologen aller Nationen seit dem zwölften Jahrhundert angebahnt, schließen sich seit dem letzten Jahrhundert die Betrachtungen über die Mythen und Sagen der Bibel an. Wie bei den Griechen und Römern die poetischen mythologischen Kreise, die fabelhaften Geschlechts- und Stammesfolgen die Anfänge der historischen Kunst bildeten, ebenso sind die Mythen und Sagen, die fabulosen Geschlechtsregister und die Namendeutungen des Fünfbuches die Uranfänge der biblischen Geschichte. Bei einer rationellen Ueberschau des Pentateuchs stellt sich nämlich als Ziel und Absicht des Verfassers heraus, die Pflanzung des Gottesvolks, die Gründung seiner Theokratie und seiner Verfassung zu schildern. Aber als Prolog dazu wird die Vorgeschichte oder die Herkunft des jüdischen Volkes von den Erzvätern und als Einleitung dazu die Urgeschichte der Menschheit erzählt. Das erste Buch Mose’s behandelt die Urgeschichte und die israelitische Vorgeschichte; jene wird in sinniger Mythe, diese in poetischer Sage von dem sehr späten Redacteur erzählt. Aber nach den Ergebnissen der Kritik haben der Redaction zwei Urkunden zu Grunde gelegen, die nach Plan und Charakter bei Behandlung desselben Stoffes eine bedeutende Verschiedenheit zeigten und welche der letzte Ordner nicht zu verschmelzen vermochte. Die eine älteste Urkunde, in welcher der Gottesname nur in der polytheistischen, nicht exclusiv jüdischen Mehrheitsform Elohim vorkommt, wird die elohistische Urschrift genannt, die andere spätere, welche das elohistische Werk ergänzt, nach vielen andern schriftlichen Sagenquellen bereichert und nur die jüdischnationale Bezeichnung des Gottesnamens durch Jehova hat, nennt man die jehovistische Urkunde. Der Elohist erzählt schlicht, liebt die Einfachheit und Natürlichkeit, stellt Gott in seiner Erhabenheit dar und läßt ihn nicht in menschlicher Weise handeln. Von einem sinnig reflectirenden Geistesspiel, von einem Bedürfniß, Ursachen und Zusammenhang im Erzählten nachzuweisen, findet sich bei ihm keine Spur. Er läßt die Schöpfung in sechs Tagen vollenden, und sein Gott feiert den Sabbath, wie der Ormuzd des Zendvolkes den seinen. Auch die Sprache und Schreibweise des Elohisten ist eigenthümlich.
Ganz anders erzählt seine Mythen und Sagen der in Palästina schreibende Jehovist. In Einzelheiten ergänzt er die Schöpfungsmythe des Elohisten und sucht Ursache und Zusammenhang nachzuweisen. In sinnig reflectirender Weise giebt er den Mythen und Sagen des östlichen Asiens eine religiös-nationale Färbung. Die Mythen vom Paradiese und dem goldenen Zeitalter, von dem Wunderbaume der Unsterblichkeit und dem der sittlichen Erkenntniß, von dem Eintritt des Uebels in das Erdenleben, von dem Ende des goldenen Zeitalters und so noch der ganze Verlauf der Urgeschichte zeigen eine vollständige Kenntniß der asiatischen Mythen, die er in eigener Färbung wiedergegeben.
Die scharfsinnige Ermittelung der zu Grunde liegenden zwei Hauptquellen für die Bücher Mose’s und den Nachweis, wie die zwei Urkunden vom letzten Verfasser bald in-, bald hintereinander geschoben, bald eingeschaltet, bald zusammengewoben wurden, verdankt die Bibelforschung dem berühmten französischen Arzt Astruc. Seit einem Jahrhunderte haben aufgeklärte Theologen Deutschlands (Michaelis, Eichhorn, Hartmann, Röhr, Gesenius, Ewald u. A.) die Astruc’sche Forschung in gelehrten Werken weiter ausgebildet und dadurch die Bibel dem Urtheile denkender Leser näher gebracht.
Wislicenus hat die strengwissenschaftliche Kritik popularisirt und nachgewiesen, wie verschiedene Ueberschriften, Schlußformeln, verschiedene Nachrichten über dieselben Begebenheiten nur durch den schwankenden, unvermittelten Gebrauch der zwei Urschriften entstanden sind. Er zeigt, wie der spätere Zusammenordner nach Gutdünken und aus der überlieferten Sage Zusätze gemacht, Lücken ausgefüllt, Veränderungen sich erlaubt hat, und daher die Bibel als Glied in der menschlichen Geistesentwickelung, aber nicht als eine Offenbarung in streng-kirchlichem Sinne aufzufassen ist. Und indem er so bald elohistische und jehovistische Stücke scheidet, bald die Ansichten des spät vollendeten Fünfbuchs mit denen der zum Theil weit früher geschriebenen prophetischen Bücher vergleicht, bald andere Wissenschaften zu Rathe zieht, namentlich aber, durchdrungen von den Gesetzen der Naturwissenschaft, alle Wunder entschieden verwirft und die Tendenz der betreffenden Dichtungen wiederum aus andern Bibelstellen nachzuweisen versucht, legt er dem Leser eine Reihe überraschender Entdeckungen vor. Nicht nur die Erzväter, auch Mose, Aaron und Josua, deren Namen er sinnreich zu erklären weiß, sind ihm mythische Personen; das ganze Leben der Israeliten in Aegypten, ihr Zug durch die Wüste, die Gesetzgebung am Sinai, die Errichtung eines Priesterstammes mit Bundeslade und Stiftshütte, ja die frühzeitige Verehrung Jehova’s überhaupt sind ihm eben so viele, zum Theil nach späteren Verhältnissen geformte Dichtungen. Die historische Zeit des israelitischen Volkes beginnt ihm erst mit dem Buche der Richter, obwohl er auch dieses und mehrere folgende Bücher, nicht nur ihrer Wunder, sondern auch ihrer innern Widersprüche wegen, noch stark mit Sagen versetzt findet und z. B. Elia und Elisa für künstlich gebildete Personen hält.
Wie er im Alten Testamente fortwährend betont, daß die prophetischen Schriften älter als die meisten historischen seien und daß auch unter diesen die sogenannten mosaischen keineswegs als die ältesten angesehen werden dürfen: so stützt er auch seine Forschungen im Neuen Testamente vorzugsweise auf den Umstand, daß die apostolischen Briefe, besonders die des Paulus, wirklich ein Bild ihrer Zeit abgeben, während Evangelien und Apostelgeschichte, wenn auch im Einzelnen älteren Quellen entstammend, erst gegen Ende des zweiten Jahrhunderts vollendet worden sind und allenthalben bald judenchristliche, bald heidenchristliche Färbung, bald das Streben, den damals tiefgreifenden Gegensatz zwischen beiden Richtungen zu versöhnen, erkennen lassen. Hiernach versucht er denn in den Aussprüchen Jesu Echtes und Unechtes zu scheiden, weist die Wunder Jesu und der Apostel als fromme Mythen nach, deckt die unvereinbaren Widersprüche in den Berichten über die Auferstehung Jesu auf und hält letztere nur für die Frucht einer lebhaften Einbildungskraft der Jünger, während die nicht einmal in allen Evangelien erwähnte Himmelfahrt ihm selbstverständlich wegfällt. Ebenso sieht er in dem Pfingstwunder und der gesammten Thätigkeit, welche die Apostel kurz nach Jesu Hingange in Jerusalem entwickelt haben sollen, spätere Sagen und neigt sich der Ansicht zu, daß die erschrockenen Jünger erst geraume Zeit nach dem Tode des Meisters sich wieder gesammelt und sein Werk fortzusetzen gesucht. Namentlich aber steht ihm Paulus und das in Syrien beginnende Heidenchristenthum unabhängig von Einflüssen aus Jerusalem da, und auch in den weiteren Schicksalen des großen Heidenapostels weiß er den Hauptreisebericht, den er dem Timotheus zuzuschreiben geneigt ist, von späteren zu gewissen Zwecken gefertigten Einschiebseln sorgfältig zu scheiden. Durchgängig aber läßt er dem Leser statt der seit langen Jahrhunderten hergebrachten Anschauungen über die biblische Geschichte eine Ahnung der Wirklichkeit aufgehen, wodurch denn auch auf spätere Zeiten, ja auf die positive Religion der Gegenwart und den Gebrauch, den man von ihr macht, ein bedeutsames Licht geworfen wird. – Wir haben im Vorstehenden lediglich in kurzer Zusammenfassung referirt, was Wislicenus mit seiner Schrift anstrebt. Ueber die Bedeutung des Werkes als That der Wissenschaft steht uns ein Urtheil nicht zu; wir müssen dies vielmehr den Männern der Wissenschaft anheimgeben. Wenn aber gedankenloser Glaube dem Dämmerlichte gleicht, das schwachen Augen wohlthun mag, so ist das Wissen sonnige Tageshelle, die gesunde Menschen erquickt. Wenn der Glaube selig macht, wie das orthodoxe Dogma lehrt, so geben gute Werke, aus der Erkenntniß der Wahrheit entsprossen, Freiheit und Macht, Selbstvertrauen und Freude.
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In Frankreich und England ist die Periode des Isolirsystems entweder schon vorüber, oder man hat, wo die Isolirhaft noch verhängt wird, doch eingesehen, daß sie nur auf eine ganz kurze Zeit und nur zu dem Zwecke angewendet werden darf, um den Charakter des Verbrechers und die Art und Weise, wie in seiner moralischen Besserung vorgegangen werden muß, kennen zu lernen. Weder in La Roquette, wo, wie wir neulich (Gartenlaube Nr. 1, Jahrgang 1864) sahen, die Bagnosträflinge bis zu ihrer Deportation und die zum Tode Verurtheilten bis zu ihrer Hinrichtung detinirt werden, noch in Mazas, welches ebenfalls ein Detentionshaus für Untersuchungsgefangene und für Sträflinge bis zu ihrer Abführung geworden ist, noch in St. Pelagie und in den Madelonettes, zwei Strafhäusern, noch in St. Lazare, einem Besserungshause, weder in den Gefängnissen der Conciergerie, noch in denen der Polizeipräfectur fand ich bei der Behandlung und Besserung der Gefangenen die Isolirhaft mit ihrer Einsamkeit und mit ihrem Schweigen. Um so mehr war ich daher erstaunt, auf meinen Wanderungen durch die Gefängnisse von Paris noch einem Kerker zu begegnen, wo mir die Isolirhaft in ihrer ganzen schroffen Strenge und Härte entgegentrat. Es ist das Gefängniß der jugendlichen Verbrecher, „la prison des jeunes détenus“, wie es in der amtlichen Sprache heißt, welches ich meine. Das Gefängniß der jugendlichen Verbrecher liegt in der Straße de la Roquette, dem Gefängniß der Deportirten und der zum Tode Verurtheilten gerade gegenüber. Schon seine äußere Gestalt machte mir wenig Hoffnung, in seinen innern Räumen das System der Milde und der Besserung zu finden, welches sonst in allen Pariser Gefängnissen bei der Behandlung der Gefangenen maßgebend ist.
Eine hohe Mauer umgab den ganzen Raum, auf dem das Gefängniß erbaut ist, und über derselben ragten die Giebel eines großen, fächerartig aufgeführten Gebäudes empor. Der innere Hof, den ich durch das gefängnißartige Eingangsthor betrat, hatte ein nichts weniger als düsteres Aussehen. Das Quergebäude, welches seine Breitseite einnahm, zeigte einen fast bürgerlichen Anstrich. Aber es war das Haus, in dem sich die Bureaux und die Registraturen befinden und wo die Beamten des Gefängnisses wohnen. Der Kerker selbst erhebt sich hinter diesem Hause. Als der Greffier das Papier geprüft halte, welches mich zu der Besichtigung des Gefängnisses ermächtigte, übergab er mich einem von den Aufsehern mit dem Auftrage, mich in allen Räumen desselben umherzuführen, mir die Einzelzellen zu zeigen und mich von der Behandlungsweise der Gefangenen genau zu unterrichten. Der Aufseher war ein Mann in den Fünfzigen, der bereits viele Jahre seinem traurigen Posten vorstehen mochte. Seine Züge trugen den Stempel jener Gleichgültigkeit und Herzenshärte, welche die Folge einer so langen, traurigen Beschäftigung sein müssen. Das Gefängniß gehört nicht zu den neueren Pariser Gefängnissen. Es ist schon unter der Regierung Karl’s des Zehnten erbaut worden.
