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Die Gartenlaube (1866)/Heft 4

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[49] No. 4.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Goldelse.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Frau Ferber trat zu den am Fenster Stehenden und nach der Lindenallee Hinabblickenden. Auch sie sah durch das Glas und fand das Gesicht der unten auf dem Ruhebett ausgestreckten jungen Dame überaus lieblich; sie hob besonders den Ausdruck von Seelengüte hervor, der „die Züge verkläre“.

„Ja,“ sagte der Oberförster, „gut und mildthätig soll sie auch sein. Als ich hierher kam, war die ganze Umgegend ihres Lobes voll… Aber auch darin hat sich das Blättchen gar sehr gewendet, seit die Baronin Lessen das Regiment im Hause führt. … Da kommt kein Almosen mehr unter die Armen, das nicht erst mit dem Muckerthum auf der Goldwage gelegen hätte… Wehe dem armen Bittsteller, er kriegt keinen Pfennig Unterstützung, und noch spitze Bemerkungen obendrein, wenn es sich nämlich herausstellt, daß er lieber beim Pfarrer in Lindhof die Predigt hört, als in der Schloßcapelle, wo ein Candidat – der Hauslehrer bei der Baronin – allsonntäglich Feuer und Schwefel und alle erdenklichen Höllenqualen von der Kanzel herab auf die Häupter der Gottlosen schleudert.“

„Solche Zwangsmaßregeln sind ein sehr übles Mittel, den christlichen Sinn im Volke wieder zu erwecken,“ meinte Frau Ferber.

„Sie schlagen ihn vollends todt und füttern dafür die Heuchelei groß, sage ich!“ rief zornig der Oberförster. „Schon deshalb, weil sie selbst dazu das Beispiel geben… Da lesen sie jederzeit in der Bibel von der christlichen Demuth und werden doch von Tag zu Tag hochmüthiger und anmaßender; ja, sie wollen einem sogar weismachen, ihr hochgeborner Leib sei schon aus einem ganz anderen Stoffe, als der ihrer niederen Brüder in Christo… Wenn Du Almosen giebst, so lasse Deine linke Hand nicht wissen, was Deine rechte thut, so steht geschrieben … ein Huhn macht aber wahrlich nicht mehr Geschrei um sein eben gelegtes Ei, als diese Leute um ihre milden Thaten. Da giebt’s Collecten, Armenlotterieen u. dergl. m., wobei die ganze Umgegend unaufhörlich gebrandschatzt wird; wenn es aber gilt, da zu nehmen, wo am meisten zu finden ist, im eigenen Geldbeutel, da hört der Spaß auf, wie man zu sagen pflegt… Da drunten in dem Hause da bimmelt das Glöckchen so und so viel Mal des Tages; dann heißt es in der Umgegend – denn man hört’s weit und breit – ‚jetzt beten die im Schlosse‘. Das Kämmerlein, in welchem sie nach Gottes Gebot zu ihm reden sollen, ist ihnen zu klein und nicht nach ihrem Geschmack. … Aber mir ist nicht allein das Gesperr ein Gräuel; nein, es ist auch geradezu gottheillos, so mir nichts, dir nichts das Heiligste in die Berufsgeschäfte hineinzuziehen… Jetzt Frage ich, ob die Jungfer, die eben ein glühendes Plätteisen handhabt, oder der Koch, der einen heiklen Braten in der Röhre hat, sich freuen kann, wenn das Glöckchen mit einem Mal anfängt?“

„Ja, in diese Art Andacht setze ich allerdings einige Zweifel,“ sagte lächelnd Frau Ferber. „Und ist Herr von Walde mit den Reformen der Baronin Lessen einverstanden?“ fuhr sie fort.

„Nach Allem, was ich in der Beziehung von ihm höre, wahrscheinlicherweise nicht; aber was hilft das? … Der durchstöbert vielleicht im Augenblick die Pyramiden, um Licht in die alten Zeiten zu bringen; daß seine Frau Cousine unterdeß im christlichen Eifer das anrüchige Licht der Gegenwart nach Kräften mit auszublasen sucht, das kann er ja nicht wissen… Er mag übrigens auch seinen ganz gehörigen Sparren haben… Der Fürst von L., dem er sehr nahe steht, soll in früheren Jahren lebhaft eine Verbindung zwischen ihm und einer jungen Dame am Hofe gewünscht haben; er hat, dem Vernehmen nach, die Partie ausgeschlagen, weil das Fräulein nicht die erforderliche Anzahl Ahnen besitze. Ich glaube überhaupt nicht, daß er sich noch verheirathet,“ setzte der Oberförster hinzu. „Er ist nicht mehr ganz jung, hängt viel zu sehr am Wanderleben und soll sich auch im Ganzen nie was aus den Weibsleuten gemacht haben… Ich will gleich meinen kleinen Finger verwetten, daß der da drunten mit dem Buch in der Hand diese meine Ansicht theilt und Lindhof und alle die anderen schönen Besitzungen in Sachsen und Gott weiß, wo noch, im innersten Schrein seiner Seele als unverlierbares Eigenthum betrachtet.“

„Hat er Ansprüche daran?“ fragte Frau Ferber.

„Freilich wohl. Er ist der Sohn der Baronin Lessen. Außer dieser Familie haben die Geschwister von Walde keine Verwandten in der ganzen, weiten Welt. Die Baronin war zuerst mit einem Herrn von Hollfeld verheirathet; aus dieser Ehe stammt der junge Mann da drunten, der durch den frühen Tod seines Vaters Herr von Odenberg, einer großen Besitzung jenseits L., geworden ist. Die schöne Wittwe hat damals gemeint, sie müsse eiligst ihre Freiheit benützen, um wenigstens noch eine Staffel auf der Leiter menschlicher Glückseligkeit und Vollkommenheit zu ersteigen; diese Staffel aber konnte natürlicherweise nur der Freiherrnrang sein, und deshalb wurde Frau von Hollfeld eines schönen Tages die Gemahlin des Baron Lessen. Sein Name war zwar etwas anrüchig, es klebten einige Thatsachen daran, die man in niedrigerer Sphäre spießbürgerlicherweise unehrenhaft nennt, aber das schadete nichts, er war ja auch Kammerherr, der Schlüssel am Rockknopf schließt das Hofparadies auf, und davor müssen sich selbst die gewaltigen Schlüssel des heiligen Petrus verstecken, trotz aller Verheißungen, die sie einst wahrmachen sollen. Der Baron machte übrigens nach [50] zehnjähriger Ehe seine Gemahlin abermals zur Wittwe und hinterließ ihr, außer einer kleinen Tochter, eine enorme Schuldenlast. … Es mag ihr nun freilich gefallen, in Lindhof unumschränkt die Herrin spielen zu dürfen, denn wie ich höre, hat sie auf dem Gute ihres Sohnes weder Sitz noch Stimme.“

Eine Magd aus dem Forsthaus unterbrach hier das Gespräch, indem sie, mit Scheuereimer und Kehrbesen bewaffnet, durch unzweideutige Bewegungen zu erkennen gab, daß jetzt ihr Herrscheramt hier beginne. Das Fernrohr wurde eiligst zusammengeschraubt, und während der Oberförster daran ging, die Fenstersimse an der Gartenseite von den Umarmungen der Schlingpflanzen vollends zu befreien, nahmen Frau Ferber und Elisabeth die inmitten der Zimmer zusammengestellten Möbel in Angriff, um deren ursprünglichen Glanz mittels Staubtuch und Bürste wieder herzustellen.


5.

Pfingsten war vorüber. Die Glocken, die ehernen, hatten sich in’s Stillleben zurückgezogen und blickten droben schwarz und unbeweglich durch die Schalllöcher, als seien sie die Särge des melodischen Lebens, das während der Feiertage die Thürme umbraust hatte. Die bunten Glöckchen im Walde aber, lose auf grünem Stengel hängend und ihres feierlichen Amtes wohl bewußt, konnten das Fest nicht vergessen.

Droben im alten Schloß Gnadeck harmonirte die nachhaltige Festtagsstimmung mit der des Waldes, obgleich Ferber seine Geschäfte übernommen und außerdem die unvermeidlichen Antrittsbesuche in L. abzumachen hatte. Frau Ferber und Elisabeth hatten sich durch Sabine bedeutende Aufträge eines Weißwaarengeschäfts in L. zu verschaffen gewußt und waren nebenbei im Garten beschäftigt, der auch in diesem Jahre noch nach Kräften seinen Tribut abgeben sollte. Daß trotz dieser Rührigkeit immer noch ein sonntäglicher Hauch durch die Räume des Zwischenbaues wehte, lag in der gehobenen Stimmung der Familie selbst, die den Einfluß eines glücklichen Wendepunktes in ihrem Leben ungeschwächt fortempfand und sich jeden Augenblick angeregt fühlte, das Sonst mit dem Jetzt zu vergleichen; das Waldleben, so ungewohnt und neu, wirkte fast berauschend auf die Gemüther.

Die zärtlichen Eltern hatten Elisabeth das Zimmer mit den Gobelins angewiesen, weil es die schönste Aussicht bot und gleich bei der ersten Musterung des Zwischenbaues von dem jungen Mädchen für das hübscheste und gemüthlichste erklärt worden war. Die unheimliche Thür, die nach dem großen Flügel führte, hatte man wieder zugemauert; die hohen Eichenflügel mit den Messingschlössern und Riegeln bedeckte das Mauerwerk und ließ nicht ahnen, daß jenseits die Wüstenei begann. Den Hintergrund des Zimmers füllte eines der neu hergerichteten Himmelbetten aus; in der Nähe des Fensters befand sich der alterthümliche Schreibtisch, außer einem altmodischen Porcellan-Schreibzeug und den nöthigen Schreib-Utensilien auch noch zwei hübsche, kleine Vasen voll frischer Blumen auf seiner Platte tragend, und draußen auf dem breiten Steinsims, von der Krone eines Syringenbusches schmeichelnd umspielt, stand der gelbe Messingkäfig, in welchem Hänschen mit dem ganzen Neid einer verzogenen Bravoursängerin seine schmetternden Triller vor denen der Waldvirtuosen geltend zu machen suchte.

Als das Zimmer eingerichtet wurde und Frau Ferber aller Augenblicke einen neuen Gegenstand brachte, um den kleinen Raum auch recht anmuthend auszuschmücken, da trat der Vater endlich an die längste Wand, breitete die Arme darüber und verbannte den kleinen Divan, der eben hereingeschoben werden sollte, wieder in das Nebenzimmer.

„Halt, diesen Platz reservire ich mir!“ rief er lachend. Er holte eine große Console von dunklem Holz und befestigte sie an der Wand, die gerade an dieser Stelle eine sehr breite Holzleiste zeigte. „Hier,“ fuhr er fort, indem er eine Büste Beethoven’s darauf stellte, „hier soll er, der Einzige, ganz allein thronen!“

„Aber das sieht ja abscheulich aus,“ meinte Frau Ferber.

„Na, warte nur. Morgen oder übermorgen wirst Du Dich überzeugen, daß mein Arrangement nicht so sehr zu verwerfen ist und daß für Elisabeth noch ein ganz besonderer Vortheil aus den vorgefundenen Möbeln entspringt.“

Am folgenden Tag, es war der Pfingstabend, fuhr er mit dem Oberförster nach der Stadt, und als er gegen Abend zurück kehrte, kam er nicht durch das Mauerpförtchen. Das große Thor wurde weit geöffnet, und vier kräftige Männer, trugen einen großen, glänzenden Gegenstand durch die Ruinen. Elisabeth stand gerade in der Nähe des Küchenfensters und war – zum ersten Mal in der neuen Wohnung – mit der Zubereitung des Abendbrodes beschäftigt, als die Männer mit ihrer Last den Garten betraten.

Sie schrie laut auf; denn das war ja ein Clavier, ein schönes, tafelförmiges Instrument, das ohne Weiteres in den Zwischenbau hineingetragen und droben im Gobelin-Zimmer unter Beethoven’s Büste gestellt wurde. Elisabeth weinte und lachte in einem Athem und schlang jubelnd die Arme um den Hals des Vaters, der sein einziges kleines Capital – den Erlös aus den Möbeln in B. – hingegeben hatte, um ihr das, was die Wonne ihres Lebens war, wieder zu verschaffen. Dann aber öffnete sie das Instrument, und gleich darauf schlugen mächtige Accorde an die engen Wände, die so lange das Schweigen des Todes umfangen hatte.

Der Oberförster war auch mitgekommen, denn er wollte Elisabeth’s Freude und Ueberraschung sehen. Er lehnte jetzt stumm an der Wand, als die wunderbaren Melodieen unter den Fingern des jungen Mädchens hervorrauschten. In diesem Augenblick sprach ja die glühende, mächtige Seele, die in der lieblichen, jungen Hülle wohnte, zum ersten Mal in ihrer ganzen Gewalt zu ihm. Dieser feingemeißelte Kopf, wie wunderbar beseelt und gedankenschwer erhob er sich jetzt über der zarten Gestalt, welche der ganze Zauber des Mädchenhaften und Tiefsinnigen umwob! Bis dahin waren ja nur Neckereien und Witzworte zwischen ihr und dem Onkel hin- und hergeflogen. Er nannte sie der Leichtigkeit ihrer Bewegungen und ihrer Gedankenschnelle halber, die sie nie um eine witzige Replik verlegen sein ließ, oft seinen Schmetterling; am meisten aber „Gold-Else“, indem er behauptete, ihr Haar sei so golden, daß er es durch den dichtesten Wald blitzen und schimmern sähe, wie einst Jung Roland das Kleinod im Schild des Riesen.

Als Elisabeth geendet, legte sie beide Arme über das Clavier, als wolle sie den neuen Besitz umarmen, und lächelte glückselig vor sich hin; der Oberförster aber näherte sich ihr leise, küßte sie auf die Stirn und ging schweigend hinaus.

Von diesem Moment an kam er jeden Abend hinauf in’s alte Schloß. Sobald die letzten Streiflichter der Sonne auf den Baumwipfeln erloschen waren, mußte sich Elisabeth an das Clavier setzen. Die kleine Familie nahm Platz in der Nische des weiten Bogenfensters und versenkte sich in das Gedankenmeer des Meisters, dessen Bild von der Wand herab ernst auf die begeisterte junge Spielerin schaute. Dann dachte Ferber wohl daran, wie sich Elisabeth das Leben im Walde ausgemalt hatte als der Brief vom Försteronkel in B. eingelaufen war. Elfen und Kobolde erschienen freilich nicht; wohl aber zogen die Geister die der gewaltige Tondichter in die Töne gebannt hat, entfesselt auf dem Musikstrom hinaus und hauchten in die feierliche Stille jenes geheimnißvolle Leben, dessen Wonnen und Leiden, wenn auch durch jede empfindende Menschenbrust fluthend, auszusprechen und zu verkörpern doch nur dem Genius beschieden ist.

Eines Nachmittags saß die Familie Ferber beim Kaffee. Der Oberförster war auch heraufgekommen, hatte Zeitung und Pfeife mitgebracht und ließ es sich gern gefallen, daß ihm Elisabeth eine Tasse des dampfenden Trankes einschenkte Er wollte eben einen interessanten Artikel vorlesen, als draußen am Mauerpförtchen geläutet wurde. Zum Erstaunen Aller trat, nachdem der kleine Ernst geöffnet hatte, ein Bedienter vom Schlosse zu Lindhof ein und überreichte Elisabeth einen Brief. Er war von der Baronin Lessen. Sie begann damit, dem jungen Mädchen sehr viel Schmeichelhaftes zu sagen über sein vortreffliches Clavierspiel, das sie bei ihren Spaziergängen durch den Wald seit einigen Abenden belauscht haben wollte, und knüpfte daran die Frage, ob Fräulein Ferber geneigt sei, natürlich unter vorher festzustellenden Bedingungen, wöchentlich einige Mal mit Fräulein von Walde vierhändig zu spielen.

Der Brief war in sehr höflichem Tone gehalten; gleichwohl warf ihn der Oberförster, nachdem er ihn zum zweiten Mal durchgelesen, unmuthig auf den Tisch und sagte, Elisabeth scharf anblickend:

„Du gehst nicht darauf ein, wie ich denke?“

„Und warum nicht, lieber Carl?“ frug Ferber an ihrer Stelle.

[51] „Weil Elisabeth nun und nimmermehr in den Kram da drunten paßt!“ rief ziemlich heftig der Oberförster. „Willst Du das, was Du sorgfältig angebaut hast, unter giftigem Mehlthau oder Reif vergehen sehen – nun, so thue es.“

„Ich habe allerdings,“ entgegnete Ferber ruhig, „bis jetzt die Seele meines Kindes allein in den Händen gehabt und bin, wie es meine Pflicht war, eifrig besorgt gewesen, jeden Keim zu wecken, jedes Pflänzchen, das ausbiegen wollte, zu stützen. Dabei ist es mir indessen nie eingefallen, eine kraftlose Treibhauspflanze erziehen zu wollen, und wehe mir und ihr, wenn das, was ich seit achtzehn Jahren unermüdlich gehegt und gepflegt habe, wurzellos im Boden hinge, um von dem ersten Windhauch des Lebens hinweggerissen zu werden… Ich habe meine Tochter für das Leben erzogen; denn sie wird den Kampf mit demselben so gut beginnen müssen, wie jedes andere Menschenkind auch. Und wenn ich heute meine Augen schließe, so muß sie das Steuer selbst ergreifen können, das ich bisher für sie geführt habe… Sind die Leute drunten im Schlosse in der That kein Umgang für sie, nun, dann wird sich das sehr bald herausstellen. Entweder, es fühlen beide Theile sofort, daß sie nicht für einander passen, und das Verhältniß löst sich von selbst wieder, oder aber Elisabeth geht an dem vorüber, was ihren Grundsätzen widerspricht, und es bleibt deshalb nicht an ihr haften. Und weißt Du denn, ob Elisabeth in späteren Jahren je eine andere Stütze haben wird, als sich selbst, je eine fremde Kraft, welche die Verantwortlichkeit für sie mit übernimmt?“

Der Oberförster warf einen schnellen Blick auf das junge Mädchen, das seine Augen feurig auf den Vater geheftet hielt. Er sprach ihr aus der Seele, der für sie der Inbegriff des Unfehlbaren und der Weisheit war, das lag sprechend in ihren Zügen.

