Die Gartenlaube (1867)/Heft 14
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No. 14. | 1867. | |
„Ganz richtig, Schwester,“ versetzte Joseph unverändert. „Er – denn ein Er war’s! – nahm die Lampe, die, wo der Corridor in den wüsten Flügel biegt, vernünftigerweise aufgestellt war, mit sich und verschwand richtig – um die Ecke. Nun frage ich aber ernstlich,“ fuhr er fort, „was heißt das? Wer hat zu dieser Stunde hier etwas zu thun? Wer war es? Von den uns bekannten Hausgenossen schien es keiner. Soll das nur für uns ein Geheimniß sein, oder ist’s auch eines für Meister Tobias und Dame Katharina?“
„Nun, Gott gnade uns, wenn auch Du anfängst zu phantasiren, denn was wär’ es sonst?“ fragte Eugenie mit einem fast etwas verdrießlichen Lachen. „Als ob’s hier nicht auch ohne Gespenster langweilig genug wäre!“
„Herrin von Dernot – hört Ihr das und laßt es Euch gefallen?“ rief er munter aus und wandte sich zu der Genannten, die während des mitgetheilten Gesprächs in der tiefen Fensternische gelehnt hatte und schweigend in den trüben Tag hinein sah – wir hätten vielmehr Abend sagen sollen; denn obgleich es noch nicht die Stunde war, schien die Dämmerung doch schon zu kommen, so tief hingen die Wolken auf das Thal herab und so fest verschleierte der einförmig fallende Regen jede Aussicht. – „Herrin, was beschließet Ihr über Euch und Eure Getreuen? Bleiben wir und fangen Gespenster, oder – fliegen wir in’s väterliche Nest zurück und sagen demüthig pater peccavi?“
Durch die stillen Züge und das träumende Auge des schönen Mädchens flog ein leises Lächeln. „Spottet Ihr nur!“ sagte sie dann, einen scherzhaften Ton versuchend. „Ich lasse mich nicht irre machen. Papa soll sehen, daß ich es ernst nehme mit meinem Besitz. Ich will ihn auch in schlimmen Tagen kennen und lieben lernen.“ Der Scherz hatte nicht Stich gehalten, die letzten Worte klangen schon wieder aus dem wunderbaren Ernst hervor, der plötzlich über das ewig heitere, neckische, ausgelassene Kind gekommen war. Und ohne weiter etwas hinzuzufügen, verließ sie jetzt das Gemach.
„Verstehst Du das? Was um Gotteswillen ist mit ihr?“ fragte Joseph, der ihr nachgeschaut hatte, erst nach einer langen Pause und mit forschendem Blick auf die unruhig auf und abgehende Schwester.
„Da frage nicht mich,“ erwiderte sie ungeduldig. „Sie hat einmal wieder ihren Kopf aufgesetzt – und dann wird niemand aus ihr klug. Vielleicht haben es ihr die Gespensteraugen der alten Katharina angethan. Aber gleichviel, ich verwünsche den Einfall, Tante Kunigunden und Herrn von Heimlingen durch- und dem Onkel zum Trotz gerade nach Dernot zu gehen. Wer weiß, wann wir sie wieder fortbringen!“
Inzwischen war Esperance durch den Corridor und über die dunkle Treppe in’s untere Geschoß gegangen und in das Wohnzimmer des Verwalters getreten, wo sie um diese Stunde ziemlich sicher sein konnte, Frau Katharina zu treffen. Die Matrone saß auch wirklich an ihrem Spinnrad in der Nähe des Fensters, durch welches man auf den Hof und gegen das alte Thor schaute. Und da das Mädchen eintrat, erhob sie das Auge von ihrem Geschäft und ein langer, tiefer, fast zärtlicher Blick begrüßte die junge Gebieterin. Es hatte sich in diesen wenigen Tagen zwischen Beiden ein gar eigenes Verhältniß gebildet – durch die Worte, die sie mit einander wechselten, erfuhr man’s kaum; aber der Ton derselben und wie die alte, stille Frau und das lebhafte schöne Kind so gern bei einander weilten, wie sie einander anschauten, und wie sich der Ernst und die Stille der Einen leise, leise in den Jugendglanz und die Jugendlust der Anderen drängte, das zeigte wohl, wie tief die beiden anscheinend so verschiedenen Naturen einander verstanden und sich immer fester anzugehören begannen.
„Laßt Euch nicht stören, Mutter,“ sagte Esperance, da die Frau bei ihrem Eintritt den Fuß auf dem Trittbret ruhen ließ, – mit der Anrede hatte das Mädchen die Alte schon am ersten Abend begrüßt, obgleich sie auch in diesem Augenblick noch nicht wußte, ob die Verwalterin jemals Kinder gehabt hatte. „Ich komme nur ein wenig zu Euch,“ fuhr sie fort, sich auf den Stuhl in der Fensternische setzend, „weil mir die Anderen oben Dernot immer entleiden wollen. Ihr aber habt es lieb, und ich liebe es auch schon und möchte gar nicht wieder fort.“ Und nachdem sie das dunkele Köpfchen stützend einen Augenblick auf den dämmernden, todtenstillen Hof mit seinen dunklen alten Gebäuden hinausgesehen, fügte sie leise hinzu: „Lustig und heiter wird’s hier freilich auch wohl nicht, wenn die Sonne hereinblickt – man muß, es lieb haben, wie es ist.“
Zwischen dem Summen des Spinnrades versetzte die Matrone gedämpft: „Das ist recht, Fräulein. Da sind Sie eine echte Dernot. Freude und Lust darf man hier nicht suchen, aber das thut nichts. Die hierher gehören, haben doch ihr Herz nicht abwenden können.“
Esperance’s Augen ruhten ein paar Secunden lang träumerisch auf der alten Frau, bis sie leise und fast ein wenig bewegt sagte: „Mutter, das klingt beinah, wie der alte unfreundliche Müller zu mir sprach – es that mir weh, und ich bringe es [210] seitdem nicht aus dem Kopfe: es sei niemals Jemand auf Dernot glücklich gewesen, und seine alte Herrin am wenigsten, sage er.“
„Ja, ja,“ versetzte die Matrone – das Rad stand und ihre Augen hafteten jetzt auf dem schönen Mädchen; „der Augustin ist eben immer hart gewesen und geblieben. Er vergißt nichts.“
„Versteht Ihr seine Worte, Mutter?“ fragte Esperance noch immer gedämpft. „Hat er Recht?“
Das Rad summte wieder. „Recht hat er freilich,“ versetzte sie eintönig, „aber unrecht war es doch.“
„Und wißt Ihr davon, Mutter? Auch von der alten Herrin, wie er sie hieß?“
„Fräulein, ich bin ein Dernoter Kind und sogar hier im Schloß geboren. Meine Eltern und Voreltern sind immer hier gewesen, schon da die rechten Dernot noch hier hausten, ja früher, glaub’ ich. Da hört es immer Einer vom Andern, wie es vordem gewesen sein soll.“
„Erzählt Ihr mir nicht davon, Mutter? ich bin ja eine Dernot und sollte doch auch davon wissen.“
„Fräulein,“ entgegnete die alte Frau in einem beinah schwermüthigen Ton, und der Blick, den sie auf Esperance ruhen ließ, war voll Wehmuth, „es ist nicht viel, was da zu erzählen ist, und dennoch für Sie fast zu viel. Was soll all das traurige Zeug für Ihre frische Jugend und Ihr fröhliches Herz? Das geht besser zu Ende, wie der alte Bau ausgeht, in dem es passirte. Lassen Sie’s ruhen.“
„Bitte, Mutter, bitte!“ sagte Esperance innig. „Erzählt mir etwas, wenn auch nicht Alles. So etwas darf nicht vergessen werden von den Nachkommen, und der Bau hier soll auch nicht ausgehen, so lange ich seine Herrin bin.“
Es fiel von der alten Frau wieder ein tiefer Blick zu dem Mädchen hinüber, und dann fing sie an: „Wenn Sie es also wollen, Fräulein – wem das Land hier vordem gehört, ob hier schon ein Schloß gestanden und wie es geheißen, davon weiß ich nichts. Dann aber – es sind nun wohl dreihundert Jahre, vielleicht auch mehr – zog eine vornehme Familie hieher, weit aus fremdem Land, die hieß von der Not und hatte, wie ihr Name es besagte, draußen viel Noth gelitten um des Glaubens und der reinen Lehre willen. Die kauften das Land zusammen und bauten das Schloß oder hießen es doch nach sich. Aber Glück fanden sie hier auch nicht, nicht Frieden und nicht Gedeihen. Die Eheleute hatten sich nicht lieb und die Brüder haßten einander; die Kinder starben bei der Geburt, oder sie wurden groß mit Kummer und Sorgen, und ihre Eltern hatten keine Freude an ihnen, sie gingen auch wohl trotzig fort in’s weite Land und starben und verdarben. Und die Familie blieb immer klein, wie vornehm sie auch war, und ihr Vermögen wuchs auch nicht. So sagt man davon.
„Sie hießen aber noch immer ‚von der Not‘, bis einmal – es war eine Taufe im Schloß, und der Täufling starb dem Prediger unter den Händen, und die Mutter folgte ihm alsbald nach, – da sagte einer von den Zeugen zu dem armen Vater, was er auch den traurigen Namen trüge; der künde ja schon all das Unglück und binde es an das Haus und die Familie. Das nahm sich der Mann zu Herzen, und machte es so aus, daß man den alten Namen abthun und vergessen sollte, und von der Zeit an lautete es ‚Dernot‘ – es war eins, und doch anders.
„Aber mit ihnen wurde es darum nicht anders, es ging Alles den gleich schweren Weg, Jahr aus Jahr ein, und als dann auch der Feind kam und plünderte und brannte – mein Mann hat Ihnen wohl davon gesagt –, da ging es auch mit ihrer Habe zu Ende: Grund und Boden trug damals nicht viel und hatte sehr geringen Preis. Da verkauften sie dies, da verkauften sie jenes, da kriegten die Besseling die Mühle frei, und der Baron von Treuenstein – sie heißen ihn noch immer den Oberjägermeister – der bekam Deuffingen und dann den ganzen Dernoter Wald und immer mehr, und zuletzt blieb dem alten Anselm Dernot, der hier oben saß, nichts übrig als das Schloß und ein paar Aecker und Matten thalaufwärts.
„Der Anselm aber ist auch der letzte Mann seines Stammes gewesen; einen Sohn soll er gehabt haben, der ist aber dem Vater feind geworden, in den Krieg gezogen und man hat nicht wieder von ihm gehört. So blieb ihm nur noch eine Tochter, die hieß Euphemia. Und da es vordem ausgemacht worden war, daß bei den Dernot nicht blos die Söhne erbten, sondern, wenn keine da, auch die Töchter die Erbschaft behielten mit vollem Recht und im festen Besitz, so mußte Alles, was noch übrig, nach Herrn Anselm’s Tode auf die Euphemia übergehen, und wie’s bis dahin ‚Herren‘ von Dernot gegeben, hieß sie dann die ‚Herrin‘. Vordem soll schon einmal eine solche Erbtochter hier gesessen sein, aber von der wissen wir nichts Rechtes, und die meinen wir auch nicht, wenn wir von der ‚Herrin‘ sprechen, sondern die Euphemia.“
„Die Euphemia,“ fuhr die Erzählerin fort, das Spinnrad summte stets gleich eintönig weiter, ebenso rieselte draußen der Regen und im Zimmer wurde es immer dämmeriger – „die Euphemia ist ein Engel auf Erden gewesen, so schön und so gut. Freude auf Erden hat die nicht gehabt; ihre Mutter war früh gestorben, ihr Bruder verschollen, der Vater krank und schwach, und sie waren so arm, daß sie oft zu sorgen hatten, wie sie nur den Hunger stillen sollten. Und nun wurde Herr Anselm immer kränker und legte sich zum Sterben, gramvollen Herzens; wohin er auch sah, für sein Kind fand er nichts als Noth und Elend, jetzt und immerdar, und er wußte keine Stütze für sie und keinen Freund. Der, auf den er noch immer gehofft, sein ältester Freund und treuester Nachbar, der Herr von Oos auf Herzheim, war vor einem halben Jahr gestorben, und sein Sohn Julian stand seit Jahr und Tag beim Heer des Kaisers unter dem Prinzen Eugen gegen die Franzosen, hatte seit lange nichts von sich hören lassen und war auch auf die Nachricht vom Tode seines Vaters nicht heimgekommen. Und das hat sich nicht am wenigsten Euphemia zu Herzen genommen, denn sie und der Julian haben sich lieb gehabt seit ihren Kindertagen.
Da, in den allertraurigsten Stunden, ist der Herr von Treuenstein, der Oberjägermeister, hier eingeritten, und da er ein alter Herr war, ein stolzer Cavalier und hochangesehen, und gegen Herrn Anselm von jeher wie ein Mann von Ehre gehandelt hatte, so nahm’s der Sterbende für einen Wink des Herrgotts an, ward froh, bat den Baron, daß er seines Kindes Ehre und Habe in seinen Schutz nehme als getreuer Vormund, und starb noch in der gleichen Nacht beruhigten Herzens. Der Baron ließ ihn begraben, wie es sich für solch’ einen Herrn schickte, und führte die verwaiste Herrin von Dernot mit sich fort auf seine Besitzungen. Auch bestellte er treue Verwalter, daß sie das Schloß in Obhut nahmen und dem heruntergekommenen Besitz durch rechte Bewirthschaftung wieder aufhalfen.
Der Baron war ein alter Mann, er hatte schon seine zweite Frau begraben und verheirathete Töchter, aber sein Blut war noch nicht ruhig geworden. Und da er nun die Euphemia immer um sich sah und ihre Schönheit anschaute, ihre Lieblichkeit und Güte, da entbrannte sein Herz zu ihr und er warb um sie in Güte und dann mit Härte und Gewalt, und wie sie auch widerstrebte, wie sie bat und flehte, sich zu ihrer alten, treuen Liebe bekannte, – es half ihr alles nichts. Der Herr Julian war nicht da und der Baron wollte auch nichts von ihm wissen, und die Herrin von Dernot mußte die Gemahlin des Oberjägermeisters werden. Glück und gute Tage aber hat sie auch dann nicht gehabt. Herr von Treuenstein war kein milder und freundlicher Mann, und daß die Dame ihm so lange getrotzt und widerstrebt und ihm den ‚verschollenen Bettler‘, wie er Herrn Julian geheißen, immer vorgezogen, hat er ihr nie vergeben und vergessen. Sie ist aber bald gestorben.“
„Als ich ein Kind war, und der Herr Baron August hier noch wohnte,“ sprach die Matrone nach einer kurzen Pause noch einmal weiter, „war in des Herrn Cabinet, wo Sie jetzt schlafen, Fräulein, ein Bild von ihr, darauf war sie als ganz junge Frau, man hat’s nicht ansehen können, ohne daß einem Thränen in’s Auge kamen: so schön war sie, so jung und so sterbenstraurig. Der Herr hat es auch fast immer mit einem Schleier bedeckt gehabt. Als er starb, ist es mit anderen Nachlaßstücken von seinem Herrn Bruder, Ihrem Großvater, fortgenommen worden – es hätte wohl nicht sein sollen, denn hierher gehörte es, auf ihr altes Schloß und Eigenthum, und an keinen anderen Platz. Ich weiß nicht, ob man es aufbewahrt hat. –“
„Das ist es, Fräulein, was ich Ihnen von diesen alten, traurigen Geschichten zu erzählen weiß,“ schloß Frau Katharina mit einem tiefen Athemzuge ihren Bericht.
„Mutter,“ sagte Esperance nach einer langen Pause in gepreßtem [211] Ton, „Ihr habt mir nicht alles erzählt, gerade von der armen Euphemia wißt Ihr sicherlich noch viel mehr. Und die – sie ist ja zwiefach meine Ahnfrau! – die möchte ich gern ganz kennen lernen.“
Die Dämmerung hatte inzwischen so rasch zugenommen, daß der Hintergrund des Zimmers bereits dunkel war und selbst hier vorn, in der Nähe des Fensters, das letzte schwache Licht kaum noch hinreichte, die Gestalt und das Gesicht Frau Katharinens dem Auge des Mädchens sichtbar bleiben zu lassen. Die Züge und den Ausdruck konnte Esperance nicht mehr unterscheiden, aber die dunkeln Augen sah sie sich erheben – ernster und tiefer, meinte sie, als je.