Wir traten nun eine Wanderung an, welche ich zu den düstersten rechne, die ich in Paris in die Wohnstätten der Verbrecher und der Elenden gemacht habe. Es waren das Verbrechen und die moralische Verkommenheit der frühesten Jugend, welche in den verschiedensten Bildern an mir vorüberzogen. Das Gefängniß der jugendlichen Verbrecher in Paris nimmt nur Knaben und Jünglinge auf, welche das zwanzigste Jahr noch nicht erreicht haben und nicht unter sechs Jahren sind. Entweder das Verbrechen führt sie hinein, oder der Wille ihrer Eltern oder Vormünder, welche hoffen, von einer kürzern oder längern Haft ihre Besserung zu erzielen. Die Bestimmungen des Code pénal (des Strafgesetzbuches) geben in Frankreich dem Vater oder dem Vormunde das Recht, ein Kind auf einige Zeit in ein Besserungshaus zu bringen, wenn dasselbe sich der Erziehung und dem Willen seiner Eltern durchaus nicht fügen will. Es ist zu einer solchen Maßregel nur der Beschluß des Tribunalspräsidenten nothwendig, in dessen Gerichtsbezirk die Eltern des Kindes domicilirt sind. Für junge Mädchen dient als solches Besserungshaus Saint Lazare, für Knaben unsere prison des jeunes détenus. Länger als bis zum zwanzigsten Jahre bleibt Niemand im Gefängnisse der jungen Verbrecher. Der Knabe, welcher auf Veranlassung seiner Eltern hierher gebracht ist, geht dann in das Haus der Eltern zurück; der Verbrecher, dessen Urtheil auf eine längere Zeit lautet, wird in das Centralzuchthaus des Departements gebracht.
Ich sah auf meiner Wanderung durch die sechs Flügel des Gefängnisses Knaben auf allen Altersstufen, Kinder von sieben, acht, neun Jahren und junge Burschen von vierzehn bis zwanzig. Am Tage, wo ich das Haus besuchte, befanden sich darin nicht weniger als 600 Knaben und Jünglinge. Das ganze Gefängniß ist durchgehends nach dem Zellensystem eingerichtet. Sämmtliche sechs Flügel vereinigten sich sternförmig in einem Thurme, welcher für die Besuche der Eltern, Freunde oder Verwandten sehr sinnreich in der Weise eingerichtet ist, daß ein Beamter, welcher in der Mitte dieses Thurmes auf einem erhöhten Aussichtspunkte steht, sämmtliche Besucher sowie die Kinder, welche die Besuche empfangen, auf einmal übersehen und beaufsichtigen kann. Die Kinder und die Personen, welche sie besuchen, sind von einander durch einen mehrere Fuß breiten Raum getrennt, den sie nicht überschreiten können, da er von beiden Seiten von zwei einander gegenüberstehenden Barrieren eingehegt wird. Sich gegenseitig die Hand zu reichen, ist ebensowenig möglich wie irgend eine andere Berührung.
Es ist eine raffinirte Grausamkeit, in solcher Weise dem Unglücklichen, der sich fortwährend in einsamer Haft befindet, selbst die Momente des Besuchs eines Freundes oder Verwandten zu verderben. In der Einsamkeit und in dem Schweigen der Isolirzelle bildet ein solcher Besuch einen lichten und erregenden Moment, nach dem der Gefangene sich lange sehnt und dessen Erinnerung ihm Wochen lang theuer bleibt, wie ein Gedenkblatt der Liebe und der Freundschaft. Und hat eine solche Maßregel einen Zweck? Gar keinen, denn Niemand wird doch behaupten wollen, daß in den wenigen Minuten, welche ein solcher Besuch dauert, das Gemüth des Verbrechers demoralisirt werden kann, abgesehen davon, daß der Person, welche denselben im Gefängnisse besucht, eine solche Absicht gänzlich fern liegt. Diese Einrichtung des Besuchsthurmes im Hause der jungen Verbrecher gehört zu jenen tollen Ausschreitungen, zu denen die Isolirhaft in Europa gelangt ist.
Mein Begleiter war anderer Meinung. Er that sich auf die sinnreiche Einrichtung seines Besuchsthurmes ordentlich etwas zu Gute, sagte mir, daß es in Paris keinen ähnlichen Thurm gebe, und ich mußte mich durchaus auf die Tribüne des Aufsehers stellen, um diese sinnreiche Einrichtung auch selbst mit einem umfassenden Blick zu überschauen. Er machte mich dabei darauf aufmerksam, daß ich mich auf dem Punkte, auf dem ich stand, gerade in der Mitte des Gefängnisses befände. Vergebens suchte ich ihn von der raffinirten Grausamkeit und von der nutzlosen Härte der ganzen Maßregel zu überzeugen. Er blieb bei seiner Meinung. Sein Herz war in seiner langen Kerkermeisterlaufbahn hart wie ein Stein geworden, und sein Kopf hatte über das, was er in dieser Zeit im Gefängniß gesehen, wohl niemals nachgedacht.
Verdrießlich fuhr ich ihn, als alle meine Gründe ihn nicht überzeugen konnten, an: „Waren Sie je im Gefängniß? Gewiß nicht, sonst würden Sie die Qual einer langen, einsamen Haft kennen!“
Da sah der Mann mich erstaunt an. „Ich im Gefängniß?“ rief er, „niemals, denn ich habe niemals ein Verbrechen begangen.“
„Aber Sie können auch für ein sogenanntes politisches Verbrechen in’s Gefängniß kommen!“
„Herr,“ sagte er, „ich bin ein guter Unterthan und befolge die Gesetze, welche die Regierung, der ich diene, vorschreibt.“
Da hatte ich die Erklärung, weshalb meinem Begleiter sein Gefängniß gefiel. Er war aus einem denkenden und fühlenden Wesen eben eine Maschine geworden. Wozu weiter mit ihm reden? Eine Maschine hört nicht und antwortet nicht; sie bewegt sich, wie die Kraft will, welche sie sich bewegen und still stehen läßt. „Sprechen wir nicht mehr davon,“ sagte ich; „weiter!“
Die sechs Flügel der Gefängnisse hängen mit dem Thurme durch sechs fliegende Brücken zusammen, oder eigentlich durch achtzehn, denn jeder Flügel hat drei Stockwerke und jedes Stockwerk ist mit dem Thurme durch eine ähnliche fliegende Brücke verbunden. Jeder Flügel besteht aus einer Anzahl kleiner Zellen je von [473] der Länge von sechs und der Breite von drei Schritt, welche, zu beiden Seiten des Gebäudes belegen, durch einen zwischen ihnen durchlaufenden Gang getrennt sind. Jede Zelle war das Gefängniß eines Knaben, in welchem er sich außer den Freistunden, die er, ebenfalls allein, in einem von den Höfen, welche die Flügel des Gebäudes von einander scheiden, zubringen durfte, Tag und Nacht aufhielt. In diesem traurigen, einsamen Gefängnisse arbeitete, las, schrieb, lernte, aß, trank und schlief er, zu fortwährendem Schweigen verurtheilt. Die einzige Unterbrechung, welche in diesem raffinirten System des Schweigens und der Einsamkeit täglich eintritt, besteht in den Unterrichtsstunden, welche ihm von seinem Lehrer, ebenfalls in der Isolirzelle, ertheilt werden, oder in den wenigen Worten, welche der Wärter mit ihm wechselt, der ihm das Frühstück oder das Mittagsessen bringt. Für den Knaben, welcher ein Handwerk im Gefängnisse erlernt, tritt in dieser schweigenden, einsamen Existenz noch die Abwechselung hinzu, welche die Erlernung oder der Betrieb des Handwerkes nothwendig macht. Der Leser sieht, es war das Zellensystem in seiner schärfsten Anwendung. Sogar die Abwechselung und die Unterbrechung, welche ein gemeinsamer Schulunterricht mit sich bringt, fehlt in diesem entsetzlichen Gefängnisse, in diesem steinernen Grabe voller Einsamkeit und Schweigen.
Das Zellengefängniß für junge Verbrecher soll als Besserungs- und als Durchgangshaus für andere Gefängnisse oder für die Freilassung dienen. In seiner jetzigen Gestalt würde es seinen Zweck nicht einmal erfüllen können, wenn seine Bewohner erwachsene Leute wären. Es handelt sich nicht allein darum, die moralische Ansteckung unter den Gefangenen zu verhindern, sondern auch durch Zuspruch, Unterricht, Thätigkeit und liebevolle Behandlung ihre Seele wieder aufzurichten und sie aus dem Sumpf moralischer Verkommenheit zu einem anderen Leben emporzuheben. Der erste Zweck wird allerdings hier erreicht. Ein Kind kann Jahre lang in seiner Zelle zubringen, ohne das Kind, welches sich in der benachbarten Zelle befindet, jemals zu erblicken, geschweige denn mit ihm ein Wort zu wechseln. Selbst in den Spiel- und in den Unterrichtsstunden ist hier keine Annäherung möglich, weil auch diese Stunden nicht gemeinschaftlich, sondern einsam zugebracht werden. Ich sah aus dem Fenster eines Ganges auf den Hof. Er bildete eine Sandfläche ohne allen Blumen- oder Blätterschmuck. Die grauen Mauern auf dem grauen Sande gaben ein entsetzlich eintöniges Bild, in welches einzig und allein die Sonnenstrahlen und die langen Mauerschatten etwas Abwechselung brachten. Auf der grauen Sandfläche spielte ein zehnjähriges Kind einsam und allein mit dem Reifen, den es mittelst eines Stockes im Kreise umherjagte. Der sich drehende Reif und das laufende Kind bildeten das einzige sich bewegende Element in dieser wüsten Oede. Dann schien das Kind vom Laufen ermüdet, Reif und Stock lagen im Sande, das Kind lehnte sich an die Mauer, sein Auge blickte im Hofe umher und suchte vergebens eine Beschäftigung, welche es nirgends fand. Traurig schlich es dahin, um nach einiger Zeit den Reif wieder aufzunehmen und sein monotones Spiel von Neuem zu beginnen: Muß, in dieser Weise zugebracht, die Spielstunde nicht zu einer Stunde der Qual und der Langeweile werden? Die Einsamkeit des Erwachsenen beleben die Bilder der Erinnerung aus dem vergangenen Leben; die Einsamkeit des Kindes wird zur geistlosen Träumerei, welche die Kraft der Seele abstumpft und ihre geistigen Schwingen lähmt. Schließlich verliert das Kind die Lust sich zu bewegen, da es nicht weiß, worauf es die Bewegung richten soll, und so geht selbst der Nutzen, den die körperliche Bewegung für die Glieder haben könnte, verloren. Das gesellige Zusammensein ist aber ein für das geistige Leben des Kindes durchaus nothwendiges Element. Die Kinder, welche ich entweder mit einer Handarbeit oder mit Schreiben und Lesen beschäftigt in den Zellen sah, schienen alle geistige Frische eingebüßt zu haben. Theilnahmlos und gleichgültig antworteten sie auf meine Fragen. Auch ihre Gesichtsfarbe entbehrte der körperlichen Frische der Jugend. Wie vermag die Seele sittlich, groß, rein und edel zu werden in dieser düstern Einsamkeit, und ist das Gesicht nicht der Spiegel der Seele? Unbegreiflich, daß sich die Gedanken eines Menschen, der die Seele eines Mitmenschen bessern und sittlich veredeln will, zu einer solchen Behandlungsweise moralisch verderbter Kinder verirren können. Nur der Geist eines „Bruders aus dem Rauhen Hause“ kann auf derartige Abwege gerathen, oder das Gemüth eines Kerkermeisters, welches in seinem langjährigen Beruf hart und empfindungslos geworden ist, wie der Stein seiner Gefängnißmauern. Nochmals klopfte ich bei dem Herzen meines Begleiters an. Es gab keine Antwort. Der Mann fand alle Einrichtungen seines entsetzlichen Gefängnisses vortrefflich, wie er die zellenartige Einrichtung des Besuchthurmes vortrefflich gefunden hatte. Mit einem Gefühle innerer Zufriedenheit beschrieb er mir den Einschachtelungsplan des Unterrichts und der Behandlungsweise der Kinder in seinem Gefängnisse, wie die einzelnen Gänge in verschiedene Abtheilungen gesondert und jede Abtheilung ihren besondern Lehrer und ihre besondern Aufseher habe, wie selbst die Erholungsstunden der Knaben so künstlich vertheilt und in die Zeit des Tages eingeschachtelt seien, daß niemals ein Knabe mit dem andern in den Spazierstunden und Spielstunden zusammentreffen könne.