„Vater,“ sagte sie, „Du sollst sehen, daß Du Dich nicht geirrt hast, daß ich nicht schwach bin… Ich habe von jeher das abgenützte Bild vom Epheu und der Eiche nicht leiden mögen, und werde es am allerwenigsten an mir wahr machen… Laß mich getrost in’s Schloß hinunter gehen, Onkelchen,“ wandte sie sich schelmisch lächelnd an den Oberförster, dem die grimmige Falte in möglichster Entwickelung zwischen den Augenbrauen erschienen war. „Sind seine Bewohner herzlos, ei, so setzt das noch lange nicht voraus, daß ich sofort zum Kannibalen werden und mein eigenes Herz unter dem Mühlstein der Grausamkeit zermalmen muß. Wollen sie mich treten und verletzen durch Hochmuth, dann setze ich mich innerlich auf einen so hohen Standpunkt, daß alle Pfeile umsonst nach mir verschossen werden, und sind sie Heuchler, nun, so sehe ich der Wahrheit um so fester in’s sonnige Angesicht und weiß dann desto klarer, wie häßlich jene schwarzen Masken sind.“

„Schön gesagt, unvergleichliche Else, und wäre auch wunderleicht durchzuführen, wenn nur die Leute die Freundlichkeit haben wollten, ihre Masken so handgreiflich zur Schau zu tragen… Wirst Dich schon wundern, wenn Du eines Tages Spreu da findest, wo Du so und so lange auf Gold geschworen hast. Nun, es soll mir eine für Dich freilich nicht eben erfreuliche Genugthuung sein, wenn ich sehe, wie eines schönen Tages das heldenmüthige Küchlein eilig und verscheucht unter die schützenden Flügel des heimischen Daches kriecht.“

„Ach!“ lachte Frau Ferber, „da kannst Du warten, Du kennst unsern kleinen Eisenkopf schlecht! … Aber laßt uns einen Entschluß fassen. Meiner Ansicht nach wäre es passend, wenn Elisabeth sich morgen den Damen vorstellte.“ –

Tags darauf, und zwar Nachmittag gegen fünf Uhr, stieg Elisabeth den Berg hinab. Ein schön gehaltener Weg führte durch den Wald, der in dem Park gewissermaßen aufging. Kein Gitter trennte den ersten, herrlich gepflegten Rasenplan, der mit seinen feinen, elastisch auf- und abwehenden Gräsern wie ein duftiges, grünes Gefieder dalag, von dem mit knorrigen Wurzeln bedeckten Waldboden.

Elisabeth hatte ein frischgewaschenes, helles Muslinkleid angezogen und ein weißer, runder Strohhut bog sich leicht über ihre Stirn. Der Vater gab ihr das Geleite bis an die erste Wiese, dann schritt sie allein muthig vorwärts. Keine menschliche Seele begegnete ihr auf dem langen Wege durch die reizenden Anlagen; ja, es schien, als flüstere es hier im Laub der Boskets tiefer, als droben im Walde, und als hüteten sich selbst die Vögel, allzulaut zu werden. Sie erschrak vor dem Knirschen des Sandes unter ihren Füßen, als sie in die Nähe des Schlosses kam, und wunderte sich über sich selbst, wie diese bängliche Stille sie mit einem Mal so verzagt mache.

Endlich hatte sie den Hauptflügel erreicht und erblickte das erste Menschenangesicht. Es war ein Bedienter, der in einem imposanten Vestibüle geschäftig, aber möglichst geräuschlos hantirte. Auf ihre Bitte, sie bei der Baronin zu melden, schlüpfte er die breite, gegenüberliegende Treppe hinauf, an deren Fuß zwei hohe Statuen standen, die ihre weißen Glieder halb unter dem dunklen Laub mehrerer Orangenbäume versteckten. Sehr bald zurückkehrend, meldete er, daß sie willkommen sei, und eilte flüchtigen Fußes wieder voraus, kaum mit der Fußspitze die Stufen berührend.

Beklommenen Herzens folgte ihm Elisabeth. Nicht der sie umgebende Glanz war es, was sie niederdrückte, nein, es war das Gefühl des Alleinstehens in dieser neuen, ungekannten Sphäre. Der Diener führte sie durch einen langen Corridor, an den sich mehrere Zimmer anschlossen, die, außerordentlich reich und elegant ausgestattet, jene tausend Kleinigkeiten in sich schlossen, welche ein unbefangenes und unverwöhntes Menschenkind auf die Vermuthung bringen müssen, es sei in eine Waarenausstellung gerathen.

Der Bediente öffnete leise und behutsam eine Flügelthür und ließ das junge Mädchen eintreten.

In der Nähe des Fensters, Elisabeth gegenüber, lag auf einem Ruhebett eine dem Anschein nach sehr leidende Dame. Ihr Kopf ruhte auf einem weißen Kissen, warme Decken verhüllten fast die ganze Gestalt, die jedoch – so viel ließ sich trotz der Umhüllung beurtheilen – von beträchtlichem Embonpoint sein mußte. In der Hand hielt sie ein Flacon.

Die Dame richtete sich ein wenig in die Höhe, so daß Elisabeth vollständig ihr Gesicht sehen konnte; es war voll und blaß und erschien im ersten Augenblick nicht unangenehm. Bei schärferer Beobachtung jedoch mußte man finden, daß die großen, blauen Augen, von weißblonden Wimpern umrahmt und unter ebenso hellen, in die Höhe gezogenen Brauen liegend, kalt wie Gletschereis blickten, ein Ausdruck, den ein Zug von Hochmuth um Lippen und Nasenflügel und ein stark hervortretendes, breites Kinn keineswegs milderten.

„Ach, es ist sehr freundlich von Ihnen, mein Fräulein, daß Sie kommen!“ rief die Baronin mit schwacher, aber trotzdem hart und spröde klingender Stimme, indem sie mittels einer Handbewegung nach einem ihr nahe stehenden Fauteuil deutete und das sich höflich verbeugende junge Mädchen aufforderte, sich zu setzen. „Ich habe,“ fuhr sie fort, „meine Cousine bitten lassen, sich bei mir mit Ihnen zu verständigen, da ich leider zu unwohl bin, Sie hinüber führen zu können.“

Der Empfang war jedenfalls höflich und zuvorkommend, obgleich sich in Ton und Bewegung der Dame eine bedeutende Dosis Herablassung nicht verkennen ließ.

Elisabeth setzte sich und wollte eben auf die Frage, wie es ihr in Thüringen gefalle, antworten, als die Thür heftig aufgerissen wurde. Ein kleines, ungefähr achtjähriges Mädchen mit fliegenden, etwas röthlichen Locken stürzte herein, in ihren Armen einen niedlichen, zappelnden und quikenden Hund an sich drückend.

„Ali ist so unartig, Mama; er will gar nicht bei mir bleiben!“ rief die Kleine fast athemlos, indem sie den Hund auf den Teppich warf.

„Wahrscheinlich hast Du das kleine Thier wieder einmal zu arg geneckt, mein Kind,“ sagte die Mama. „Ich kann Dich übrigens hier nicht brauchen, Bella; Du machst so argen Lärm und ich habe Kopfweh… Geh’ hinüber auf Dein Zimmer.“

„Ach, dort ist’s so langweilig. Miß Mertens hat mir verboten, mit Ali zu spielen, immer soll ich die alten Fabeln lernen, die ich gar nicht leiden mag.“

„Nun, so bleibe hier, aber verhalte Dich ruhig.“

Die Kleine strich dicht an Elisabeth vorüber, wobei sie deren Anzug von unten bis oben musterte, und stieg auf einen gestickten Fußschemel neben der Spiegelconsole, um eine Vase voll frischer Blumen besser erreichen zu können. In einem Nu verwandelte sich das reizend geordnete Bouquet in ein wildes Chaos unter den kleinen Händen, die sich eifrig bemühten, einzelne Blumen in die feingestickten Löcher der Vorhangsbordüre zu placiren. Bei diesem Arrangement liefen dicke Tropfen der trüben Lache, in der die Blumen gestanden, von den Stielen auf Elisabeth’s Kleid, so [52] daß diese sich genöthigt sah, weiter zu rücken, denn es hatte nicht den Anschein, als ob die kleine Vandalin selbst oder ein Verbot der Mama dem Amüsement so bald ein Ende machen würde.

Elisabeth hatte eben nur so viel Zeit gehabt, zu retiriren und auf die wiederholte Frage der Baronin zu antworten, daß sie sich in Thüringen bereits vollkommen heimisch und sehr glücklich fühle, als die Dame sich ziemlich rasch aus ihrer liegenden Stellung emporrichtete und mit einem verbindlichen Lächeln auf den Lippen nach einer Tapetenthür winkte, die sich seitwärts geräuschlos aufthat. Auf ihrer Schwelle erschienen die zwei jungen Leute, die Elisabeth neulich durch das Fernrohr beobachtet hatte; aber wie ganz anders und seltsam sahen sie jetzt nebeneinander aus! Herr von Hollfeld, eine fast übergroße, schlanke Gestalt, mußte sich tief auf die Seite neigen, um der kleinen Hand eine Stütze sein zu können, die auf seinem Arm lag. Jenes sylphenartige Wesen, das damals auf dem Ruhebett gelegen, war eine gänzlich verschobene Kindergestalt. Der auch in diesem Augenblick vollendet schöne Kopf steckte tief zwischen den Schultern, und die Krücke in der rechten Hand zeigte, daß auch in den Füßen ein Mißverhältniß sein müsse.

„Verzeihe, theure Helene,“ rief die Baronin der Eintretenden entgegen, „daß ich Dich herüber bemühen mußte; allein, Du siehst, ich bin wieder einmal der arme, geplagte Lazarus, an dem Du Deine Engelsgüte ja stets übst. … Fräulein Ferber,“ deutete sie vorstellend auf das junge Mädchen, das sich erröthend erhob, „hat die Freundlichkeit gehabt, auf mein gestriges Billet selbst zu kommen.“

„Und dafür bin ich Ihnen von Herzen dankbar!“ wandte sich die junge Dame mit einem liebreizenden Lächeln an Elisabeth und reichte ihr die Hand. Ihr Auge glitt dabei wie im bewundernden Erstaunen über die Erscheinung des jungen Mädchens und blieb dann an den blonden Flechten haften, die unter dem Hut hervorquollen. „Ach ja,“ sagte sie, „Ihr schönes Goldhaar habe ich schon gesehen und zwar gestern auf einem Spaziergang durch den Wald – Sie bogen sich über eine Mauer droben im alten Schlosse.“

Elisabeth erröthete noch tiefer.

„Aber eben weil Sie dort waren,“ fuhr die junge Dame fort, „kam ich um den Genuß, um dessen willen ich eigentlich die Anhöhe hinaufgeklettert war – lediglich um Sie noch einmal, wie am Abend zuvor, spielen zu hören. … So jung und kindlich und ein so tiefes Verständniß der classischen Musik, wie ist das möglich! … Sie werden mich sehr glücklich machen, wenn Sie öfter mit mir spielen wollen.“

Es glitt etwas wie Mißbilligung über das Gesicht der Baronin, und einem feinen Beobachter wäre auch wahrscheinlicherweise das leise, spöttische Lächeln in den Mundwinkeln nicht entgangen; für Elisabeth aber war es vollständig verloren, denn ihr ganzes Interesse wandte sich der unglücklichen jungen Dame zu, deren weiche Silberstimme unmittelbar aus dem Herzen zu quellen schien.

Herr von Hollfeld hatte unterdeß einen Fauteuil für Fräulein von Walde an das Ruhebett gerückt; dann empfahl er sich, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Weil er aber durch die Thür das Zimmer verließ, die Elisabeth gerade gegenüberlag, so konnte ihr nicht entgehen, daß sein letzter, langer Blick auf ihr ruhte, ehe er die Thür langsam schloß. Sie erschrak förmlich darüber, denn die Art und Weise, wie er sie angesehen, war zu eigenthümlich gewesen, so daß sie im Stillen ihren Anzug prüfte, ob er wohl am Ende gar zu auffallend sei.

Fräulein von Walde unterbrach diese Musterung mit der Frage, welchem Lehrer Elisabeth ihr vollendetes Spiel verdanke, worauf Letztere erzählte, daß die Mutter sie ganz allein ausgebildet, wie überhaupt die Eltern sie in Allem, was sie habe lernen müssen, selbst unterrichtet hätten.

Während dieser Mittheilung, welche die junge Dame sehr zu interessiren schien, hatte sich Bella auf den Teppich gekauert und spielte mit dem Hunde. Es würde ein allerliebstes Bild gewesen sein, hätten nicht das Gewinsel und die heftigen Bewegungen des kleinen Thieres bewiesen, daß es gequält werde. Nach jedem lauteren Schrei des Hundes, bei dem Fräulein von Walde stets erschreckt zusammenfuhr, rief die Baronin wie mechanisch: „Laß doch die Possen, Bella!“ Endlich aber, als das Thier in ein schmerzliches Geheul ausbrach, hob sie drohend den Finger gegen die kleine Unartige und sagte: „Ich werde Miß Mertens rufen müssen.“

„Ach,“ entgegnete die Kleine geringschätzend, „die darf sich doch nicht unterstehen, mich zu strafen; Du hast es ihr ja selbst streng verboten.“

In dem Augenblick wurde die Tapetenthür leise aufgemacht und ein blasses, älteres Frauenzimmer trat ein. Indem sie sich demüthig vor den Damen verbeugte, sagte sie schüchtern:

„Der Herr Candidat wartet auf Bella.“

„Ich will heute aber keine Stunde!“ rief die Kleine, während sie ein Wollknäul vom Tisch nahm und dasselbe nach der Eingetretenen warf.

„Ja, mein Kind, das muß sein,“ sagte die Baronin. „Gehe mit Miß Mertens, sei hübsch artig, Bella.“

Bella setzte sich, als ginge sie die Sache so wenig an, als den hinter das Sopha geflüchteten Ali, in einen Fauteuil und zog die Füße in die Höhe. Die Gouvernante schien sich ihr nähern zu wollen, aber ein zorniger Blick der Baronin wies sie an die Thür zurück.

Wahrscheinlicherweise würde diese widerwärtige Scene noch lange gespielt haben, hätte nicht die Baronin Hülfstruppen in Gestalt von Bonbons aufmarschiren lassen. Die Kleine verließ, nachdem sie Mund und Taschen vollgestopft hatte, ihren Sitz, und während sie die Hand der Gouvernante, die sie führen wollte, zurückstieß, lief sie hinaus.

Elisabeth saß starr vor Erstaunen. Auch die sanften Züge des Fräulein von Walde drückten unverkennbar Mißbilligung aus, aber sie sagte kein Wort.

Die Baronin sank in die Kissen zurück. „Diese Gouvernanten rauben mir Jahre vom Leben!“ seufzte sie. „Ob diese Miß Mertens nur einmal lernen wird, Bella zu behandeln, wie es dies erregbare Kind mit seinen empfindlichen Nerven verlangt! .… Da wird keine Rücksicht auf Lebensstellung, Temperament und Körperconstitution genommen. Alles kommt unter eine Schablone, gleichviel, ob Krämer- oder Pairstochter, ob zart besaitete Wesen oder robuste Tagelöhnernaturen. … Miß Mertens ist ein widerwärtiger, pedantischer Schulmeister. Dabei ist ihr Englisch abscheulich; Gott weiß, aus welchem Winkel Englands sie stammen mag!“

„Aber das kann ich durchaus nicht finden, liebe Amalie,“ sagte Fräulein von Walde, ihre Stimme hatte dabei etwas unendlich Begütigendes.

„Ach ja, das sagst Du nun wieder in Deiner Engelsgüte; aber obgleich ich selbst nicht Englisch verstehe, so höre ich doch auf der Stelle, wenn Du, liebes Herz, mit ihr sprichst, wie ungleich eleganter Deine Aussprache ist.“

Elisabeth bezweifelte innerlich die Competenz dieses Urtheils, und Fräulein von Walde machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand, wobei sie leicht erröthete. Die Baronin aber fuhr unbehindert fort: „Bella scheint dies auch recht gut zu fühlen. Sie schweigt hartnäckig, wenn ihre Gouvernante sie englisch anredet; ich verdenke es ihr keinen Augenblick, muß mich aber immer unbeschreiblich ärgern, wenn diese Person auch noch behauptet, es sei Eigensinn und Bosheit von dem Kinde.“

Die anfänglich so schwache und angegriffene Stimme der Baronin war unter dem Erguß des Verdrusses merkwürdig kräftig geworden. Sie schien dies plötzlich selbst inne zu werden und schloß ermüdet die Augen. „O mein Gott,“ seufzte sie, „da spielen mir nun wieder einmal meine unglücklichen Nerven übel mit… Ich werde heftig, wo ich langmüthig sein sollte; diese Verdrießlichkeiten sind doch wahres Gift für Leib und Seele.“

„Ich würde Dir rathen, zu Zeiten, wo Du so angegriffen bist, wie heute, Bella unter der Obhut des Herrn Möhring und der Miß Mertens getrost zu lassen. Ich bin überzeugt, daß sie da ganz gut aufgehoben ist. … Wenn ich auch Deine rührende Angst und Sorge um das Kind vollkommen begreife, so muß ich doch zu Deiner Beruhigung sagen, daß Miß Mertens viel zu sanft und gebildet ist, um irgend etwas zu thun, was nicht zum Heil der Kleinen wäre. … Du siehst ganz erschöpft aus,“ fügte sie theilnehmend hinzu. „Es wird gut sein, wenn ich Dich jetzt allein lasse. Fräulein Ferber wird gewiß die Güte haben, mich bis an mein Zimmer zu führen.“

Damit erhob sie sich, bog sich über die Baronin und hauchte einen Kuß auf deren Wange. Dann legte sie ihre Hand auf Elisabeth’s Arm, die von der Baronin mittels einer sehr gnädig aussehenden Handbewegung verabschiedet wurde, und verließ das Zimmer.