„Ja, Fräulein – lügen kann ich nicht,“ klang die Stimme der alten Frau, „man erzählt sich noch mehr davon. Man sagt, Herr Julian sei zurückgekommen, der Baron habe ihn bei seiner Gemahlin gefunden und ihn erstochen. Ob es wahr ist, das weiß ich nicht, und zu Ihnen kann ich auch nicht davon reden. Gewiß aber ist, daß die Baronin zuletzt eine kurze Zeit hier ganz einsam lebte und, nachdem sie einen Knaben geboren hatte, starb, kaum dreiundzwanzig Jahre alt. Der Oberjägermeister hat darauf sein Kind zu sich genommen, und dieses – es war Ihr Urgroßvater – hat das Andenken seiner seligen Mutter stets in Ehren gehalten. Er hat die Herrschaft Dernot wieder auf ihren früheren Umfang gebracht, das Schloß neu emporgerichtet und es nicht selten bewohnt, und da er starb, beides seinem Sohn, dem Baron August, hinterlassen. Von dem ist es hernach an Ihren Herrn Großvater, des August älteren Bruder, zurückgefallen.“
Es war eine lange Zeit still im Zimmer und die Dämmerung wurde immer tiefer; da sagte Esperance leise: „Oos von Herzheim – so hat meine Mutter als Mädchen geheißen. Kanntet Ihr sie, Frau Katharina?“
„Ja, Fräulein. Als sie noch klein war, kam sie mit ihrem Vater wohl einmal zum Baron August – ein schönes, liebes, heiteres Kind. Damals haben auch Seine Excellenz, der Herr Vater, sie hier zuerst kennen lernen.“
Esperance war still zu der Matrone gekommen, noch stiller aber schied sie endlich von derselben, um die Verwandten wieder aufzusuchen. Die Worte des Müllers, die einen so tiefen Eindruck auf das Mädchen gemacht, hatten in der Erzählung der alten Frau einen Nachhall gefunden, welcher fast schmerzhaft durch Esperance’s Unbefangenheit und frohherzige Jugendlust hinzitterte. „Von der Not – das also meinte er!“ flüsterte sie vor sich hin, da sie die von einer Lampe jetzt nothdürftig erhellte Treppe hinanstieg und droben über den kleinen Vorplatz schritt. „Auf Dernot ist nie Jemand glücklich gewesen. Und nun ist’s mein, und nun muß auch ich –“
Sie brach ab und stand, wo der Corridor sich vor ihr öffnete, der an den bewohnten Gemächern vorüberführte und seit ihrer Ankunft Abends gleichfalls durch eine Lampe beleuchtet wurde. Unter dieser, so, daß alles Licht der kleinen Flamme gerade auf ihn fiel, schritt ein Mann in dem Gange hin, eine mittelgroße, mehr hagere als starke Gestalt und in dunkler Kleidung, welche ihren Träger den besseren Ständen zuzuordnen schien. Er ging rasch und so leicht, daß trotz der tiefen, rings herrschenden Stille kaum ein Tritt für das Ohr des lauschenden Mädchens wahrnehmbar wurde. Und das Haupt ein wenig geneigt, wie in Gedanken, schritt er so stetig fort, als sei der Weg ihm ein altgewohnter, und anscheinend so unbekümmert, als sei ihm die Beobachtung oder Begegnung eines Fremden völlig gleichgültig.
Die Mittheilungen der Zofe und Joseph’s, die Esperance vorhin kaum beachtet, kamen ihr plötzlich in den Sinn – war dies der Spuk der Einen und der Unbekannte des Anderen? – Und durch des Mädchens eben noch erstaunte Züge flog ein fast trotziges Lächeln: ein Spuk war das da nicht, sondern ein Wesen von gutem Fleisch und Blut, aber unbekannt war er ihr freilich, und – dennoch im Eigenthum der Herrin von Dernot?
Sie erhob den kleinen Kopf und ihr Auge blitzte: das sollte nicht sein! – Sie flog ihm nach, leichten Schritts und fast so unhörbar wie er – er war jetzt beinahe schon droben an jener Ecke, wo Joseph in der vorigen Nacht den Fremdling hatte verschwinden sehen. Weiter durfte er nicht, denn dort ging es in den wüsten Südflügel hinein und die Nacht lag voraussichtlich in diesen öden Räumen mit ihrem tiefsten Dunkel, so daß, selbst wenn Esperance sich hätte hinein getrauen mögen, daselbst von einer Verfolgung und Entdeckung keine Rede sein konnte. Sie öffnete die Lippen zu einem Ruf – da – hatte er dennoch ihren Schritt vernommen? – stand er plötzlich und wandte sich langsam ihr zu, und ein paar Augen schauten ihr entgegen.
Das Herz schlug ihr, aber sie nahm sich zusammen und trat ihm entschlossen näher. „Mein Herr –“ sagte sie.
„Herrin von Dernot – Du bist’s, ich kenne diese Züge!“ unterbrach sie eine tiefe, ruhige Stimme, und durch das blasse Gesicht flog ein leises Lächeln; „was kreuzest Du meinen Pfad, da ich Dir doch fern bleibe?“
Sie fühlte eine heiße Röthe in die Wangen und auf die Stirn steigen, die seltsame Anrede reizte sie zu einer herben Antwort. Und dennoch entrang sich ein tiefer Athemzug der Befriedigung ihrer Brust, als sie nicht fern hinter sich eine Thür aufgehen und gleich darauf Joseph’s Stimme rufen hörte: „Esperance, bist Du das?“
Einen Augenblick stand der Vetter neben ihr und indem sein Auge den Fremdling nicht allzu freundlich maß, sprach er hastig: „Was heißt dies? Ach, der Nachtvogel, glaub’ ich gar? Wer sind Sie, Herr, und wie tragen Sie’s, Fräulein von Treuenstein –“
„Fräulein von Treuenstein hat Niemand weniger zu fürchten als mich,“ fiel ihm der Mann in’s Wort, durch dessen Züge ein finsteres Lächeln glitt. „Niemand sollte ihr näher stehen, denn ich trage den gleichen Namen –“
„Leopold, Bruder Leopold!“ rief sie, seine Hand ergreifend, leidenschaftlich aus, „ist es möglich?“
„Ja, der bin ich, der Ausgewiesene,“ versetzte er, und wie sein Auge auf dem glühenden, liebreizenden Geschöpf da vor ihm ruhte, mußte es wohl milder werden. „Ich wollte die Leute hier, welche mich trotz des Befehls aufnahmen, nicht unglücklich machen und wich Euch aus, wie sehr mich auch mein Herz zu der kleinen unbekannten Schwester zog. Nun blieb ich dennoch stehen, Esperance, und sah Dich. Jetzt aber weiche ich auch.“
„Weichen?“ rief sie, ihn ungestüm umschlingend, leidenschaftlich aus. „Weichen, da ich Dich kaum gefunden, Du Unbekannter, Ersehnter, Geliebter? Wer wagt Dich zu vertreiben, wenn ich Dich halte?“ Und das Köpfchen erhebend, fügte sie halb lachend, halb weinend, jubelnd hinzu: „Sag’s noch einmal, Joseph, unlogischer Mensch, daß meine tolle Reise ein dummer Streich! Ich hab’ es wohl gewußt, daß ich auf Dernot das Glück finden werde, wie unglücklich auch alle die Anderen waren! Siehst Du, siehst Du! O Leopold, einziger Bruder, Dich hab’ ich hier gefunden und gewonnen!“
Die Entdeckung des nie gekannten und dennoch stets geliebten und ersehnten Bruders, in der Esperance neben der augenblicklichen, rein persönlichen Freude und Befriedigung eine Art von Schutz gegen all’ das alte, im kleinen Schloß hausende und über ihm brütende Unheil und gewissermaßen ein Pfand des eigenen Glückes finden wollte, schien in ihrer Wirkung auf alle Bewohner Dernot’s ein solches Vertrauen des enthusiastischen jungen Herzens wirklich zu rechtfertigen. Aus dem Spuk des Einen und dem räthselhaften, jedenfalls bedenklichen Fremdling des Anderen war der willkommenste und liebste Gast hervorgegangen; das Geheimniß, das wieder Andere verstimmt und mit Besorgniß erfüllt, war ohne Nachtheil für die Eingeweihten aufgeklärt worden; das Unbehagen, das Alle umfangen, das Träumen und Sinnen, das Dernot’s junge Herrin eingesponnen, die schwermüthigen Schatten, die sich durch das alte Haus lagerten und sich über die Menschen breiteten, Alles schien, und wie sich bald zeigte, nicht blos für den ersten Augenblick, verschwunden.
„Siehst Du wohl,“ sagte Esperance an dem Abend noch einmal, sie saß auf des wiedergefundenen Bruders Knie und hatte den Arm um ihn geschlungen, und ihr Auge blickte lächelnd und voll glückseligen Uebermuths zu Joseph hinüber, „siehst Du wohl, wie es mit Deinem dummen Streiche steht? Habe nicht ich uns vor einem solchen bewahrt, da ich nicht fort und nicht heim wollte als in Sack und Asche trauernde bußfertige Sünderin? Hab’ ich’s nicht gewußt, daß wir auf Dernot Lust und blaue Tage finden würden?“
[212] Eugenie, deren blaues Auge gleichfalls bei weitem heiterer und klarer blickte, als am Nachmittag, deutete ohne ein Wort gegen das Fenster, an dessen Scheiben der Regen schlug, und Joseph fügte lachend hinzu: „Wahrhaftig, Gebieterin, das heißt man eine demonstratio ad hominem oder auch ad absurdum geführt – beides! Ich habe von Deinem ‚Blau‘ noch nichts zu sehen bekommen, conträr, gerade seit wir in Deiner Terminei sind –“
„Haben wir alle geschmollt und verdrießliche Augen gemacht,“ unterbrach sie ihn lustig. „Wir verdienten gar keine guten Tage. Selinde würde sagen: ‚Unseren Seufzern antworteten die Thränen des Himmels!‘ Jetzt wird’s besser werden. Der hier,“ und ihr Auge blickte glänzend in das des Bruders, „bringt uns blaue, lustige Tage! Jetzt erst beginnt unser fröhlich Regiment. Gebt nur acht!“
Es war der erste Abend, an dem man wieder Esperance’s glockenhelles Lachen vernahm und auch Eugenie – man möchte sagen – aufleben sah; Die kostbare Stunde der Nachttoilette, welche in den vergangenen Tagen so rasch wie möglich und unter seriösem Schweigen absolvirt worden, war heute voll Lust und Plaudern, voll Neckereien und übermüthigen Einfällen, und noch aus den Betten flog ein paar Mal ein Scherzwort durch das dunkle, stille Gemach. Hatte doch selbst Selinde heute nicht einmal geseufzt, sondern nur ihre tiefste Befriedigung kundgegeben, daß sie Zeugin so romantischer Ereignisse und Auflösungen sein dürfe.
Und am nächsten Morgen war es wirklich nicht mehr der trübe, mühsam sich aus der Dämmerung ringende Tag, der in verdrossene oder schwermüthige Augen blickte; über den Bergen drüben, wo damals das Gewitter aufgestiegen und von denen seitdem all die schwer schattenden Wolken daher trieben, da breitete sich heute ein leuchtendes Blau aus und rückte höher und höher.
Es hatte Alles ein anderes Ansehen gewonnen, die Menschen, das alte Haus mit seinen öden Räumen, und Frau Katharina hatte doch nicht Recht gehabt, als sie meinte, heiter sei Dernot niemals. Das sah man heute wohl, wo ein Sonnenstrahl sich selbst in den dämmigen Corridor hineinwagte und die schweren Vorhänge sich behaglich in der prachtvollen Luft und dem hellen Licht wiegten, welche durch die geöffneten Fenster erquickend hereindrangen, und wo sogar der Schloßhof hell wurde bis auf den Grund.
Aber auch an den Menschen fand sich, wie gesagt, diese Wandlung wieder. Die jungen Leute schienen erst jetzt ihre rechte gewohnte Weise wiedergefunden zu haben, Joseph war ein munterer, neckischer Gesell und Eugenie rechtfertigte das Urtheil der Tante über sie mehr als einmal durch die übermüthigsten Einfälle. Aber auch Frau Katharine blickte heut ganz anders, freundlich und vertrauensvoll darein, und Meister Tobias war ohne Widerrede der Glücklichste von Allen. Der kleine dicke Mann war kaum wieder zu erkennen, so lief, ja tanzte er beinah umher, so zutraulich war er, so strahlte sein gutes altes, ein wenig kupferiges Gesicht vom innerlichsten Behagen. „O lieber Gott, ja,“ gab er lustig zu, „ich könnte immer singen und tanzen, wenn ich die gnädige Herrschaft so einträchtig bei einander sehe. Es war diese Tage auch gar zu unplaisirlich!“
„Eure Schuld, Meister,“ erwiderte Esperance, welche durch ihre Neckerei diese Entgegnung veranlaßt hatte. „Eigentlich sollte ich es Euch und der Dame Katharine nicht so hingehen lassen, daß Ihr solches Mißtrauen gegen mich hegtet. Ja, ich glaube beinah,“ fügte sie mit einem munteren Blick auf die Matrone am Spinnrade hinzu, „Ihr, Mutter, habt noch mehr verbrochen – Eure traurigen Geschichten sollten mich am Ende blos fortjagen?“
Die Frau schüttelte den Kopf. „Fräulein, Sie haben es selber gewollt und nicht ich,“ sagte sie ruhig. „Mir war das Herz schwer genug um den armen Herrn, der nun doch vielleicht vor Ihnen weichen mußte – wie konnt’ ich’s anders glauben? – und auch um Sie selbst. Sie sah ich, wie’s von den alten Dernotern heißt: die blickten, jung und alt, nur ernst in’s Leben oder traurig. Und wenn es hier anders werden soll, muß die Herrin von Dernot ein fröhlich Herz haben und helle, vertrauende Augen, – so, wie heut die Ihren. Das ist mein Glaube.“ – –
„Hieltest denn auch Du es für möglich, daß ich Dir feindlich gegenüberstehen könnte?“ fragte Esperance später den Bruder. Es war nicht die erste Frage dieser Art, aber er schien sie bisher überhört zu haben.