Allen meinen Einwendungen begegnete er mit der stereotypen Redeweise, daß diese Härte und Abgeschlossenheit in der Behandlung für so verdorbene und verbrecherische Jungen gerade am Platze seien, um den störrischen Sinn zu beugen und auf andere Wege zu bringen. Ich ließ mir noch einige Zellen öffnen. Ueberall derselbe in gleicher Weise ausgestattete Raum, ein Tisch, ein Stuhl, das Waschgeschirr, Bücher, Schreibmaterial, Handwerksgeräth, die Matratze an der Wand hinaufgeschlagen, die vergitterten Fenster in der obern Hälfte der Wände, dieselben freudelosen und gleichgültigen Gesichter von Knaben in allen Altersclassen. Traurig über Alles, was ich gesehen, verlangte ich zu dem Greffier zurückgeführt zu werden, um meine Vollmacht zur Besichtigung der Pariser Gefängnisse wieder in Empfang zu nehmen.
„Nun, wie hat es Ihnen bei uns gefallen?“ fragte mich der Greffier, als ich wieder in seinem Zimmer stand und er mir das Papier, mit seiner Unterschrift versehen, zurückgab, „sind Sie zufrieden?“
„Zufrieden?“ wiederholte ich entrüstet, „ist das Scherz oder Ernst? wie kann ich mit einem solchem System zufrieden sein? Ich finde das Behandlungssystem in Ihrem Gefängniß miserabel und für die Zwecke, welche Sie erreichen wollen, vollständig unpraktisch.“
Da fuhr der Mann von seinem Stuhl auf. „Miserabel und vollständig unpraktisch?“ rief er. „Da haben Sie Recht, ich bin vollständig mit Ihnen einverstanden. Das System ist gar nicht zu verantworten.“
„Aber weshalb ändern Sie es denn nicht?“ fragte ich ganz erstaunt über diese Antwort.
„Das will ich Ihnen sagen,“ rief der Greffier mit echt französischer Lebhaftigkeit. „Es war vor uns, vor der jetzigen Direktion, ein Director hier, ein harter, unpraktischer Mann, dem die Theorie der amerikanischen Systeme zu Kopfe gestiegen war; dieser Mann hat die Einrichtungen, welche Sie leider noch heute vorgefunden haben, sämmtlich eingeführt. Wir geben uns jetzt alle mögliche Mühe, die uns vorgesetzten Behörden von der Nothwendigkeit der Abschaffung des jetzigen Systems zu überzeugen. Man hat im Ministerium wohl noch keine Zeit gehabt, sich darum zu bekümmern. Aber es soll und wird ein Ende haben, seien Sie dessen versichert. Verdüstert im Gemüth, mit hartem Herzen, zuweilen geschwächt an Geist und Körper verlassen die Knaben das Gefängniß. Man findet auch kein zweites Gefängniß in Paris wie das unsrige. Aber es wird und soll damit ein Ende haben.“
Herzlich drückte ich dem wackern Manne die Hand, als ich ihn verließ. Möchten seine Worte von allen jenen Zuchthausverwaltern gehört und beherzigt werden, welche in deutschen Strafhäufern längst abgethane Theorieen amerikanischer Isolirsysteme mit zäher Consequenz zur Geltung zu bringen suchen! Aber ich fürchte, mein Wunsch wird sobald noch nicht in Erfüllung gehen.Freitag Abend. Die Uhren der City haben eben das zweite Viertel der sechsten Stunde verkündet, und vor uns prangt ein langer, stattlicher, säulengetragener griechischer Bau, eine der wenigen Oasen in der nüchternen Londoner Steinwüste, worin sich die sprüchwörtliche englische Geschmacklosigkeit nicht ihr Denkmal gestiftet hat: das Generalpostamt – the General Post Office – das Centrum des gesammten Postverkehrs von Großbritannien und Irland, 1829 auf der Stätte eines ehemaligen Klosters in St. Martin’s-le-Grand nach den Entwürfen des berühmten Architekten Sir Robert Smirke vollendet.
Diesem Gebäude gilt unsere heutige Wanderung. Mit Lebensgefahr haben wir uns endlich durch das uns umtosende Gewühl, durch die Hunderte von Fußgängern, meist schwerbeladene Männer und Knaben, die Karren und Packwagen, die Postfourgons, die Droschken und Wagen, die Gigs und Broughams um und vor und hinter uns geschlagen, von denen ein gut Theil gleichfalls unserm Ziele zutrachtet. Denn sechs Uhr, die Stunde des täglichen Postschlusses, ist nahe, und welche Last von Briefen und Bücherpaketen, von Zeitungs- und Journalconvoluten soll in den wenigen Minuten noch Unterkunft finden in den verschiedenen Schaltern der großen Vorhalle, um welche die einzelnen Postbüreaus gruppirt sind! Sputen wir uns, daß wir den Augenblick nicht versäumen, – mit dem letzten Glockenschlage der sechsten Abendstunde thut sich unerbittlich jeder dieser Schalter zu; eilen wir, uns die merkwürdige und ergötzliche Scene zu beschauen, welche sich hier allabendlich, am imposantesten und interessantesten des Freitags, abspielt. Nur London vermag eine solche Scene zu bieten, die mit den Betrachtungen, Folgerungen und Perspectiven, den culturgeschichtlichen Momenten, die sich an sie knüpfen, vielleicht vor allem Andern geeignet ist, uns das Ungeheure der jeden Vergleiches spottenden Londoner Verkehrsdimensionen in schlagenden Zügen, im bezeichnendsten Brennpunkte palpabel vor Augen zu stellen.
Ueber eine breite Freitreppe und durch einen eleganten Peristyl von cannelirten Säulen treten wir ein und stehen in einem weiten hohen Saale, an welchen zu beiden Seiten die verschiedenen Geschäftszimmer stoßen, in denen Abgang und Ausgabe der einlaufenden Poststücke vorbereitet werden, während rechts und links eine Reihe von geräumigen Schaltern der Aufnahme von Briefen und Drucksachen dient. Wo der Welthandel in seinem größten Emporium gipfelt; wo tagtäglich Hunderttausende mit schönen und unschönen Händen ihre Gefühle und Gedanken, ihre geschäftlichen Anliegen und Berechnungen, ihre Liebe und ihren Haß, ihre Bitten und ihren Dank, ihre Sorgen und ihre Hoffnungen, ihr Glück und ihr Leid auf feinem und grobem Papier in die Welt hinein schreiben, – da ist es wohl begreiflich, daß trotz der zahllosen Briefkasten und Annahmestellen und trotz der vielen größeren und kleineren Nebenpostämter, welche über die einzelnen Stadtbezirke vertheilt sind, die Halle im General-Office von Martin’s-le-Grand von früh bis Abends selten einmal leer wird, um so weniger, als sie zugleich als öffentlicher Durchgang benutzt wird, der durch das enge Foster Lane mit dem prachtvollen alten Gildenhause der reichen Goldschmiedezunft in jenes Labyrinth von rußigen Citygassen und -Gäßchen führt, welche, der gesammten mercantilischen Welt inner- und außerhalb Londons hochheilige Stätten, vom größten Großhandel in Beschlag genommen sind und Tag für Tag Millionen von Pfunden Sterling aus einer Hand in die andere übergehen sehen. Jetzt aber, wo der Zeiger der über dem Eingange angebrachten Uhr in wenigen Minuten bereits auf die Sechs gerückt sein wird, ist diese Posthalle der Schauplatz eines Dramas, wie auch London ein gleich lebens- und bewegungsvolles kaum zum zweiten Male aufweist. Es ist die Scene, von welcher unser Künstler eine Skizze zu geben versucht hat, die freilich den überwältigenden Eindruck der Wirklichkeit nur andeuten kann.
So wie es ein Viertel über fünf schlägt, werden die den Tag über geschlossenen großen Fenster ganz in die Höhe geschoben. Alsbald wogt eine ungestüme Menschenfluth über die Stufen herein, und Briefe und Zeitungen beginnen in einem wahren Hagelschauer in die Büreaus zu regnen. Eine Anzahl von Knaben von den verschiedensten Altern und Costümen hat auf der Stelle das Zeitungsfenster links umdrängt und umlagert; andere Jungen und Männer keuchen unter schweren Papierlasten heran. Wir müssen uns in einen Winkel retiriren, denn es ist nicht gut sein in der Nähe dieses aufgeregten Schwarmes, der nur sein Ziel im Auge hat und auf unsere Köpfe und Nasen, unsere Füße und Leiber nicht die geringste Rücksicht nimmt. Seht nur, wie ihre Ellenbogen arbeiten, wie sie sich stoßen und puffen, wie Einer den Andern vom Fenster wegzuschieben strebt, wie hier ein kecker Bengel, die Stirn voraus, den Arm in die Hüften gestemmt, sich glücklich durchwürgt durch seine Vordermänner und nun auf ein paar Augenblicke eine allgemeine Katzbalgerei entsteht! Zwar gelingt es den wachthaltenden Policemen, aus dem höllischen Tumulte wieder eine dem Orte einigermaßen entsprechende Ordnung herzustellen, allein das Wortgefecht währt dafür in um so drastischeren Aeußerungen und Wendungen fort. Die Jungen sind die Auslaufburschen der Londoner Zeitungs- und Journalexpeditionen und übertragen in anerkennenswerther Gesinnungstüchtigkeit und Geschäftstreue die Sympathien und Antipathien ihrer Blätter auf ihre gegenseitigen persönlichen Beziehungen. Heut’, am Freitage, stellen sie ein besonders zahlreiches Contingent zu dem die Halle füllenden Menschentrosse; heute erscheint ja auch das Dreiviertelhundert von Wochenschriften, mit und ohne Illustrationen, die London über den Erdball schickt, Blätter von den verschiedensten Nüancen in Richtung und Politik. All’ diese Literatur soll mit den nächsten Nachtzügen nach sämmtlichen Grafschaften des vereinigten Königreichs und nach den Hafenplätzen in Süd und Nord, in Ost und West spedirt werden, um von dort ihre civilisatorische Mission nach dem Continent und über den Ocean bis zu den Antipoden und an der Welt Enden anzutreten.
Wir müssen uns noch tiefer in die Mitte der Halle zurückziehen, denn die Jungen werden toller mit jeder Minute, und immer kühner sausen die noch druckfeuchten Bündel durch die Luft, dicker und rascher fallend als der Schnee an einem stürmischen Decembertage. Daß die papiernen Geschosse hier einen Hut, dort eine Mütze den Umstehenden von den Köpfen reißen, daß manche ihr Ziel verfehlen und an den Fenstergesimsen und Wänden ricochetirend unter das Publicum zurückprallen, das mindert das Feuer des Bombardements nicht. Und von Secunde zu Secunde wächst der Wirrwarr, zuletzt fließt Alles, Arme, Beine, Säcke, Körbe, Köpfe und Zeitungen zu einer ununterscheidbaren Masse zusammmen, und noch immer kommen Nachzügler athemlos die Stiegen herangestürmt. Säcke- und körbeweise entladet sich die periodische Presse zu den Füßen der in den Büreaus hantirenden Beamten, die mit vieler Kunst pariren und manövriren müssen, um von dem Papierregen nicht zu Boden geschmettert zu werden, und ihrerseits die leeren Hüllen über die Häupter der Menge in die Halle zurückschleudern, ebenfalls unbekümmert, wo das Projectil auftrifft. „Times“ und „Daily News“; die erzradicale „Weekly Despatch“ und der ultratocystische „John Bull“; „Bell’s Life in London“ mit ihrer Chronik von Wettrennen und Wettrudern, von Boxereien und Hahnenkämpfen, von Yachtclubs und Cricketpartien und das fromme hochkirchliche „Record“; „Saturday Review“ und „Morning Star“; Palmerston’s und Derby’s, D’Israeli’s und Russell’s, Bright’s und Shaftesbury’s Organe, sonst himmelweit geschieden in Anschauungen und Gebahren, in Meinungen und Tendenzen, hier machen sie in intimster Gemeinschaft ihren Flug in die Postexpeditionen und lagern sich in buntem Gemisch einträchtig übereinander.