(Fortsetzung folgt.)
[53]
Die kleinste deutsche Residenz.
Ein gemüthliches Genrebild aus der deutschen Reichconfusion.


Mein Weg ging rheinauf, von Rorschach am Bodensee nach Ragaz und Chur. Etwa in der Mitte unserer schönen Bahnfahrt fiel mir drüben jenseit des jungen Stroms eine kleine Gruppe weißer Häuschen auf einem Bergvorsprunge auf, die weiter höhwärts das Mauerwerk einer alten Burg überragte. Das Ganze hatte etwas eigenthümlich Malerisches; ich frug darum meinen Nachbar in dem langen amerikanischen Wagensalon nach dem Namen von Ort und Schloß. „Das ist Vaduz, Herr“ entgegnete der Schweizer mit einer unverkennbaren Verachtung in Ton und Manier, „Vaduz, die Hauptstadt des souverainen deutschen – Fürstenthums Liechtenstein.“

Die Miniaturresidenz des Miniaturstaates reizte mich. Auf

Schloß Vaduz.

der Rückfahrt stieg ich darum in Sevelen aus, ließ mich über den hier in mannigfache Arme getheilten Rhein setzen, dessen Hochwasser fast alljährlich die Landschaft verwüsten, und stieg an einer Grenzsäule mit dem Liechtenstein’schen Wappen und der stolzen Inschrift: „Grenze des souverainen Fürstenthums Liechtenstein“ durch eine ziemlich trostlose Sandwüste den Hügel zum Flecken hinan.

Schon in seinen Baulichkeiten trug der Ort, der kaum mehr als einhundert und fünfzig Häuser zählen dürfte, den Stempel tiefer Armuth. Im Gasthof des Ortsbürgermeisters wurde ich freundlich aufgenommen. Derselbe hat auf einer kleinen Anhöhe eine bezaubernde Lage. Zur Linken erhebt sich das alte Schloß auf steilen Felsen, den Abhängen des Schwesterngebirges; die Mitte der Landschaft wird durch die riesenhaften Formen der Mittagsspitze mit ihren Felszacken und Schneefeldern eingenommen, und zur Rechten ragen die grotesken Linien der Schweizer Berge unmittelbar von den Ufern des wilden Rheins auf. Wie contrastirt mit diesem reichen Landschaftsbilde die Bevölkerung. Ueberall die augenfälligen Spuren von Noth und Dürftigkeit. Die Leute klagten mir ihr Elend. Sie hatten vorzüglich mit zwei schweren Feinden zu kämpfen. Die sterilen schroff ansteigenden Bergabhänge senden fortwährend Massen von Steingeröllen in das Thal und auf ihre Besitzungen, die aus einigen Weingärten und Wiesen bestehen, herab und der Rhein reißt ihnen den wenigen fruchtbaren Boden unter den Füßen hinweg und verringert die Möglichkeit des kargen Erwerbes von Jahr zu Jahr.

„Wie glücklich doch unsere Nachbarn, die Schweizer, uns gegenüber daran sind!“ sagte mir ein alter Weinbauer von Vaduz, „sie haben nicht mehr Steuern als wir, sind freie Leute und jetzt, wo unser Fürstenthum aus Mangel an Mitteln sammt dem mächtigen Oesterreich die Regulirung unseres Rheinufers auszuführen nicht im Stande ist, wird die Schweizer Regierung die jenseitigen Flußufer ohne Rücksicht auf uns in Ordnung bringen, und wir haben die Aussicht, doppelt mehr Land zu verlieren als zeither.“

Ich klomm die steilen Abhänge zum Schloß hinan, welches ein Conglomerat der verschiedenartigsten Gebäude ist. Zunächst in die Augen fallend ist ein großer runder, aus starken Felsenblöcken erbauter und nach der Eingangsseite mit dichtem Epheu überzogener Festungsthurm; wenn auch in seinem jetzigen Zustand Ruine, ein prächtiges Stück Mittelalter. Nur ein Theil der den Schloßhof bildenden Gebäude war neu, oder in einem abscheulichen Style restaurirt. Während ich mir das Gemäuer beschaute, hörte ich fernen Hörnerklang. Das fürstlich Liechtenstein’sche Bundescontingent war von seinen Exercirübungen auf dem Nachhausemarsch begriffen und bezog jene häßlichen Neubauten, welche ihm als Caserne dienen. Ich zählte im Ganzen dreißig Mann und zwar einundzwanzig Soldaten und neun Chargen, lauter kräftig sehnige Figuren, echte Gebirgskinder.

Man hatte mir gesagt, daß Seine Durchlaucht der Landesfürst es nicht verschmähe, den selbsterbauten Wein in den Räumen seines Ahnenschlosses seinen Unterthanen und den Besuchern auszuschenken. Mein Stern führte mich denn auch bald in jene heiligen Räume. Die Wirthschaft befand sich in großen weitläufigen Sälen des Hauptschloßgebäudes. Der Pächter derselben, welcher zugleich darin sein Handwerk, die Tischlerei, ausübt, empfing mich überaus zuvorkommend und ich fand in ihm einen weit über seine Verhältnisse hinaus gebildeten Mann. Die Aussicht von den Fenstern seiner Behausung über das vierhundert Fuß senkrecht darunter liegende Vaduz, über das Rheinthal und die gegenüber aufragenden Appenzeller Alpen ist unvergleichlich schön. Bald hatte sich eine heitere Gesellschaft Localkundiger zusammengefunden und die Situation des kleinen Fürstenthums wurde das Tischgespräch. Auch der Höchstcommandirende des fürstlichen Bundesheeres, ein Oberlieutenant, welcher zugleich die Stelle eines Landesvermessers inne hat, war erschienen.

Was konnte wohl näher liegen, als daß man der Drangsale des kleinen Ländchens, der steigenden Armuth gedachte, welche die Kämpfe der Natur, verbunden mit dem volkswirthschaftswidrigen Regime der fürstlichen Regierung, hervorgerufen hatte. Und wieder wurden im Gegensatze die ungeheueren Hülfsquellen des Fürsten hervorgehoben, welcher, trotz der notorisch zweifelhaften Wirthschaft seines Hausgeistlichen, der zugleich sein Bevollmächtigter ist, dennoch jährlich gegen drei Millionen Gulden zu verzehren hat.

Ich selbst kannte die Liechtenstein’sche Wirthschaft von Oesterreich her, speciell von den Stammgütern Lundenburg, Eisgrub und Feldsberg. Dort entblödet man sich zum Beispiel nicht, jahraus jahrein die für die Herbstjagden bestimmten zahllosen Fasanenheerden mit dem ausgesuchtesten Hirsen und dem besten Banater Weizen zu füttern, während die armen kroatischen und slavonischen Unterthanen dieser Dörfer oft weder hinreichend Erdäpfel noch Kukurutz (türkischer Weizen) zur Nahrung haben. So viel wurde mir klar, das Ländchen mit seinen eilf kleinen Gemeinden [54] ist nur von dem einen Wunsche beseelt, dem, sich der freien Schweiz anschließen zu dürfen. – Später hörte ich an anderer Stelle noch Manches über die Liechtenstein’schen Zustände, älteren und neueren Datums. Ich erzähle es wieder, wie mir’s berichtet wurde; weil die Geschichten gar so ergötzlich sind, ohne indeß die Wahrheit des Vernommenen in allen Stücken verbürgen zu wollen.

Des souverainen Herrschergeschlechts von Liechtenstein Urahn war ein Lombarde aus der berühmten italienischen Familie Este. Er kam über die Schweizer Berge nach Deutschland, um Geld und sein Glück zu machen, zu welchem Zweck er zunächst eine kleine Prinzessin aus dem Hause Schwaben heirathete (1145). Nach zehn Jahren hatte er zehn Kinder, aber noch keine Mitgift für sie, geschweige ein Land. Aber er machte mit Scharfsinn und hohen Zinsen immer größere Geldgeschäfte, so daß er endlich auch deutschen Fürsten und Rittern gegen gute Sicherheit borgte, besonders gegen Verpfändung von Gütern und Landstückchen. Wenn dann die Herren Schuldner zurückzahlen sollten, fehlte es oft an Geld, so daß sich der Liechtensteiner an die Pfänder hielt. So gewann er durch dieses Pfänderspiel Geld und Gut und hohe Connexionen. Endlich bekam ein Nachfolger (denn sie setzten das Geschäft mit immer größeren Mitteln fort von Geschlecht zu Geschlecht) 1614 vom Kaiser Matthias als Zahlung das ganze kleine Fürstenthum Troppau in Schlesien. Dazu fügte Kaiser Ferdinand der Zweite neun Jahre später Jägerndorf und den Titel „Fürst des heiligen römischen Reichs“. Während der Zeit kaufte sich der neue Fürst auch Vaduz und Schellenberg am Rhein dicht an den Grenzen der Schweizer Berge, weil es schon damals dort so schön war, wie es noch heute ist. Sie ließen sich dort nieder, kauften mehr dazu und regierten seitdem dort als ziemlich souveraine Fürsten von Liechtenstein über ihr Häuflein von Unterthanen. Sowohl im Frieden von Osnabrück und Münster, als auf dem Wiener Congreß blieben die Souverainetätsrechte der Liechtensteiner unangetastet. Sie erhielten sogar eine ganze Stimme im deutschen Bunde. Dafür verpflichteten sie sich blos, fünfzig Mann Soldaten und einen Trommler zur Bundes-Armee zu stellen. Fünfzig Mann und einen Trommler! Das merke man, denn sie sind wichtig.

Die Unterthanen des Fürstenthums Liechtenstein, nicht mehr als die Einwohner einer kleinen Stadt, nämlich nicht viel über achttausend, sind friedliche und Unabhängigkeit von unnöthigen Geldausgaben liebende Leute. Die Großen der Hauptstadt Vaduz wählten schon 1816 eine Deputation an den Fürsten Johann den Ersten und sagten ihm mit acker- und freibürgerlicher Offenheit, daß sie zwar nichts dagegen hätten, sich von ihm regieren zu lassen, aber nicht auch dafür bezahlen wollten, zumal da er, der Fürst, sehr reich sei. Auch möchten sie die fünfzig Mann und den Trommler lieber zu Hause behalten, weil sie hier besser gebraucht werden könnten bei der Arbeit, als in dem Soldatenthume, das Geld koste und nichts thue.

Se. hochfürstliche Durchlaucht war ein außerordentlich reicher, aber auch ein sehr braver Mann und sagte: „Liebe Kinder, ich brauch’ Euer Geld nicht und will gern umsonst regieren. Auch will ich Euch die fünfzig Mann und den Trommler lassen und sie mir aus meiner Tasche anderweitig für die Bundesarmee verschaffen.“ Das war ein schönes Versprechen und er hielt’s auch. Die fünfzig Mann und den Trommler ließ er von nun an gegen Entschädigung von Oesterreich besorgen. Dazu regierte er ohne Honorar. So ging’s friedlich, freundschaftlich und steuerfrei fort bis 1836, als Fürst Aloysius der Erste den Thron seiner Väter bestieg in der Haupt- und Residenzstadt Vaduz. Die Eingebornen von Vaduz ließen sich’s bei dieser Gelegenheit etwas kosten, bauten eine Ehrenpforte, illuminirten und brannten für mehrere Gulden Feuerwerk ab.

Hinterher steckten aber die Weisesten von Vaduz ihre Köpfe zusammen, nachdem sie dieselben vorher nachdenklich geschüttelt hatten, und huben an miteinander so zu reden: „Unser erhabener Monarch regiert uns ganz unentgeltlich, das ist wahr, aber Ihr habt gesehen, Kinder, daß er uns doch noch immer manchen schönen Groschen Geld kostet. Wir haben die Ehrenpforte gemacht, haben ein Feuerwerk abgebrannt, haben überhaupt bei den jeweiligen Besuchen Seiner Durchlaucht, bei Jagden und andern hochfürstlichen Vergnügungen doch nicht unbedeutende Ausgaben, die uns geniren, versäumen dabei Zeit und werden dadurch an Geschäft und Gewerbe geschädigt! Also haben wir’s immer noch nicht umsonst. Jedenfalls macht’s ihm aber Vergnügen, uns zu regieren. Dieses hat einen großen Werth für ihn und er hat Geld. Stellen wir ihm einmal die Sache ordentlich vor.“ Und so wählten die Eingebornen von Vaduz die weisesten und angesehensten Bürger zu einer Deputation aus und entsandten diese vor die Stufen des Thrones. Hier brachten sie ihre drückende Beschwerde, daß ihnen der unentgeltlich regierende Fürst doch noch Kosten verursache und daß er sie für sein Vergnügen, sie zu regieren, entschädigen möchte, mit solchem Nachdruck zur Sprache, daß der gute Monarch ordentlich gerührt ward und Entschädigung versprach. Sie wurden mit ihm über eine jährliche Entschädigungssumme handelseins und er bezahlte sie mit musterhafter Pünktlichkeit.

Damit hatten’s die Liechtensteiner zu einer politischen Stellung gebracht, die weder in der Vergangenheit, noch in der Gegenwart der Welt ihres Gleichen findet. Statt ihre Regierung zu bezahlen, haben sie dieselbe nicht nur umsonst, sondern werden auch noch dafür entschädigt, daß sie sich regieren lassen. Weiter konnten sie’s doch nun unmöglich bringen. O doch! Wer blonde Haare hat, will sie auch noch gekräuselt haben, sagt ein Sprüchwort. Fürst Johann der Zweite von Liechtenstein sagte eines schönen Morgens zu sich selbst: „Da ich nicht nur keine Civilliste beziehe, sondern für meine Arbeit meine Unterthanen sogar auch noch entschädige, darf ich mir doch wohl auch die Freiheit nehmen, wenigstens nach meinem Geschmack und wo ich will, zu leben. Diese meine Haupt- und Residenzstadt Vaduz ist sehr langweilig. Ich habe Geld genug und will damit in der Kaiserstadt Wien leben.“

Fürst Johann der Zweite zieht also nach Wien, baut sich einen prachtvollen Palast und lebt herrlich und in Freuden darin. Das Regieren und die Entschädigung dafür besorgt er schriftlich und durch einen Minister. Aber da stecken die Liechtensteiner in Vaduz wieder die Köpfe zusammen, nachdem sie dieselben vorher nachdenklich geschüttelt hatten, und sprachen zu einander: „Wir müssen eine Deputation erwählen, nach Wien schicken und unserm Allergnädigsten unsere Beschwerden vortragen.“

So war eines schönen Morgens der Fürst kaum aus dem Bette, als sich ein Dutzend der höchsten Vaduzer anmelden ließ. Sie wurden alle Zwölf vorgelassen und sprachen nach Abmachung gehöriger Kratzfüße des Inhalts zu ihrem allergnädigsten Landesvater: „Wir bezahlen nichts an Euere Durchlaucht für’s Regieren, im Gegentheil Euere Durchlaucht entschädigen uns dafür, daß wir uns regieren lassen. Das ist ausgezeichnet. Aber Euere Durchlaucht haben heidenmäßig viel Geld und lassen halt viel drauf gehen hier in Wien, so daß uns aller Verdienst dabei entzogen wird. Wir bitten daher Euere Durchlaucht, wenigstens alle Jahre sechs Monate in unserm lieben Vaduz zu leben, wobei wir zwar immer noch viel Geld einbüßen, aber das wollen wir nicht so genau nehmen. Schenken Sie uns also gefälligst wenigstens Ihre halbe Gegenwart und eine kleine Zugabe, nämlich eine Constitution.“

Fürst Johann der Zweite bewilligte auch dies und gab eine Constitution zu, nach welcher die Liechtensteiner fünfzehn Abgeordnete wählen, die vom Fürsten ebenfalls bezahlt werden.

Jetzt konnten die Liechtensteiner beim besten Willen nichts weiter verlangen. O doch!

Der in der That ausgezeichnete und gutmüthige Fürst sagte, da er nicht nur keine Civilliste beziehe, sondern auch für seine Regierung bezahle, wolle er nun wenigstens nicht auch noch alle Jahre fünfzig Soldaten und einen Trommler kaufen, die Liechtensteiner sollten ihre Bundespflicht nun selbst erfüllen. Aber die Vaduzer stecken wieder ihre vorher nachdenklich geschüttelten Köpfe zusammen und sagen: „Das thun wir nun accurat nicht. Bundespflicht! Wir Bundespflichten? Fünfzig Mann und einen Trommler? Gar nicht dran zu denken! Der Fürst kann’s bezahlen wie seine Vorfahren. Wir haben einmal die alte Gerechtigkeit.“

Der Fürst ist standhaft gegen diese Zumuthung geblieben und hat bereits gedroht, daß er sein Land mit den Leuten dem Kaiserthum Oesterreich übergeben werde, wenn man fortfahre, ihm den Kopf warm zu machen. Die Liechtensteiner wehren sich dagegen mit trotzigen Worten (Waffen sind nicht da) und wollten sich lieber den Schweizern übergeben. Seitdem aber dort gerynickert ward, hat ihre republikanische Gesinnung einen kleinen Stoß erlitten, sie wollen aber immer noch nicht kaiserlich werden, sondern ihren lieben Fürsten behalten, der nicht nur nichts kostet, sondern auch noch bezahlt. Nur soll er auch die fünfzig Mann und den Trommler auf seine Rechnung besorgen. Der Fürst thut’s nicht, die Liechtensteiner wollen nicht herausrücken. Wie werden die Würfel im kleinsten Staate, dem größten Wunder, fallen?