Jetzt zuckte der ernste Mann – denn wie sichtbar ihn die heitere, zärtliche Schwester auch beglückte, selbst munter und sorglos gleich den Uebrigen blickte er darum nicht – die Achseln und versetzte: „Kind, wie konnte ich darüber ein Urtheil haben? Was wußte ich von daheim, von Dir? Und wenn nicht an mich, mußte ich nicht an Dich denken, was die Begegnung mit mir für Folgen haben könnte für Dich? – Aber laß uns schweigen von diesen traurigen Zuständen.“
„Nicht doch,“ rief sie und zog seinen Arm fester an sich. „Du wichst mir seither aus – ich merkt’ es wohl! Nun aber, sprich – von Dir, von dem Vater. Was –“
„Kein Wort davon,“ unterbrach er sie lebhaft. „Ich klage nicht an, ich vertheidige nicht. Vielleicht ist der Vater, wie er Alles ansehen muß, im vollen Recht, aber auch ich vermag mich nicht im Unrecht zu sehen, – das ist heute, wie damals, als wir schieden. Das muß Dir genügen. Die Einzelnheiten sind nicht für Dich. Lasse uns an einander froh sein. Wer weiß, wie bald diese freundlichen Stunden enden und das Scheiden kommt.“
„O, in Dernot sucht man uns nicht,“ lachte sie ein wenig gezwungen. „Der Vater hört ja nicht einmal den Namen gern.“ Und zu ihm aufblickend fügte sie in einem gewissen leichten Tone hinzu: „Kennst Du den Grund dieser Antipathie?“
„Nein,“ erwiderte er kurz, und erst nach einigen weiteren Schritten fragte er mit einem schwachen Lächeln: „Sage Du mir lieber, wie Ihr auf diese wunderliche Reise gekommen seid.“
Ihr Auge erhob sich rasch und doch ernst zu ihm und ihre Lippen öffneten sich bereits, als wollten sie ihm schnell – vielleicht etwas Unerwartetes – antworten. Im nächsten Moment aber wechselte der Ausdruck ihres Gesichts wieder, und als sie nach einer Pause sprach, war es ihr gewöhnlicher, munterer, fast ein wenig schalkhafter Ton, in dem sie sagte: „Ja, gelt, unsere Geheimnisse wollt Ihr uns entlocken und die Euren darf Niemand erfahren! – Aber in Gottes Namen,“ fuhr sie lächelnd fort, „es ist einfach genug. Eugenie und ich waren neugierig auf dies – verbotene Dernot und fanden einen Incognito-Ausflug unter Joseph’s Schutz entzückend. Und da wir uns daheim langweilten und Tante Kunigunde sich auf das Heirathsstiften legte, so verschrieben wir uns Joseph und gingen auf und davon. Mit dem Incognito ward es freilich nichts,“ schloß sie. „Der grobe Müller erkannte mich gleich. – Bin ich denn dem Vater wirklich so ähnlich?“
„Das wird er wohl kaum gemeint haben,“ entgegnete Leopold; „die Aehnlichkeit überspringt, wie man sagt, nicht selten eine Generation, und so weit ich mich der Bilder entsinne, gleichst Du allerdings dem Großvater, besonders aber dem Großonkel August, dem Besitzer Dernots, auffallend, – mit einem Wort, Du hast die Dernoter Züge. Es hing vordem im Zimmer meiner Mutter neben dem Bilde des Großonkels auch das der armen Euphemia – so hieß Deine Vorgängerin, die ‚Herrin von Dernot‘, die Letzte dieses Hauses. Sie war die Großmutter August’s und hatte dem Enkel ihre Züge hinterlassen. Und als ich Dich gestern Abend in der Nähe sah,“ schloß er freundlich sie anblickend, „fand ich diese, wie gesagt, auch an Dir wieder.“
Sie sah zerstreut den Pfad entlang, der sich anmuthig, an jungen Ansamungen vorüber und über kleine, üppig grünende Blößen, dem über die ganze Westseite des Thales ausgebreiteten prachtvollen Hochwalde entgegenschlängelte. Und erst nach einer Weile versetzte sie gedämpft: „Von ihr erzählte Katharina mir gestern Abend, auch von dem Bilde, aber von der Aehnlichkeit sagte sie nichts. Es ist doch seltsam,“ setzte sie, zu ihrem Begleiter aufblickend, nach einer kleinen Pause hinzu, „daß ich die beiden Bilder gar nicht kenne. Warum sind sie nicht bei den anderen, oder wo überhaupt sind sie?“
„Der Vater liebte sie, wie ich glaube, nicht,“ entgegnete Leopold ruhig. „Ich erinnere mich zufällig, daß er einmal, da er in’s Zimmer meiner Mutter kam – oft geschah das nicht, Kind, die Eltern sahen sich meistens nur Mittags bei Tisch oder vielleicht Abends, eine derartige Bemerkung über die Bilder machte und sich verdrießlich abwandte.“
Die Vorstellung des Shakespeare’schen Othello war beendet; das erschütterte Publicum rief den berühmten Gast, der hier die Hauptrolle zum ersten Male spielte, immer von Neuem mit fanatischer Begeisterung. Da ich mich zu den ältesten Freunden des genialen Künstlers zählen durfte, so eilte ich nach dem Fallen des Vorhangs in seine Garderobe, um ihn zu begrüßen und zugleich ihm meine Bewunderung auszudrücken. Gegen seine mir bekannte Gewohnheit fand ich ihn überaus schweigsam und sichtlich angegriffen. In finsterem Brüten stand er da, aus dem er nach einigen Augenblicken auffuhr, indem er langsam mit seiner Hand
über die hohe bleiche Stirn strich, als wollte er gewisse trübe Erinnerungen verscheuchen. Obgleich meine Theilnahme durch sein seltsames Benehmen auf das Höchste gespannt wurde, wollte ich mich nicht in sein Vertrauen drängen. Auch war er sichtlich mit seinen Gedanken zu sehr beschäftigt, um mich zu beachten. Erst nach einer Pause gewann er wieder die Herrschaft über den stürmisch aufgeregten Geist, so daß er mich bemerkte und mit hinreißender Freundlichkeit seine Zerstreutheit entschuldigte.
„Verzeihen Sie!“ sagte er lächelnd, „mein Benehmen muß Ihnen befremdlich erscheinen, aber wir Künstler sind einmal ein eignes Völkchen. Selbst unsere besten Freunde wissen wenig oder gar nichts von unserem inneren Leben. Niemand ahnt unsere Leiden, unsere tiefen Schmerzen, die wir vor der Welt verbergen. Wir müssen oft lächeln, wenn das Herz uns brechen will, und wie die römischen Gladiatoren empfangen wir den Todesstreich unter dem Jauchzen der Menge. Das Publicum glaubt, daß wir nur mit den Leidenschaften spielen, nur das fremde Unglück darstellen, nur eine auswendig gelernte Rolle mit mehr oder weniger Empfindung wiedergeben, daß wir Liebe und Eifersucht, Haß und Verzweiflung nur heucheln, nur die Zuschauer täuschen wollen. Wer aber, wie ich, einen Blick hinter die Coulissen des Theaters gethan, der weiß, daß nur zu oft sich unter dem gaukelnden Schein der tiefste Ernst, die furchtbarste Wahrheit birgt, daß der lachende Komiker an sein krankes Kind oder an seine sterbende Frau denkt, der angestaunte Held vor dem Schuldgefängnisse zittert, die ausgelassene Soubrette ein armes verrathenes Weib ist, das sich vielleicht nach der Vorstellung vergiften oder mit Kohlendampf ersticken wird. Nicht seitens stellen wir auf der Bühne das eigene Leben dar, wiederholen wir fast Wort für Wort unsere eigenen Gedanken, fühlen wir dieselben Qualen, dieselbe Pein, welche wir in einer uns angedichteten Gestalt darstellen. Und ich selbst will Ihnen die Wahrheit des soeben Gesagten aus meinem eigenen Leben bestätigen. Bin ich doch ebenso selbst Zeuge gewesen, wie ein Schauspieler in der Rolle eines zärtlichen Vaters, der den Tod seines geliebten Kindes erzählt, davon so erschüttert wurde, da er selbst kurz vorher seine blühende Tochter verloren hatte, daß er vom Schlage getroffen sterbend auf den Boden hinsank, während das Publicum, ohne davon eine Ahnung zu haben, der Leiche wegen des ausgezeichneten Spiels Beifall klatschte.“
„Entsetzlich!“ rief ich erschüttert. „Ich fange jetzt an, Ihre eigene Aufregung bei der Darstellung des Othello zu begreifen. Sie müssen, wie ich ahne, alle Qualen der Eifersucht an sich empfunden haben, um sie so meisterhaft darzustellen.“
Er nickte nur einige Male wie zustimmend, sagte aber kein Wort. Währenddem hatten wir das Theater verlassen und waren [214] fast unmerklich in die Wohnung des Künstlers gekommen, wo uns ein gedeckter Tisch erwartete. Er selbst genoß so gut wie nichts und auch ich war zu gespannt, um mich mit dem elegant servirten Souper aufzuhalten. Nachdem der Diener abgeräumt und sich entfernt hatte, nahm mein Freund die unterbrochene Unterhaltung wieder auf.
„Ich weiß nicht, ob Sie die Geschichte meiner Jugend kennen. Wenn ich nicht irre, so habe ich Ihnen einmal mitgetheilt, daß ich von jüdischen Eltern abstamme und unter den ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsen bin. Wie der Mohr, gehörte auch ich einer fremden, verachteten Nation an, traf auch mich der Fluch des Vorurtheils, unter dem ich schwer gelitten habe. Doch ich überwand mit der Zeit alle Hindernisse und wenn ich auch nicht, wie Othello, General geworden bin, so wurde ich doch wenigstens ein passabler Schauspieler.“
„Sagen Sie, ein Künstler im schönsten Sinne des Wortes.“
„Wenn ich ein solcher bin, so hat mich Othello dazu gemacht, oder vielmehr die Liebe und die Eifersucht, die miteinander wie Licht und Schatten verbunden sind. Es ist das eine seltsame Geschichte, die Sie von mir heute erfahren sollen, obgleich die Erinnerung daran mir noch immer schmerzlich ist.“
Bevor er seine Erzählung begann, schenkte er das vor ihm stehende Glas mit duftendem Rheinwein voll und leerte es auf einen Zug, als wenn er sich zu einem schweren Werke stärken wollte.
„Nach langen Irrfahrten,“ begann er nach einer Pause, „hatte ich endlich ein festes Engagement in B. gefunden, wo der Zufall damals einen seltenen Verein von ausgezeichneten Kräften zusammenführte. Es war eine Freude und ein Glück, einer solchen Bühne anzugehören, in den Vorstellungen mitzuwirken, wie es kein glänzend dotirtes Hoftheater besser aufweisen konnte. Sämmtliche Schauspieler waren von gleichem Eifer beseelt und das Publicum belohnte dieses Streben durch seinen zahlreichen Besuch und seinen stets wachsenden Beifall. Für mich wurde diese Bühne im eigentlichen Sinne eine Bildungsschule und ich machte in kurzer Zeit so bedeutende Fortschritte, daß mir größere Rollen anvertraut wurden, obgleich ich nur ein junger Anfänger war und mir die echte Künstlerweihe noch fehlte, die mir erst das Unglück geben sollte.
Unser Director, selbst ein trefflicher Charakterdarsteller, interessirte sich für mich und gab mir stets die Gelegenheit, mein Repertoir zu bereichern, mein Talent zu entwickeln. Auch die übrigen Mitglieder erwiesen sich mir überaus freundlich und collegialisch. Besonders fühlte ich mich zu unserem Regisseur hingezogen, der zwar weniger als Schauspieler glänzte, aber dafür sich um so mehr durch seine hohe Bildung und seine Herzensgüte auszeichnete. Er nannte mich nur seinen Sohn, und seine Tochter, welche dem Vater auch darin ähnlich sah, daß sie mehr durch Geist und Liebenswürdigkeit, als durch Schönheit und Talent mich anzog, liebte mich mit der reinen Neigung einer zärtlichen Schwester. Mit jedem Tage wurde mir die Familie theurer und ich dachte manchmal wohl ernstlich daran, die gute Bertha als meine Gattin heimzuführen, obgleich ich sie damals weniger liebte, als sie es um mich verdiente.
So lebte ich still und zufrieden im Kreise ehrenwerther Freunde, nur mit meiner Kunst beschäftigt, und empfand zum ersten Male nach langer Zeit das Glück, in geordneten Verhältnissen, unter gebildeten Collegen und mit guten, liebenswürdigen Menschen zu verkehren, nachdem ich die Misère des herumziehenden Schauspielers, das Elend der Schmieren und vagabundirenden Gesellschaften bis zum Ekel kennen gelernt hatte. Ich war so glücklich, wie ich es mir nie geträumt, und hätte mit keinem Krösus tauschen wollen. Noch heute denke ich mit Wehmuth an die schöne, schöne Zeit zurück.“
„Und doch,“ unterbrach ich ihn, „war es vielleicht ein Glück, daß Sie diesem Stillleben entrissen wurden. Ich selbst habe manchen tüchtigen Künstler kennen gelernt, der in solchen günstigen Verhältnissen eingerostet ist und sich von der behaglichen Muße einschläfern ließ. Nur im Kampf mit dem Schicksal lernen wir unsere Kräfte, die Tragweite unseres Talentes kennen.“
„Ich muß Ihnen Recht geben,“ fuhr der Künstler fort. „Ohne das folgende Unglück wäre ich nie mehr geworden als ein sogenannter braver Schauspieler, ein guter Lückenbüßer. Doch hören Sie, wie das Alles kam. Unser Director, stets auf die Verbesserung seiner Bühne bedacht, hatte eine neue Liebhaberin engagirt, der ein außerordentlicher Ruf voranging. Ich sah sie zum ersten Male auf der Probe und gestehe Ihnen, daß der Eindruck entscheidend für mein ganzes Leben war. Mit der größten Schönheit verband Auguste D., deren Namen Ihnen gewiß bekannt sein wird, eine hinreißende Anmuth und eine seltene Begabung. Sie zählte zu den Künstlerinnen von Gottes Gnaden, denen die Natur Alles verliehen hat, um zu entzücken, zu bezaubern. Der erste Abend ihres Auftretens war ein Ereigniß für das Theater, das Publicum schwärmte und ich liebte die geniale Künstlerin, in der ich mein Ideal verwirklicht fand. Da ich viel beschäftigt war und öfters mit ihr in denselben Stücken spielte, so fehlte es mir nicht an Gelegenheit, mich der Gefeierten zu nähern. Meine Huldigungen wurden von ihr freundlich aufgenommen, ich durfte mich der Hoffnung hingeben, ihr zu gefallen, und bald erlaubte sie mir, sie nach dem Theater zu begleiten, sie in ihrer Wohnung zu besuchen. Täglich wurde unser Verhältniß vertrauter, so daß ich nach einigen Wochen mich für den glücklichsten Menschen hielt, als ich von ihren bezaubernden Lippen den ersten Kuß empfing und das Geständniß ihrer Liebe hörte. Meinem Glücke fehlte nichts als der Segen der Kirche, allein Auguste verzögerte unter den verschiedensten Vorwänden den ersehnten Tag, der mich mit ihr für immer vereinigen sollte.
Unsere Verbindung blieb jedoch kein Geheimniß, ich empfing die Gratulationen meiner Collegen, die mich um die glänzende Eroberung zu beneiden schienen, die Glückwünsche des Directors, der meinen Contract nicht nur erneuerte, sondern in Anbetracht der Verhältnisse wesentlich verbesserte. Nur mein alter Freund, der wackere Regisseur, war, wie ich bald erfahren konnte, mit meiner Wahl nicht einverstanden, obgleich er nach wie vor das frühere Wohlwollen zeigte. Trotzdem war eine gewisse Entfremdung zwischen uns eingetreten, da ich natürlich jetzt seltener seine Familie besuchte, weil ich jeden freien Augenblick bei meiner angebeteten Auguste zubrachte. Zu meinem Leidwesen scheiterten meine Bemühungen, die Geliebte in das Haus des befreundeten Regisseurs einzuführen, an einer gegenseitigen Antipathie, die ich vergebens zu bekämpfen suchte.
Um so mehr fühlte ich mich zu meiner Verlobten hingezogen, an der ich mit allen Fasern meines Herzens, mit allen Banden meiner Seele hing. Ich liebte sie mit einer Gluth, die ich nie zuvor gekannt, mit einer grenzenlosen Hingebung, mit dem unbedingtesten Vertrauen. Ein Zweifel an ihrer Reinheit wäre mir als ein Verbrechen erschienen, und der Glaube an ihre Unschuld war bei mir so unerschütterlich, wie der Glaube an meinen Gott und an meine Seligkeit. In der That genoß auch Auguste den ausgezeichnetsten Ruf, und selbst die in der Schauspielerwelt nur zu geschwätzige Fama wagte nicht, ihren Lebenswandel anzugreifen. Sie war nach dem einstimmigen Urtheil der Welt ein Muster vollendeter Sittsamkeit und Zurückhaltung, und ihre frommen Taubenaugen, ihr kindliches Lächeln bestätigten nur den allgemeinen Glauben.“
Ueber das ausdrucksvolle Gesicht des Künstlers flog ein düsterer Schatten und ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust. Ich konnte in seinen sprechenden Zügen erkennen, wie sehr ihn selbst nach Jahren diese traurigen Erinnerungen aufregten. Trotzdem war ich auf das Höchste gespannt, erwartete ich begierig die Fortsetzung seiner Erzählung.