Noch eine Minute, und es ist 6 Uhr. Lärm und Gewühl erreichen ihren Gipfelpunkt, weil das Publicum recht wohl weiß, wie das Postpersonal auch keine Secunde Nachsicht schenkt und daß mit dem letzten Glockenschlag der sechsten Stunde der Sturm unweigerlich geendet sein muß. Horch! Eins, zwei – ein paar stämmige Burschen durchbrechen mit den letzten Säcken in Todesverachtung das Gedränge; drei, vier – in wahrhaft babylonischer Sprachverwirrung schreit und tobt Alles durcheinander; fünf – noch einige gewaltige Entladungen; sechs – mit einem Schlage fallen alle Fenster und sämmtliche Schalter schließen sich mit dem gleichen jähen Rucke. Für heute ist das Schauspiel aus, um morgen, etwas minder handlungsvoll, von Neuem zu beginnen. Die Halle leert sich, und wo noch eben Hunderte von Stimmen [475] durch einander brausten und Hunderte von Armen in Bewegung waren, wird’s nun grabesstill, höchstens, daß Einer oder der Andere, der unverrichteter Sache abziehen muß, seinem Grimm in halblauten „Dams!“ Luft macht. –
Vor den Briefschaltern der andern Seite ist’s mittlerweile zwar weniger tumultuarisch, doch immerhin laut und lebhaft genug hergegangen. Unaufhörlich sind Briefe jeder Größe und Farbe eingeströmt, Briefe von Freunden und Schreiben von Advocaten; kindliche Gelöbnisse und ernste elterliche Ermahnungen; Briefe mit dem ersten zagen Liebeswerben schüchterner Jünglinge und Briefe mit dem aus allen Himmeln reißenden kurzen „Nein“ schnippischer Fräulein; Briefe, welche die lang erhoffte Anstellung verkünden, und „kleine Noten“, die auf sofortige Abmachung dringen; rosafarbige Billets, die vom glücklich geschlossenen Bunde für’s Leben jubeln, und schwarzgeränderte Couverts, welche von Tod und Grab und Harm erzählen; dickleibige Geschäftsbriefe und parfümirte Höflichkeitsepisteln, und so fort péle-méle durcheinander in unerschöpflicher Fülle und Mannigfaltigkeit. Doch auch hier ist die Fluth plötzlich gestaut worden, sobald die Uhr zum letzten Schlage aushob, auch hier geht Mancher und Manche mit einem ärgerlichen „zu spät!“ auf dem Gesichte heim.
Wir selbst bleiben noch einen Augenblick vor ein paar Tafeln stehen, die unweit des Eingangs in Rahmen aufgestellt sind. Diese Tafeln sind eine höchst wohlthätige Einrichtung des Londoner Postamts, die uns, als namentlich dem Fremden zu gute kommend, persönlich schon etliche Male zu Danke verpflichtet hat. Sie enthalten nämlich unter genauer Namensangabe der Adressaten und Bezeichnung des Ortes, den der Poststempel ausweist, eine Liste der in der letzten Zeit eingegangenen Briefe, welche wegen irgendwie unzulänglicher Wohnungsbezeichnung nicht haben bestellt werden können. Hinter jedem der aufgeführten Briefe ist ein leerer Raum gelassen, damit der Empfänger seine richtige Adresse beisetzen und so mit einer der nächsten Briefvertheilung das ihm bestimmte Schreiben sich zugänglich machen kann. In der Regel stehen diese Verzeichnisse mehrere Wochen aus, und so oft uns der Weg nach St. Martin’s-le-Grand führte, jedesmal fanden wir die Tafeln von Leuten umringt, die sie eifrig studirten. Mit welcher Erwartung überlasen sie Namen nach Namen, und welche Freude leuchtete auf in ihrem Auge, wenn sie endlich die Ankunft der vielleicht lange schmerzlich entbehrten Kunde aus der Heimath vermerkt sahen! Wie schrieben sie zitternd vor Erregung ihre Adresse dahinter – aber wie trostlos schlichen sie davon, war aber- und abermals ihr Weg vergeblich gewesen! –
Der Zugang zu den inneren Räumen des Postgebäudes ist dem Publicum streng untersagt; wir sind indeß heute Bevorzugte, wir besitzen eine Zauberruthe, die uns sämmtliche der verschiedenen Geschäftslocalitäten öffnet, von denen wir wenigstens einige rasch durchlaufen wollen. Durch lange von Gasflammen tageshell erleuchtete Corridore schreitend, kommen wir in hohe geräumige Säle, in denen Hunderte von menschlichen Wesen emsig schaffen, um ungeheuere Stöße von Briefen und noch riesigere Haufen von Zeitungen zu sortiren und zu stempeln. Uns schwindelt bei dem Wirrsal, das wir um uns erblicken; es scheint heillos zu sein, doch mit fabelhafter Geschwindigkeit bringen die geübten Hände Ordnung in die Confusion. Im Zeitungssaale ist bereits ziemlich aufgeräumt, die umherverstreuten Blätter sind in große Körbe zusammengeharkt worden und mächtige dampfgetriebene Flaschenzüge befördern die sortirten Pakete nach den Räumen hinab oder hinauf, wo die weiteren Proceduren ihrer harren. In der Hitze des Sturmes entgleitet natürlich eine erkleckliche Anzahl von Zeitungen den um sie gelegten Papierstreifen, welche die Adressen enthalten, und darum sind Abend für Abend mehrere Beamte ausschließlich damit beschäftigt, die losen Blätter wieder in ihre Hüllen zu schieben, wobei, trotz aller Sorgfalt, zeitweilen kleine Verwechselungen nicht ausbleiben und dies oder jenes urfortschrittliche Journal an einen stockconservativen Tory geräth, während umgekehrt hin und wieder der liberale Manchestermann statt seines gewöhnten Parteiblattes etwa den hochjunkerlichen „Morning Herald“ auf seinem Frühstückstische finden muß. Wo im Jahre 73 Millionen Zeitschriften und 14 Millionen Bücherpakete durch die Post befördert werden, sind wohl derlei gelegentliche kleine Quidproquos entschuldbar.
Begeben wir uns in die Briefsäle hinüber, so haben wir das gleiche rastlose Rühren einer Legion von Postbeamten zu bewundern. Schon liegen die Briefe sämmtlich mit Adresse und Postmarke nach oben gekehrt, und das Stempeln nimmt seinen Anfang, nicht mit der Hand, sondern mittels einer sinnreich erdachten Maschinerie bewerkstelligt. Zu gleicher Zeit werden alle nicht verschlossenen Briefe bei Seite gelegt und in ein anderes Local geschafft, wo das Postamt nachholt, was das nachlässige Publicum zu thun versäumt hat. Daß auch der wohl überlegende praktische Engländer dann und wann recht ungeschäftsmäßig leichtsinnig sein kann, beweisen die nahe an 300 Briefe, die allabendlich ohne jedweden Verschluß dem Generalpostamte überbracht werden.
Eine wahre Lust ist’s, dem Sortiren dieser chaotischen Menge von Briefen zuzusehen; die Schnelligkeit, mit welcher die gesammte Correspondenzmasse zuerst nach den großen Hauptrouten, die England durchschneiden, alsdann weiter in engere und engste Gruppen gesondert wird, macht uns staunen. Von Zeit zu Zeit pausirt einer und der andere der Sortirer in seinem Werke, um einen Brief genauer zu befühlen und darauf rasch in ein besonderes Fach zu werfen. Er hat in dem also beseitigten Briefe klingendes Geld entdeckt, von welchem die Adresse nichts besagte. Anstatt nun, wie es bei uns geschehen würde – wo mit bureaukratischer Engherzigkeit aus den Buchstaben des Gesetzes größerer Werth gelegt zu werden pflegt, als auf die Interessen des Publicums – die solchergestalt illegitim beschwerte Epistel in Ruhe unbefördert liegen zu lassen oder, wenn es hoch kommt, dem Absender zurückzugeben, der froh sein muß, wenn er nicht als Defraudant in Strafe genommen wird, ist die englische Post menschenfreundlich und coulant genug, auch in diesem Falle ihrerseits das Unterlassene nachträglich zu besorgen: das Schreiben zu registriren (recommandiren) und gegen Anrechnung doppelten Portos unverweilt an den Adressaten zu befördern. Allerdings ist diese Praxis eine noch junge, die der aus den Zeiten der hohen Portosätze herstammenden Gewohnheit der Bevölkerung, Geldsendungen zu schmuggeln, Rechnung trägt. Wie sehr diese Gewohnheit noch immer besteht, auch nachdem die sie bedingenden Ursachen längst weggefallen sind, erhellt daraus, daß im Zeitraume von sechs Monaten allein in London 58,000 solcher Briefe vorkamen, die erst das Postamt in die vorschriftsmäßige Verfassung setzen mußte.
Eine der interessantesten Abteilungen der Verwaltung ist das Bureau für die „blinden“ Briefe. Blinde Briefe? fragt der Leser. Das heißt diejenigen, deren Adressen unleserlich, falsch geschrieben oder ungenügend bestimmt sind. In diesem Departement regieren die Secretäre aller Secretäre, aus den erfahrensten und gescheidtesten Beamten zu ihren schwierigen Posten erhoben. Sie sitzen vor Haufen wunderlich überschriebener Briefe und lösen, was jedem andern Sterblichen unentzifferbare Hieroglyphen bleiben würde. Jeden Tag passiren die Hände dieser Männer Hunderte von Briefen, deren Adressen im Sortirsaale nicht zu enträthseln waren. Auf anderen ist vielleicht blos der Name eines obscuren Dorfes verzeichnet, und es gilt nun aus etwaigen zufälligen Merkmalen herauszugrübeln, welcher Winkel des vereinigten Königreichs mit dergleichen Botschaft beglückt werden soll, und den Namen der Grafschaft und der nächsten größern Stadt beizufügen. Wenn man weiß, auf welcher kläglich niedrigen Stufe die englische Volksbildung steht, weiß, welche überraschende Schaar von stolzen Albionssöhnen und Albionstöchtern das Studium der edlen Schreibkunst für einen überflüssigen Luxus erachtet oder doch in äußerst extravaganter Weise prakticirt: so wird man sich eine Vorstellung machen können, was für eine Anzahl von solchen enigmatisch bekritzelten Briefen Jahr aus Jahr ein in die Welt geschickt wird, und von der phantastischen Orthographie, die sich dabei producirt. Der Irländer mit seiner Unbildung und Sorglosigkeit liefert die meisten, der Schotte mit seinem guten Schulunterricht und seiner angebornen Vorsicht die wenigsten blinden Briefe. In acht unter zehn dieser kritischen Fälle wissen indessen unsere Blindbriefsecretäre das Richtige zu treffen.
„Da haben Sie ein Beispiel, wie sie täglich zu Dutzenden uns in die Hände kommen,“ sagte der eine der Beamten, indem er uns einen Brief zur Besichtigung überreichte. „Was meinen die Herren von dieser Adresse?“
Wir strengten all unsern Scharfsinn an, doch wir konnten das Geschreibsel, das folgendermaßen lautete, nicht zusammenstudiren:
„Jenny F.
„Das ist noch eines der leichteren Probleme,“ endete der Secretär lächelnd unsere Verlegenheit. „Die Sache meint einfach ‚Ryde‘ (die Hauptstadt) ‚Isle of Wight‘ (Insel Wight).“
[476] Freilich bleibt immer noch eine beträchtliche Anzahl von Briefen übrig, an deren Adressen sich aller Scharfsinn, alle Geduld und alle Praxis vergeblich abmühen; sie sind eben stockblind und müssen deshalb in das Bureau der „todten“ Briefe wandern, damit sie, wenn es gelingt, den Absender ausfindig zu machen, diesem wieder zugestellt werden können. Welche Bedeutung auch dieser Zweig des Postdienstes hat, mag man daraus abnehmen, daß er mehr als fünfzig Beamte ausschließlich beschäftigt, deren Posten eher alles andere als Sinecuren sind; denn im verflossenen Jahre gingen über zwei Millionen unbestellbarer Briefe an ihre Absender zurück, und das hübsche Sümmchen von 11,000 war ohne alle Adresse zur Post gegeben worden. Sämmtliche Postämter der Provinzen schicken täglich ihre todten Briefe an die Centralstelle in London, weil nur diese die Briefe öffnen darf, um Namen und Ort der Absender zu erfahren. Ehe dies aber geschieht, wird noch einmal versucht, ob es nicht doch noch möglich wird, den Brief an seine Adresse zu befördern, und wirklich werden jeden Tag über 300 aus der Provinz als völlig todt abgelieferte Briefe schließlich noch an den rechten Mann gebracht. An 14,000 Pfd. Sterl. in baarem Gelde und gegen 3 Mill. Pfd. Sterl. in Werthpapieren aller Gattung pflegen im Laufe eines Jahres in diesen zurückgehenden Briefen gefunden zu werden, aber auch vielerlei Geschenke und Andenken, Ringe, Tuchnadeln, Brochen, Haarlocken etc., von denen ein gut Theil dem Staate anheimfällt, weil es an jeder Zeile fehlt, die einen Aufschluß über Absender und Empfänger geben könnte.