[55]
Ein Kinderhandel.


In einem Hochgebirgsthale, tief in den Alpen, lag das Dorf, in welchem ich kurz vor den frohen Festtagen der Ostern ein ungewöhnliches Leben fand. Ein bärtiger Mann, nicht fremden Aussehens, sondern in der Tracht der Bauern des Landes, schritt von Hütte zu Hütte und pochte an die kleinen Fenster. Sein Erscheinen war offenbar erwartet, aber nicht wie etwas Freudiges, denn bei seinem Anblick weinten viele Kinder und nahmen Abschied von den jammernden Müttern und Geschwistern und von den Vätern, von denen mancher auch mit weinte. Ach, war das ein Händeringen, als der bärtige Mann an die Fenster klopfte! Und hinter den Fenstern, wie sah es da so armselig aus! Die Kartoffeln mit ein wenig Salz auf dem blanken Tisch, das war das Abschiedsmahl, und da liegen die Reisebündel, nichts darin als ärmlichste Kleider und als das Kostbarste ein paar Stückchen Brod. Der gefürchtete Mann tritt herein. Die Mutter stößt einen Schrei des Schreckens und des Schmerzes aus, sie umfaßt die reisefertigen Kinder mit ihren zitternden Armen und die Geschwister wollen hier das Brüderchen, dort das Schwesterchen nicht fortlassen. Aber der Mann hat schöne, klingende, blanke Thaler auf den Tisch aufgezählt, und der Vater zählt sie genau nach – und an dem Glanz des Geldes trocknen ihm – ja, es ist fast unglaublich! – trocknen sogar mancher Mutter die Thränen. Der Vater führt die reisefertigen Kinder vor die Thür, wo schon gar viel andere des Dorfes stehen – und mit argem Schluchzen und Weinen zieht die Schaar hinaus und fort, immer dem bärtigen Manne nach.

Trotz der Osternähe, die der Welt den Frühling verkündet, ist im Hochgebirg der Winter noch Herr. Seht nur die Schaar, die dort über den wildesten Paß des Gebirgs dem fremden Manne folgt. Wie schwer wird ihnen der Weg, weil jedes der Kinder sein Päcklein unterm Arm oder in der Hand oder auf dem Rücken trägt! Wie sie ringen mit den Schneemassen, oft versunken bis an die Brust, – ja, dort verschwinden ein paar ganz, wie lebendig bedeckt vom weißen Leichentuch, – und doch raffen sie sich wieder empor. Wohl, sie haben sich ja mit Stricken aneinander festgebunden, um Keines zu verlieren.

Ist es eine besondere Osterfeier, zu welcher die Kinder so weit her und schaarenweise geführt werden? Jawohl, es ist eine Ostermesse, zu der sie ziehen, aber keine kirchliche mit Wandlung und Abendmahl, sondern ein Kindermarkt, eine Kauf- und Verkaufgelegenheit, für welche diese Kinder die Waare sind. Der fremde Mann hat die Kinder ihren Eltern für eine bestimmte Zeit abgekauft, er zieht mit seinem Handelsartikel zum alljährlichen allbekannten Marktplatz und verkauft sie dort für dieselbe Zeit. Wir haben eine Art von Menschenhandel vor uns, dem einige Aehnlichkeit mit dem einst zwischen Afrika und Amerika schwunghaft betriebenen Negerhandel nicht abzusprechen ist.

Und – es wird Einem, der so gern auf den Bildungsruhm, die Großthaten in Kunst und Wissenschaft, die Fortschritte auf jedem Culturfelde seines Volkes stolz sein möchte, sehr schwer, so Beschämendes auszusprechen – dieser Kinderhandel blüht in Deutschland!

Wer in der Woche vor Ostern viele Züge solcher armer kleiner „Waare“, jeden Zug von seinem „Eigenthümer“ geführt, beobachten will, kann dies am besten in Bregenz oder auf der Landstraße, die bei Lindau vorüber dem Bodensee entlang in’s Württembergische führt. Dort treffen die auf verschiedenen Wegen Herkommenden zusammen auf der einen Straße zu ihrem gemeinschaftlichen Ziel; wer aber dieses Ziel, den Markt selbst, sehen will, wo, neben Getreide- und Viehpreisen, die Kinder-Preise der Gegenstand des Feilschens sind, der muß sich nach Ravensburg verfügen, der schwäbischen Stadt, die an der Eisenbahn von Friedrichshafen nach Ulm liegt.

So leicht verhärtet die Gewohnheit den Menschen, daß diese Kinderzüge wohl schon seit langer Zeit alljährlich dieselbe Straße ziehen, ohne daß auf der langen Strecke von den oberen Thälern der Etsch und Eisack in Tirol und den Ill-Thälern Vorarlbergs bis zu dem württembergischen Kindermarktplatz ein Wort des Tadels, geschweige der Entrüstung, öffentlich laut geworden wäre. Man sieht nur das einfache Geschäft des Bedarfs auf der einen Seite und des Angebots auf der andern; dabei haben die Kinderpreise ihren Cours, wie jede andere Handelswaare: böse Wege, langandauernde Winter erschweren die Zufuhr, vermehren die Nachfrage und steigern die Preise ebenso, wie starke Vorräthe sie drücken. Die Natur des Handels bleibt sich gleich, sei das Object Guano oder Kinderfleisch.

Begeben wir uns einmal von Lindau aus über die Landbrücke auf die Heerstraße von Bregenz. Eines Tages besuchte ich eines der am Wege befindlichen Wirthshäuser, in welcher solche kleine Reisende gewöhnlich Rast halten. Da saß eine Schaar rothwangiger Knaben und Mädchen in allen Altersclassen, vom siebenten bis zum fünfzehnten Lebensjahre, still ein Jedes in sich gekehrt, die Meisten ihre Köpfchen auf die Hände gestützt, auf den Bänken des Wirthszimmers, dem Ofen meist zunächst, beisammen. Manch’ sehnsüchtiger Blick wurde mir zugeworfen. Bei einem jeden der Kinder lag sein kleines Päckchen ärmlicher Effecten. Nicht ein Laut war vernehmbar, die Kinder waren offenbar über ihre Kräfte vom Marsche erschöpft. Ich nahm Veranlassung, mit einem der älteren ein Gespräch anzuknüpfen, und fragte das Kind, ob es Hunger habe. Im Augenblick trat Leben in der kleinen Gesellschaft ein und mehr denn zehn beantworteten die an eins gestellte Frage mit ,Ja‘. Der behäbige Führer der Kinderschaar saß, seine Pfeife schmauchend, hinter einem vollen Schoppen Wein. Ich beorderte eine hinreichende Quantität Lebensmittel, während derselbe mir Namens der Kinder zu danken versuchte. Das Gespräch war eröffnet. Der Mann erzählte mir mit der dem Bergbewohner eigenen Treuherzigkeit viel mehr, als ich zu wissen begehrt hatte und als wohl auch im Interesse seines Geschäftes lag. Er war weit hinten aus den Bergen gebürtig und hatte sich, wie viele seiner Concurrenten, dem einträglichen Markte des Kinderhandels gewidmet. Wie viele Hunderte, ja Tausende, mochte er schon auf seine Weise versorgt haben!

Die Sache liegt einfach, vielleicht sogar rationell bewegt sie sich zwischen ,Gesucht und Angeboten‘ ganz marktgerecht. Die Höhenzüge des Schwarzwaldes und der rauhen Alb haben bedeutende Viehzucht, während die Bewohnerschaft durch Industrie und Verkehrsverhältnisse von Jugend auf abgezogen wird, der Hütung und Abwartung des Viehes sich zu widmen. Dagegen besitzen die Thäler der österreichischen Provinzen Tirol und Vorarlberg massenhaften Nachwuchs einer armen Bevölkerung, die unter dem Drucke schwerer Nahrungslosigkeit vegetirt. Das Geschäft ist also als ein solches und als ein bürgerliches sehr einfach. Der Kindersegen der Armuth ist in fast allen Ländern sprüchwörtlich geworden. Die engen, meist steilen Thäler des Vorarlgebirges, besonders der Ill, sowie die jenseits der Pässe in den Oberthälern der Etsch und Eisack, vom Weltverkehr noch abgeschlossen, geben der zahlreichen Bevölkerung nur den nothdürftigsten Unterhalt; theils durch Tradition, theils durch historische Gewohnheit, kam man auf die entsetzliche Idee des Ausgleichs – durch den Kinderhandel. Derartige Werber oder Geschäftsleute, es sind Vorarlberger, durchziehen zum Neujahr regelmäßig die Ortschaften jener stillen Gegenden, die Väter erwarten sie je nach der Anzahl der verkaufsfähigen Kinder mit großer Freude. Wer das Meiste giebt, dem wird zugeschlagen, bei mehreren auf einmal gehandelt, auch ein Pauschalpreis gemacht! Freilich gilt der Abschluß nur bis zum Spätherbst desselben Jahres, wo die Kinder zurückgegeben werden sollen, um wenigstens den Winterunterricht in den Schulen ihrer Heimath zu genießen. Erfahrungsgemäß geschieht dies jedoch in den wenigsten Fällen. Der Landwirth zahlt später ein neues Stück Geld und verspricht, seinen nun wieder erworbenen Zögling selbst in die Winterschule zu schicken. Wer führt aber hierüber in den entlegenen Bergen des Schwarzwaldes und der rauhen Alb die Controle? Contractlich sollen die so versorgten Kinder im Herbste eines jedes Jahres, wenn der Viehabtrieb von den Weiden erfolgt ist, einen Lohn von drei bis sechs Gulden in Baarem empfangen, aber ich hörte auch darüber vielfache Klagen, daß dies von manchem hartherzigen Bauer nicht eingehalten wird und die Dienstesleistungen der Kinder nur durch Naturalverpflegung Anerkennung finden, so daß diese ums pure Futter ihre Kindheit hingeben müssen. Doch zurück zu den heimischen Hütten der Armuth.

Das Geschäft ist gemacht, das Angeld gegeben, beide Theile sind zufrieden und besiegeln die Ablieferung und Uebernahme, welche vor Ostern desselben Jahres zu geschehen hat, in einer [56] Flasche rothen Tirolerweins, – nur Mutter und Kinder sind scheu und ängstlich zurückgezogen hinter den Ofen des Zimmers und manche verstohlene Thräne mag dabei zur Erde fallen! Der fremde, bärtige Mann ist wieder fort, der Vater des Hauses halt lächelnd einige blanke Brabanter Thaler in der Hand – denn österreichisches Papiergeld gilt bei so schwerwiegender Waare nichts – die Kinder wagen sich eines nach dem andern aus ihrem Versteck hervor; die Väter erzählen von der glänzenden Zukunft, welche ihnen bevorsteht, und der kindliche Unschuldssinn hat bald Alles wieder vergessen; Brod und Erdäpfel sind den Kleinen wieder Braten geworden. Da kommt Ostern heran, mit ihm in diesen hochgelegenen Gebirgsthälern in den seltensten Fällen das Frühlingsgrün. Die Werber stellen sich ein – und das Uebrige wissen wir.

Nicht bloßer Leichtsinn oder Geldgier mögen es sein, welche die meisten der Eltern zu diesem schwersten Schritte treiben, nein, zur Ehre der Menschheit sei es gesagt, ich habe mich selbst davon überzeugt, daß die bitterste Nahrungslosigkeit jene unglücklichen Väter und Mütter zwingt, sich den Händlern in die Arme zu werfen. Und wer wollte die Aermsten dafür verantwortlich machen, wenn sie die Sünde, welcher sie überhaupt nicht ausweichen können, für Geld begehen?

Die Jugend aus den Thälern der Ill hat es zum Transport nach dem Ravensburger Markte besser als jene, welche aus den Thälern der Etsch und Eisack recrutirt ist. Die erstere hat selbst für die rauhe Jahreszeit gebahnte Wege, während diese die wilden Pässe von Finstermünz und den klaftertief eingeschneiten Arlberg passiren muß. Solch eine kleine Gesellschaft traf ich, sie kam trübe und abgemattet über Feldkirch, Hohenembs, Dornbirn und Bregenz des Weges daher gezogen, selbst die wenigen Kreuzer, welche das Dampfboot von letzterem Orte nach Friedrichshafen erfordert, waren an die armen Kleinen nicht gewendet worden; der Händler ging, von den gehabten Anstrengungen sichtlich ermüdet, an der Spitze seiner jugendlichen Begleiter, während diese, ein Anblick zum Erbarmen, mit erfrorenen Gliedern hinter ihm nachschlichen. Es sind dies Bilder des Jammers, die nicht wieder aus dem Gedächtniß verschwinden.

Eilen wir nun nach Ravensburg. Da glänzen die Thürme des Städtchens mit der bunten, glasirten Ziegelbedachung. Auf der Landstraße von Tettnang her ist das bewegteste Leben. Schaar um Schaar der Alpenkinder wird hier dem Markte zugeführt. Auf den Gassen und in den Wirthshäusern ist heute der wohlhäbige schwäbische Bauer die Hauptperson und der heutige Preis der kleinen Marktwaare die Hauptunterhaltung. Mancher Handel ist schon abgeschlossen, einzelne Gruppen von Bauern oder Burschen schlagen mit ihren erhandelten neuen Hirtenbuben oder Mädchen den Heimweg ein. Der Hauptstrom zieht aber nach einem freien Platze außerhalb des Ortes hin, wo der eigentliche Markt gehalten wird und wo die frische Waare ausgestellt ist.

Es ist eben ein Stück Sclavenhandel, man mag sich abmühen, wie man will, die häßliche Sache mit milderem Auge zu betrachten. Da stehen die armen Kinder, aus der Elternhütte herausgerissen, der Macht eines fremden Menschen um so und so viel Thaler überliefert, von der langen Wanderung erschöpft und von Hunger und Kälte gepeinigt, – manche von der Ueberanstrengung zu blödem Hinbrüten heruntergebracht, manche, mit besserer Seelenkraft, schluchzend und weinend. Um sie herum drängt sich die kauflustige Masse, der Bauer oder die Bäuerin, der üppige Sohn des Hauses oder auch der mit dem Auftrag betraute Knecht – die Meisten in der Laune, die der Wein erzeugt, der zu dieser Osterfestlichkeit in ausgiebigerem Maße genossen werden muß. Fragt hier eine einzige Seele nach der Seele in diesen Kindern? Wie beim Schwarzen auf den Märkten jenseits des Oceans ist’s die physische Entwickelung, nach der man, den Preis der Waare abschätzt, auf die der Händler allein hinweist, die sogar nach Möglichkeit untersucht wird und aus welcher Käufer wie Verkäufer ihren Vortheil ziehen wollen. Giebt’s unterm Himmel ein bedauerungswürdigeres Wesen, als so ein Kind, dessen flehendster Blick hier nichts gilt, dem nur der Zufall der besseren Muskeln den höheren Werth verleiht und das aus der heimischen Schaar der Gespielen heraus Jedem folgen muß, der es gekauft hat? Ja, selbst die von den Freunden der Schwarzen Afrikas so oft geschilderten Scenen der Trennung von Familiengliedern fehlen hier nicht: man reißt auch hier die Geschwister beliebig auseinander – ihr Jammer mag den Stein erbarmen, was hilft das? Der Bube muß zum Schwarzwald fort, das Mädchen in die rauhe Alb, so will’s der Handel. Es ist nicht so weit auseinander, – aber für zwei Kinderherzen, die in einer Hütte zusammengewachsen sind, wahrlich, – da ist’s etwas. –

Das ist das Osterfest, zu dem die armen Kinder über den Schnee der Alpen geklettert sind!




Ein Pariser Kind.
Zur Charakteristik der Pariser Frauen.


Sie arbeitete am Tage für die große Modistin Madame Bernard in der Rue Vivienne und sang am Abend ihre reizenden neckischen Chansons im Café Eldorado, die niedliche Jeanneton, als Eugen Ellernburg sie kennen lernte. Die Kleine hatte einen Ruf in der eleganten Männer- und Frauenwelt. Man kaufte gern in dem Magazin der Madame Bernard und vergaß die ungeheuren Preise, wenn Jeanneton die Cartons öffnete und ihr Köpfchen dazu hergab, sobald die Directrice die verschiedenen Zierlichkeiten ohne Namen in’s rechte Licht stellen wollte. Der Kleinen stand eben Alles zu dem schwarzen kurzen Lockenhaar und dem klaren Bronzeteint, selbst die extravaganteste Erfindung. Und die junge Modistin hatte zugleich so sehr das Benehmen einer Dame der großen Welt, daß die vornehmsten Besucherinnen des Magazins von ihr lernen konnten, wie man eine Beduine vom Nacken gleiten läßt, einen Fächer handhabt, einen Bibi trägt und die Robe schürzt.