„Auf mein wiederholtes Dringen,“ fuhr er nach einer schmerzlichen Pause fort, „hatte Auguste endlich unsern Hochzeitstag bestimmt und ich lernte das seligste Gefühl kennen, als ich unsern häuslichen Heerd für sie und mich einrichten durfte. Jeder Stuhl, jeder Tisch, den ich anschaffte, verursachte mir eine kindische Freude, und mit Entzücken dachte ich an den Augenblick, wo ich das geliebte Weib in unsere gemeinschaftliche Wohnung führen würde. Trotz der vielfachen Beschäftigungen vernachlässigte ich so wenig meine Kunst, daß ich im Gegentheil durch meine Fortschritte das Publicum und den Director täglich überraschte. Ich verdankte der Liebe oder vielmehr der Geliebten eine höhere Begeisterung, eine nie gekannte Leidenschaftlichkeit, die sich in meinen neuesten Rollen bekundete. So kam es, daß mir stets bedeutendere Partien anvertraut wurden, und eines Tages, als unser Heldenspieler plötzlich erkrankte, überbrachte mir der Theaterdiener mit einem verbindlichen Schreiben des Regisseurs die Hauptrolle in Shakespeare’s ‚Othello‘, worin meine Verlobte die ‚Desdemona‘ spielte.
Obgleich ich mich durch eine solche Auszeichnung sehr geehrt fühlte, so übernahm ich die mir gestellte Aufgabe mit einem gewissen [215] Widerstreben und nur aus Rücksicht auf die Verlegenheit meines stets so gütigen Directors. Der Charakter des Mohren lag mir damals noch fern und entsprach weder meiner Stimmung noch meiner Individualität, da ich den Dämon der Eifersucht nicht kannte, die Qualen der verrathenen Liebe nie empfunden hatte. In der That war ich auf der Probe mit meiner Leistung eben so wenig wie der verständige Regisseur zufrieden und ich fürchtete für den Abend eine entschiedene Niederlage. Um so entzückender spielte Auguste ihre Rolle als ‚Desdemona‘, neben der ich mir ungemein hölzern und kalt vorkam. Im Verlauf der Probe munterte sie mich mehrmals auf und empfahl mir mehr Feuer und Leidenschaft, besonders in der berühmten Sterbescene, indem sie mir lächelnd rieth, wirklich an ihre Untreue zu glauben. Die Art und Weise, wie sie selbst im Scherze mir das zumuthen konnte, verstimmte mich und steigerte nur noch meine Unzufriedenheit.
Von finsteren Ahnungen erfüllt, spielte ich am Abend der Aufführung die ersten Scenen mit sichtlicher Befangenheit und ohne den geringsten Beifall, wodurch meine Verstimmung nur noch wachsen mußte. Nur mit Widerwillen betrat ich die Bühne, meist hielt ich mich hinter den Coulissen auf und starrte theilnahmlos auf das Schauspiel, dessen Ende ich herbeisehnte. So kam der vierte Act zu langsam für meine Ungeduld, an dessen Schluß Auguste an mich herantrat, um mir einige ermunternde Worte zuzuflüstern. Während sie mit mir freundlich sprach, legte sie ihre geschriebene Rolle, die sie in ihren Händen hielt, neben der meinigen auf den vor uns stehenden Tisch. Als das Zeichen gegeben wurde, verließ sie mich schnell, um sich für die Sterbescene umzukleiden, wobei sie in der Eile unsere beiden Rollen verwechselte. Ich bemerkte den Irrthum und wollte ihr nachstürzen, doch ein aus ihrer Rolle herausfallendes Papier hielt mich auf. Ich nahm es vom Boden auf und warf einen flüchtigen Blick auf die mir fremden Schriftzüge. Ein furchtbarer Verdacht durchzuckte meine Seele, ich las den offenen Brief und konnte nicht mehr an der Untreue meiner Verlobten zweifeln. Sie hatte mich auf das Schändlichste verrathen und erwartete nach dem Theater einen vornehmen Cavalier und berüchtigten Wüstling in ihrer Wohnung zu einem verabredeten Rendezvous.“
„Und was thaten Sie?“ fragte ich erschüttert, als der Künstler schwieg und mit starrem Blick vor sich hin sah.
„Ich hatte nur einen Gedanken, Rache an dem schändlichen Weibe zu nehmen. Mit diesem Gefühl betrat ich die Bühne im letzten Act, sprach in dem furchtbaren Monolog Othello’s vor der That mit einer Wahrheit, einer wilden Gluth, welche das Publicum hinriß und zu einem nie gehörten Beifall begeisterte. Ich hörte nichts, vor meinen Augen schwebte ein blutiger Nebel, mein Gehirn siedete wie ein Vulcan und ich wußte weder, was ich sagen, noch was ich thun wollte. So trat ich an das Bett.“
„Kennen Sie die schöne Sepiazeichnung von Hoffmann in Dresden?“ unterbrach er sich selbst. „Wie dort, das Bild der Unschuld und Reinheit, das verkörperte Ideal aller Schönheit und Lieblichkeit – so lag sie hingegossen auf dem seidenen Kissen, ein Wesen, so wunderbar herrlich und hinreißend, wie es Gott nur einmal so schön geschaffen. So oft ich das Hoffmann’sche Bild auch ansah, und die mahnende Erinnerung trieb mich immer und immer wieder dazu, so oft fieberte der alte Schmerz auch wieder auf in meiner Seele und ich danke und fluche zugleich dem Künstler, der mir den ganzen Zauber meines schönsten Lebenstraumes und mit ihm die unglücklichste Stunde meiner Jugend vor die Seele führt.
Der Anblick der Ungetreuen entflammte meine Wuth auf’s Neue und unwillkürlich zückte ich meinen Dolch, der kein gewöhnlicher Theaterdolch war. Nach der von unserm ästhetischen Director eingeführten Sitte zog ich mechanisch die Vorhänge des Schlafzimmers zu, um dem Publicum den entsetzlichen Anblick der furchtbaren Mordscene zu entziehen. Ich war allein mit der Treulosen und nichts hinderte mich, wie ich mir vorgekommen, sie zu tödten. Schon ergriff ich die scharfe Waffe und näherte mich dem Lager, schon holte ich zum mörderischen Stoße aus, als mein Arm plötzlich festgehalten wurde. Vor mir stand mein treuer Freund, der alte Regisseur, und entriß blitzschnell den Dolch meiner zum Stoß erhobenen Hand, ehe Desdemona oder vielmehr Auguste eine Ahnung von dem ihr drohenden Geschick haben konnte. Er hatte mich genau beobachtet; meine verstörte Miene, meine plötzliche Leidenschaftlichkeit, meine ungewohnte Wildheit, der Wechsel in meinem Spiel waren dem erfahrenen Praktiker aufgefallen. Mit Theilnahme verfolgte er meine Bewegungen, und da ich den Dolch früher zog, um Desdemona zu erstechen, als der Dichter vorgeschrieben hatte, so glaubte er an einen Irrthum von meiner Seite, weshalb er aus der Coulisse vorsprang, um mich an einem vermeintlichen Fehler zu verhindern. Er ahnte nicht, daß seine unerwartete Dazwischenkunft mich vor einem Verbrechen, vielleicht vor dem Schaffot behütete.“
„Und Auguste?“ fragte ich tief bewegt. „Was ist aus ihr geworden?“
„Sie ging, wie manche bedeutende Künstlerin,[WS 1] zu Grunde und sank, da ihr jede moralische Kraft fehlte, immer tiefer, bis sie zuletzt in Folge ihrer ungeordneten Lebensweise an der Schwindsucht starb. Ich habe sie niemals wiedergesehen und sie hat auch nie erfahren, in welcher Gefahr sie einst geschwebt. Meine einzige Rache bestand darin, daß ich ihr am nächsten Morgen den verlorenen Brief mit meiner Karte schickte. Ich war von meiner Liebe geheilt, wenn auch um den Preis meiner theuersten Hoffnungen und meiner schönsten Illusionen.“
„Und doch ist der Othello Ihre Lieblingsrolle!“ rief ich verwundert.
„Ich liebe ihn, wie eine Mutter das Kind, das ihr die meisten Schmerzen verursacht. Durch mein Unglück entwickelte sich mein Talent und durch den Othello wurde ich ein – Künstler. Aber so oft ich die Rolle spiele, ergreift mich ein Schauer. Das Bild jenes furchtbaren Abends steht vor meiner Seele, und ich kann die ganze Nacht nicht schlafen, indem ich unwillkürlich daran denken muß, daß ein Moment mich eben so gut zum Mörder wie zum Künstler machen konnte.“
Auf die Reise muß man sich begeben, wenn man die Menschen in ihrer Wildheit ertappen will. Da gehen in der Regel selbst Solche, die sich zu Hause ziemlich human und rücksichtsvoll gegen ihre Mitmenschen benehmen, so aus Rand und Band, daß man sie kaum wiedererkennt. Und mit der Menge von Groschen, die Einer auszugeben hat, wächst gewöhnlich die Rücksichtslosigkeitssucht, und zwar ebenso bei den Damen wie bei den Herren. Ja die meisten Reisenden scheinen zu denken, daß ihnen ein dickthuiges, protziges, inhumanes, rücksichtsloses Benehmen, zumal Denjenigen gegenüber, die Geld von ihnen verdienen, einen imponirenden Anstrich verleiht, und daß sie dadurch bei Andern den Gedanken erwecken könnten, als seien sie was Rechtes. Besonders gegen die Kellner und überhaupt gegen Dienstleute erlauben sich viele Reisende so inhuman zu verfahren, daß man den Ausspruch „Reisen bildet“ für einen sehr unpassenden halten möchte. Gut wäre es deshalb, wenn für die Reisenden ein „Knigge-Bädeker“ geschrieben würde, damit sie sich über den Umgang mit Menschen auf Reisen gehörig belehren könnten. Im Nachstehenden wollen wir einen kleinen Beitrag dazu liefern.
Bei der Abreise vom Hause am frühen Morgen haben in der Regel die meisten Reisefertigen noch einiges Gefühl für ihre Mitmenschen in den Nachbarlogis, insofern sie nämlich dieselben nicht durch dröhnendes Werfen der Thüren, durch lautes Rufen, Commandiren und Zanken mit der Dienerschaft, durch erschütterndes Herumtrappen und Treppauf- und -ablaufen u. dgl. aus dem sanften Morgenschlummer aufschrecken.
Mit dem Einsteigen in die zum Bahnhof fahrende Droschke beginnen aber schon die Reiselaster sich ab und zu einzustellen, zumal wenn durch Säumen die Abreise verzögert wurde. Jetzt möchte der arme Droschkengaul, der noch gar nicht recht ausgeschlafen hat und nicht ordentlich abgefüttert ist, Flügel haben und der Kutscher möchte sich auch noch mit vor den Wagen spannen, [216] damit der reisende Spätling mit seinem vielen Gepäcke ja noch zur rechten Zeit fortdampfen kann. Kommt er nicht mit fort, so setzt es für den Kutscher Grobheiten; kommt er mit fort, so setzt es trotzdem kein Trinkgeld. Denn das ist auch eine recht häufig zu bemerkende Eigenschaft Reisender, daß sie wohl Gefälligkeiten und Rücksichten beanspruchen, nicht aber gern solche erwidern, am allerwenigsten gern mit Münze belohnen. – Mit „Sie erlauben“ quetscht sich der Spätling und von den Coupéinsassen nichts weniger als gern Gesehene über die verschiedenen Beine und zwischen den Knieen der Getretenen hindurch auf den letzten noch freien Platz, aber nicht etwa, wie sich’s gehörte, mit einem Handköfferchen oder einer coupéfähigen Reisetasche, sondern mit einem monströsen, wenigstens dreimenschigen Nachtsacke, vielleicht auch noch mit mehreren Schachteln und Körben. Und dieses Reisegepäck, welches zum größten Theile in den Gepäckwagen gehört, findet nun nicht da, wo es sein sollte, seinen Platz, nämlich unter den Bänken oder auf den Netzen über den Köpfen der Mitreisenden, sondern auf, unter und zwischen deren Beinen, so daß diese förmlich eingekeilt und ihrer ganzen Freiheit beraubt sind.
Durch ein recht inhumanes Benehmen von Seiten der Reisenden hat nicht selten auf Zwischenstationen in der Nacht und wohl gar bei Regen- oder Schneewetter mancher auf den Zug Wartende zu leiden. Beeilt man sich nämlich, da der Dampfwagen hier nicht lange anhält, in ein Coupé einzusteigen, so wird man sofort durch ein barsches „Alles besetzt“ davor zurückgeschreckt. Läßt man sich endlich, nachdem auch aus allen andern Coupés heraus ähnliche Schreckversuche gegen uns vollführt worden sind, nicht mehr schrecken, sondern erzwingt sich mit Hülfe des Conducteurs den Einstieg in ein Coupé, so ergiebt sich schließlich, daß höchstens zwei bis drei Personen, die ihre Reiseeffecten über alle Sitze ausgebreitet und sich bequeme Nachtlager bereitet haben, die Allesbesetzer sind und uns durch das lange Hin- und Herlaufen auf dem zugigen Perron und das Suchen nach Unterkommen einen Schnupfen, wenn nicht Schlimmeres, zugezogen haben. Und dann wird man noch ein Grobian genannt, wenn man nach vielen Mühen endlich im Trocknen sitzt und Redensarten, die ganz am Platze sind, wie „unverschämt“, „rücksichtslos“, in seinen Bart hinein murmelt.
Während des Fahrens geht’s im Wagen unter der Reisegesellschaft auch nicht immer so zu, wie es zu wünschen wäre. Da giebt es z. B. eitle Schwätzer und zudringliche Aushorcher, die nicht blos ihre eigenen Hühner und Gänse preisgeben, sondern auch über die aller Mitreisenden Auskunft zu haben wünschen. – Da giebt es Pseudowachtels, die zur Qual nachbarlicher Ohren fortwährend ihre Lieblingsmelodien singen, trällern oder pfeifen. – Da giebt es Welche mit amerikanisch geschulten, nicht selten schmutzig bestiefelten Beinen, die sie, unbekümmert um Anstand und Sitte, überall hinlegen, nur nicht dahin, wohin sie gehören. – Da giebt es fanatische Ausluger, die auch in der ödesten Gegend, und wenn es die Nachbarn auch noch so sehr genirt, ihren Kopf alle Augenblicke zum Fenster hinausstecken und dadurch ihren Reisegefährten, wenn auch eine unpassende Aussicht, dafür aber die richtige Ansicht von der geringen Einsicht und Rücksicht Desjenigen in der Rückansicht verschaffen. – Da giebt es Nörgler aller Sorten, die lächerlicher Weise meinen, ihre Nörgelei finde das größte Interesse bei der Gesellschaft. Die Einen können sich über das Wetter, die Andern über das schlechte Nachtlager nicht beruhigen; die Einen wollen über die Höhe der Gasthofsrechnung, die Andern über das wenige und schlechte Essen und Trinken im letzten Quartier aus der Haut fahren; die Einen jammern über die Langsamkeit des Dampfwagens, die Andern über die Kürze des Aufenthalts. Kurz, fast Jeder prätendirt, daß auf der Reise Alles nach seinem Kopfe und seiner Bequemlichkeit gehe und daß er wie zu Hause die gewohnten Gemächlichkeiten habe. – Da giebt es schnarchende Schläfer, die bald ihrem rechten, bald ihrem linken Nachbar an die Brust sinken. – Da giebt es auch unvorsichtige Patrons, die, ohne die Reisegesellschaft zu kennen und gehörig gemustert zu haben, deren Gefühle auf verschiedene Weise arg verletzen, die sich z. B. über Schielende, Bucklige und Rothköpfe, sowie über Juden und Demokraten u. s. f. in so beleidigender Art auslassen, daß die davon Betroffenen ganz erschrocken dasitzen und nicht wissen, wie sie den Schwadroneur abtrumpfen sollen. – Verf. hat einen lieben Freund, und gewiß hat Mancher einen eben solchen, der überall, also auch im Coupé, sich in seinen Zwiegesprächen (nicht selten über Gegenstände, die nicht die ganze Umgebung zu hören braucht) in der Regel so laut und mit solchem Redeeifer, als stände er auf der Kanzel oder dem Katheder, weit hin hören läßt, daß, wer auch nicht will, doch zuhören muß. Und dies ist manchmal recht störend.