Unterdessen naht die achte Stunde ihrer Vollendung, wo alle die Tausende von Briefen, die ganze enorme Fluth von Zeitungen, Journalen und Büchern in den verschiedenen Postbeuteln untergebracht und zum Transport nach den Bahnhöfen fix und fertig sein müssen. Noch fünf Minuten vor acht Uhr schwärmt und regt sich’s im Gebäude wie in einem Bienenstocke, fünf Minuten später liegt das ganze große Haus mit allen seinen Räumen und Sälen im tiefsten Schweigen. Und wenn einzelne Tage oder besondere Veranlassungen die Arbeit noch so sehr vervielfältigen, wenn z. B. am letzten 14. Februar, dem sogenannten Valentinstage, wo sich, wie es in einigen Gegenden Deutschlands am ersten April oder zur Fastnacht Sitte, der Engländer mit seinen Freunden und Bekannten gern kleine Neckereien und Mystificationen erlaubt, allein in London 957,000 Extrabriefe in Curs gesetzt werden müssen; wenn bei der letzten Wahl für Lambeth (einen jenseit der Themse gelegenen Stadtbezirk) 40,000 Rundschreiben an die Wähler an einem einzigen Tage zu versenden sind – es hilft nichts, Glock acht Uhr muß das Werk gethan, die Correspondenz zu ihrer Fahrt in die weite Welt gerüstet sein. Wenige Minuten darauf rasseln die großen Gepäckwagen aus dem Posthofe nach den Eisenbahnstationen, von wo aus ihre Ladungen mit den Nachtzügen nach allen Richtungen der Windrose spedirt werden.
Die Art dieses Transports unterscheidet sich im Allgemeinen nicht von der auch auf dem Continente üblichen. Wie bei uns, begleitet ein fliegendes Postbureau jeden dieser Bahnzüge, von denen manche lediglich dem Postdienste gewidmet sind und deshalb nur eine beschränkte Anzahl von Passagieren aufnehmen. Es wird uns einen Begriff von dem Riesigen des Londoner Verkehrs geben, wenn wir erfahren, daß sich allein auf der Nordwestlinie – zwischen London, Manchester und Liverpool – täglich acht specielle Postzüge hin und her bewegen. Alle diese Züge rasen mit athemraubender Geschwindigkeit durch’s Land; so wird die nahe an hundert deutsche Meilen betragende Entfernung zwischen Perth in Schottland und London in 111/2 Stunden durchmessen.
Selbstverständlich bestehen außer dem General-Postamte, dem Mittelpunkte der gesammten Postverwaltung des Königreichs und seiner Colonien, in London noch eine Anzahl größerer Districtspostämter neben vielen kleineren Unterexpeditionen und unzähligen Briefkästen und Briefannahmestellen, zu welchen letzteren mit Rücksicht auf die Bequemlichkeit des Publicums in der Regel Specerei- oder ähnliche viel in Anspruch genommene Kaufläden gewählt sind. Jener Districtspostämter giebt es zehn, denn der Londoner Postrayon, der, St. Martin’s-le-Grand als Centrum genommen, ein Areal von etwa 21/2 Meilen umkreist, ist in zehn einzelne Postdistricte getheilt: East- (Ost-) Central, West-Central, Western, South (Süd-) Western, North-Western, Northern, North-Eastern, Eastern, South-Eastern und Southern. Die Anfangsbuchstaben der Namen dieser Bezirke, E. C., W. C., N. W., W., E., N. E., etc., sind jene mysteriösen Chiffern, die gewiß schon manchem unserer Leser bei Londoner Adreßkarten und Wohnungsbezeichnungen fruchtloses Kopfzerbrechen verursacht haben. –
Der Chef des gesammten englischen Postwesens ist nominell der Generalpostmeister, als solcher immer zugleich Mitglied des Staatsministeriums, factisch aber ist es der sogenannte Generalpostamtssecretär – Secretary of the Post Office – der mit zwei Assistenzsecretären die eigentliche Verwaltung des weitverzweigten Institutes leitet. Er steht an der Spitze eines zahlreichen Beamtenpersonals, das im Jahre 1862 von 40 Oberbeamten, 11,302 Postmeistern, 7 Schiffspostmeistern, 22 Postmeistern in den Colonien, 73 Agenten in fremden Staaten, 12,138 rothröckigen Briefträgern und 168 Mann Schutzwehr, zusammen von dem stattlichen Heere von 25,380 Beamten gebildet wurde.
Kein anderer Staat der Welt besitzt eine so große Anzahl von Postämtern, wie England, wo im Durchschnitt eines auf je 2500 Köpfe zu rechnen ist; außerdem existiren noch über 15,000 Briefsammelkästen, davon 4000 als „Briefsäulen“, weit in die Augen fallende, etwa vier Fuß hohe Eisensäulen, welche, in den großen Städten des Landes, ja, um der Bevölkerung in ihrem Verkehr mit der Post jede mögliche Erleichterung zu gewähren, sogar auf dem Lande an Kreuzwegen aufgepflanzt, einen Kasten zur Aufnahme von Briefen enthalten. Nehmen wir dazu noch, daß man im Innern Londons dem correspondirenden Publicum zehn, in den Vorstädten sechs Mal täglich seine Briefe in’s Haus bringt, oder vielmehr unter kräftigen Klopferdoppelschlägen in die an den Thüren angebrachten Briefkästen legt; daß zwischen Manchester und Liverpool täglich acht Mal Briefbeförderung stattfindet; daß fünf Städte des Königreichs täglich fünf, zwölf andere vier, siebenundfünfzig täglich drei und nahe an dreihundert des Tages zwei Mal Briefe aus der Hauptstadt erhalten; daß das Porto durch das ganze Land für den einfachen Brief auf nur einen Penny – 81/2 Neupfennige – normirt; daß Bücher und Druckschriften aller Art, Photographien, Landkarten, Lithographien, Kupfer- und Stahlstiche und dergleichen, mit der sogenannten „Buchpost“ unter bloßem Kreuzband zu sehr niedrigem Portosatze versandt werden können; daß für Waarenmuster ein besonders ermäßigtes Porto eingeführt; daß man unablässig bemüht ist, die mannigfachsten Verbesserungen und Vereinfachungen in dem complicirten Dienste einzuführen, und daß dem Publicum alljährlich ausführlicher Bericht über den Zustand und die Fortschritte des Instituts erstattet wird: – so muß man eingestehen, daß die Orginisation des englischen Postwesens in jeder Beziehung als mustergültig für alle ähnlichen Anstalten dasteht, nirgend anderswo erreicht, geschweige übertroffen. Den Zweck in’s Auge fassend und überall in erste Linie stellend: Erleichterung und Bequemlichkeit des öffentlichen Verkehrs; von praktischen Geschäftsmännern, nicht von pedantischen Bureaukraten geleitet, die sich, wie leider noch immer bei uns, nicht von der Anschauung losmachen können, daß das Publicum um ihrer, nicht sie um des Publicums willen da seien, darf das englische Postsystem als ein nahezu vollkommenes bezeichnet werden.
Noch aber ist es nicht eben lange her, daß es nichts weniger war, als dies; noch vor einem Vierteljahrhundert gehörte es zu den unvollkommensten und schwerfälligsten in der ganzen civilisirten Welt. Damals war die Verwaltung eine sehr verrottete; die Postbeamten bezogen einen kaum nennenswerthen fixen Gehalt, sondern gewisse Tantièmen vom eingehenden Porto, welche einzelne Stellen fürstlich dotirten. Das Porto selbst war durchaus ungleichförmig, nach einer sehr verwickelten Scala bestimmt und überdies von fast unerschwinglicher Höhe. Noch 1837 betrug es im Durchschnitt für jeden Brief innerhalb der Grenzen des Königreich 83/4 Pence oder mehr als sieben Neugroschen, obschon seit 1833 bereits eine „Zweipennypost“ eingeführt war, die, ursprünglich nur für die Briefcirculation in London selbst gegründet, später auf alle in einem Umkreise von 21/2 deutschen Meilen von Martin’s-le-Grand gelegenen Orte ausgedehnt wurde.
Dies hohe Porto ward die Ursache, daß das Publicum bei der Beförderung seiner Correspondenz die königliche Post nach Möglichkeit zu umgehen suchte; so stellte sich u. a. heraus, daß vier Fünftel der von Manchester versandten Briefe nicht durch die Hände der Post liefen, und ganz ähnlich war das Verhältnis in anderen Manufactur- und Handelsstädten Englands und Schottlands.
Wohl hatte man, gestützt auf diese schlagenden Thatsachen, seit Jahren Vorschläge zur Verbesserung des Postorganismus dem
[477]Parlamente vorgelegt, allein keiner dieser Pläne fand die Genehmigung der Landesvertretung. Da schleuderte im Jahre 1837 ein Mann, den Wenige kannten, der Secretär irgend einer der vielen englischen Colonisationsgesellschaften, der noch vor kurzer Zeit den Schulbakel geschwungen hatte, eine Flugschrift in die britische Welt, „die Reform des Postwesens, ihre Bedeutung und ihre Ausführbarkeit“, deren Gewalt endlich der alte Schlendrian der englischen Postverwaltung nicht zu widerstehen vermochte. Mit schonungsloser Hand deckte er in dieser Brochüre die Schäden des bisherigen Postsystems auf, wies nach, daß die complicirte Controle, welcher Annahme und Bestellung der Briefe unterlagen, allein zwei Drittel der gesammten Verwaltungskosten verschlang, und schlug ein einfaches Radicalmittel gegen alle jene Gebrechen vor: die Festsetzung einer und derselben Portotaxe durch das ganze Land für ein bestimmtes Gewicht, – er erfand das sogenannte Penny-Postsystem, das seitdem allen Postreformen auch auf dem Continente zum Vorbild gedient hat.
Die Schrift erregte ungeheueres Aufsehen in ganz Großbritannien und fand beim Publicum, namentlich beim mercantilischen, die enthusiastischste Aufnahme, so daß in kurzer Zeit drei starke Auflagen des Werkchens gedruckt wurden. Aber Rowland Hill – so hieß der Verfasser desselben – sollte auch in England erfahren, wie schwer es ist, mit neuen Ideen durchzudringen, wie fest allenthalben die alten Zöpfe zu sitzen pflegen. Obwohl viele Hunderte von Petitionen das Parlament um Annahme der Hill’schen Vorschläge bestürmten; wennschon das Unterhaus noch im nämlichen Jahre eine Commission zur Untersuchung des Planes niedersetzte; obgleich einige der angesehensten Whigs sich für das Project warm interessirten: so stellte doch der damalige Generalpostmeister, Lord Lichfield, dem Oberhause das Hill’sche Project dar als „ein Hirngespinst, das überschwänglichste und phantastischste, von welchem er je gehört.“ Erst 1839 drang die Hill’sche Reform durch, aber auch da vorerst nur in sehr beschnittener Weise. Man konnte sich noch immer der Furcht nicht entschlagen, daß mit ihrer vollen Einführung [478] dem Budget ein unersetzlicher Einnahmeausfall erwachsen werde, und nahm daher anstatt des vorgeschlagenen einen Penny’s, den Satz von 4 Pence – ungefähr 3 Ngr. – für ein Briefgewicht von 1/2 Unze an. Jedoch schon nach wenigen Monaten, Januar 1840, ermannte man sich zu der kühnen That, das Porto des einfachen Briefes für alle Entfernungen im Lande auf jenen beantragten einen Penny zu ermäßigen.