Feierte nun Jeanneton in dieser Weise stille Triumphe, so bewunderte man sie Abends laut und rauschend. Sie hatte eine Stimme wie ein Vogel und von Kindheit an hatte sie ihre Umgebung mit ihrem Gesang erheitert, wie das Gezwitscher der Vögel jeder Landschaft die echte und rechte Fröhlichkeit giebt. Niemand sang jene pikanten Lieder, die nur das französische Volk hat, entzückender als sie; es war eine Mischung von Frivolität und Unschuld, die hinreißend wirkte. Und dabei sah sie so frisch und reizend aus, wie keine ihrer Nebenbuhlerinnen. Sie trug immer nur ein weißes Kleid von Mousseline und ein paar Blumen im Haar; aber das Kleid war vom graziösesten Schnitt und weiß wie frisch gefallener Schnee, und die Art, wie sie die Rosen, Granatblüthen und Veilchentouffs zu befestigen wußte, raubte den jungen Männern sehr oft die Besinnung, versetzte die Alten in eine erhöhte Temperatur und erregte den Neid der Frauen. Man verglich ihren Gesang mit dem lustigen Schmettern der Lerche und ihr Lächeln mit dem Sonnenschein im Frühling. Jeanneton sang nur heitere Lieder.

O, dies Lachen der Kleinen! Es war sinnverwirrend und dabei so ansteckend; Niemand widerstand, der sie so singen oder lachen hörte, er stimmte mit ein, wenn auch nicht so silbern. Zuweilen waren sie wohl keck, diese kleinen Chansons, selbst für das Publicum des Eldorado, aber die Lippen, die sie hinausflattern ließen, verschönerten Alles, Jeanneton’s Grazie machte Alles möglich. Man betete die kleine Modistin an, man wollte nur sie hören, man überschüttete sie mit Blumen und lebhaften Zurufen, man wartete nur auf sie im Café Eldorado. Sie war der allgemeine Liebling der Männer wie der Frauen. Wunderbare Geschichten erzählte man sich von ihr. Die kleine Jeanneton haßte alle reichen Männer, und keiner der jungen Elegants, die sich in ihre Nähe drängten, konnte sich eines freundlichen Blickes von ihr rühmen. Ihr Lächeln galt nur den Studenten und den Männern des Volks. Sie nahm keine Besuche an in ihrem kleinen Stübchen in der Rue du Faubourg Poissonnière im vierten Stock, aber sie besuchte mit ihren Gefährtinnen die Bälle der Studenten und Grisetten. Sie tanzte, wie sie sang: es war eine Herzerfrischung sie tanzen zu sehen. Unschöne Bewegungen waren für Jeanneton eine so totale Unmöglichkeit, wie unreine Töne. Sie war immer die Einfachste unter Allen, allezeit jedoch die Reizendste und Begehrteste.

Eugen Ellernburg hatte sie wenigstens ein Dutzend Mal [57] gesehen, ehe er einen Tanz von ihr erhielt, und dann auch vielleicht nur, weil er in der zwanglosen Tracht eines Bewohners des Quartier Latin vor ihr erschien. Er stellte sich ihr auch als Studenten der Medicin vor und war glückselig von ihr einige Worte zu erhaschen, er, der von allen Damen daheim Verwöhnte, den eine Schwester und ein Dutzend Cousinen anbeteten und dem die hübschen Pariserinnen im Salon seines alten Onkels sehr deutlich zu verstehen gaben, daß sie seine blauen Augen und dunkelblonden Haare so wie seine schöne Gestalt durchaus comme il faut fanden. Ehe er nach Paris ging, um dort auf ein Jahr lang als Volontair in dem Bankgeschäft seines Oheims zu arbeiten und Französisch zu lernen, hegten fünf Cousinen in seiner kleinen rheinischen Vaterstadt und drei Freundinnen seiner älteren unverheiratheten Schwester die feste Hoffnung, ihn als Bräutigam empfangen zu dürfen bei seiner Rückkehr. In den Pariser Kreisen, in denen ihn sein Oheim einführte, begegnete man ihm mit Auszeichnung, man fand sein mangelhaftes Französisch allerliebst, seine geselligen Formen waren sicher und nichts verrieth jene heimlich gefürchtete deutsche Schwerfälligkeit und Gelehrsamkeit in der Conversation. Er verstand das berühmte „causer“ nicht nur das deutsche „Reden“, saß gut zu Pferde, tanzte Walzer zum Entzücken, Grund genug ihn zu dem enfant gâté einer Saison zu erheben.

Dieser Eugen Ellernburg aber hatte nur für eine einzige Frauengestalt Augen und Gedanken in dem frauenreichen Paris, für die kleine Jeanneton des Café Eldorado, der er nicht einmal gestehen durfte, daß er ein gefeierter Lion und reicher Mann. Und der Oheim hatte ihm doch gleich am ersten Tage gesagt: „Willst Du Dich zum Zeitvertreib verlieben, denn auch Paris ist zuweilen langweilig, so rathe ich Dir, das sofort hier zu thun, Du kannst Dich an keinem Orte der Welt besser amusiren und zerstreuen als hier und wirst gewiß eine vernünftige Auswahl treffen. Hast Du aber Lust – wie Ihr Deutschen sie alle habt – Dich zu verheirathen, so geh’ nach Hause. Zu Ehefrauen taugen die Mädchen Deiner Heimath am besten. Bei ihnen hören alle Prätensionen nach der Hochzeit mit einem Schlage auf und sie denken an das, an was sie denken sollen, an ihren Mann, ihren Haushalt und ihre Kinder. Die Französinnen aber wollen erst anfangen zu leben. Sei also vernünftig, lieber Junge, und reise ab, wenn Du im Begriff stehst, einen dummen Streich zu machen.“

Er reiste auch ab, nur ein wenig zu spät, Eugen Ellernburg, und nicht allein, sondern in Begleitung seiner ihm in der Kirche von St. Roche rechtmäßig angetrauten kleinen Frau. Die ehemalige Modistin der Madame Bernard und Sängerin des Café Eldorado wurde die Gemahlin eines deutschen reichen Bankiers. Es war eine romantische Geschichte und halb Paris redete damals davon. Die Kleine hatte sich wirklich ohne alle Ahnung seines Reichthums mit dem vermeintlichen Studenten der Medicin verlobt. Sie wußte, daß er weit im fernen Deutschland zu Hause war, daß er daheim nur eine einzige Schwester hatte, sie versprach auch später als sein Weib ihm in die Heimath zu folgen, nur einstweilen wollte sie nichts von derartigen Fesseln und Banden hören und der Gedanke, Paris zu verlassen, war ihr entsetzlich. Paris war der Boden, aus dem sie Leben sog, es gab für sie nur Einen Himmel, den, der über Paris sich wölbte, für sie nur eine wirkliche neidenswerthe Existenz, die einer Blumenmacherin und Sängerin. All’ seinen stürmischen Bitten einer ewigen Vereinigung widerstand sie, bis er eines Tages in Verzweiflung, in ihrem kleinen Arbeitszimmer neben dem Magazin der Madame Bernard, sich ihr zu Füßen warf und nach Deutschland zurückzukehren drohte, wenn sie nicht in eine Trauung willige. Er redete von der Unmöglichkeit, ferner ohne sie Stunden und Tage zu verleben, und die Sprache der echten Leidenschaft war für die kleine Jeanneton so neu und ergreifend, daß sie ihr nicht zu widerstehen vermochte. Sie war entzückt, sich in einer Situation zu finden, ähnlich der jener vielbewunderten Heldinnen der Porte St. Martin oder der Variétés. Ohne langes Bedenken warf sie sich in seine Arme, strich sein lockiges Haar aus der schönen Stirn, versicherte ihm, daß sie ihn liebe und daß sie ihm arbeiten helfen wolle, so lange noch ein Athemzug in ihr, damit man in Paris weiter leben könne. Sie schlug ihm vor, ihre kleine Wohnung durch die Miethe eines daranstoßenden Zimmers zu vergrößern, und bat ihn, ihr allein die Einrichtung zu überlassen.

Man setzte den Hochzeitstag für die nächste Woche fest, und erst am Tage vor der Trauung betrat Eugen Ellernburg die einfachen Räume Jeanneton’s in der Rue du Faubourg Poissonnière im vierten Stock. Mit einer tiefen Rührung blickte er sich in der engen Behausung um. Es war ein Nestchen für zwei Turteltauben, mit blendend weißen Mousselinevorhängen, einem Spiegel, einem Tisch und einem kleinen Divan, einem Schrank und einer Commode. Ein Alkoven als Schlafzimmer enthielt als Prachtstück einen Toilettentisch, den Jeanneton mittelst einiger Ellen rosenrothen Kattuns äußerst reizend hergestellt hatte. Ueberall waren Bouquets von Blumen befestigt, von Jeanneton’s Händen gemacht, die dem Ganzen einen unbeschreiblich poetischen Anstrich gaben. Am Fenster hing ihr Vogel, den sie, trotz ihrer Brautzeit, noch nie zu füttern vergessen.

Wie bald sollte sich das Alles verwandeln, gleich den Decorationen in einem Zauberstück! Eugen malte sich unablässig die freudige Ueberraschung der Geliebten aus beim Anblick seines prachtvollen Brautgeschenkes, bei der Entdeckung, daß sie eine reiche Frau sei. Am Tage nach der Hochzeit wollte er sie in den Reisewagen tragen und seinen Schatz in die stille Heimath entführen. Mit welchem Entzücken kaufte er die verschiedensten kostbaren Toiletten- und Schmuck-Gegenstände ein, mit welcher List verschaffte er sich das Maß der reizenden Taille, wie kühn wurde der Raub eines ihrer kleinen Schuhe ausgeführt, um nach diesen Mustern wahre Meisterwerke von Geschmack und Grazie anfertigen zu lassen. Der Liebende vergaß nichts, von den zierlich gestickten Lingerien an bis zu dem eleganten Handschuhknöpfer von Silber mit dem Wappen der Ellernburgs; es war die Ausstattung einer reichen und geliebten Frau. Wie im Fieber war Eugen, bis Alles in Cartons und Koffer kunstvoll verpackt vor seinen Augen stand. Und dann war’s wirklich wie in einem Märchen. Am Trauungstage bezog das glückliche Paar die kleine Wohnung Jeanneton’s, und am nächsten Morgen entfalteten Eugen’s Hände vor den Augen seiner jungen Frau alle jene köstlichen Toilettengegenstände, die seine Liebe zusammengetragen. Er versenkte sich in den lieblich staunenden Ausdruck ihres Gesichts. Aber jener stürmische Ausdruck der Freude, den er heimlich ersehnt – er kam nicht; Jeanneton blieb überraschend ruhig bei dieser Wendung ihres Geschicks, ja, es füllten sogar Thränen die dunkeln glänzenden Augen, die sie endlich auf ihren Gatten richtete.

„Du weinst?“ fragte er erschreckt. „Was fehlt Dir, Geliebte?“

„Ich darf nun nicht mehr arbeiten und nicht mehr singen,“ flüsterte sie, „ich werde nichts mehr zu thun haben.“

„Nichts, als mich zu lieben,“ unterbrach er sie leidenschaftlich.

„Das konnte ich viel besser, wenn ich Dir arbeiten half.“

„Du wirst statt dessen eine deutsche Hausfrau, kleine, süße Jeanneton, und wirst mir daheim Deine Lieder singen, und meine Schwester soll Dich lehren, was die Frauen bei uns für den Mann arbeiten nennen! Heut Abend reisen wir, und in drei Tagen sind wir in meiner Heimath.“


Monate waren vergangen seit jenem Tag in der Rue du Faubourg Poissonnière. Eugen Ellernburg wohnte mit seiner Frau in der kleinen rheinischen Stadt im ehemaligen Hause seiner Eltern. Es stand in einer engen Straße und war ein großes, düsteres Gebäude mit spitzen Fenstern und gothischem Portal, langen Corridors, in denen sich Jeanneton immer fürchtete, und ernsten Zimmern mit hochgewölbten Decken. Ueberall war das Ellernburg’sche Wappen angebracht, ein melancholisch aussehender Baum, an dem ein Schild lehnte. Auch starrten steife Bilder längst vermoderter Vorfahren fragend und mürrisch auf die junge Frau hernieder, die wie ein gefangener Vogel in dem weiten Bauer umherflatterte. Ein Garten, voll Taxuswände und Buchengänge, zog sich hinter dem Hause her; Jeanneton behauptete, dort schiene niemals die Sonne und im Mondlicht huschten Gespenster im Schatten allda auf und nieder. Aber alles dies hätte die kleine Pariserin eher ertragen, als die beständige Gegenwart eines Gespenstes von Fleisch und Blut, der Schwester ihres Gatten, Isidore Ellernburg.

Sie war es, das große, überschlanke Mädchen mit den grauen Augen und den schlichten blonden Haaren und dem ewigen schwarzseidenen Kleide, welche ihrem viel jüngeren Bruder die früh verstorbene Mutter zu ersetzen versucht und ihn erzogen hatte. Isidore liebte [58] den schönen Eugen fast abgöttisch. Er erwiderte diese Liebe mit jener ruhigen Zärtlichkeit, die seinem Wesen entsprach, unterwarf sich allen ihren Anordnungen und gewahrte nicht, wie der Einfluß wuchs, den das energische Mädchen allmählich über ihn gewann. Dem Bruder zu Liebe hatte sie einen Herzenstraum aufgegeben, sie konnte es nicht über sich gewinnen, den damals kaum fünfzehnjährigen Knaben zu verlassen, und wenn sie auch zum Lohne für ein ihm geopfertes Glück nicht von ihm verlangte, daß er unverheirathet bleiben sollte, so setzte sie stillschweigend voraus, daß er doch nie eine Wahl treffen würde und könne, die sie nicht billigte.

Als nach dem Tode des Vaters der Bankier Ellernburg in Paris den jungen Mann auf ein Jahr zu sich einlud, war sie es, die ihm eifrig zuredete, diese Aufforderung anzunehmen. Sie fühlte sich ja ihres Bruders, seines Herzens wie seiner Gedanken, so sicher, die stille, praktische und reiche Cousine Marie, die sie heimlich für ihn bestimmt, schien ihm so gut zu gefallen, sein ganzer Sinn wie seine Richtung war so ernst und solid, so ganz wie die aller Ellernburgs, daß sie nicht im Traume daran dachte, er könne ihr in dem modernen Babel verloren gehen. Seine Briefblätter ließen anfangs diese Ruhe vollkommen gerechtfertigt erscheinen, bis endlich eine immer höher steigende Temperatur das Postpapier versengte. Er hielt keine bestimmten Posttage mehr ein, er schrieb kurz und verworren. In welche Hände war er gefallen? Eine ungeheure Angst überschlich sie plötzlich, aber sie redete mit Niemand davon, sie traf alle Anstalten zur Abreise.

An demselben Tage, wo sie ihren Koffer packte, um in der Nacht L. zu verlassen, mit eigenen Augen zu sehen, mit eigenen Ohren zu hören, wie es um den Geliebten stand, erhielt sie die Nachricht seiner Verlobung und nahe bevorstehenden Heirath mit einer „Sängerin“, so hatte Eugen Jeanneton genannt, abgesehen von all’ jenen bekannten Namen, mit denen Liebende den Gegenstand ihrer Anbetung zu bezeichnen pflegen. Isidore schloß sich hierauf drei Tage lang in ihrem Zimmer ein, den vierten hielt sie eine Familienversammlung und erklärte mit fester Stimme die Verlobung ihres Bruders. Die Cousine Marie warf bei dieser Gelegenheit eine Theetasse auf die Erde.

Eine ganze Woche lang sprach man im Städtchen nur von diesem Ereigniß, später redete man über die Neuangekommene nicht minder heftig, aber viel länger. Längst schon führte man im grauen Hause, dessen grünvergitterte Comptoirfenster im Erdgeschoß jedes Kind kannte, den Haushalt zu Dreien, längst schon hatte sich die junge Französin in der Kirche und auf der Promenade gezeigt, und doch wendeten sich die Augen jedes Vorübergehenden neugierig zum ersten Stock, der Wohnung der jungen Frau.

Die Verwandten empfingen in echt kleinstädtischer Weise den unwillkommenen und unerwarteten Eindringling, das heißt kalt und mißtrauisch, und gaben sich nicht die geringste Mühe, ihr schlechtes Französisch zu verbessern, um einen Verkehr mit Jeanneton zu ermöglichen. Isidore küßte bei der ersten Begegnung ihre neue Schwägerin so eisig auf die Stirn, daß die junge Frau zusammenschauerte. Die Schwägerinnen redeten sehr selten miteinander und sahen sich so wenig wie möglich. Beide empfanden vom ersten Augenblick die Verschiedenheit ihres Wesens, wie eine Kluft, über die es keine Brücke gab, Beide haßten sich, weil Jede die Erste in dem Herzen des geliebten Mannes sein wollte. Nach einer thränenvollen Scene zwischen ihrem Bruder zog sich Isidore für den größten Theil des Tages in ihre Zimmer zurück und Jeanneton suchte sie nie dort auf. Sie hatte sich ein kleines Cabinet, das an ihr Schlafzimmer stieß, genau so eingerichtet, wie jenes geliebte Stübchen in der Rue du Faubourg Poissonnière im vierten Stock. Dort hing ihre Drossel, die sie aus ihrer Heimath mitgebracht. Keine andere Hand, als die ihrige, durfte den Vogel berühren oder das Zimmerchen in Ordnung halten, und wäre Eugen nicht schon längst von ihr bezaubert gewesen, ihr Anblick, wenn sie den zierlichen Besen in der weißen Hand, das kostbare Morgenhäubchen auf dem dunkeln Haar im weißen Peignoir über die Schwelle trat, hätte es dahin gebracht. Ihren eleganten Salon, Wohnzimmer genannt, bewohnte sie nur in den Stunden, in denen Eugen bei ihr war, und nur ihm zu Liebe erklärte sie dessen Einrichtung reizend und behaglich. Es war auch in der That nichts da, was sie störte oder beängstigte, wenn sie ihn ansah, wenn sie sein hübsches Gesicht in ihren Händen hielt, wenn sie in seine Augen sich versenkte und den berauschenden Liebesworten lauschte, die von seinen Lippen strömten.