Hat man dann auf der Reise den Tag über die mannigfaltigsten Unannehmlichkeiten, Aergernisse und Strapazen ausgestanden und freut sich nun auf die erquickende Ruhe im Nachtquartier, so wird diese Freude in der Regel dadurch verbittert, daß durch die entsetzlich dünnen Wände, Fußböden und Thüren des Hotels die ruheraubenden Unarten unserer Stubennachbarn recht vernehmlich zu uns dringen und uns nicht zum Schlafen kommen lassen. Denn das Rumoren vor, hinter, über und unter uns, rechts und links von uns hört meistens spät in der Nacht erst auf und fängt gewöhnlich am frühesten Morgen schon wieder an.
Unser Stubennachbar zur Rechten scheint zu Hause ein fideler Nachtschwärmer zu sein, jedenfalls ein Weinreisender, denn singend und pfeifend chassirt er, und noch dazu in Stiefeln, die knarrende Stube bis nach Mitternacht auf und ab, seine Cigarre laut pustend rauchend und ein Fläschchen Wein dazu trinkend. Und dabei steht man natürlich fortwährend die schweißtreibende Angst aus, daß er vielleicht gar noch seine Ziehharmonika aus dem Koffer auspackt und sich eine Polka zieht. – Ueber uns logirt dagegen ein Mißlauniger; er fährt wie eine congrevische Rakete und so auftretend, daß man fürchtet, die Decke stürze über uns ein, in der Stube hin und her, um den Stiefelknecht zu suchen, und wirft schließlich denselben sammt den Stiefeln, deren er sich unter fortwährendem Gepolter mit Mühe entledigt hat, gegen die Thüre, daß diese kracht. – Unter uns ergeht sich ein Virtuosenembryo in Fingerübungen auf einem verstimmten Claviere, und zwar mit solcher Consequenz, daß er uns auch nicht eine Note vor Abhaspelung des Pensums erläßt. – Unsere linke Stubennachbarschaft besteht aus einem mit einander hadernden Ehepaare, dessen schluchzende weibliche Hälfte sich durchaus nicht von der bald bittenden, bald die Reise verwünschenden männlichen Hälfte beruhigen lassen will. Erst ein nach langem Hin-, Her- und Zureden gefallener Versöhnungskuß bringt endlich uns und den erregten Gemüthern der Eheleute die sehnlichst erwünschte Ruhe zum sanften Entschlafen.
Den schönen Schlaf vor Mitternacht auch schön schlafen zu können, das dürfte in einem besuchten Hotel zu den Seltenheiten gehören. Denn wenn auch unsere nächste Stubennachbarschast endlich zur Ruhe gekommen ist, so giebt es doch stets noch Nachzügler, die das Einschlafen vereiteln. Entweder stolpern sie die Treppe trappsend, lachend oder überlaut schwatzend herauf, oder sie werfen die Thüren von den verschiedenartigen Gemächern krachend hinter sich zu, oder sie schmeißen ihr Schuhwerk polternd vor die Thür auf den Saal, oder sie setzen den Hausknecht, das Zimmermädchen und den Kellner einer Kleinigkeit wegen in lauten Trab u. s. f.
Kommt man endlich zum Schlafen, so ist aber von Ausschlafen noch keine Rede, denn lange vor Tagesanbruch trommelt der rothgeschürzte und die geputzten Stiefeln unsanft auf den Boden hinwerfende Johann schon an verschiedenen Thüren und brüllt mit trockner Kehle: „Sie! aufstehen, es ist halb Viere, Ihr Zug geht um Fünfe!“ Jetzt entwickelt sich nun, in Folge des Einpackens, Tisch- und Stuhlgerückes, Morgentoilettemachens, Rufens nach Diesem und Jenem, Commandirens und Frühstückens u. dergl., allmählich ein solcher Mordspectakel, daß ein Scheintodter davon erwachen könnte. – Ist nun schon in Hotels zwischen Gesunden das bezeichnete inhumane Thun und Treiben der Gäste ein ganz verwerfliches, so wird es in Bädern, wo der Kranke vor allen Dingen Ruhe zur Wiedererlangung seiner Gesundheit braucht, geradezu zum Verbrechen. Und das mögen sich besonders die Gesunden in Bädern merken.
Das wäre denn ein Blick auf die Nachtseite der reisenden Menschheit. Und fragen wir, ob das Gebahren der meisten Reisenden gegen ihre Mitmenschen wirklich nicht anders sein kann, trotzdem es doch gegen die Gesetze der Humanität so arg verstößt, so ist die Antwort: es wäre sicherlich ein ganz anderes und gewiß ein humanes, wenn jeder Reisende dächte:
Was Du nicht willst, daß man Dir thu’,
Das füg’ auch keinem Andern zu.
Von Frankfurt nach Berlin, von der Paulskirche in’s preußische Herrenhaus – das ist ein weiter Schritt. Nicht ein Jeder ist geneigt, nicht ein Jeder ist innerlich frei genug, diesen weiten Schritt jetzt schon mit zu machen. Ich weiß das, ich fühle das, ich verstehe das. Und doch ist es ein weiter Schritt – vorwärts. „Die Hälfte ist mehr als das Ganze,“ heißt ein berühmtes Wort eines griechischen Philosophen. Ich nehme keinen Anstand, es auf uns, die Vertreter der deutschen Lande nördlich vom Main, im Gegensatz zu den in der Paulskirche versammelten Vertretern von ganz Deutschland, einschließlich Oesterreichs, seinem vollen Umfange nach anzuwenden. Denn das Frankfurter Ganze war in Wahrheit doch nicht das Ganze. Wir hielten es nur dafür, in Wahrheit war es nur ein Dritttheil. Neben den Männern in der Paulskirche tagte die preußische Nationalversammlung in Berlin, tagte der österreichische Reichsrath in Kremsier; beide mit schlecht verhehlter Eifersucht gegen die Beschlüsse der Paulskirche, beide mit dem ausgesprochenen Hintergedanken, von den zufälligen Mehrheiten des Frankfurter Parlaments sich nimmermehr die Geschicke Preußens oder Oesterreichs dictiren zu lassen. Wer in Frankfurt mit vollem Ernst, mit wirklicher Hingabe an den ausgesprochenen Zweck des Parlaments vertreten war, das waren allein die deutschen Mittel- und Kleinstaaten, nicht aber Preußen und noch viel weniger Oesterreich. Wir wissen das jetzt, oder sollten es wenigstens wissen.
Neben uns tagt Niemand. Nicht der österreichische Reichsrath, dem wir nichts mehr vorschreiben wollen noch können, nicht der preußische Landtag, dessen Rechte unsere eigenen Rechte sind, und Gott sei Dank auch nicht das Sonderparlament eines süddeutschen Bundes, dessen unheimliche Aufgabe nur sein könnte, die feine diplomatische Scheidelinie am Main zur wirklichen Grenzlinie zu erweitern. Neben uns tagt höchstens jenseits des Rheins der französische gesetzgebende Körper und sieht mit sehr gemischten Empfindungen uns zu, wie wir, ohne viele Worte zu machen, nach fest gegebenem Plane einen Grundstein auf den anderen schichten zu dem Massivbau der deutschen nationalen Einheit. Lassen wir ihn ruhig zusehen.
Von Frankfurt nach Berlin, von der Paulskirche in’s preußische Herrenhaus – das ist ein weiter Schritt vorwärts. Aber es ist auch der Uebergang aus dem mondbeglänzten Zauberland der Poesie in das tageshelle Reich der nüchternen Wirklichkeit. Die Glocken klangen nicht vom Thurme herab, als wir heute vor vier Wochen zur Eröffnungsfeier uns auf den Weg machten; wir waren nicht umwogt und umbraust von Tausenden und aber Tausenden jubelnder, jauchzender, begeisterter Menschen, und keine Maiensonne schien hell und warm, kein Frühlingshauch, kein Blüthenduft erfüllte die Luft am Mittag des 24. Februar, wie damals am 18. Mai, als in der alten Kaiserstadt am Main die Männer des ersten deutschen Parlaments in feierlichem Zuge vom Dome nach der Paulskirche gingen. Berlin war still, frostig still.
Ein paar hundert Menschen standen wohl im Lustgarten und auf der Schloßfreiheit umher; aber sie hätten doch kein warmes Wort des Grußes für uns gehabt, auch wenn die zahlreichen ordnunghaltenden Schutzmannschaften es verstattet hätten. Sie hatten nur Augen für die glänzenden Equipagen, für die reichaufgeschirrten Pferde, für die goldgestickten, ordengeschmückten Uniformen der Reichstagsmitglieder, nicht für die Reichstagsmitglieder selbst. Es war ein Act der hohen Politik, zu dem wir in das Schloß berufen waren. Die Regierung hatte ihn im Staatsanzeiger angeordnet wie einen anderen Regierungserlaß auch; das Hofmarschallamt hatte Programm und Ceremoniell dafür vorgeschrieben; wir selbst wußten, wie und wann wir zu erscheinen, unsere Kutscher wußten, wo sie an- und abzufahren hatten – was hatte das Volk dabei zu thun? Die Köpfe, die dies Werk geplant, sie standen viel zu hoch; die Hände, die hier die Knoten geschürzt, sie waren ihm viel zu fein. Aus langen, geheimnißvollen Berathungen mit einundzwanzig Regierungen war der Entwurf einer Verfassung für den norddeutschen Bund hervorgegangen und der ganze düstere Ernst des letzten Sommers hatte dazu gehört, um dies Werk zu zeitigen; in dringender Hast waren die Wahlen ausgeschrieben und weitaus zu Gunsten der Regierungen ausgefallen; in raschester Folge hatte sich die Einberufung des Reichstags daran gereiht – war das Alles in des Volkes Interesse geschehen? Barg das gemeinsame Werk so vieler Diplomaten mit seinen kargen Bestimmungen über Reichstag und Finanzen kein Attentat auf verbriefte verfassungsmäßige Volksrechte in seinen Falten? Wie Viele wußten es von den Hunderttausenden Berlins – wußten wir selbst es?
Es war das ernste Reich der nüchternen Wirklichkeit, das uns auf allen Seiten umfing. Leben heißt Kampf, Leben heißt Arbeit, Leben heißt Ordnung und Maßhalten; hier in den glänzenden Räumen des Hohenzollernschlosses blickten uns diese ernsten Begleiter des Lebens, trotz all’ der reichen großartigen Pracht, aus allen Ecken an. Ja, sie haben gekämpft, die Hohenzollern, sie haben gearbeitet, sie haben Ordnung und Maß gehalten – Jahrhunderte lang – bis sie aus armen schwäbischen Junkern Burggrafen von Nürnberg, Kurfürsten von Brandenburg, Könige von Preußen wurden. Und der letzte Hohenzoller, der uns heute hierher entboten, hat er nicht vor Allen kämpfen und arbeiten, Ordnung und Maß halten müssen, bis er als erster und mächtigster deutscher Fürst die Geschicke unseres Volkes in seine Hand nehmen konnte? Gewiß, hier in diesen Räumen waltete sein Wille und nicht der unsrige; gewiß, hier ging Alles her nach seinem Gebot, nicht nach dem unsrigen. Aber das Bewußtsein drängte sich doch und auch unabweisbar einem Jeden auf: dieser Wille war mächtig nicht blos uns gegenüber; dieses Gebot hatte Nachdruck und nicht blos uns gegenüber. Macht aber und Nachdruck, die waren es ja, an deren Mangel das Werk von Frankfurt gescheitert, die waren es ja, deren wir für das zu gründende deutsche Reich vor Allem bedurften, und die nüchterne, ernste Wirklichkeit hier in Berlin ist demnach für die Erreichung unseres Zweckes am Ende doch wohl geeigneter, als all’ die Poesie und Romantik damals in Frankfurt.
Ich weiß nicht, ob in eines Jeden Brust all’ diese ernsten, widerstreitenden Gedanken Beifall fanden. Mir wenigstens war es schwer zu Muthe, als ich über die Schloßbrücke zur Eröffnungsfeier fuhr und durch die Gänge des königlichen Schlosses hinschritt, um hinauf zu steigen in die Capelle zum Gottesdienst. Das wimmelte da von flimmernden, ordenbeladenen Uniformen, so daß das ohnehin schon so reich mit Gold und Marmor und Gemälden geschmückte Gotteshaus nur noch bunter und schimmernder erschien. Ein Werk, das mit so viel feierlichem Ernst eingeleitet wird, das muß ja wohl auch ehrlich gemeint sein. Die denkwürdige Thronrede, die wir wenige Minuten später im Weißen Saale vernahmen, gab uns Allen die sichere Bürgschaft, daß das uns vorzulegende Verfassungswerk aus dem ernsten Willen hervorgegangen sei, auf den Grundlagen der bestehenden Freiheiten des deutschen Volkes auch seine Einigung herbeizuführen, und weithin erscholl darum auch kräftig und begeistert das zweite Hoch auf den König, als er freundlich grüßend den Saal wieder verließ. Es war ein Sonnentag in der Geschichte der Hohenzollern, wie er noch nicht dagewesen ist. Auf dem Thron stand der greise Vater der nach schwerer Mühe das Werk vollbracht sah; ihm zur Rechten, eine Stufe höher als die übrigen Prinzen, stand in vollster männlicher Kraft der Sohn und nächste Erbe der jetzt so reich begnadeten Krone, und von der Tribüne oben schaute, wenn auch als zartes Kind, der Enkel dem Werke zu, dessen Grundstein zu legen Vater und Sohn da unten im Begriff standen. Drei Geschlechter wirkten mit bei diesem Hohenzollernwerk. Ich denke, das ist ein gutes Zeichen, daß sie es nimmer wieder aus den Händen lassen!
Es stand noch ein Mann bei der Eröffnung des Reichstags, dem Könige näher als alle Anderen. Er stand nicht auf einer Stufe des Throns wie der Kronprinz und auch nicht zur Rechten wie die übrigen Prinzen, denn er war kein Prinz. Er stand links im Saal, dem Thron zunächst, in weißer Kürassier-Uniform und mit einem Gesicht so bleich, daß man zweifelhaft sein konnte, was weißer sei, ob das Tuch des Rockes oder das Gesicht des Mannes. Man sah es wohl, der Mann war körperlich schwer [218] leidend, aber die Muskeln waren doch noch stark genug, um die hohe, kräftige Gestalt in voller militärischer Straffheit aufrecht zu halten. Das war Graf Otto von Bismarck-Schönhausen, des Königs Wilhelm Ministerpräsident. Er hatte den größten Antheil an dem Zustandekommen des Werkes, und darum stand er ja wohl mit vollem Recht dem Thron ein paar Schritte näher als alle Anderen.
Es ist nicht allzu häufig, daß ein bedeutender Mann alsbald durch seine äußere Erscheinung sich als solcher ankündigt. Beim Grafen Bismarck ist dies der Fall. Wer den Grafen Bismarck stehen und gehen sieht, der erkennt sofort an der straffen Haltung und der ungewöhnlichen Energie bei gleichzeitiger maßvoller Eleganz und Leichtigkeit der Bewegungen, daß er es mit einem Manne von entschiedenem Charakter zu thun hat. Der starke Kopf mit den starken Gesichtszügen, die breite Stirn, der fest zusammengepreßte Mund und das leuchtende, lebhafte, wasserhelle Auge verringern auch diesen Eindruck gewiß nicht. Das Gesicht ist nicht schön, aber es ist bedeutend und es gewinnt alsbald, sowie in der Unterhaltung der regelmäßige Ernst, der jetzt auf ihm gelagert ist, der Heiterkeit und Gutmüthigkeit wieder Platz macht, die ursprünglich auf ihm ihren Ausdruck fanden. Denn das muß wahr sein, Gras Bismarck ist von Haus aus eine heitere, freundliche, warme Natur; er hätte sonst nicht so viele treue Freunde von Jugend auf gefunden, er hätte sonst nicht so viele Gewalt über die Menschen erlangen können. Es ist jetzt freilich leicht, sein Loblied zu singen. Aber seine zahlreichen Bekannten aus den Universitätszeiten her haben das immer behauptet. Ein im Bewußtsein der vollsten Jugendkraft übermüthiger, ausgelassener Gesell, sagen sie, sei er freilich auch gewesen, und leidenschaftlich und leicht aufbrausend dazu; aber ein ehrenhafter, flotter Bursch und ein – gefährlicher Schläger auf der Mensur. Nun, das hat er mit Wallenstein gemein, von dem ja unser Schiller auch sagt: „Denn zu Altdorf im Studentenkragen trieb er es, mit Permiß zu sagen, ein wenig locker und burschikos.“ Das Altdorf des Grafen Bismarck heißt freilich Göttingen, wo das Corps der Braunschweiger – ein altes Mitglied desselben ist im Reichstag und kann es mit seinen eigenen Narben belegen – damals von ihm als Senior der Hannoveraner manchen scharfen Hieb zu fühlen bekommen hat. Die Gewohnheit der scharfen Hiebe hat er beibehalten, wenn er sie auch jetzt nur mit der Zunge austheilt. Zutreffender, eleganter, schlagender Gedankenausdruck ist wenigstens seine hervorragendste Eigenschaft als Redner und würde ihm wohl unter allen Umständen die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer sichern, auch wenn er nicht zu uns als preußischer Ministerpräsident zu sprechen hätte.