Rowland Hill erhielt nun einen Posten im Ministerium, bis die Tories unter Robert Peel mit dem gesammten Whigcabinete auch ihn aus seiner Stellung verdrängten. Die Nation wußte ihren Wohlthäter besser zu würdigen; bei einem großen Festmahle überreichte sie ihm das Ehrengeschenk von 15,000 Pfd. Sterl. Mit den im Jahre 1846 wieder an’s Ruder gelangenden Whigs ward auch Hill von Neuem zum öffentlichen Dienste herangezogen und 1854 Generalpostsecretär. 1860 von der Königin zum Ritter geschlagen und nun Sir Rowland Hill, bekleidete er seine Stelle bis Ende Februar dieses Jahres, wo er sich nicht in das Dunkel, sondern in die wohlverdiente Ruhe des Privatlebens zurückzog, nicht ohne daß ihm die Nation von Neuem ihre dankbare Anerkennung an den Tag gelegt hätte. Auch die Regierung ehrte die unvergeßlichen Verdienste des Mannes, indem sie ihm die erbetene Entlassung in der schmeichelhaftesten Form bewilligte und seinen vollen Gehalt von Zweitausend Pfd. Sterl. als Pension beließ.
Gern zeichneten wir der Gartenlaube ein ausgeführteres Lebensbild Sir Rowland Hill’s, leider aber legt der Raum, für diesmal wenigstens, sein Veto ein. Wir wollen daher nur noch in kurzen Zügen die Hauptmomente seiner Wirksamkeit zusammenstellen.
Daß Rowland Hill der Urheber der jetzt über die ganze Erde verbreiteten Briefmarken ist und mithin die grassirende Briefmarkensammlungsmanie indirect verschuldet hat, wissen alle unsere Leser, vielleicht aber nicht, daß man ihn nicht den eigentlichen Erfinder der Briefmarken nennen kann. Schon unter Ludwig XIV. nämlich gab es in Frankreich bestempelte Freicouverts, die, von einem Herrn von Velayer erdacht, freilich rasch wieder außer Gebrauch kamen. Auch die Erweiterung des Postanweisungsinstitutes, das in kleinem Maßstabe in England schon seit 1792 bestand und nunmehr auch im deutsch-österreichischen Postgebiete Eingang gefunden hat, ist Hill’s Werk, wie ebenso er es war, welcher den Gedanken faßte, die zahlreichen Haupt- und Nebenpostämter Englands zugleich als bequeme Sparcassen für das Volk zu benutzen, von denen seit 1861, wo die erste in’s Leben trat, jetzt in England an 2000, in Irland 450 und in Schottland 400 existiren mit einer durchschnittlichen Wocheneinlage von über 40,000 Pfund Sterling.
So ist der einstige arme Schulmeister der Wohlthäter nicht blos seiner eigenen Nation, sondern unser Aller geworden, die wir Briefe schreiben und empfangen, und wir müssen nur beklagen, daß man in Deutschland noch immer nicht zu einer unverkürzten Annahme seiner Reformen Kopf und Muth genug besitzt; daß man noch immer an der dreifachen Portozone festhält und daß man die Hill’sche „Buchpost“ nicht adoptirt, welche dem Engländer um wenige Pence die Segnungen des Culturlebens rasch in den entlegensten Winkel seines Landes vermittelt. Das Penny-Postsystem hat nicht nur alle Weissagungen zu Schanden gemacht, mit welchen die gute alte Zeit über seine Einführung lamentirte, es hat auch die Erwartungen weit hinter sich gelassen, die sein Urheber und mit ihm die Freunde des Fortschritts daran zu knüpfen wagten, – es hat Englands Postwesen zu einem Institute erhoben, auf welches die Nation mit Recht stolz sein kann.
„Eine Vergleichung des Jahres 1863 mit 1838, dem letzten vor Annahme meines Systems,“ so sagt Sir Rowland selbst in dem Rundschreiben, mit dem er aus seiner Stellung scheidet, „zeigt, daß die Zahl der jährlich durch die Post beförderten Briefe von 76 Millionen auf 642 Millionen angewachsen und daß der Ertrag nicht nur in kurzer Zeit die Einnahme aus den alten hohen Portosätzen erreicht hat, sondern von 2,346,000 Pfund Sterling Brutto auf nahe an 4 Millionen Pfd. Sterl. und von 1,660,000 Pfund auf 1,790,000 Pfd. Sterl. Netto gestiegen ist. Die Zahl der Briefe hat sich mithin fast verneunfacht, während der Nettogewinn um 130,000 Pfd. Sterl. zunahm. Die Entwickelung des Geldanweisungssystems ist eine noch rapidere gewesen; seit 1839 hat der Jahresumsatz eine Erhöhung von 313,000 Pfd. Sterl. auf 161/2 Millionen erfahren, sich also verzweiundfünfzigfacht. Das Hauptmoment aber bleibt immer, daß es mir gelungen ist, dem Publicum einen leichteren, billigern und umfassendern Verkehr zu verschaffen, ohne die öffentlichen Einnahmen zu verringern, und daß meine Ideen in größerem oder geringerem Umfange in der ganzen civilisirten Welt die Bahn gebrochen haben zu solchem Endzwecke.“
Sie scheint klein und einfach, die Idee einer Portoermäßigung und Portogleichmäßigkeit, und doch ist sie eine große That gewesen. Wie heute Niemand mehr des britischen Postwesens gedenken kann, ohne zugleich seines Reformators, seines Neuschöpfers zu gedenken, so wird der Name Rowland Hill unverlöschlich eingegraben stehen auf den Tafeln der Culturgeschichte der Menschheit.
Ein moderner Mädchenbrief. Vor Kurzem brachten fast sämmtliche Pariser Tagesblätter, unter der Rubrik: „verschiedene Neuigkeiten", die nachstehende Notiz:
„Gestern in den Morgenstunden hat sich ein junger Mensch von der Höhe des Pont-Royal in die Seine gestürzt; mehrere Fischer, die auf dem Flusse beschäftigt waren, eilten ihm sogleich zu Hülfe, sie kamen aber zu spät und es gelang ihnen erst nach zwei Stunden unermüdlichen Suchens den entseelten Leichnam aus den Fluthen zu ziehen. Da man nichts bei ihm fand, was seine Identität hätte nachweisen können, sah man sich genöthigt, ihn nach der Morgue bringen zu lassen.“
Der junge Mann, von dem in vorstehender Notiz die Rede ist, war 23 Jahr alt, er war Dichter und hatte sich schon in der literarischen Welt einen geachteten Namen erworben. Ich habe ihn genau gekannt, er war fast mein Freund. Die materiellen Prüfungen des Lebens fanden ihn standhaft und fest, aber moralischen Leiden gegenüber war er schwach und furchtsam. Er konnte den Schmerz nicht ertragen, der sein Herz an der erregbarsten Stelle heimgesucht hatte, und – nahm sich das Leben. Andere als ich mögen den ersten Stein auf sein Grab werfen, aber nur derjenige, der ohne Fehl ist, hat das Recht, seine Handlungsweise zu richten. Indessen dünkt mich mitten in unserem neunzehnten Jahrhunderte ein junger Mann, ein Dichter, der sich aus Liebeskummer den Tod giebt, eine ziemlich seltsame Erscheinung, die wohl unsere Beachtung verdient; umsomehr, als das ganze Drama ein grelles Schlaglicht auf den sonderbaren Geist unserer sonderbaren Zeit und namentlich auf die Pariser socialen Verhältnisse wirft.
Raoul R., so hieß der junge Dichter, war, früh verwaist, von seinem Onkel, einem wohlhabenden Arzte in Paris, erzogen und zu dessen Berufe bestimmt worden. Zwar widmete sich Raoul der Medicin, studirte fleißig und bestand auch seine Examina. Allein sein Herz war nicht bei seinem Studium: er dichtete lieber, und so gab er endlich, gegen den Willen seines Wohlthäters und darum von diesem verlassen, die erwähnte Laufbahn auf, um ganz der Poesie zu leben.
Er war nun allein auf sich gestellt; aber wie lebte er? Er gab einen Band Gedichte heraus, der zwei Auflagen erlebte; er verfaßte mehrere Romanzen, die ein bekannter Componist in Musik setzte und die mit Beifall aufgenommen wurden; endlich schrieb er ein kleines Lustspiel in Versen, das auf einem Provinzial-Theater zur Aufführung kam. Dies ist ungefähr die Bilanz seines geistigen Vermögens; hierbei muß ich noch erwähnen, daß er äußerst wenig Bedürfnisse hatte, ein fast klösterlich eingezogenes Leben führte, große Selbstüberwindung und eine wahrhaft stolze Verachtung aller materiellen Lebensgenüsse besaß. Um jedoch Jahre hindurch ein Dasein voll so vieler Entbehrungen führen zu können, muß man entweder ein Heiliger, ein Held, oder – verliebt sein. Raoul war weder ein Heiliger, noch ein Held, aber er war verliebt.
Er bewohnte ein sehr kleines und bescheidenes Zimmer im fünften Stock eines Hauses der Rue Lafitte. Der Hausbesitzer, ein Kaufmann, der sich mit einem sehr bedeutenden Vermögen von den Geschäften zurückgezogen hatte, nahm mit seiner Familie, die aus seiner Gattin, zwei Töchtern und zwei noch ganz jungen Söhnen bestand, den ersten Stock ein. Er lebte auf einem ziemlich großen Fuße, sah öfters Leute bei sich und gab auch zuweilen Bälle. Eines Tages, als es ihm gerade an Tänzern fehlte, schickte er auch seinem jungen Miethsmann im fünften Stock eine Einladung, da die Erkundigungen, die er über ihn eingezogen hatte, befriedigend ausgefallen waren. Nach dem Balle stattete Raoul dem reichen Kaufmann einen Besuch ab; er wurde sehr freundlich aufgenommen; man fragte ihn nach seinen Beschäftigungen; „ich mache Verse!“ entgegnete naiver Weise der junge Poet. Die Gattin des reichen Kaufmanns, eine ziemlich romantische Natur, fühlte sich sehr geschmeichelt, in ihrem Hause einen Dichter zu haben, den sie ihren Freunden und Gästen anständiger Weise vorstellen könne. Sie lud Raoul also sehr oft zu ihren Gesellschaften ein, und er verbrachte im Hause des reichen Kaufmanns die angenehmsten Stunden. Er las die neuesten Producte seiner Muse vor, und auch sein kleines Lustspiel wurde hier, zwischen zwei spanischen Wänden, von einer Liebhabertruppe zum ersten Male aufgeführt.
So weit war für unseren jungen Dichter Alles ganz schön und gut; [479] aber zum Unglück besaß der reiche Kaufmann eine Tochter. Sie hieß Bertha und mochte zu jener Zeit etwa sechzehn Jahre alt sein. Sie war eine große, schöne Gestalt mit blondem Haar und großen blauen Augen; in ihrem Gange und in ihrem ganzen Wesen lag etwas Stolzes und Entschiedenes, das einen gewissen Eindruck nicht verfehlte. In diese Bertha verliebte er sich sterblich; je näher er mit ihr bekannt wurde, desto mehr wuchs diese Liebe, die alsbald erwidert wurde. Niemand hatte eine Ahnung von der gegenseitigen Neigung der beiden jungen Leute. Dem Herzen des Dichters genügte dieses stumme und reine Glück, von dem er lebte.
So waren Jahre in diesem stillen Glück verflossen. Bertha’s Vater hatte zur Feier ihres achtzehnten Geburtstages einen großen Ball veranstaltet. Am Schluß des Festes trat Raoul an Bertha heran, die allein in einer Fensternische saß, und richtete mit bewegter Stimme folgende Worte an sie: „Es sind nun drei Jahre, Bertha, daß ich die Ehre habe, Sie zu kennen, und eben so lange, daß ich das Glück habe, Sie zu lieben. Ich bin entschlossen, morgen bei Ihrem Herrn Vater anzufragen, ob er mich zu seinem Schwiegersohne machen will. Bevor ich aber diesen wichtigen Schritt thue, bitte ich Sie, mir zu sagen, was Sie Ihrem Herrn Vater erwidern werden, für den Fall, daß er Sie von meinen Wünschen in Kenntniß setzt.“
„Lieber Raoul,“ erwiderte Bertha, „meine Antwort auf Ihre Frage möchte zu lang ausfallen, als daß ich sie Ihnen noch heute Abend geben könnte; Sie sollen sie morgen früh schriftlich von mir bekommen.“
Hierauf stand sie auf und verschwand in einem Nebenzimmer.
Raoul zog sich in seine bescheidene Dachwohnung zurück. Am nächstfolgenden Tage, gegen sechs Uhr des Abends etwa, empfing ein vertrauter Freund Raoul’s ein ziemlich starkes Paket von der Post, das die nachstehenden drei Briefe enthielt.