Nur wenn Isidore eintrat, erwachte sie aus ihrem süßen Traume, dann war’s wie im Märchen, wenn die böse Fee durch einen Blumengarten geht und alle Knospen welken müssen. Jeanneton empfand, daß sich Eugen gleichsam in ihren Armen verwandelte, und sie selbst fühlte sich wie gelähmt ihrer Schwägerin gegenüber. Isidore hatte die Gewohnheit, über die Maßen eifrig zu nähen, zu stricken oder zu häkeln, und die junge Frau verstand eben nichts als Veilchentouffs, Rosenknospen und Frühlingsblumen zu machen, so reizend, als ob sie eben frisch gepflückt worden seien. Und von dieser Beschäftigung nie zu reden hatte ja Eugen sie so zärtlich gebeten. Sie saß also mit lässig zusammengesunkenen Händen da und sah zu, wie sich die Finger ihrer Schwägerin bewegten, und fand diese Finger so häßlich, wie die ganze Toilette Isidorens, und wußte kein Wörtchen darein zu reden, wenn die Geschwister miteinander sprachen. Erst, wenn das Fräulein sich zurückgezogen, wurde der Bann von ihr genommen und sie jubelte auf wie der Vogel, dem man das verhüllende Tuch vom Bauer genommen, das ihn geängstigt. „Liebe sie, meine Schwester,“ bat Eugen immer und immer wieder, „sie ist das zärtlichste Herz der Welt.“

Aber Jeanneton schüttelte den Kopf und sagte:. „Niemand darf sich zur Liebe zwingen, es wird doch nur ein Unding daraus und man kann nun einmal ebensowenig manche Menschen lieben, wie man manchen Kopfputz oder überhaupt manche Mode tragen kann. Versucht man’s mit Gewalt, so thut man sich selber den größten Schaden. Laß uns Beide, wir gehören nicht zu einander.“

Gleichwohl war Jeanneton möglichst freundlich gegen Isidore, wenn diese ihr auch deutlich genug zu verstehen gab, daß sie die junge Frau für das nutzloseste, unwissendste Geschöpf der Welt halte. Die Kleine versuchte wirklich die Wichtigkeit eines Waschzettels und die Nothwendigkeit eines Schlüsselkorbes und Ausgabenbuches einzusehen. Sie gab sich Mühe, an jedem Morgen in Begleitung ihrer Schwägerin einen Rundgang zu unternehmen, Schränke auf- und zuzuschließen, der Köchin Alles herauszugeben und auf’s Körnchen genau zuzumessen, gegen alle Leute sich mißtrauisch zu zeigen und nie einen Schlüssel aus den Händen zu geben. Mit staunenden Augen nahm sie die Anweisungen ihrer Schwägerin und ein Ausgabenbuch entgegen und lernte ziemlich rasch jene Worte kennen und schreiben, die im Alltagsleben die Spalten eines Ausgabenbuches zu füllen pflegen. „Es ist dies Alles nöthig zum Glück eines Mannes,“ dies war die Zauberformel, welche Jeanneton’s Geduldsfaden vor dem jähen Zerreißen bewahrte, und dazu kam wahrhafte, wirkliche Furcht vor jener steifen, unbeugsamen Gestalt mit den durchdringenden Augen und dem spiegelglatten Scheitel.

Ueber zwei Dinge dachte die junge Pariserin sehr viel nach: ob dieser Scheitel auch in der Nacht so glatt verbleibe und ob Eugen wirklich unglücklich werden würde, wenn einmal ein Schrank offen stehen bliebe, oder wenn sie vergäße, die kleinen Milchbrode einzuschreiben. Wie über alle Maßen langweilig war doch das Leben einer deutschen Frau! Jeder Tag fing mit Milch und kleinen Broden an im Ausgabebuch und endete mit Salat. Und der Küchenzettel war so wunderlich und kein Gericht wollte der jungen Frau schmecken, und wenn das kleine Stübchen mit den weißen Mousselinevorhängen nicht gewesen wäre und die köstlichen Stunden, wo Eugen allein bei ihr war, so hätte das Heimweh nach der Zauberstadt ihr Herz zusammengedrückt. So aber wehrte sie es immer von Neuem wieder von sich ab und lehnte ihre Stirn an die Schulter des Geliebten und sagte: „Du bist meine Heimath.“

Mit dem Singen ihrer kleinen Lieder kam es auch so ganz anders, als sie gedacht. Da stand wohl ein schöner Flügel in ihrem Wohnzimmer, aber Jeanneton hatte ja nie Clavier spielen lernen. Was sollte er ihr? Und Eugen bat sie auch nie darum, seltsamer Weise, ihre „braune Therese“ und ihren „kleinen Hans“ zu singen, die ihn sonst doch so sehr entzückt. Und vor Isidoren hätte sie keinen Ton herausgebracht, nie und nimmer, nicht um alle Schätze der Welt! Da begnügte sie sich denn, in ihrem kleinen Zimmer vor ihrem Vogel zu trillern und zu singen, und die Drossel sang, wie ehemals in Paris, jene kleinen Chansons nach, und Jeanneton vergaß alle ihre Sorgen. Alle Sehnsucht war ausgelöscht, sie war wieder die kleine Modistin und heut Abend wollte sie im Eldorado singen und dann würde er an dem Tischchen seitwärts links, in der zweiten Reihe etwa, sitzen, und sie würde seinen schwärmerischen Augen begegnen, die so trunken zu ihr hinschauten. Sie sah sich im weißen Kleide – ach, hier durfte sie [59] keine weißen Kleider tragen außer am Morgen, nur die schweren Seidenstoffe – eine Rose und ein Schmetterling bildeten den einzigen Schmuck des lockigen Haares, und dazu das neckische Lied: „Der Schmetterling“. Trat dann Eugen herein, so zerfloß der süße Traum nicht, er wurde nur noch schöner. Leise zog er sie dann auf sein Knie und sie schlang ihre Arme um seinen Nacken und ließ sich in’s Ohr flüstern, daß er sie liebe wie nichts in der Welt und ewig lieben werde.

(Schluß folgt.)




Deutschlands große Werkstätten.
Nr. 3. Die Schöpfungen eines Zeugschmiedegesellen.


Das Ränzel war leicht, noch leichter der Beutel – er enthielt nur noch zwei Thaler und die silberne Taschenuhr war obendrein versetzt – mit welchen vor mehr als dreißig Jahren ein Handwerksgesell in dem gewerbrührigen Chemnitz einwanderte. Es war ein Zeugschmied, draußen im Elsaß zu Hause, jetzt aber von dem thüringischen Jena dem sächsischen Manchester zureisend. Hier dachte er Arbeit zu finden, wie er sie wünschte und zur Vervollkommnung in seinem Handwerke brauchte. Es gelang ihm auch, in einer Maschinenbauanstalt Beschäftigung zu finden, und in wenigen Jahren schon stand der intelligente, strebsame junge Mann auf eigenen Füßen. Heute aber sind die Anstalten, die er gegründet hat, weltbekannt wie sein Name. Zweitausend Arbeiter füllen seine großartigen Werkstätten, die in vierzig verschiedenen Gebäuden sich über 160,000 Quadrat-Ellen erstrecken und fünf Dampfhämmer und neun mächtige Dampfmaschinen in Bewegung setzen.

Wir brauchen unsern Lesern kaum noch zu sagen, daß unser Zeugschmied kein Anderer ist, als Richard Hartmann. Eine gedrängte Schilderung seiner verschiedenen technischen Anstalten ist der Zweck dieser Zeilen.

Eine kleine Stadt in der Stadt, so lagen die Gebäudecomplexe mit ihren thurmhohen Dampfschloten und den feuersprühenden Schmiedeessen zu beiden Seiten der Leipziger Straße vor uns, und mit anerkennenswerther Zuvorkommenheit wurde uns, wie Jedermann, dem der Besuch des Etablissements erwünscht (selbst ohne Einführung irgendwelcher Art), der Eintritt in die Fabrik zugesagt, wurden wir dem Chef, einem jovialen Herrn mit offenem geistvollen Gesicht, vorgestellt und von diesem persönlich vom Comptoir bis an die Fabrikräumlichkeiten geleitet, woselbst ein Führer das fernere Geleit übernahm. Zunächst war es die Werkstatt für den Bau von Flachsspinnerei- und Appretur-Maschinen (Walken etc.), die uns beschäftigte; hier fielen besonders die gewaltigen Dimensionen der Flachskrempeln mit ihren eisernen Tambours auf. In einem benachbarten Anbau finden wir die Arbeitsstätte, wo die Locomotivsiederöhren zum Einziehen in die Kessel vorbereitet werden; die hier angehäuften Massen solcher Röhren weisen schon auf den beträchtlichen Umfang des Locomotivenbaues hin, der mit den ihm dienenden großartigen Anstalten nun vor Allem unsere Aufmerksamkeit fesselt.

Welch’ ein Bild der Thätigkeit an diesen Dampfrossen, von denen eben elf Stück nebst einer Anzahl von Tenders in Zusammensetzung und Aufstellung begriffen sind! Hunderte von Menschenhände hämmern, meißeln und bohren an diesen Kolossen.

Die Werkstätten sind darauf eingerichtet fünfzig Locomotiven im Jahr liefern zu können, und die eine Abtheilung, in welcher namentlich die Tender stehen, zeigt uns einen Laufkrahn von einigen Hundert Centnern Tragfähigkeit, der, auf Schienen an den Galerien entlang geführt, die Tenderkasten und Kesselkörper leicht von einem Ende der Werkstatt zum andern transportirt, die andere Abtheilung fünf riesige vertical stehende Krahnen, mittels deren die Kesselkörper auf die Räder gehoben werden. Ringsherum ziehen sich breite Galerien, auf denen Locomotiventheile, als Bielle, Excenter etc., sowie sämmtliche Messingstücke massenhaft bearbeitet und gefertigt werden, und in der Mitte der zweiten Abtheilung befindet sich eine große Drehscheibe. Auf ihr werden die bis auf den Anstrich fertigen Maschinen herumgedreht, um dann auf Schienen einem nach dem Hofe zu angebauten Raume zugeführt zu werden, wo sie ihr Farbenkleid erhalten und zum ersten Male probeweise in Betrieb gesetzt werden. Bei unserm Besuche der Anstalt waren hier eben zwei Maschinen, an welche die letzte schmückende Hand gelegt werden sollte; eine bereits angestrichen und geprobt stand vor dem Anbau und sollte andern Tages ihrem Besteller abgeliefert werden. Ein prächtiger Anblick, diese so schön und sauber gearbeitete Maschine funkelnd und glänzend von Metall und Lack, mit sorgsam verglastem Führerstand, der den Locomotivenführer vor den Unbilden des Wetters schützen soll!

Wie viele unserer Leser durch die Zeitungen erfahren haben werden, legte eine Feuersbrunst im Jahre 1860 den größeren Theil des gewaltigen Häusercomplexes in Asche, den wir eben durchschritten haben. Mit fast unglaublicher Schnelligkeit aber erstand das zerstörte Gebäude wieder; ein ansehnlicher Theil der etwa achthundert Arbeiter, welche der abgebrannte Theil des Etablissements zählte, hatte vorläufig seine Arbeitsmittel verloren, er wurde jedoch nicht entlassen, sondern mußte, trotz der viel höheren Löhne, die dadurch dem Arbeitsherrn erwuchsen, mit Hand anlegen, damit in kürzester Zeit die unterbrochene Thätigkeit der Fabrik wieder aufgenommen werden konnte. So wurde es möglich, daß man nach Verlauf eines halben Jahres bereits wieder in der Lage war in den Neubauten voll arbeiten zu lassen. Zu solchen Resultaten gehört freilich die Energie, Thätigkeit und Elasticität eines Hartmann.

Eine andere Werkstatt, die sogenannte „Große Dreherei“ in der dritten Fronte des Häuserviertels, war uns kaum minder interessant. Hier werden zumeist umfänglichere Gegenstände auf entsprechend großen und sehr kostspieligen Drehbänken, Bohr- und Stoßmaschinen, bearbeitet, so beispielsweise Cylinder bis zu hundert Zoll Durchmesser und zwölf Fuß Höhe gebohrt, verzahnte Schwungräder bis zu achtzehn Fuß Durchmesser und vierhundert Centner Schwere, Schwungrad- und Transmissionswellen bis dreißig Fuß Länge abgedreht und fast ebenso lange Gewinde für Geschützbearbeitungsmaschinen geschnitten. Staunen muß man über Mannigfaltigkeit und Reichhaltigkeit der hier und in den anstoßenden Räumen aufgestellten Hülfsmaschinen. Namentlich sind die doppelten Langlochbohrmaschinen bewundernswerth, welche Löcher bis zu vierzehn Zoll Länge selbstthätig und so schnell bohren, daß damit gegen früher, wo dergleichen Löcher (Langlöcher, Schlitzen) erst durch den Bohrer angebohrt und nachher ausgestoßen werden mußten, wesentlich an Zeit und Geld gespart wird.

Mit der Dreherei wetteifert in Präcision und Leistungen die „Hobelei“, welche uns das der Leipziger Straße zugekehrte Frontgebäude erschließt. Da schwirren um uns eine Unzahl von Hobel- und Feilmaschinen jeder Art und Größe, die schier Unglaubliches leisten. Gegenstände von fünfzehn bis zwanzig Ellen Länge, fünf Ellen Breite und sechs Ellen Höhe abzuhobeln ist ihnen eine Kleinigkeit, besonders merkwürdig aber der Mechanismus, welcher die zum Hobeln erforderlichen Stähle herumdreht, so daß die zu bearbeitenden Gegenstände sowohl beim Vor- als beim Rückwärtsgange des Tisches, resp. Supports, gehobelt werden. In einem anderen Seitenbau brausen und sausen die Bearbeitungsmaschinen für die bereits mit Gußstahlreifen (Bandagen, Tyres) bezogenen Locomotivenräder, welche mittels hydraulischer Presse auf ihre Achse aufgezogen und dann, beide Räder auf der Achse gleichzeitig, abgedreht werden. Der Besucher, welcher ein Andenken mitnehmen will, erbittet sich wohl einen dieser derben Drehspähne, an deren außerordentlicher Stärke die Kraft und Gewalt der Arbeit erkennbar ist. Weiter sehen wir Maschinen, worauf die Keilnuthen in die Achsen gefraist werden, und gelangen dann in die Räderschneiderei, wo die Transmissions-Räder aus der Theilscheibe getheilt und bis neun Fuß Durchmesser geschnitten, die Wellen mit Maschine gefraist und dann gekuppelt werden, so daß die gesammte Transmission nunmehr auf mechanischem Wege und mithin so gleichmäßig und genau hergestellt wird, daß Alles auf das Haar zusammenpaßt.

Von unserer Excursion schon etwas müde, bedienen wir uns zum Aufsteigen in die oberen Stockwerke, statt der Treppen, eines der zahlreichen Fahrstühle. Zunächst ist es im ersten Geschosse der Webstuhlbau, welcher uns festhält. In langen Reihen sind hier

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Maschinenanstalt von Richard Hartmann in Chemnitz. Aufg. von A. Eltzner
Garten.     Gewächshaus.     Kesselschmiede.     Schmiede.     Eisengießerei     Spinnmaschinen-Bau.
Gelbgießerei.               Hobelei.     Bohrerei.

[61] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [62] Webstühle für Tuche, Buckskins und alle wollenen, halbwollenen, baumwollenen und leinenen Zeuge, daneben die zur Weberei nöthigen Vorbereitungsmaschinen, wie Scheermaschinen, Schlichtmaschinen, Aufbäumemaschinen etc., aufgestellt und im Bau begriffen: Der Nachbarsaal ist die sogenannte „kleine Dreherei“, wo über hundert kleinere Drehbänke, und was dahin schlägt, im Betrieb sind und namentlich für den Spinnereimaschinenbau arbeiten. Auf einer und derselben Maschine, deren zwei je ein Arbeiter bedient, werden vier und sechs verschiedene Gegenstände gleichzeitig gebohrt; ebenso sind die meisten Drehbänke für selbstthätigen Betrieb construirt, so daß mehrere gleichzeitig durch einen einzigen Arbeiter bedient werden können.

Auf der Galerie des zweiten Stockes entfährt uns ein Ah! der Ueberraschung. Unter uns entfaltet sich das imposante Bild des Locomotivenbaues in seinen gesammten Verrichtungen und Arbeiten. Im zweiten und dritten Stocke erhalten wir eine Uebersicht so ziemlich aller der verschiedenen Maschinen, welche Wolle und Baumwolle zu feineren und gröberen Garnen spinnen helfen. Es gäbe nichts als eine todte Nomenclatur, wollten wir aufzählen, was für industrielle Werkzeuge und Geräthschaften hier alles construirt, zusammengesetzt und vollendet werden; uns schwindelt, wenn wir all’ das schnurrende, surrende Räderwerk um uns erblicken und uns die hier im Bau begriffenen Maschinen vollendet und auch surrend und schnurrend in Thätigkeit denken. Nur der Hartmann’schen Baumwollen-, Kamm- und Streichgarn-Selfactors (selbstthätige Spinnmaschinen) wollen wir gedenken. Diese Maschinen, an denen Richard Hartmann wesentliche Verbesserungen angebracht hat, genießen eines wohlverdienten Rufes bei allen Fachleuten und bilden einen sehr gesuchten Artikel, so daß im Durchschnitt wöchentlich vier das Etablissement verlassen, um in alle Welt hinaus zu gehen.