Es kann nicht meine Absicht sein, schon jetzt, bei der Darstellung der Eröffnung des Reichstags in den engen Rahmen meiner Schildereien ein umfassendes Bild des Grafen Bismarck zu zeichnen; der weitere Verlauf meiner Mittheilungen wird mir indeß Veranlassung geben, mit seiner politischen und persönlichen Charakteristik mich eingehender zu beschäftigen. Er gehört für alle Zeit der Geschichte an und es wäre voreilig und unberufen, wollte irgend einer seiner Zeitgenossen, zumal augenblicklich im Höhepunkt seiner glänzenden Laufbahn, der Aufgabe der Geschichtsschreibung vorgreifen. Ich kann hier nur sagen: auf dem Mann, den Hunderttausende in Deutschland noch vor einem Jahre nicht laut genug verwünschen konnten, ruhen augenblicklich die Hoffnungen von ebenso vielen Hunderttausenden. Es ruht vor Allem aber auch auf ihm die Hoffnung des Reichstags, und diese Hoffnungen werden sich erfüllen, wenn sich bewahrheitet, was uns versprochen, daß sein Werk auf den Grundlagen der bestehenden Freiheiten aufgebaut wird. Seinem Tact und Geschick wird und muß es gelingen, die widerstrebenden Elemente, die jeder große, parlamentarische Körper in sich trägt, zu vereinigen. Dafür ist er Graf Bismarck, das heißt, seit dem Freiherrn von Stein unser größter deutscher Staatsmann. Deshalb aber, weil er der eigentliche Eckstein des Reichstags ist, habe ich hier versucht, mit einigen leichten Strichen vorläufig auch seine Person zu skizziren.[1]
Noch wenige Wochen, und die Völkerwallfahrt zum eisernen Tempel der goldenen Batzenmacherei, oder um mich civilisationsmäßiger auszudrücken, zur zweiten Weltausstellung in Paris, wird beginnen, und beide, nämlich das ansteckende Wanderfieber der Nicht-Pariser, sowie die Börsenzapferei Aller, die zu diesem großen Friedensmanöver in irgend einer Beziehung stehen, werden einen Maßstab annehmen, von dem wir uns heute wohl noch nicht die rechte Vorstellung machen.
Als ich vergangenen Herbst und einen Theil des Winters in der Weltstadt mich aufhielt, um sie zu studiren für meine eigenen Zwecke und im Interesse Derjenigen, welche der großen Völkerwanderung sich anzuschließen beabsichtigten, da versuchte ich mir eine Perspective zu construiren von dem voraussichtlichen tollen Treiben des nächsten Sommers, sowie von den Wirrsalen und den tausendfältigen Verlegenheiten, in die eine gute Anzahl unserer lieben deutschen Landsleute hier kommen werden. Ihnen einige praktische Winke für ihren Pariser Aufenthalt zu geben, die man so einläßlich in einem Reisehandbuche nicht erörtern kann, mag Aufgabe dieser Mittheilungen sein.
Ich habe mir schon lange vorgenommen, aus dem Tornister meiner Wandererfahrungen einmal die zehn Gebote des Reisenden zusammen zu stellen und sie wie weiland Luther mit allgemeinverständlichen Erläuterungen zu versehen. Unter diesen würde, käme es einmal dazu, auch eins der vornehmsten dasjenige sein: „Genire Dich nicht.“ Diese Reiseregel ist vor allen Dingen für Paris fest zu halten. Alles gilt; jeder Anzug, jede Lebens- und Gewohnheitsform, wenn sie nicht absolut incivil ist, hat ihre Freiheit, ihre Existenzberechtigung. Bedenke stets, daß Du für Dich reisest, zu Deinem Nutzen, Deinem Vergnügen, für Dein Geld, also, daß Du Dir selbst der Nächste bist; ohne diesen Grundsatz bist Du in solch’ einer Weltstadt ein in allen Winkeln herumgeschubbter und gestoßener Mensch. Du weißt, schon Goethe sagt: „Nur die Lumpen sind bescheiden“, was nun freilich einerseits heut’ zu Tage nicht mehr durchaus wahr ist, weil sowohl die moralischen wie die politischen Lumpe bekanntlich die arrogantesten sind, andererseits keineswegs eine Aufforderung zur Unbescheidenheit sein soll. Es giebt einen goldenen Mittelweg, welchen das Bewußtsein des wirklichen eigenen Werthes dictirt, und dieser ist der rechte.
Zur Interpretation des gleichen Reisegebotes gehört aber auch noch die Erinnerung: „es kennt Dich Niemand, es achtet Niemand auf Dich“, und wenn Du daheim auch ein Millionär oder ein Prophet unter Deinem Volke wärst.
Ein zweites allgemeines Reisegebot, das übrigens schon eine der ersten und größten Lebensregeln des täglichen Verkehrs ist, würde etwa sein: „Laß Dich nicht anschmieren“. Der Pariser hat einmal gehört, daß irgend ein großer Feldherr gesagt hat: „Im Frieden gilt der Mann, im Kriege gilt er doppelt,“ und das hat er sich gemerkt. Im Frieden, d. h. zu gewöhnlicher Zeit, wenn nicht der Ausnahmezustand der Exposition außerordentliche Maßnahmen und Preise entschuldigt, weiß der Pariser schon den Geldbeutel des Mannes ganz geziemend zu würdigen und in Bewegung zu setzen, um wie viel mehr erst in Kriegszeiten. Denn daß der Sommer 1867 ein Feldzug aller in Paris Diensteleistenden gegen Alle wird, die zur Palastschau kommen, und daß dann der Mann auch doppelt gilt und doppelt zahlen [219] muß, steht über der Nothwendigkeit des Beweises. Hieraus aber resultirt als größte und Cardinalerinnerung: „Nimm Geld mit, doppelt so viel, wie du zu brauchen gedenkst, und dann noch etwas mehr.“ Als 1865 die erste Ausstellung war, da schloß die Comitébilanz mit einem Deficit von einundzwanzig Millionen Francs ab, an denen die Staatscasse zu kauen hatte. Diesmal will man’s besser machen. Der Staat bewilligte von sich aus sechs Millionen Francs und die Stadt ebensoviel. Aber das reichte noch nicht; man brauchte mehr, trotzdem kein Boden zu expropriiren war und kein luxuriöser Palast diesmal errichtet werden sollte. Da trat eine Garantie-Gesellschaft von großen, schlauen Finanzspeculanten in die Lücke und gab noch acht Millionen Francs, aber nur unter der Bedingung, Hand im Spiel haben und sich zuerst für ihr Risico decken zu dürfen. Diese wurde nun factisch Herr und versteigerte so hoch wie möglich Alles, was nur an Gerechtsamen und Erlaubnissen in dem Ausstellungsgebäude und rings um dasselbe zu vergeben war, und so kam es, daß unerhörte Summen für anscheinend ganz geringfügige Bewilligungen gezahlt wurden.
Nun! Die Leute, die um schweres Geld die Berechtigung erhielten, Mäntel, Schirme und Stöcke am Eingange abnehmen, Kataloge oder Zündhölzchen verkaufen, Photographien abklatschen oder Erfrischungen verabreichen zu dürfen, wollen erstens wieder zu ihrem Riesenzins kommen, wollen dann den Werth ihrer Waaren, ihrer Zeitversäumniß, ihrer Dienstleistungen herausschlagen und wollen endlich, wie billig, auch am Schlusse des siebenten Monats für ihr Risico, für ihre Kräfteaufopferung und ihren Kampf ein rundes bestimmtes Etwas als Resultat erringen, – also hier schon die erste gerechtfertigte, doppelte Anforderung an unsere Taschen. Netto gerade ebenso, nur in etwas veränderter Form, rechnet die Municipalität für ihre großmüthig geopferten sechs Millionen Francs; solch’ eine Summe kann eine Stadtcasse ohne genügendes Aequivalent nicht verschenken, – ihre steuerpflichtigen Kräfte müssen ihr dafür, sei es auf welchem Wege es wolle, wieder gerecht werden, und diese Steuerkräfte recurriren wieder an den Geldbeutel des Fremden. Wie die Staatscasse ihre sechs Millionen verrechnet, darum hat sich bekanntlich in Frankreich Niemand zu bekümmern.
Mit alledem werden aber die Ausstellungskosten erst gedeckt, – nun wollen auch noch ein paarmal hunderttausend reeller Speculanten die kostbare Gelegenheit benutzen, um von den drei Millionen Fremden, auf deren Besuch man rechnet, soviel wie möglich zu profitiren, sei es direct oder indirect, und außer diesen lauert noch eine Legion von unehrenwerthen Speculanten, modernen Strauchrittern und Schnapphähnen, Glücksjägern, die auf den Gimpelfang gehen, und ähnliches Gesindel beiderlei Geschlechtes auf die heranrückenden Karawanen, und in Mitte dieses ganz Paris durchfluthenden, lauernden Gedankens liegen Scylla und Charybdis, in welchen Mancher auf seiner Odyssensfahrt dem Untergange nahe kommen wird.
Es ist ein eigenes Ding in Frankreichs Hauptstadt: das, was wirklich Geld werth ist, um es zu sehen, die großartigen und prachtvollen Museen im Louvre, im Luxembourg, im Hôtel Clugny, in Versailles, – die Schlösser und Kirchen, die Wasserkünste und herrlichen Gärten, die Menagerien im Jardin des Plantes und alle die Raritäten und Kostbarkeiten, welche überhaupt zur Schau ausgestellt sind und für deren Betrachtung man andern Orts tüchtig zahlen muß – sie alle kosten nichts, nicht einen Centime Entrée oder Trinkgeld; auch die Verkehrsmittel in Paris selbst, die Omnibus, in denen man von einem Stadtende zum andern je alle fünf Minuten für einen und einen viertel Silbergroschen fahren kann, verursachen so viel wie keine Ausgaben. Selbst die Eisenbahntaxen nach Paris werden so bedeutend ermäßigt werden, daß auch diese nicht den Schwerpunkt der Ausgaben bilden. Das, was das meiste Geld kostet, ist das, was dieses Geld am wenigsten werth ist. –
Bereiten wir uns vor, auf die Reise zu gehen. Also Geld! Frankreich rechnet bekanntlich wie Italien, die Schweiz und Belgien (mit denen es in einem Concordatsverhältnisse steht) nach Franken und Centimes; deshalb werden auch die Silbermünzen gedachter Länder im gewöhnlichen Verkehr ohne Weigerung allenthalben dort angenommen. Gold hat Frankreich in Hundert-, Fünfzig-, Vierzig-, Zwanzig-, Zehn- und Fünffranken-Stücken ausgeprägt; die Zwanzig-Frankenstücke (im Werthe von fünf und ein Drittel Thalern oder neun und ein Drittel Gulden süddeutsch) werden kurzweg „Napoléon“ genannt. Belgisches Gold gilt wie französisches, italienisches dagegen wird nur mit Verlust genommen. In Silber sind Fünf-, Zwei-, Ein- und ein Halb-Frankenstücke ausgeprägt, in Kupfer Zehn- und Fünf-Centimesstücke. Letztere werden im Verkehr immer noch mit dem alten Namen „Sou“ bezeichnet; zwei Sous sind also zehn Centimes, fünfzehn Sous fünfundsiebenzig Centimes oder sechs Silbergroschen. Die englischen Penny- und halbe Pennystücke cursiren allgemein als Zwei- und Ein-Sousstücke. – Papiergeld der Banque de France in Fünfzig-, Hundert-, Zweihundert-, Fünfhundert- und Tausend-Frankenscheinen und diejenigen der Banque de Bruxelles in Fünfundzwanzig-Frankenscheinen cursiren im täglichen Verkehr allgemein.
Alles andere Gold-, Silber- und Papiergeld hat im Detailverkehr keinen Curs.
Wer mit preußischem oder Guldengelde nach Paris kommt, muß dasselbe erst beim Wechsler nach dem Tagescurse mit etwa einem halben Procent Agio umsetzen. Es giebt aber mancherlei deutsches Papiergeld, welches in Paris kaum oder nur mit enormem Verluste verwerthbar ist. Wer also die Absicht hat, die Ausstellung zu besuchen, möge bei Zeiten Jagd auf Napoleonsd’or oder englische Sovereigns machen, oder sich ein gutes, sofort zahlbares Papier auf ein solides Pariser Bankierhaus kaufen. Jeder im Auslande auf Paris ausgestellte Wechsel muß, ehe er zum Incasso gelangen kann, mit einem Timbre Imperial, der wie eine Briefmarke aufgeklebt wird, versehen werden; fünf Centimes per hundert Franken.
Früher war ein Paß, und zwar ein von der französischen Gesandtschaft des Landes, in welchem man wohnte, visirter Paß, strengstes Erforderniß, um über die Grenze zu kommen; heute fragt man anständige Reisende fast an keiner der großen Eintrittslinien nach Legitimationspapieren; höchstens, wenn man das Mißgeschick hat, irgend einem steckbrieflich verfolgten Industrieritter ähnlich zu sehen, könnte es der Fall sein, sich einem Verbalexamen unterwerfen zu müssen. Es ist deshalb immerhin sehr empfehlenswerth, irgend ein gutes Legitimationspapier in der Tasche zu haben, namentlich schon deshalb, weil die Erlaubniß zum Besuche mancher Sehenswürdigkeiten, wie z. B. der kaiserlichen Gobelinsmanufactur, sowie mancher Sammlungen zu außergewöhnlicher Zeit an die Vorzeigung des Passes gebunden ist, um seine Eigenschaft als wirklich Fremder zu bekunden. Man erhält dann unentgeltlich eine Erlaubnißkarte ausgefertigt.
Die Kenntniß der französischen Sprache ist zwar keine absolute Nothwendigkeit, denn es leben über hunderttausend Deutsche in Paris und in den meisten Hotels hat man deutsche Kellner zur Bedienung; aber der Reisende hat natürlich nur den halben Genuß von der Weltstadt, wenn er nicht verstehen kann, was gesungen und belacht, bestritten und vertheidigt, ausgerufen und verlangt wird. Er lebt noch einmal so theuer, kauft zu noch ein Mal so hohen Preisen ein und wird gar rasch der unglücklichste Spielball der schlau profitirenden Speculation. Vor allen Dingen hüte sich der Deutsche, welcher wenig Französisch versteht, vor dem „Oui-Sagen“ aus Verlegenheit; die Pariser Zuvorkommenheit, welche mit der liebenswürdigsten Miene zehn Mal mehr anbietet und anpreist, als man haben will und brauchen kann, möchte bei allzu bereitwilligen Ouis leicht Gelegenheit für zu umfangreiche Rechnungen bekommen. Nach Paris gehenden Gesellschaften ist es deshalb zu empfehlen, mindestens eine Person als Reisecollegen mitzunehmen, die der Sprache völlig mächtig ist und die Stelle des Dolmetschers vertritt.