„Lieber Paul, beikommend sende ich Dir den Brief, den mir Bertha diesen Morgen auf meine gestrige Anfrage geschrieben hat; ich lege Dir auch meine Antwort an sie bei. Du allein kanntest meine Liebe zu Bertha, Du weißt, daß sie das einzige Glück meines Lebens war. Du wirst auch begreifen, daß mein Herz nun gebrochen, wie mein Glück zertrümmert ist, und daß ich so nicht länger leben kann. Geh’ nach der Morgue und laß meinen Leichnam, den Du dort finden wirst, zu meinem Onkel bringen. Verzeihe mir, daß ich Deiner treuen und bewährten Freundschaft noch diesen letzten, peinlichen Dienst abverlange, und lebe wohl. Raoul.“
„Mein lieber Herr Raoul, die Mittheilung, die Sie mir gestern Abend gemacht haben, erfreut mich einerseits in hohem Grade, während sie mich andererseits erschreckt, da sie eine Erklärung zwischen uns herbeiführen muß, der ich gern ausgewichen wäre. Wir kennen uns nun seit drei Jahren; die Regungen Ihres Herzens waren mir kein Geheimniß mehr, und ebenso ist meine Liebe für Sie Ihnen nicht unbekannt geblieben. Ich war glücklich, mich diesen schönen Gefühlen hingeben zu können, aber Sie wissen ebensogut wie ich, lieber Herr Raoul, daß jeder Traum ein Ende, ein Erwachen haben muß! Das Leben bildet eine Kette von Nothwendigkeiten, denen wir uns fügen und unterwerfen müssen, da es nicht in unserer Macht liegt, sie zu ändern.
Sie kennen meine Lage ebenso genau, wie ich selbst. Sie wissen, daß mein Vater sein allerdings ziemlich bedeutendes Vermögen nach und nach mit seinen Kindern theilen will. Demnach würden mir, für den Fall, daß ich mich jetzt verheirathete, 200,000 Franken zukommen; diese Summe bringt eine jährliche Rente von 10,000 Franken, und das reicht nicht aus, um ein angenehmes und heiteres Leben zu führen, wie ich es gewöhnt bin. Ich kann also keinen Mann heirathen, der ohne Vermögen ist, wenn ich mich nicht in allerhand Sorgen stürzen will, die ich gar nicht ertragen könnte. Wir würden uns später vielleicht bittere Vorwürfe machen, wenn wir jetzt nur den Eingebungen unserer Liebe folgen wollten, ohne die mahnende Stimme der Vernunft zu berücksichtigen.
Sie sind Dichter, und daher kommt es wohl, daß Sie für die Wirklichkeit des Lebens keinen rechten Sinn haben; aber Ihr schöner Beruf, der Sie allein nur höchst mühselig ernährt, wird Sie leider niemals in die Möglichkeit versetzen, die mannigfachen Bedürfnisse eines größeren Hausstandes zu bestreiten.
Glauben Sie mir, lieber Herr Raoul, es wird mir sehr schwer, Ihnen alle diese Dinge zu sagen; indessen, wenn Sie meinen Brief ruhig überlegen, werden Sie darin nur die Stimme der gesunden Vernunft entdecken. Erblicken Sie eben auch darin den Beweis meiner aufrichtigen und innigen Liebe für Sie und seien Sie fest überzeugt, daß Ihr Glück mir ebenso am Herzen liegt, wie das meinige. Bertha.“
Dieser Brief – ich habe ihn im Original in meinen Händen gehalten und gelesen – ist, man muß es gestehen, in seiner Art ein kleines Meisterstück. Das also hat die Erziehung des neunzehnten Jahrhunderts aus einem jungen, reichen Mädchen gemacht! Das Bedürfniß des Luxus ist ihr zur zweiten Natur geworden und hat in ihr so viel kalten Verstand, so viel berechnende Vernunft entwickelt, daß es uns in ihrer Nähe unwillkürlich fröstelt. Bertha schreibt in ihrem achtzehnten Jahre einem jungen Manne, den sie liebt, – man bedenke, den sie liebt! daß sie mit einer Rente von 10,000 Franken nicht auskommen kann, sie sieht schon die möglichen Sorgen der Zukunft voraus, sie untersucht die etwaigen Einkünfte ihres Geliebten und folgert daraus Gefahren für ihr beiderseitiges Glück – und alles dies mit achtzehn Jahren! – ist es nicht entsetzlich? Die kalten, herzlosen, berechnenden jungen Mädchen werden heirathen, werden Mütter werden, wie aber werden sie ihre Kinder erziehen? Was wird aus den kommenden Generationen werden, die aus solchen Händen hervorgehen? Wird vielleicht eine plötzliche Reaction eintreten, oder wird sich das Gefühl für positive Interessen noch mehr entwickeln? Werden die ursprünglichen Rechte des Herzens noch mehr geschmälert werden, und wird die Ehe ganz und gar in die Kategorie der gewöhnlichen Geschäfte herabsinken? Das ist das große Räthsel der Zukunft!
Neben Bertha’s Brief lag noch ein kleines, zerknittertes Blatt, dessen Schrift fast unleserlich, von Thränen halb ausgelöscht war. Es enthielt Raoul’s Antwort, die folgendermaßen lautete: „Mein Fräulein, Sie haben tausendmal Recht. Ich war ein Wahnsinniger, da ich auf die Erfüllung eines schönen Traumes mein ganzes Glück gesetzt hatte. Seien Sie reich und glücklich, leben Sie lange und ohne Sorgen – das ist mein innigster Wunsch. Ich meinerseits werde in das Nichts zurückkehren, aus dem ich niemals hätte hervortreten sollen, und bitte Sie nur um Vergessenheit! Raoul.“
Nachdem Raoul’s Freund diese drei Briefe mit immer wachsender Bestürzung gelesen hatte, begab er sich sogleich in die Wohnung den jungen Dichters, in der Hoffnung, daß dieser seinen verzweifelten Entschluß noch nicht werde ausgeführt haben. Daselbst aber sagte man ihm, daß Raoul schon des Morgens zeitig ausgegangen sei und man ihn seitdem nicht wiedergesehen habe. Schweren Herzenn eilte nun der Freund nach der Morgue und zu seinem tiefen Schmerze fand er hier den armen Raoul, der sich zu diesem letzten trüben Rendez-vous leider nur zu pünktlich eingestellt hatte; starr und ruhig lag sein entseelter Leichnam ausgestreckt auf dem kalten Steine; sein langes schwarzen Haar, das ganz durchnäßt an seinen Schläfen herabhing, ließ die Blässe seines schönen, träumerischen Gesichtes noch lebhafter hervortreten; der Todeskampf hatte seine Züge nicht entstellt, und um seine Lippen spielte ein sanftes Lächeln.
Seinem Wunsche gemäß wurde sein Leichnam zu seinem Oheim gebracht. „Der arme Junge!“ rief der Arzt, „er muß wahnsinnig gewesen sein; ja, ja, sein Gehirn hat vermuthlich gelitten!“ Diesmal irrte sich der berühmte Doctor; Raoul’s Gehirn war nicht angegriffen, sein Herz allein hatte den Todesstoß empfangen.
Im Hause des reichen Kausmannn machte dieses traurige Ereigniß einiges Aufsehen, und Fräulein Bertha war sogar zwei Tage lang ganz betrübt. „Das liebe Kind,“ sagte ihre Mutter, „bedarf der Aufheiterung; wir wollen in’s Seebad reisen, das wird sie zerstreuen!“ Und in der That, Fräulein Bertha weilt gegenwärtig in Dieppe, wo sie sich allen möglichen ausheiternden Zerstreuungen hingiebt.
Wir haben unterdessen den armen Raoul zur Erde bestattet und eine Trauerweide auf sein Grab gepflanzt.
Wasserstoff als Heizmaterial. Wie so oft schon läuft auch jetzt wieder durch die Zeitungen die Nachricht, daß es gelungen sei, „aus dem Wasser das Wasserstoffgas auf so billige Weise herzustellen, daß man dasselbe zur Kesselheizung und dergleichen statt Kohlen mit großem Vortheil benutzen könne“. Der Glückliche, der diesmal den Ring von unschätzbarem Werth besitzt, ist ein Spanier Namens Mundo, und nach der „Revista minora“ sollen mit nach seiner Methode erzeugtem Wasserstoffgase die Dampfmaschinen des Schiffes „Antilope“ bereits geheizt worden sein.
Das ist möglich – aber „mit Vortheil“ – das ist unmöglich. Warum? Wasser besteht aus Wasserstoff und Sauerstoff, der erstere ist ein brennbares Gas. Beim Verbrennen verbindet er sich mit Sauerstoff und bildet damit eben wieder Wasser. Während der Vereinigung der beiden Bestandtheile erzeugt sich, wie bei jeder Verbrennung, Hitze und diese ist bei der Verbrennung von Wasserstoff ganz besonders groß, so daß es begreiflich erscheinen kann, warum so Viele immer und immer wieder die Idee der Wasserzersetzung verfolgt haben.
Aber was würde man von einem Manne sagen, der am Ufer eines Sees, aus welchem kein Abfluß stattfindet, eine Wassermühle anlegen wollte, indem er das mit Hülfe einer Dampfmaschine aus dem See emporgehobene Wasser auf das Wasserrad fallen und das letztere dadurch in Bewegung setzen läßt? Man würde ihn für albern halten, weil sich Jeder sagen muß, daß ihm das Wasser nicht mehr Kraft geben kann, als die Dampfmaschine zum Schöpfen nothwendig hat, und daß es viel zweckmäßiger sein muß, gleich von der Dampfmaschine das Mühlwerk treiben zu lassen, als eine Menge kraftzehrender Mittelwerke dazwischen zu legen.
Genau denselben Fehler, wie der Seemüller, begehen aber alle diejenigen, welche aus dem Wasser den Wasserstoff abzuscheiden versuchen, um ihn dann zu verbrennen. Denn das Wasser läßt nicht etwa seinen Wasserstoff so gutmüthig fahren, – die Trennung seiner Bestandtheile erfordert ebensoviel Kraft, als die Wiedervereinigung derselben, die Verbrennung des Wasserstoffs, durch die Wärme auszuüben im Stande ist. Dies Gesetz ist ganz unumstößlich – bestände es nicht, dann allerdings könnten unversiechliche Kraftquellen eröffnet werden, das perpetuum mobile wäre gefunden und die Arbeit stände umsonst zu Diensten. Allein es herrscht unerbittlich durch die ganze Natur, und ebenso wie kein Theilchen des Stoffes verloren geht, wird auch keine Spur von Kraft durch irgend eine Vorrichtung gewonnen, das heißt: aus Nichts erzeugt. Wir können die vorhandenen Kräfte nur umwandeln: Wärme in mechanische Kraft (Dampfmaschine), mechanische Kraft in Elektricität (Electrisirmaschine), Elektricität in Magnetismus und umgekehrt Magnetismus in Elektricität, wie es in elektromagnetischen Apparaten geschieht. Die Pflanze nimmt Licht und Wärme auf und macht dadurch chemische Processe, welche Licht und Wärme geliefert haben, wieder rückgängig; sie braucht Licht und Wärme, um die durch Verbrennung entstandene Kohlensäure wieder in verbrennbare Kohle zu verwandeln, und die Muskelkraft der Thiere und Menschen erhält sich schließlich durch ganz analoge Processe, wie die Spannung des Dampfes unter dem Kolben der Maschine, durch die chemische Verwandlung (Verbrennung) der Nahrungsmittel im Innern des Körpers.
Das Wasser vermögen wir auf verschiedene Weise zu zersetzen: wir können es über glühendes Eisen leiten, sodaß dieses den Sauerstoff daraus anzieht und den Wasserstoff frei macht; wir können es mit Zink und Schwefelsäure zusammenbringen, wobei ebenfalls der Sauerstoff sich mit dem Metall verbindet; wir können die Pole einer elektrischen Batterie hineinleiten und verschiedene andere Mittel anwenden, – aber es giebt keins, welches im Großen und Ganzen auch nur den geringsten Vortheil brächte. Das Eisen müßten wir aus dem Eisenoxyd (in welches es sich durch Sauerstoffaufnahme verwandelt, [480] das Zink aus dem Zinkoxyd wieder herstellen, was durch Kohle zu bewerkstelligen ist; wir würden aber dabei finden, daß eine Kohlenmenge dazu nöthig wäre, welche, für sich verbrannt, mindestens ebensoviel Hitze gäbe, als der auf Umwegen erzeugte Wasserstoff beim Verbrennen liefert. Die galvanische Batterie müssen wir durch Eisen, Kupfer, Schwefelsäure und dergleichen speisen, allein die Erzeugung dieser Produkte kostet uns, wenn bei der Darstellung auch nicht das geringste Theilchen für uns verloren ginge, genau ebensoviel, als der Wasserstoff für Zwecke der Heizung werth wäre – und dies Resultat zeigen uns ebenso alle andern Verfahrungsarten der Wasserzersetzung.