Auch die großartige Modelltischlerei, die hellen, geräumigen Zeichnersäle verdienen genauer betrachtet zu werden. Diese Zeichnersäle liegen unmittelbar über dem Comptoir, zu dem eine Wendeltreppe hinabführt und von wo wir unsern Gang antraten. Wir haben somit das eine Gebäudeviereck durchwandert und lenken unsere Schritte von Neuem dem Fabrikhofe zu. Ein inmitten desselben einzeln stehendes Gebäude enthält zwei weitere Anziehungspunkte für uns. Der eine ist die Schraubenschneiderei, wo mittels eines der Fabrik eigenthümlichen Systems Maschinen-Schrauben und -Muttern von kleinster bis zu größter Dimension gedreht, geschnitten und gestoßen werden, so daß wir in kurzer Zeit die schönste Schraube oder Mutter, fertig bearbeitet, mit reinstem, genauestem Gewinde und so sauber hergestellt sehen, daß sich Nacharbeit, durch die Hand nicht mehr erforderlich macht. Der andere Anziehungspunkt ist die Herstellung der sogenannten Stachelwalzen, welche in der Tuchfabrikation zum Aufkratzen des Gewebes benützt werden. Von Knaben bediente kleine Bohrmaschinen bohren in diese Walzen täglich je zweitausend fünfhundert Löcher, in welche dann ein Knabe pro Tag ebenso viele feine Nadeln einsetzt.

Um uns auch die anderen Theile der Riesenanstalt zu beschauen, müssen wir über die Straße hinüber, jenseits deren uns ein neuer Häusercomplex des Hartmann’schen Etablissements aufnimmt. Ein furchtbares Gedröhn schallt uns schon von Weitem entgegen, denn hier haben die Schmiedewerkstätten Platz gefunden. Man denke sich zu beiden Seiten einhundert und zwei Schmiedefeuer brennen und Hunderte kräftiger Arme die wuchtigen Hämmer schwingen, um das glühende Eisen zu bearbeiten; man denke sich fünf große Dampfhämmer, von deren Streichen das ganze Gebäude erzittert, auf mächtige Eisenklötze niederfallend, um sie aus dem Gröbsten zu ihren bestimmten Zwecken vorzubereiten; denke sich drei Schmiedemaschinen thätig, die mit Gesenken in verschiedenartigsten Formen und Dimensionen in fünfhundert Schlägen pro Minute Gegenstände in vollkommenster Weise fertig schmieden, denke sich endlich eine Rundsäge kreischen, welche das warme Eisen schneidet – und man wird ein ungefähres Bild dieser wahren Cyklopenresidenz haben. Ein Funkenmeer sprüht von allen Seiten und würde uns die Passage unmöglich machen, wenn die schwarzen Gesellen nicht artig wären, ihre Arbeit für den Augenblick ruhen zu lassen, in welchem der Besucher eben vorübergeht. Inmitten beider Schmieden arbeiten zwei zwölfpferdige Dampfmaschinen, welche die Kraft geben zum Betriebe der in den Schmieden und anstoßenden Kesselschmieden befindlichen gesammten Arbeitsmaschinen, sowie des Ventilators (ein Rad mit Schaufeln), in den durch die schnelle Umdrehung Luft eingezogen und mittels der Schaufeln mit Vehemenz in eine unterirdisch angelegte, mit Cement ausgemauerte Canalleitung eingetrieben wird, von wo aus sie durch Rohrmündungen bei den Schmiedefeuern sausend entweicht und diese anfacht und unterhält.

An den Schweißöfen vorüber führt unser Weg nach den Kesselschmiedewerkstätten. Hier ist der Lärm kaum erträglich, wenn die stattlichen Gestalten der Kesselschmiede den schweren Hammer mit aller Gewalt auf die Nieten schlagen, welche die bis einen Zoll starken Eisenplatten der Dampfkessel verbinden, während drin in den Kesseln selbst Arbeiter sitzen, den Schlägen mittels Winden Gegenhalt zu bieten. Die praktischen Arbeitsmaschinen, wie die zweckmäßige Einrichtung überhaupt, erheben auch diese Werkstätten anerkanntermaßen mit zu den ersten und vollkommensten, die man kennt. Wir finden hier Blechscheeren und Lochmaschinen, Blechbiegemaschinen, Nieten-Maschinen, auf welchen die Nieten gefertigt, und Kesselnietmaschinen mit eigenem Dampfcylinder, mittels welcher die Kessel genietet werden.

Den Kesselschmieden gegenüber dehnen sich die neuerdings wesentlich vergrößerten Gießereianlagen aus, Sie umfassen fünf Cupolöfen und große Trockenkammern, worin die Lehm- und Massenformen getrocknet werden. Je nachdem es die Beschaffenheit der zu fertigenden Gegenstände erheischt, gießt man hier sowohl in Sand-, als in Lehm- und Massenformen. Tagtäglich werden gegenwärtig ungefähr vierhundert Centner Eisen geschmolzen; jetzt sollen die Einrichtungen eben derartig erweitert werden, daß bis zu fünfhundert Centner Eisen täglich gegossen werden können.

Unweit der Gießerei öffnet sich eine Reihe uns wieder vorzugsweise interessirender Räume, die riesigen Modellsäle, in denen die verschiedenen Modelle der in der Anstalt gelieferten Maschinen und Werkzeuge auf bequem zugänglichen Regalen zusammengehörig geordnet und auf aufgehängten Tabellen übersichtlich verzeichnet sind. Wie groß die Anzahl der hier aufgesammelten Modelle ist, wird aus dem einen Beispiele erhellen, daß für den Dampfmaschinen-, Turbinen-, Mühlen-Anlagen-, sowie Werkzeugmaschinenbau allein über zweitausend Radmodelle vorhanden sind.

Die Krone des Ganzen haben wir uns bis zum Schlusse aufgespart – die im Aeußeren und Inneren prachtvollen Werkstätten für den Werkzeug- und Dampfmaschinenbau, eines der größten Gebäude, die wohl zu ähnlichen Zwecken errichtet worden sind, mit einer Gesammtlänge von zweihundert und zehn Ellen und einer Tiefe von fünfundvierzig Ellen, der zweistöckige Mittelbau einhundert und zehn Ellen, jeder der beiden Flügel fünfzig Ellen lang, das Ganze von zwei Reihen eiserner, doppelter Säulen getragen, umzogen mit einer breiten Galerie, von der aus der kolossale Bau einen imposanten Eindruck gewährt. Seine architektonische Schönheit macht das Gebäude überhaupt zu einer Zierde der Stadt. Die mehr als sechs Ellen hohen und fast drei Ellen breiten Bogenfenster, wie das in den Flügeln vorgesehene Oberlicht geben eine ausgezeichnete Beleuchtung. Zwei Laufkrahnen werden zum Heben und Transportiren schwerer Gegenstände benützt, die Communication der Galerien mit dem Parterre wird durch fünf Treppen (theils Wendeltreppen), sowie durch Fahrstühle hergestellt und der Betrieb durch eine am Ende des Gebäudes angelegte fünfzigpferdige, horizontale Woolf’sche Dampfmaschine bewirkt, die mit ihren beiden Kesseln selbst wieder ein glänzendes Zeugniß für die Höhe des heutigen Maschinenbaues abgiebt.

Die Werkstatt-Einrichtung selbst ist, allem Andern entsprechend, ein Bild der größten Zweckmäßigkeit und Gediegenheit, großartig in Anlage und Leistung. Zu unserer Freude bemerken wir, daß fast sämmtliche der in der Anstalt thätigen Hülfsmaschinen das Fabrikzeichen „Richard Hartmann“ tragen, mithin im Etablissement selbst gebaut sind. Von den Maschinen, mit deren Herstellung man bei unserer Anwesenheit beschäftigt war, bot uns die Geschützbearbeitungsmaschine ein besonderes Interesse. Sie ist für gußstählerne Geschütze bis zu elfzölligem Kaliber und fünfhundert Centner Feingewicht bestimmt und bis jetzt für in- und ausländische Arsenale, sowie für rheinische Gußstahlwerke schon bedeutend bestellt und geliefert worden. In der Abtheilung des Dampfmaschinen- und Turbinen-Baues fanden wir eine einhundert und fünfzigpferdige Wasserhaltungsmaschine von achtundvierzig Zoll Cylinderdurchmesser und neunundsiebenzig Zoll Kolbenhub, eine Schiffsmaschine, Wasserräder, von den Tangentialrädern in kolossalem Durchmesser bis [63] zu den kleinsten Turbinen, Mühlstuhlungen, hydraulische Pressen bis zu 600,000 Pfund Druck und viele andere Maschinen und Gegenstände, unter denen wir noch des patentirten Ehrhardt’schen Wägeapparates zur Ermittelung der Belastung von Eisenbahnfahrzeugen gedenken, einer für die Eisenbahnen außerordentlich wichtigen Erfindung, deren Ausführung für In- und Ausland die Hartmann’sche Fabrik übernommen. Mittels dieser Apparate kann man das Gewicht von Locomotiven, Tenders und Waggons an jeder beliebigen Stelle eines horizontalen Gleises leicht und sicher ermitteln, während die Kosten des Apparates nur etwa den zehnten Theil der sechstheiligen Centesimalwage betragen, die zu diesem Behufe bisher angewandt wurde. Allerliebst erschien uns eine patentirte Holzzerkleinerungsmaschine, die wir ebenfalls in Arbeit sahen und welche täglich ihre zwanzig Klaftern Holz schneidet und spaltet, so daß dasselbe zur Feuerung verwendbar wird.

Der Eindrücke, die uns in den verschiedenen Räumen der Fabrik geworden, sind so viele, daß es uns kaum möglich wird, einen von dem andern zu sondern, – das Gewaltige, Riesenhafte, Ungeheure des Ganzen, das der Total-Eindruck, in welchem alle einzelne zusammenlaufen. Locomotiven und Tender, Dampfmaschinen, Locomobilen, Dampfkessel, Kühlschiffe, Braupfannen etc., Turbinen, Wasserräder, Transmissionen, Maschinen für Bergwerks-, Hütten-, Mahl- und Schneidemühlen-, Brauerei- und Färberei-, Papierfabrikation- und Holzschleiferei-Anlagen, hydraulische, Stein- und Braunkohlen-Pressen, Krahne, Werkzeugmaschinen aller Art, Streich-, Kamm-, Baumwoll- und Flachsgarn-Spinnerei-Maschinen, Appretur-Maschinen, Webstühle und Weberei-Maschinen, überhaupt alle in das Maschinenbaufach einschlagende Maschinen und Gegenstände – das in allgemeinen Rubriken das Verzeichniß der Maschinen- und gewerblichen Werkzeuge, welche aus dem Hartmann’schen Etablissement hervorgehen, in einer Vollkommenheit, die kaum noch zu wünschen übrig läßt. Dies hat auch nicht nur das engere und weitere Vaterland des ehemaligen elsässischen Zeugschmiedes, sondern auch das Ausland anerkannt; auf allen kleineren und größeren Ausstellungen, zu Dresden wie in Berlin, in München wie in Paris und London, sind die Leistungen der Fabrik mit den ersten Preisen gekrönt worden.

Je weniger unserm Deutschland die Mittel zu Gebote stehen, welche in England und Amerika die Hauptfactoren des industriellen Fortschritts bilden – die überlegenen Capitalien und der freie, kühne Unternehmungsgeist – die Hunderte der wichtigsten deutschen Erfindungen nach dem Auslande gezogen und ausgebeutet haben, um so mehr müssen wir anerkennen, wenn Männer wie Hartmann es sich zur Aufgabe stellen, bei der Wahrnehmung ihrer materiellen Interessen doch niemals die höheren Gesichtspunkte aus dem Auge zu verlieren, nach Kräften in dem Kämpfe mit der ausländischen Industrie mitzuringen, deutsche Gewerbthätigkeit zu fördern, neue Ideen und Erfindungen zu begünstigen und mit kräftiger Hand aus- und durchzuführen, überhaupt im Geiste der Neuzeit zu wirken und zu schaffen. Und mit Stolz und Freude sehen wir, wie die deutsche Industrie immer selbstbewußter und energischer sich entwickelt und aufschwingt, wie sie Wohlstand, Selbstständigkeit und Unabhängigkeit im deutschen Volke befördert und dem Auslande Achtung abzwingt.




Blätter und Blüthen.


Liebesroman einer Prinzessin. Der jüngst verstorbene König Leopold von Belgien war in erster Ehe mit der Prinzessin Charlotte von England vermählt. Ein Auftrag der verbündeten Monarchen hatte ihn 1813 nach England geführt und nach dem ersten Pariser Frieden war er im Gefolge des Kaisers von Rußland wiedergekommen. Schon bei jenem ersten Besuche hatte er auf das Herz der jungen Prinzessin den tiefsten Eindruck gemacht. Als einziges Kind der höchst unglücklichen Ehe des damaligen Prinz-Regenten Georg’s des Vierten mit Caroline von Braunschweig zum Throne bestimmt, führte Prinzessin Charlotte ein freudloses Leben. Ihre Eltern hatten sich getrennt, ohne gerichtlich geschieden zu sein, und sie selbst hatte einen eigenen Palast und einen eigenen Hofstaat. Ihr Vater, von seinen Günstlingen und der vornehmen Modewelt als der erste Gentleman Europa’s bezeichnet, aber in Wirklichkeit der kälteste und herzloseste Mann, konnte ihr keine Liebe einflößen, und ihren Umgang mit der Mutter mußte sie sehr beschränken, nicht blos weil der tyrannische Vater es so befahl, sondern auch wegen des Hofs und der regierenden Königin, des geisteskranken Georg’s des Dritten Gemahlin, die als Mutter für Georg den Vierten und gegen Caroline von Braunschweig Partei nahm.

So unglücklich die gefühlvolle Prinzessin Charlotte war, sollte sie in eine noch weit schlimmere Lage kommen. Bald nach dem ersten Besuche des Prinzen Leopold kam der Erbprinz von Oranien nach London, von dem sie mit Schaudern hörte, daß er zu ihrem Gemahl bestimmt sei. Ihr tyrannischer Vater hatte so entschieden, und gegen seinen Willen ihre geheime Neigung zu einem armen Coburger Prinzen geltend zu machen, durfte sie nicht wagen. Ihrer Mutter erklärte sie: „Heirathen will ich, am liebsten gleich, um endlich einmal meine Freiheit zu erlangen, aber den Prinzen von Oranien nehme ich nicht. Er ist so häßlich, daß ich mich oft abwenden muß, wenn ich mit ihm rede, um meinen Abscheu zu verbergen.“ Als sie zu einer Gesellschaft geladen wurde, in der sie ihn treffen mußte, meldete sie sich krank und legte sich ein Blasenpflaster, aber am nächsten Tage fuhr sie zum Wettrennen und strahlte von Gesundheit. Sie hatte gehofft, daß der Prinz von Oranien sie verstehen und zurücktreten werde. Da dies nicht geschah, so änderte die schlaue Prinzessin ihre Taktik. „Der Prinz ist nicht so unangenehm, wie ich anfangs dachte,“ äußerte sie gegen einen Abgesandten ihres Vaters, und als der Letztere sie an einem der nächsten Abende bei Seite nahm und sie fragte: „Nun, soll aus der Sache nichts werden?“ antwortete sie: „Das sage ich nicht. Seine Manieren gefallen mir ganz gut.“

Der Prinz-Regent war so erfreut, daß er die Hand seiner Tochter in seine beiden Hände nahm und sie herzlich drückte. Seine Freude war übrigens nicht von langer Dauer. Prinzessin Charlotte stellte eine Bedingung, und zwar eine unannehmbare. Ja, sie werde den Oranier heirathen, sagte sie, aber auf keinen Fall verlasse sie England und gehe nach Holland. Der Prinz-Regent war wüthend, als er merkte, daß seine Tochter ihren Widerstand hinter einer Schutzmauer fortsetze. Er gab ihr seinen Unwillen auf jede Art zu erkennen, doch sie blieb fest. Es half nichts, daß die Mutter der Prinzessin, der man den Ungehorsam der Letzteren zuschrieb, vom Hofe ausgeschlossen wurde und daß die regierende Königin schon Brautkleider für ihre Enkelin bestellte. Als die Letztere hörte, daß man die Familie Oranien zur Hochzeit bestellt habe und daß der ihr bestimmte Bräutigam ihre Bedingung annehmen wolle, wurde sie unruhig. Sie entschloß sich zu einem heroischen Mittel, zu einer Zusammenkunft unter vier Augen mit dem Prinzen von Oranien. Was sie ihm bei dieser Unterredung gesagt haben wird, läßt sich aus der Thatsache schließen, daß er seinen Verzicht auf die Heirath erklärte.