Was man an Gepäck mitzunehmen hat, läßt sich nicht wohl andeuten, weil dies sich ganz nach den persönlichen Bedürfnissen richtet. Wohl aber lassen sich mancherlei Gegenstände aufzählen, welche man unter keiner Bedingung in den Koffer thun soll. Dahin gehören zuvörderst Zeitungen; sie könnten bei der Revision auf der Douane an der Grenze höchst fatale Verlegenheiten bereiten. Bekanntlich giebt es in Frankreich verbotene Zeitschriften des Auslandes, auf welche eben so scharf gefahndet wird, wie auf Contrebande, deren Verbreiter unnachsichtlich und streng bestraft werden. So z. B. gehört es zu den allergewöhnlichsten Ereignissen, manchmal acht Tage lang kein Blatt von der Kölnischen Zeitung zu Gesicht zu bekommen. – Ebenso hüte man sich, Bücher im Koffer zu führen, in denen gegen die jetzige Regierung
[220][221] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [222] von Frankreich polemisirt wird; Confiscation wäre das Allermindeste, was begegnen könnte.
Ferner vermeide man in den Verdacht der Post-Defraudation zu kommen; als solche wird es betrachtet, wenn man geschlossene Briefe, selbst wenn es nur Empfehlungsschreiben sind, Couverts, Paquete, Schachteln etc., welche eine Adresse tragen, bei sich führt. Will man gegen Andere in ähnlicher Beziehung gefällig sein (nicht um der Porto-Ersparniß, sondern um der Gewißheit willen, daß das zu Besorgende wirklich pünktlich abgegeben wird), so führe man solche verbotene Früchte lieber in der Brusttasche bei sich.
Bezüglich der Garderobe ist im Allgemeinen zu rathen, neue Kleidungsstücke, Stiefeln oder Schuhe mindestens einmal getragen zu haben, damit sie Spuren des Gebrauchs zeigen.
Zu den verpöntesten Artikeln gehören Tabak und Cigarren. Beide sind bekanntlich in Frankreich Regie-Artikel; im Budget für 1866 waren die Staats-Einnahmen aus dem Tabaksmonopol mit 233 Millionen Frcs. veranschlagt, eine Zahl, die zur Genüge beweist, wie theuer das Vergnügen des Rauchens in Frankreich erkauft werden muß. Unverzollt einzuführen ist lediglich erlaubt, was man während einer Fahrdauer persönlich braucht, – also höchstens eine gut gefüllte Cigarrentasche oder ein kleines Etui mit Tabak für Cigarretten. Seinen ferneren Bedarf muß man entweder (namentlich wenn man an ein gutes, reines Blatt gewöhnt ist) von daheim mitnehmen und diesen ehrlich und offen an der Grenze declariren und mit etwa neun Pfennigen pro Stück verzollen, – oder man muß rauchen, was das große herrliche Paris eben darbietet, – und damit hat es dann seine eigenen Wege. Denn was man in den von der Regierung concessionirten gewöhnlichen Tabaksläden (die nebenbei gesagt zu gleicher Zeit die Special-Postablagen für gewöhnliche Briefe sind, wo man auch Francomarken kaufen kann) erhält, ist für einen unverwöhnten Gaumen schon ziemlich verwendbar, wenngleich gegenüber den deutschen Cigarrenpreisen enorm hoch; wer aber, wie gesagt, an ein abgelagertes Kraut gewöhnt ist, der hat, so viel mir bekannt geworden, nur eine Quelle: unter dem Grand Hotel auf dem Boulevard des Capucines, aber natürlich auch zu Preisen, aus denen die 233 Millionen Staatseinnahme hervorschauen.
Nun noch, ehe wir den Koffer abschließen, ein paar Worte über die Wäsche. Die sechszig Pfund Freigepäck auf den französischen Bahnen gestatten zwar, sich reichlich mit Weißzeug zu versehen; allein ich rathe davon ab, namentlich Denjenigen, die im Punkte ihrer Leibwäsche etwas eigen und nicht gewöhnt sind, ausgetauschte Unterkleider mit zu engem oder zu weitem Halskragen, zu langen oder zu kurzen Aermeln, Baumwolle für Leinen zu tragen. Dieses Verwechselungs-Quiproquo kommt in den großen Hotels ohne Verschulden der vermittelnden Gasthofsdienerschaft zu gewöhnlichen Zeiten oft genug vor; um wie viel mehr wird und muß es der Fall sein, wenn ganz Paris, wie nächsten Sommer, sich im friedlichen Belagerungszustande befinden wird. Vorausgesetzt nun, daß wirklich keine Komödie der Irrungen vorfallen würde, so ist das Pariser Waschverfahren ein so barbarisches, daß namentlich wirthliche Hausfrauen mit Entsetzen davor zurückschrecken. Man bekommt zwar das Gewaschene schneeweiß und mit so elegantem Appret zurück, wie kaum irgendwo, aber auf Kosten der Dauerkräftigkeit der Leibwäsche und unter Zuhülfenahme chemischer Präparate, die beim Tragen und Warmwerden der Wäsche mitunter unausstehlich hervordunsten. Dabei hat diese mit Chlorkalk gemißhandelte Wäsche einen widerlich trockenen, stumpfen Angriff, der ein ähnliches Gefühl auf der Hand hervorbringt, wie das ist, wenn man Gyps oder Kalk in den Händen gehabt hat.
Andererseits ist gut und sehr elegant gearbeitete Leibwäsche, wenn man durch Vermittelung eines Bekannten an die rechte Quelle geführt wird, eben so billig, wenn nicht sogar noch wohlfeiler, als in manchen Städten Deutschlands und der Schweiz. –
Schon seit zwanzig Jahren wurde in den Vereinigten Staaten, meist von excentrischen Frauen, die politische Gleichstellung beider Geschlechter verlangt. Seitdem aber, theils um den Forderungen abstracter Gerechtigkeit zu genügen, theils aus minder rühmlichen Parteigründen, den Farbigen das Stimmrecht verliehen werden soll, seitdem kann man wohl sagen, ist die große Mehrzahl aller gebildeten Amerikanerinnen für diese Ansicht gewonnen, und das Ende des Jahrhunderts wird nicht herankommen, ohne daß diese größte aller Neuerungen hier durchgesetzt sein wird. Mit vollstem Recht fragen unsere Frauen, wenn Neger, unwissende, rohe, ungebildete und nur in untergeordnetem Grade bildungsfähige und bildungsbedürftige Neger für fähig erachtet werden, an der Selbstregierung dieses Volkes Theil zu nehmen, warum sie selber dazu nicht gerade so gut berufen sein sollen. Täglich komme ich mit den bescheidensten, sittsamsten und anspruchslosesten Frauen der mittleren und höheren Stände zusammen, und ich finde nur in seltenen Ausnahmen die Ansicht vertreten, daß die Frau nur in’s Haus, nicht auf’s Forum gehöre.
Nun kommt es hier nicht darauf an, was ich selbst von der Sache halte. Doch aber mag es gesagt sein, daß ich aus zwei ganz besondern Gründen die politische Gleichstellung der beiden Geschlechter, so weit sie überhaupt thunlich ist, für das Volk der Vereinigten Staaten wünsche. Der erste ist, daß dadurch wesentlich zur höheren Gesittung der Männer im öffentlichen Leben beigetragen wird, und der zweite, daß die Frauen sich durch ihre Emancipirung in eine Lage begeben, in welcher sie auch den Männern das Recht zugestehen müssen, daß diese ihre Irrthümer und Sünden in einer aufrichtigen, ungeschminkten Weise behandeln, wie es im jetzigen Stande ihrer Passivität nicht geschehen kann. Im Stande der Unfreiheit können die Frauen jedem ihnen von den Männern gemachten Vorwurfe mit der vollkommen berechtigten Antwort begegnen: „So wie wir sind, habt Ihr uns gemacht. Laßt uns erst frei sein, und dann macht uns für uns selbst verantwortlich.“
Viel hundert Frauen waren während des Krieges im Bundesschatzamt angestellt, um die Tausende von Millionen Bankzettel, von je fünf Cents oder etwa sieben Kreuzern das Stück bis zu tausend Dollars oder zweitausendfünfhundert Gulden, zu beschneiden und in Päckchen zusammen zu legen. Nicht ein einziger Bankzettel wurde entwendet, während bei der vorsichtigsten Wahl männlicher Beamten ohne jeden Zweifel Unterschleife vom kleinsten bis zum größten Betrage alltäglich gewesen wären. Man hörte von Bacchanalien und wild vollbrachten Nächten im Schatzamt. Die Sittsamkeit jener Frauen wurde vielfach als von zweifelhafter Natur geschildert; ihre Rechtschaffenheit hat Niemand in Zweifel gezogen.
Von dieser Thatsache erhielt ich Kunde, als ich gerade in einem kleinen Städtchen in Kentucky ein Regiment Illinoiser Truppen auszuzahlen hatte. Mein zerschnittenes Kleingeld war zu Ende, und ich hätte am folgenden Tage mit der Zahlung nicht fortfahren können, ohne wenigstens hundert von den Bogen, auf welchen je zwanzig kleine Fünf-Cent-Noten zusammengedruckt waren, vorerst zu parcelliren. Da sah ich einen Haufen aus der Schule zurückgekehrter Knaben und Mädchen vor der Thür meines Hauptquartiers spielen. Ich rief sie herein. Es waren fünf Knaben und sechs Mädchen. Ich versprach jedem einen nagelneuen Zehn-Cent-Zettel, wenn sie mir die hundert Bogen zerschneiden wollten. Sie willigten freudig ein, denn auf’s Geldverdienen ist unsere Jugend schon im allerfrühesten Alter sehr erpicht. Dann setzte ich die Knaben zusammen und ebenso die Mädchen, und gab jeder Partie fünfzig Bogen. Als sie fertig waren, ließ ich die Päckchen von meinem Clerk zählen. Von denen, welche die Knaben zerschnitten und gebunden, war nur eines von zehn richtig, während in allen Päckchen der Mädchen auch nicht ein einziger Zettel fehlte. Eines von den Mädchen war die Tochter des Pflanzers, in dessen Hause ich mein Hauptquartier aufgeschlagen hatte. Ich erzählte ihr am Abend das Resultat der Zählung; es hätte ein Dollar und fünfundvierzig Cents im Ganzen gefehlt, und zwar sei das Fehlende von den Knaben entwendet worden. Flugs eilte das Mädchen aus dem Zimmer, lief zu all’ ihren Gespielinnen, jagte sie von Haus zu Haus zu den Knaben, die mit am Zerschneiden geholfen hatten, [223] und sie zwangen Einen wie den Andern den kleinen Raub wieder herauszugeben. Jeder von den Knaben hatte ein paar Cents entwendet. Geradezu strahlend von innerer Genugthuung brachte sie mir am nächsten Morgen das entwendete Geld: „Wir Mädchen haben Alles von den Buben herausgekriegt. Nur fünf Cents fehlten, die hat meine Mutter zugelegt!“
Von jetzt an glaubte ich an die mir von Washington aus verbürgte Mittheilung. Ich bin fest überzeugt, daß, was hier im Kleinen geschehen ist, auch im Großen eintreten werde, wenn die Frauen einmal ihre Hand mit in der Verwaltung unserer öffentlichen Angelegenheiten haben. Die Frauen werden die Männer zwingen, rechtschaffener zu sein. Es ist eine Thatsache, daß bis vor wenigen Jahren unter vielen hundert Sträflingen in unserem Zuchthause in Missouri auch nicht ein einziges Frauenzimmer saß. Erinnere ich mich recht, so war es im Jahr 1858, als eine Frau aus St. Louis zu mehreren Jahren Gefängniß verurtheilt wurde, weil sie aus Eifersucht ihren Geliebten erschossen hatte. Der damalige Gouverneur des Staats entließ die Frau augenblicklich in die Freiheit: „Im Zuchthause zu Jefferson City sei keine comfortable Einrichtung für Frauen!“ Daß dabei die allgemein herrschende Scheu der Männer zu Grunde liegt, eine Frau oder ein Mädchen zu verklagen, und der Gerichte, sie zu verurtheilen, ist freilich richtig. Aber es ist nicht weniger richtig, daß die amerikanischen Frauen in Bezug auf Rechtschaffenheit ein unendlich empfindlicheres Gewissen haben, als die Männer. Wenn beide Geschlechter einander gleichgestellt werden, wird das Niveau der öffentlichen Rechtschaffenheit ein höheres sein. Gewiß ist, daß die Frauen nach und nach von den laxen Begriffen der Männer angesteckt werden; sobald aber das Gleichgewicht hergestellt ist, wird ohne Zweifel die öffentliche Moral im Ganzen bedeutend gewonnen haben.
Auf der andern Seite dagegen begehen unsere Frauen Irrthümer und haben sie schlechte Seiten, über die frei von der Leber weg man erst dann wird sprechen dürfen, wenn sie vollkommen emancipirt sind. Unter diesen hebe ich zwei hervor, die eng mit einander zusammenhängen. Den ersten haben sie wohl mit der größten Anzahl ihrer Schwestern, wenn auch vielleicht nicht in gleich hohem Grade, gemein, während der zweite außer den Vereinigten Staaten nur in den allerhöchsten Regionen der englischen und französischen haute volée zu Hause ist, hier aber leider nicht nur in der älteren Bevölkerung der Städte angelsächsischen Ursprungs allgemein herrscht, sondern auch schon dergestalt die neue Einwanderung ergriffen hat, daß, wenn die Frauenemancipation sie nicht davon heilt, die zweiten und dritten Generationen der neu eingewanderten Frauen gerade so sehr davon befleckt sein werden, wie die ältere Frauenwelt.
Eine der besondern schlimmen Eigenthümlichkeiten der Amerikanerinnen ist ihr Auffassen des Lebens von der alleräußerlichsten Seite. Ihre Putz- und Genußsucht kennt in der Regel keine andere Grenze, als die der vollkommensten Ermüdung. Zwar ist in allerneuester Zeit eine gewisse prätentiöse Einfachheit unter den Frauen reicher Familien älteren Datums als Unterscheidungsmerkmal von dem pfauenartigen Auftreten der hier „Shoddies“ genannten Emporkömmlinge Mode geworden, aber man kann nicht sagen, daß diese reflectirte Einfachheit jener Frauen inneren Gründen entsprungen wäre und deshalb ihr Leben auch innerlicher gemacht hätte. Bei Weitem die größte Mehrzahl der Frauen und Mädchen in den höheren oder, besser gesagt, reicheren Classen bringen ihre ganze Zeit mit Vorbereitungen ihrer Toilette zu Gesellschaften, Concerten und Theatern zu. Tausende von Familien werden dadurch alljährlich ruinirt und andere Tausende würden ruinirt werden, wenn nicht die unglaubliche Energie der Männer und Hülfsquellen, von denen man anderwärts sich kaum einen Begriff machen kann, die Mittel zur beständigen Erneuerung dieser glänzenden Flitterwelt wieder beschafften. Mit diesem großen Leiden hängt aber ein anderes zusammen, das nicht nur die Frauenwelt im Allerinnersten demoralisirt, sondern durch das auch unser herrliches Land sehr bald entvölkert würde, wenn ihm nicht die stets wachsende Einwanderung eine neue Menschensaat zuführte. Es ist dies der ausgesprochene und allgemein ausgeführte Entschluß unserer Frauenwelt, so wenig Kinder als nur immer möglich aufzuziehen. Ich lasse das Wie mit einem dichten Schleier bedeckt. Die Thatsache selbst aber ist gerade in diesen Tagen durch statistische Aufstellungen im Staate Massachusetts und durch eine gründliche Ausführung eines Doctor Allen in Lowell dergestalt an’s Licht gezogen und in ihrer ganzen erschreckenden Wahrhaftigkeit dargestellt worden, daß an ein Verschweigen oder Beschönigen nicht mehr gedacht werden kann. Es hat sich nämlich in Massachusetts herausgestellt, daß unter der angelsächsischen Bevölkerung die Zahl der Geburten in je einer Generation von mehr als siebenhundert vor etwa zweihundert Jahren heute auf circa hundertundvierzig herabgesunken ist, und daß die neueingewanderten Familien ungefähr fünfmal so viel Kinder haben, als die der älteren Einwohnerschaft. In dürren Worten schreibt Dr. Allen dieses entsetzliche Verhältniß der physischen Verderbniß und Schwäche der Frauen der älteren Bevölkerung und ihrem Entschlusse zu, gar keine oder nur äußerst wenige Kinder aufzuziehen.