Durch Hinterthüren und auf krummen Wegen läßt sich die Natur nichts abgewinnen, wohl aber verlieren wir dabei an Zeit und durch die unausgesetzte Ausstrahlung der Wärme während dieser Zeit auch an Kraft.
Unter Umständen kann allerdings eine solche Umwandlung Vortheile dringen, es muß aber dieselbe dann eine andere Krafterscheinung darbieten, Wärme muß z. B. in Licht sich verwandeln oder nutzbare chemische Processe hervorrufen, nicht aber, wie hier, Wärme, die billigste Form der physikalischen Kräfte, wieder in Wärme verwandelt werden.
Kohle und die kohlenstoffhaltigen Producte des Pflanzenreichs sind die einzigen natürlichen Brennmaterialien. Alle andern können wir uns erst mit ihrer Hülfe in verbrennbarer Form herstellen, während sie sich durch die nie mangelnde Licht- und Wärmestrahlung der Sonne aus ihren Verbrennungsproducten immer auf’s Neue und von selbst wieder erzeugen. Sie sind Sparbüchsen der Sonneneinwirkung (Insolation), welche wir zu unserm Nutzen leeren; alle andern sind bloße Drechselbänke, an denen wir Provision und Zinsen verlieren, – sie sind deswegen die billigsten und die Idee der Wasserzersetzung zu Zwecken der Wärmeerzeugung ist ein national- und universalökonomischer Unsinn, der mit dem perpetuum mobile genau auf gleicher Stufe steht.
Neue Gaunergenialität. Kürzlich flanirte ich auf den Boulevards, ein angenehmes Geschäft, dem man in Paris mit besonderer Vorliebe nachhängt. Von Weitem sah ich einen meiner Freunde in tiefer Trauerkleidung, was mich sehr erschreckte, aber er lächelte angenehm und verführerisch einer vorübereilenden kleinen Putzmacherin zu, und das beruhigte mich wieder, da es mir die Ueberzeugung beibrachte, daß die Veranlassung seiner Trauer ihn nicht für alle Freuden des Lebens abgestumpft hatte. Wir gingen aufeinander zu, und nach den üblichen Händedrücken erkundigte ich mich natürlich sogleich nach der Ursache seiner düstern Kleidung.
„O,“ erwiderte er, „es ist nichts, ich habe meinen Onkel verloren.“
„Gratulire, vermuthlich hast Du von ihm geerbt?“
„O nein, im Gegentheil! …“
„Wie so?“
Nun erzählte mir mein Freund die nachstehende Geschichte: „Mein armer Onkel – arm im eigentlichsten und weitesten Sinne des Wortes – starb vor mehreren Tagen. Ich, in meiner Eigenschaft als wohlhabender Verwandter, fühlte mich verpflichtet, ihn anständig bestatten zu lassen. Am Morgen jenes traurigen Tages und nachdem alle nöthigen Förmlichkeiten und vorgeschriebenen Weitläufigkeiten pünktlich erfüllt waren, begab ich mich in das Sterbehaus. An der Treppe hielt mich der Portier auf und reichte mir einen Brief, der eben angelangt und an den Verstorbenen adressirt war. Ich öffnete den Brief; er war in englischer Sprache geschrieben und sagte Folgendes:
Ich beeile mich, Ihnen anzuzeigen, daß der Zeitpunkt heranrückt, wo Sie der Gesellschaft (hier folgte der Name der Gesellschaft mit Angabe der Straße und Hausnummer) die Summe von Fcs. 99. Cts. 75. als jährlichen Beitrag Ihrer Lebens-Versicherungs-Prämie zu entrichten haben.
Es ist wohl kaum nothwendig, Sie auf die Unannehmlichkeiten aufmerksam zu machen, die Ihnen erwachsen würden, wenn Sie diese Zahlung verspäteten. Genehmigen Sie etc.
„Ich steckte diesen Brief in die Tasche,“ fuhr mein Freund fort, „und geleitete meinen armen Onkel nach seiner letzten Ruhestätte. Wenige Tage danach bekam ich einen zweiten Brief, der ebenfalls auf seiner Postmarke das Bildniß Ihrer huldreichen britischen Majestät trug und diesmal direct an mich adressirt war. Er lautete:
Zu unserem schmerzlichen Bedauern empfingen wir durch unsern Pariser Correspondenten die betrübende Nachricht vom plötzlichen Hintritt Ihres Herrn Onkels. Der Verklärte hatte bei unserer Gesellschaft sein Leben versichert, und da Sie sein einziger Erbe sind, zeigen wir Ihnen an, daß wir, kraft unserer eingegangenen Verbindlichkeiten, die Summe von 8000 Frcs., als den Betrag der in Rede stehenden Versicherung, zu Ihrer Verfügung halten.
Dagegen ersuchen wir Sie, uns gefälligst die Summe von 99 Frcs. 75 Cts., welche der arme Dahingeschiedene uns noch für seine diesjährige Prämie schuldete, mit umgehender Post zukommen zu lassen.
Empfangen Sie etc.
London, 24. Juni.‘
„Ich hatte natürlich nichts Eiligeres zu thun,“ erzählte mein Freund weiter, „als augenblicklich die verlangten 100 Francs weniger 5 Sous nach London abzuschicken, und seitdem –“
„Nun, seitdem?“ fragte ich neugierig.
„Seitdem,“ entgegnete mein Freund lachend, „warte ich noch immer, oder vielmehr ich warte nicht mehr, denn ich habe in Erfahrung gebracht, daß ich das Opfer einer geistreichen, aber durchaus nicht seltenen englischen Speculation geworden bin. Es giebt nämlich verschiedene kecke und verwegene Londoner – wahre Altmeister des Schwindels – die sich durch Agenten, die sie in Paris haben, von allen Todesfällen in Kenntniß setzen lassen, welche hier eintreten. Darnach richten sie nun ihre kleinen Manöver auf diese Weise ein, wie ich Dir soeben erzählt habe, und mein trauriges Beispiel beweist, daß ihr Schwindel zuweilen glückt. Wer Teufel möchte auch 100 Francs abschlagen, wenn Einem dafür 8000 in Aussicht gestellt werden?“
Hierauf trennten wir uns lachend. Ich aber fragte mich unwillkürlich, wenngleich täglich umschwirrt vom Pariser Schwindel, ob die Herren Engländer nicht, wie auf dem Gebiete der Reclame, auch im Artikel „Schwindel“ auch Ihresgleichen suchen?
Druckfehlerberichtigung. [in den genannten Seiten bereits berichtigt] In die in Nr. 28 veröffentlichte Skizze „Der Polarkreis“ haben sich nachstehende Druckfehler eingeschlichen:
Seite 441, 1. Spalte, Zeile 15 v. unten lese man Fogderie anstatt Fogdorin.
Seite 442, 1. Spalte, Zeile 6 v. oben lese man Uebersteuern anstatt Ueberstauen.
Seite 442, 1. Spalte, Zeile 25 v. unten lese man in Trondjem gekaufte anstatt „de Drontheim getaufte“.
Seite 442, 2. Spalte, Zeile 34 v. unten lese man Ravenelf anstatt Polarelf.
Seite 443, 1. Spalte, Zeile 1 v. oben lese man Bucht anstatt Luft. [dort steht schon richtig Bucht]
Seite 443, 2. Spalte, Zeile 28 v. oben lese man Torgattan anstatt Lorgallen.
Seite 443, 2. Spalte, Zeile 23 v. unten lese man Oxfind anstatt Oxfjord.
gingen ferner bei mir ein: 3 Thlr. 15 Ngr. Ferdinand und Emmy – 3 Thlr. 4 Ngr., ges. von Zerbster und Leipziger Freunden auf der kleinen Funkenburg bei Leipzig. – 6 Thlr. 15 Ngr. Turnverein in Taucha – 3 Thlr., ges. an einem fröhlichen Polterabend von F. u. G. – 3 Thlr. 11 Ngr. Strafgelder von den Blöding’schen Stammgästen in Leipzig – 15 fl. österr. von der Repser Liedertafel (Siebenbürgen) – 16 fl. rhein., Erlös einer Vorstellung des Knabenpensionats Herrn Louis Meyer zu Bakkau in der Moldau – 79 fl. 80 kr österr. Banknoten, 1 fl. österr. in Silber und 1 österr. Ducaten, Sammlung durch die in Teschen erscheinende Wochenschrift „Silesia“ – 5 Thlr., ges. von einer Kirmeßgesellschaft in Günselsberg bei Flöha in Sachsen – 2 Thlr. von H. S. und E. S. in Lemberg – 1 Thlr., Monatsbeitrag von A. – 6 Thlr. und 1 fl. rhein. vom Gesangverein in Immelborn – 1 Thlr. von H. in Rochlitz – 3 Thlr. von einer Gesellschaft in Frankenthal – 13 fl. österr. von einigen Schülern des Gymnasiums zu Budweis – 16 Thlr. (28 fl. rhein.) aus Untermaßfels bei Meiningen – 3 Thlr., ges. von 2 Zigeunerinnen an einem Liederkranzabend zu Löbau – 2 Thlr. 21/2 Ngr., ges. in der Mädchenclasse Ib. der mittleren Bürgerschule in Chemnitz – 4 Thlr. 71/2 Ngr., ges. vom Liederkranz in Ober-Rossina – 15 Thlr. 15 Ngr., Ertrag eines im Gasthofe zu Altenberg veranstalteten Gesangconcerts – 21 Ngr., Ertrag eines verloosten kleinen Geldstücks (Leipzig) – 6 Thlr. 15 Ngr., ges. bei einem Festmahle in Oberlungwitz – 5 Thlr. vom Verein von Schleswig-Holsteinern in Dresden – 4 Thlr. von H. in Mölbis – 3 Thlr. 15 Ngr. von den Primanern des Domgymnasiums zu Naumburg a/S. – 1 Thlr. 5 Ngr., mit dem Motto: „Der alte Fuhrmannshut“ – 4 Thlr., ges. unter einer heitern kleinen Tischgesellschaft in Frankenberg – 2 Thlr. 2 Ngr. vom Turnverein zu Markneukirchen – 5 Thlr., als das erste Drittel des für dieses Jahr bestimmten Beitrags von Adv. Morgenstern in Dresden – 10 Thlr. vom Gesangverein in Schkeuditz – 6 Thlr. 2 Ngr., ges. beim Schützenball in Zeulenroda – 2 Thlr. von zwei Damen in Eisfeld – 2 Thlr. 5 Ngr., Ertrag einer ersten Sammlung von dem Fabrikpersonal der Spinnerei zu Schweizerthal bei Burgstädt – 1 Thlr. vom Schafkopfclub in der Till’schen Restauration zu Volkmarsdorf – 1 Thlr. 16 Ngr. 2 Pf. aus österr. Galizien – 1 Thlr. 12 Ngr. von F. H-e in Saalfeld 10 Thlr. 10 Ngr. von Wunsiedel – 18 Thlr. 20 Ngr. (70 Francs) vom deutschen Arbeiterverein in Schwanden im Canton Glarus – 15 Thlr. von drei Schwestern – 40 Thlr. = 70 fl. rhein. Erlös einer von den Frauen im Bezirke Herbstein im Großherzogthum Hessen veranstalteten Verloosung – 34 Thlr., zweite Einsendung der Gesellschaft im goldenen Schwanen zu Fürth – 50 Thlr. von den Gesangvereinen „Einigkeit“, „Orpheus“, „Constantia“ und „Amicitia“ in Halberstadt – 100 Thlr. von einigen Deutschen in Moskau als zweite Sendung (die ersten 1100 Thlr. gingen an Miquel in Göttingen ab) – 24 Thlr. 2 Ngr. 1 Pf., Ertrag eines vom Sängerbund in Sebnitz am Osterdienstage veranstalteten Concerts – 60 Thlr. vom Männerturnverein in Zerbst – 39 Thlr. 10 Ngr., Ertrag einer Theatervorstellung im Turnerbund in Ulm.
- ↑ Siehe Gartenlaube 1864, Nr. 13.