Der Prinz-Regent gab das Spiel noch nicht verloren. Hatte er früher Staatsmänner gewählt, um seine Tochter zum Gehorsam zu bringen, so schickte er ihr jetzt Bischöfe und rief sogar einen erlauchten Vermittler, den Kaiser Alexander von Rußland, zu Hülfe. Die letzte Wahl war gerade nicht die glücklichste, denn im Gespräch mit dem Kaiser dachte die Prinzessin stets an einen jungen schönen Prinzen seines Gefolges. Es blieb mithin bei ihrem Nein. „Was denkt Charlotte?“ sagte der Prinz-Regent zu ihrer ersten Gesellschaftsdame. „So lange ich lebe, ist meine Tochter mir unterworfen, und wenn sie dreißig, vierzig Jahre alt wird. Von dem komischen und unsinnigen Gedanken, daß sie einen eigenen Willen habe, muß sie abkommen.“

Im Juli 1814 trat eine Katastrophe ein, die übrigens zu einer glücklichen Krisis wurde. Eines Abends fuhr der Prinz-Regent mit dem Bischof von Salisbury vor, ging zu seiner Tochter hinauf und schloß sich mit ihr ein. Nach einer dreiviertelstündigen Unterredung rief er den Bischof zu sich. Es verfloß einige Zeit, da wurde die Thür aufgerissen und die Prinzessin trat in der höchsten Aufregung heraus. Mit fliegenden Worten benachrichtigte sie ihre Damen, daß sie alle entlassen seien und auf der Stelle fortgehen müßten; sie selbst solle das Schloß ihres Vaters beziehen und Niemand sehen, als einmal wöchentlich die Königin. Ihre Damen beschworen sie, ruhig zu sein, aber sie fiel auf die Kniee und rief: „Allmächtiger Gott, verleihe mir Kraft.“ Dann sprang sie auf, eilte die hintere Treppe hinunter und ging hastigen Schritts die Straßen entlang, bis sie die erste Miethkutsche sah, in die sie sich warf. Sie flüchtete zu ihrer Mutter. Caroline von Braunschweig befand sich auf ihrer Villa. Indem man nach ihr schickte, ließ man zugleich ihren Anwalt, den jetzigen Lord Brougham, und den Herzog von Sussex rufen. Alle kamen und es kamen auch nachsetzende Beamte des Prinz-Regenten. Den Vorstellungen der Letztern verschloß sich die Prinzessin, ihrer Mutter und ihren Freunden mußte sie glauben, daß ihr Vater allerdings gesetzlich das Recht habe, über ihre Wohnung und ihren Hofstaat Verfügung zu treffen, so lange sie minderjährig sei. Sie fügte sich endlich, doch nicht ohne gegen Brougham bitter zu bemerken: „Sie sind einer der Führer des Volks und überliefern mich meinem Vater. O, das Volk würde mir beistehen!“

Da führte Brougham sie an’s Fenster und deutete auf den Park und die umliegenden Straßen, die bereits der erste Schimmer des Morgens erhellte. „Sie brauchen sich nur wenige Stunden später an derselben Stelle zu zeigen, wo Sie jetzt stehen,“ sagte er, „und die ganze Bevölkerung dieser ungeheuern Hauptstadt, die heute hier zu einer Wahl zusammenströmt, erklärt sich einmüthig für Sie. Dieser Triumph einer Stunde würde aber durch die unausbleiblichen Folgen, welche gleich die nächste Stunde bringen müßte, zu theuer erkauft sein. Truppen würden anmarschiren und das Volk zerstreuen und nie würde man Ihnen das Blut vergessen, das auf Ihre Veranlassung in einer ungesetzlichen Sache hier geflossen wäre.“

Die Prinzessin erreichte ihren Zweck ohne Kampf und Aufstand. Vor der Hand ließ ihr der Prinz-Regent ihren Hofstaat wie ihre eigene Wohnung, und nicht lange, so wurde Prinz Leopold, der inzwischen abgereist war, durch einen Courier zurückgerufen und erhielt die Hand seiner glücklichen Braut. Leider wurde der Bund der Liebenden schon im November 1817 durch den Tod der Prinzessin gelöst.



[64] Ein unermüdlicher Künstler. Tausende unserer Leser werden schon Deutschlands schönsten und deutschesten Strom, den sichern, die große Weltheerstraße, durchschifft und Interesse und Genuß ihrer Fahrt sich wesentlich erhöht und vervielfacht haben durch einen treuen Begleiter und Führer, der sie nirgends im Stiche ließ, der ihnen genau alle die Burgen und Trümmer, die Städte und Dome und Kirchen, die Hügel und Berge, die Felsen und Inseln zu nennen wußte, an denen der stolze menschenwimmelnde Dampfer oder der sanft gleitende Nachen sie vorüberschaukelte – wir meinen das weltbekannte und weltberühmte Delkeskamp’sche Rheinpanorama, dessen Correctheit und künstlerische Eleganz noch keine der zahllosen Nachahmungen, die nach ihm aufgetaucht sind, zu erreichen, viel weniger zu übertreffen und zu verdrängen wußte.

Friedrich Wilhelm Delkeskamp in Frankfurt am Main, wie er mit diesem seinem in vielen Tausenden (über 16,000) von Exemplaren verbreiteten „Panorama des Rheins von Mainz bis Köln“ der Erste war, der in einem fortlaufenden Vogelschaubilde die beiden Ufer des herrlichen Stromes zur Anschauung brachte, war es auch, dem wir jene handlichen malerischen Reliefs der Schweiz und einzelner ihrer Landschaften verdanken, welche uns die complicirte Configuration des merkwürdigen und schönen Alpenlandes besser veranschaulichen, als die gelungenste Specialkarte. Schon im Jahre 1830 erschien, eine Frucht jahrelanger Vorarbeiten und mehrjährigen Aufenthalts in der Schweiz, sein ausgezeichnetes „malerisches Relief des classischen Bodens der Schweiz“ von wahrhaft erstaunenswerther Genauigkeit der wiedergegebenen Einzelheiten bei vollkommen malerischer Totalwirkung; ihm folgte später „das malerische Relief der Schweizer und angrenzenden Alpen“, von dem bis jetzt zehn ganze und drei halbe Blätter vorliegen, ein Riesenwerk, welches die Bedeutung des Künstlers von Neuem auf das Glänzendste erweist. Ohne irgendwelche Unterstützung, die bei einem so großangelegten Werke so wünschenswerth gewesen wäre, war er rüstig an die Arbeit gegangen. Fünfzehn Sommer hindurch schaffte er in Berg und Thal mit unermüdlicher Ausdauer; vom sengenden Sonnenstrahl gebräunt, oft vom Gewittersturm erfaßt, in Schweiß gebadet, von Schneegestöber oder einem Nebelmeer umhüllt harrte er aus, ob auch halbe und ganze Tage lang das Unwetter ihn oft in eine elende Hütte, oder unter einen schützenden Felsblock bannte. Zwischen Steingeklüft, Gletschern und Schneefeldern hausend, von Gefahren mannigfacher Art umdroht, war er doch unendlich glücklich in diesem erhabensten Tempel der Natur, glücklich im Besitz der Gabe Alles treu und klar in so kleinem Raume darstellen zu können. Ueber achthundert hier und da sehr mißliche Standpunkte hat er besucht, um seiner Meisteraufgabe nach allen Seiten hin gerecht werden zu können.

Der Künstler hat jetzt bereits das siebenzigste Jahr überschritten, noch immer aber schafft seine kunstgeübte fleißige Hand mit alter Frische und Energie. Seine neueste Schöpfung giebt davon vollgültiges Zeugniß. Es ist der „malerische Plan von Frankfurt am Main und seiner nächsten Umgebung, nach der Natur aufgenommen und auf geometrischer Basis in Vogelschau gezeichnet“. Im Juni 1859 wurde das Werk begonnen und das vollendete trägt die Jahreszahl 1864. Fünf Jahre unermüdeten Schaffens, eine lange Zeit und doch, wenn man das Werk näher betrachtet und mit der Wirklichkeit bis auf’s Einzelste vergleicht, das genau wieder erscheint, kaum hinreichend. Die fein colorirte Originalzeichnung wird dem Senate der Stadt übergeben und in der Stadtbibliothek aufbewahrt werden und dadurch der Oeffentlichkeit erhalten bleiben. Zur äußeren Ermöglichung der Ausführung dieses großen Werkes haben die Frankfurter Behörden in liberalster Weise beigetragen. Der Plan umfaßt die Stadt und Sachsenhausen mit ihrem Weichbilde, soweit es mit Wohnungen bebaut ist.

Delkeskamp’s malerischer Plan tritt den neuesten Arbeiten der Art ergänzend zur Seite, indem er das Skelet der Stadt, zum anschaulichen Bilde belebt, darstellt und die ganze Stadt inner- und außerhalb der Thore selbst mit ihren neuesten baulichen Veränderungen und Gartenanlagen dem Blick im getreuesten Bilde darbietet. Die Gebäude sind genau nach der wirklichen Form wiedergegeben, nicht nach einem allgemeinen Schema; selbst die Gartenanlagen, z. B. der zoologische Garten, erscheinen in treuestem Bilde, eine überaus zierliche, aus hundert und hundert an Ort und Stelle entworfenen Zeichnungen zusammengesetzte Mosaik, kunstreich verbunden dazu einem harmonischen Gesammtbilde. Das Schwierigste war, die malerische Wirkung, wie sie die Originalzeichnung übt, im Stiche möglichst wiederzugeben, ohne ihr die Klarheit und Treue zu opfern. Die Tüchtigkeit der dabei thätigen Künstler, Friedrich Harchenhain und Philipp Dauch, sowie die selbstthätige Mitwirkung des Herausgebers bürgt für die getreue Wiedergabe der Zeichnung. Es könnte diese Arbeit als Vorbild für die Darstellung anderer größerer Städte dienen. Möchte sie in diesem Sinne wirken!




Die Uebersetzung von Richard Wagner’s Tannhäuser in’s Französische. In Paris lebte ein unbekannter junger Dichter, Eduard Roche, ein sehr begabter, talentvoller und unterrichteter Mann, den der Tod in der Blüthe der Jugend nach unaufhörlichen Anstrengungen und fruchtlosen Kämpfen dahingerafft hat, bevor es ihm gelang, sich einen Namen zu erringen und einige Sprossen auf der Leiter des Glückes zu erklimmen. Einmal jedoch schien sein Unstern müde zu werden, einmal schien „der Augenblick des Glücks“ für ihn zu erscheinen, der sich im Künstlerleben gewöhnlich nur ein einziges Mal zeigt und dann im Fluge ergriffen und benützt werden muß, ehe er für immer verfliegt.

Eines Tages, als Roche in seinem düsteren Zoll-Bureau auf dem Bahnhofe saß und arbeitete, wurde seine Aufmerksamkeit durch den Lärm einer heftigen Auseinandersetzung erregt, welche unweit seines Fensters stattfand. Ein eben angekommener Reisender, und zwar ein Deutscher, ereiferte sich bitter gegen die tausenderlei Formalitäten, mit denen man in Frankreich belästigt wird. Roche geht hinaus und hört bei den Streitigkeiten, daß der Fremde sich „Wagner“ nennt; da tritt er an ihn heran, verbeugt sich, beseitigt sofort alle Schwierigkeiten und sagt, als Wagner ihm seinen Dank dafür ausspricht:

„Ich bin sehr erfreut einem so berühmten Künstler gefällig sein zu können.“

„Wie, Sie kennen mich?“ ruft Wagner ganz überrascht, daß sein Name bei der französischen Mauth so gut angeschrieben sei.

Roche lächelt und beginnt statt jeder Antwort einige Melodien aus Tannhäuser und Lohengrin vor sich hinzusummen.

„O,“ sagt Wagner ganz entzückt, „das ist mir eine sehr gute Vorbedeutung. Der erste Pariser, dem ich begegne, kennt und schätzt meine Musik; das muß ich gleich an Liszt schreiben. … Aber wir müssen uns wiedersehen, mein Herr!“

Wagner suchte einen Uebersetzer des Textbuches vom Tannhäuser; Niemand eignete sich besser dazu, als Roche. Derselbe verwandte ein ganzes Jahr der angestrengtesten, eifrigsten Arbeit darauf und opferte diesem Vorhaben seine Tage und Nächte, denn er konnte natürlich nur die Zeit, welche ihm sein Amt freiließ, dazu benützen. So sehr er Richard Wagner bewunderte, so schilderte er ihn doch dabei als einen „schrecklichen Menschen“, der ihn unerbittlich zum aufreibendsten Fleiße antrieb.

Die Sonntage, wo nicht im Bureau gearbeitet wurde, nahm Wagner natürlich auch für seine Uebersetzung in Beschlag und dann war es mit irgend einem Gedanken an Ruhe und Erholung für den armen Roche vorbei.

„Um sieben Uhr Morgens,“ erzählte er, „saßen wir schon bei der Arbeit, und so ging es ohne Rast und Pause bis Mittag fort: ich, über meine Schreiberei gebeugt, mit Schreiben, Ausradiren und dem Aussinnen der Silbe, die gerade auf die und die Note und den Sinn paßte, beschäftigt, er, mit flammendem Auge und zorniger Geberde ungeduldig hin- und herlaufend, indem er im Vorübereilen auf das Clavier losschlug, sang und fortwährend ‚Vorwärts, vorwärts!‘ auf mich hineinschrie. Um zwölf oder ein Uhr, ja sogar oft erst um zwei, ließ ich erschöpft, halb todt vor Hunger, meine Feder fallen und war auf dem Punkte, ohnmächtig zu werden. ‚Was ist Ihnen denn?‘ fragte dann Wagner ganz erstaunt.

‚Ach, ich habe Hunger!‘

‚O, ganz recht, ich dachte nicht daran. Gut, essen wir schnell etwas und fahren dann fort.‘

Wir schlangen nun einige Bissen hinunter, dann ging es weiter, bis der Abend uns überraschte; ich fühlte mich ordentlich hin, der Kopf glühte mir wie Feuer und ich war halb toll von dieser rastlosen Hetzjagd nach den eigenthümlichsten Worten – aber er ging noch immer ebenso frisch und ohne jede Müdigkeit, wie früh beim Anfang unserer Arbeit, auf und ab, hämmerte auf dem Clavier herum, und sein eckiger Schatten, der beim Lampenschimmer an der Wand hin- und hertanzte, jagte mir zuletzt förmlichen Schrecken ein; er kam mir mit seinem ewigen, ‚Vorwärts, immer vorwärts!‘ wie eine der gespenstischen Personen aus E. T. A. Hoffmann’s Schauergeschichten vor, die mir kabbalistische Worte und geisterhafte Noten in die Ohren gellte.“

Die Uebersetzung wurde aber doch endlich fertig. Man weiß, wie in einem Zeitraume von drei Abenden alle Hoffnungen Richard Wagner’s in Paris scheiterten; mit denselben zugleich sank die letzte Verheißung für den armen Roche in ein Nichts zusammen. Wagner erholte sich schnell genug von dem momentanen Mißerfolg, seine kräftige, unerschütterliche Natur wurde davon nicht so tief berührt; aber Roche, der geglaubt hatte, nun endlich bei dieser Gelegenheit bekannt zu werden, sich emporzuschwingen, erhielt durch das Fiasco des Tannhäuser einen Schlag, den er nicht wieder verwinden konnte. Am darauffolgenden 16. December ist er gestorben.




Aus dem Herzen der Welt. Die meisten Freunde der Gartenlaube werden sich gewiß noch mit Vergnügen der durch Originalität, geistige Frische und Anschaulichkeit ausgezeichneten Skizzen und Mittheilungen erinnern, in welcher durch eine Reihe von Jahren, während seines langen Exils in London, Heinrich Beta die interessantesten Momente aus dem Londoner und überhaupt englischen socialen und öffentlichen Leben geschildert hat. Einen Theil dieser frischen Bilder hat jetzt der Verfasser mit anderen Darstellungen aus England in einem neuen zweibändigen Buche unter dem Titel: „Aus dem Herzen der Welt“ gesammelt, das als eine überaus fesselnde und sehr instructive Lectüre empfohlen werden kann und über welches sich schon andere bedeutende Organe der Presse dahin ausgesprochen haben, daß darin neben der Treue, Wahrheit und Gegenständlichkeit der Schilderung ein so herzerquickender Ton des Volkshumors lebt und webt, daß man nicht müde werde, mit dem Verfasser, der selbst bescheiden zurücktrete, von Straße zu Straße, von Markt zu Markt zu wandern. Beta’s politische und namentlich seine humanen Bestrebungen treten auch in diesem Werke wieder auf das Erfreulichste zu Tage.




Eine Supplik an den großen Kurfürsten. (Wortgetreu nach dem Original.)

Hochwürdigster, durchlauchtigster,
Großmächtigster und Allerunüberwindlichster,
Hochgeehrtester Herr Churfürst!

Treue Dienste geben treuen Lohn, sagt der Haushalter Sirach im 5ten Capitel. Euch thu ich hiermit zu wissen, daß der Kirchendienst zu Länkewitz anitzo ledig ist, und ich zu solchen Dienste sehr wohl geschickt bin, und wenn Eure Großmächtigkeit meine Person sehen und singen hören sollten, würden sie sagen: der Kerl ist bei meiner Seele mehr werth, als daß er Küster sein soll; er könnte wohl predigen. Daß aber unser Schulze, der Hunsvott, mir feind ist, das macht daß meine Frau eben so einen rothen Rock hat, als des Schulzen seine Frau, und wann ich den Dienst erst haben werde, so mir schon gewiß genug ist, will ich meiner Frau noch einen bessern Rock machen lassen, als des Schulzens seine hat, es mag den Hunsvott verdrießen oder nicht; und wann ich das Primarium kriege, muß es unser Schulze nicht wissen, sonst stößt ers wieder um. Ich verlasse mich ganz gewiß dazu, und verbleibe

Länkewitz, den 15. Februar 1688.
Hans Henkel.
Decret. Supplicanten werden nach abgelegter Probe sechs Ducaten bewilligt, und wenn er tauglich befunden wird, soll er den Dienst ohne Einwendung des Schulzen haben.
Friedrich Wilhelm, Churfürst.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.