Jeder vernünftige und sittliche Mensch wird uns zugeben müssen, daß der bloße Comfort und die länger erhaltene Schönheit der Mütter ungenügende Gründe für eine so weitgehende Abweichung von den natürlichen Gesetzen und den bisher unter guten Menschen gültig gewesenen Grundsätzen der Sittlichkeit sind. Alles Raffinement der Sitten, die höchste Eleganz, der zierlichste Körperbau, so hoch wir sie auch anschlagen, erscheinen uns als ein armseliger Preis für einen geschwächten Körper und für ein vom Wurme des Vorwurfs angenagtes Gemüth. Schon sind es die Städte nicht mehr allein, die dieses Leiden heimsucht, denn allerwärts breitet es sich mit der Bildung auf dem Lande aus. Schon sind es nicht mehr die alten angelsächsischen Familien, in denen die schreckliche Sitte herrscht, sondern sie greift bereits tief hinein in die neue Bevölkerung. Was Malthus zum Glück umsonst den Oekonomisten gepredigt, das ist der Hoffahrt gelungen. Möge dagegen, wie ich’s mit Sicherheit hoffe, die Emancipation der Frauen ein wirksames Mittel sein.
Ich nannte Raffinement feiner Sitten, höchste Eleganz und zierlichen Körperbau einen armseligen Preis für geschwächte Gesundheit und ein nagendes Gewissen, und ich setze hinzu, daß, sofern es das äußerliche Leben betrifft, die amerikanischen Frauen aller Wahrscheinlichkeit nach den höchsten Rang unter ihren Schwestern anderer Nationen einnehmen. Alle ohne Ausnahme wissen sich mit Sicherheit, Grazie und Urbanität in jedem Cirkel zu bewegen; Alle ohne Ausnahme verstehen es, ihre Toilette mit ihrer Individualität in die kleidsamste Harmonie zu bringen; Alle ohne Ausnahme schreiben eine elegante Handschrift und concipiren fehlerfrei und zierlich stylisirte Briefe und Alle führen auch eine verbreitete Correspondenz. Ja, mehr als das, Alle wissen sich mit wunderbarer Geschicklichkeit in die hier so häufigen Wechsel des Glückes zu schicken, und unter den allergewöhnlichsten Arbeiten versteht es die zurückgezogene Amerikanerin, die Eleganz ihrer Sitten zu bewahren und ihre Bildung hoch oben zu erhalten über der ihr aufgedrungenen äußeren Lebenslage. Aber sie haben weder die Tiefe des Gemüthes der deutschen Frau, noch den sprudelnden Geist der Französin. Sie sind kalte, oberflächliche, durch Eleganz und stereotype Behandlung der Männer in Decorationen verwandelte Geschöpfe, aus denen die ganze, unverkürzte Freiheit erst wieder rechte Weiber machen muß. Freilich darf man bei der Beurtheilung der amerikanischen Frauenwelt nicht unberücksichtigt lassen, daß der demokratische Zug, welcher durch die ganze Union geht, auch auf die Frauen seinen mächtigen nivellirenden Einfluß ausübt und daß damit in engem Zusammenhange stehend, nirgends in der Welt die Tyrannei der Mode unwiderstehlicher ist, als in Amerika.
Mit Blitzesschnelle, möchte man sagen, dringen bei der fortwährenden Völkerwanderung, die von Süden nach Norden und zurück, mehr aber noch von Osten nach Westen stattfindet, die absurdesten Moden in die entferntesten Winkel des Landes, und kaum sind die ersten falschen Waden auf dem Broadway in New-York erschienen, so werden auch schon ungeheuere Ladungen des wunderlichen Artikels nach dem fernsten Westen geschafft. Eine neue Agriculturmaschine, ein neuer Roman, ein neues Kleidungsstück, eine verbesserte Pumpe, eine neue Sorte von Mützen oder Clen ist im Osten eingeführt worden, und nach sechs bis acht Wochen kann man die Neuigkeit in Nebraska, ja sogar in Neumexico in allen Kaufläden finden. Werden Bärte in Boston getragen, so läßt der letzte Hinterwäldler alsbald seinen Bart stehen; finden es die Yankee-Damen für gut, nur zwei Kinder zu bekommen, so bestrebt sich die ganze Frauenwelt im ganzen Lande, dem östlichen Vorbild nachzukommen. Kaum eine Familie in Städten und auf [224] Dörfern, in denen eine Wasch- und Nähmaschine fehlte, und wenn die Prosperität nur noch zwei einzige Jahre so fortgedauert hätte, wie sie die Beschaffung der ungeheuern Summen von Papiergeld erzeugt, so wäre auch kaum ein Haus mehr gefunden worden ohne ein Pianoforte; Ich kann mich nicht entsinnen, jemals einen Amerikaner gesehen zu haben, der nicht ein Taschenmesser und eine Uhr bei sich gehabt hätte, und ich glaube nicht, daß drei Procent der ganzen männlichen erwachsenen Bevölkerung jemals dasselbe Messer länger als drei Monate und dieselbe Uhr länger als drei Jahre besessen hätten. Das Beste ist für den Allergeringsten nicht zu gut; und wo es nicht angeht, das Neueste von der besten Qualität zu besitzen, so muß es doch wenigstens das Neueste der Form nach sein.
In allen diesen Dingen leistet die Frauenwelt das Wunderbarste. Werden kurze Haare die Modetracht, so schneidet sich das ganze Geschlecht von einem Ende des Landes bis zum andern die Haare ab; trägt man dann wieder lange Locken, so werden sie fertig gekauft, und nicht Eine von allen Mädchen oder Frauen möchte den Glauben erregen, daß es ihre eigenen Haare seien, die sie zur Schau tragen. Die Kunst der Zahnärzte ist nur darum hier so hoch entwickelt, weil sich zahllose Frauen ihre gesunden, aber nach Farbe oder Stellung ihnen mißfälligen Zähne ausreißen lassen, um dafür ein neues ebenmäßiges Gebiß zu bekommen. Sind Perlen und edle Steine in der Mode, so trägt sie Jedermann, und wenn auch vielleicht nirgends in der Welt so viele echte Diamanten getragen werden, wie hier, so will doch Niemand, der falsche Steine trägt, den Glauben verbreiten, daß sie echt seien. Der demokratische Trieb des gleichen äußeren Auftretens verlangt Befriedigung, und dabei kommt es ganz allein auf den Schein und auf weiter nichts an, als auf den Schein.
Und gerade wie von äußerlichen Dingen gilt derselbe demokratische Gleichheitstrieb auch vom seelischen Leben. Ohne Unterschied der Classen und des Bildungsstandes, der im Ganzen viel weniger verschieden ist, als in alten Culturländern, strömt die gesammte Bevölkerung, namentlich aber die Frauen, populären Rednern, Vorlesern, Ausstellungen von Kunstwerken und musikalischen Productionen zu. Gewisse Geistesrichtungen bemächtigen sich plötzlich der ganzen Nation, und gerade wie zu gewissen Zeiten das ganze Volk eine Art von Betwuth ergreift, gerade so freigeistelt in diesem Augenblicke Alles und beschäftigt sich Alles mit der Frage der Weiberrechte. Ja, noch mehr, und aufmerksamen Beobachtern kann diese demokratische Merkwürdigkeit nicht entgehen: nicht nur, daß der Bildungsgrad der meisten Amerikaner ohngefähr derselbe ist, geradeso ist auch ihre Bildungsfähigkeit nahezu dieselbe, und eine gewisse Mittelschlächtigkeit des Intellects schließt sowohl die niedrigsten Grade europäischer Stupidität, als auch die höchsten Grade europäischer Begabung aus. Der letzte Krieg, der doch gewiß jeder Befähigung fast ohne Ausnahme Gelegenheit gegeben, sich hervorzuthun, hat auch nicht einen einzigen genialen Menschen offenbart. Auf der anderen Seite ist aber noch auch sicherlich niemals ein Land so vollkommen zerwühlt worden, in welchem die Romantik solch’ kärgliche Ausbeute gemacht hätte, als hier. Ich habe als Zahlmeister der Armee Monate lang in unsern Lagern zugebracht, habe den Krieg in allen seinen Stadien mitgemacht, – aber ich erinnere mich weder jemals einem besonders geistreichen Gespräch zugehört, noch eine romantische Scene mit angesehen zu haben. Und doch habe ich zahllose höhere und niedere Officiere so intim gekannt, als es nur die an sich zur Intimität ganz besonders reizende Stellung eines Zahlmeisters möglich macht. Gesunder Menschenverstand, Fanatismus und soldatische Leichtfertigkeit sind mir überall begegnet; besonders auffallende, über das gewöhnliche Niveau weit hervorragende Befähigung aber habe ich so wenig als Romantik in unserer Armee angetroffen. Sigel und Blenker hatten etwas Freischärlich-Romantisches an sich, vielleicht auch General Fremont, – für ihre Carriere ist es besonders förderlich nicht gewesen.
Diese Gleichheit in Genüssen und Begierden, in Gewohnheiten und Lebensanschauungen, dieses verhältnißmäßig wenig schwankende Niveau der Bildung und selbst der Intelligenz ist ein großer Segen, ja eine absolute Nothwendigkeit für die demokratische Zukunft einer Nation. Durch all das werden Standesunterschiede und wird die Verknöcherung von gewissen Richtungen verhindert, die unfehlbar zum Aristokratismus in der einen oder der anderen Form führen würden. Daß dadurch das Leben nicht sehr farbenreich und mannigfaltig wird, liegt auf der Hand. Aber diejenigen Fortschritte, die unleugbar die wesentlichen Unterschiede zwischen der neuen Demokratie und den alten Culturformen bilden, so groß oder so gering sie nun auch sein mögen, treffen hier niemals ausschließlich gewisse Kategorien der Bevölkerung, sondern gehören Allen nahezu gleichmäßig an. Eine Ausnahme davon machen nur die Neueingewanderten aus allen Ländern. Nicht, daß ihnen gesetzlich auch nur das allergeringste Hinderniß im Wege stände, nein, aber das demokratische Gleichheitsgefühl ist ein erworbenes und kein angeborenes oder willkürlich greifbares. Um es ganz zu entwickeln und eins mit dem amerikanischen Bürgerthum werden zu lassen, bedurfte es einer zweihundertjährigen demokratischen Erziehung. Das bloße Auswandern aus der Monarchie in die Republik giebt diese Erziehung nicht!
Der erste Carneval in Leipzig. Als in einem der vielen geselligen Vereine Leipzigs der Gedanke auftauchte, auch bei uns an der Pleiße den Fasching einzubürgern, wie ihn der Süden und namentlich Mittel- und Niederrhein zu ihren volksthümlichsten Festen zählen, lächelte man wohl ob dieser seltsamen und gewagten Acclimatisationsidee und Wenige mochte es geben, die ihr das Prognostikon selbst nur eines Succès d’estime stellten. Der Erfolg hat schließlich alle diese Prophezeiungen und Befürchtungen Lügen gestraft; auch die Leser unserer Gartenlaube wissen aus den Zeitungen, daß der am Fastnachtsmontage veranstaltete große Carnevalzug weit hinausgegangen ist über die kühnsten Erwartungen selbst der enthusiastischsten Urheber und Förderer des Festes, ausgezeichnet durch den Reichthum, den Geschmack und die pittoreske Wirkung der verschiedenen Gruppen, aus welchen sich der lange Zug zu einem höchst imposanten, farbenprächtigen und anmuthigen Ganzen zusammensetzte. Eine Schildung des schon viel beschriebenen Festes zu geben, kann jetzt, wo bereits Frühlingslüfte zu wehen beginnen und die Winterlust, deren Abschluß ja der Carneval bildet, lange hinter uns liegt, nicht Absicht der Gartenlaube sein, nicht einmal aufzählen will sie alle die interessanten Gruppen, den hochragenden Triumphwagen, den Orient mit seiner Pracht, den Eis- und den Ofenwagen, die Süßigkeiten speiende Friedenskanone, die schirmende Riesenpickelhaube, den Vater Rhein mit seinen duftenden Kindern, die Wagen des norddeutschen Gosenbundes und des Wettermanns Stannebein, die reizende Kindernarrengarde u. v. A., nur eine der malerisch schönsten Compositionen, die Reiherbeize mit ihren mittelalterlichen Jägern und Jägerinnen, hat sie aus der Fülle- und Mannigfaltigkeit des Gebotenen herauszugreifen und zum Gedächtniß des gelungenen Wurfes und für ihre Leser in der Ferne, denen eigene Anschauung nicht vergönnt war, im Bilde festzuhalten versucht.
Aus einem Malerleben. Der unlängst in Paris verstorbene berühmte Maler Ingres war in vieler Beziehung ein Original. So ist unter Anderm die Geschichte seiner Verheirathung höchst eigenthümlicher Art. Als junger Mann lernte er in Rom eine französische Familie kennen, die dicht bei der Villa Medici wohnte und den jungen Landsmann sehr herzlich aufgenommen hatte, so daß er seine meisten Freistunden dort zubrachte. Er hörte die Leute oft von einer hübschen, jungen Cousine sprechen, welche jenseits der Alpen geblieben war und in einer kleinen Stadt der Champagne ihre Heimath hatte. Man rühmte die Sanftmuth und Liebenswürdigkeit des jungen Mädchens, und auf diese Lobsprüche hin verliebte sich der Maler sterblich in dasselbe, hielt um ihre Hand an und schickte ihr ein selbstgemaltes Portrait von sich, wofür er als Gegengabe ein Bildniß der Dame bekam. Kurz darauf wurde sie in Person nach Rom berufen; die Liebe aus der Ferne befestigte sich in der Nähe und sie ward die Gattin des Künstlers, der später oft lächelnd sagte.: „Ich habe mich mit meiner Frau auf den Anblick ihres Portraits hin verlobt; das ist gewiß der größte Beweis von Vertrauen, den ich – der heutigen Malerkunst geben konnte!“ Er hat diese Ehe nie zu bereuen gehabt, denn Frau Ingres ist stets der gute Engel ihres Mannes geblieben und ihr gehörte auch sein letzter Liebesblick.
Ueberhaupt erzählt man sich viele Seltsamkeiten von diesem ungewöhnlichen Mann, der siebenzig Jahre lang mit den Ideen, dem Geist, der Mode und der Kritik seines Jahrhunderts gekämpft hat und durch diesen Kampf groß geworden ist. Der Herzog von Luyères hatte ihn einst ersucht, den Speisesaal in seinem Schlosse Dampierre mit mehreren Fresken zu zieren, und Ingres sagte zu, aber nur unter der Bedingung, daß kein Mensch die Arbeit vor ihrer Vollendung sehen dürfe. So vergingen fünf Jahre, während deren sich der Herzog damit begnügte, von Zeit zu Zeit durch das Schlüsselloch das Fortschreiten der Arbeit zu beschauen. Eines Tages aber wurde er von der Neugierde getrieben und betrat mit einem Freunde den geheimnißvollen Saal. Am Tage darauf zerstörte Ingres die ganze, der Vollendung nahe Malerei.
Inhalt: Die Herrin von Dernot. Von Edmund Hoefer. (Fortsetzung.) – Unter der Maske. Eine Theatererinnerung. Mit Abbildung. – Strafpredigt gegen rücksichtslose Leute. Von Bock. 3. Für Die auf Reisen. – Photographien aus dem Reichstag. Von einem Mitgliede desselben. I. – Nach Paris! Praktische Winke für Ausstellungsreisende. I. – Zur Charakteristik amerikanischer Frauen. Von C. L. Bernays in Missouri. – Blätter und Blüthen: Der erste Carneval in Leipzig. Mit Abbildung. – Aus einem Malerleben.
- ↑ Durch sich häufende Geschäfte in den Commissionssitzungen sah sich der Verfasser leider genöthigt, seinen ersten Artikel hier abzubrechen. Die zweite und die folgenden Skizzen werden dafür auch stofflicher um so reicher ausfallen. D. Red.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Künülerin