Die Gartenlaube (1867)/Heft 13

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1867
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[193] No. 13.
1867.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen.     Vierteljährlich 15 Ngr.     Monatshefte à 5 Ngr.


Die Herrin von Dernot.


Von Edmund Hoefer.
(Fortsetzung.)


Der Sturm war schon über die Wanderer hingebraust, nur zuweilen noch fuhr ein einzelner Stoß durch den Busch über Matten und Felder; dafür aber folgten die Blitze einander grell und rasch, und der Donner, durch den Widerhall fortgepflanzt, rollte fast ohne Aufhören ihnen zu Häupten. Und nun begann auch der Regen stärker und stärker zu fallen, und von vorn klang ein von Schritt zu Schritt sich vermehrendes dumpfes Rauschen ihnen entgegen.

„Das hab’ ich gefürchtet – es stand gar zu schwarz über dem Gebirge, und nun kommt das Wasser schon! Wenn der Steg nur hält!“ sagte der Jägersmann in sorglichem Ton, ohne jedoch darum seine Eile zu mäßigen. „Aber nur Muth und ein wenig Vertrauen, mein Fräulein!“ fügte er mit einem bereits wieder ermuthigenden Lächeln hinzu; „wir kommen doch noch vor dem Aergsten hinüber, und für trockene Kleider wird schon Rath werden.“

„Nur vorwärts – ich bin nicht ängstlich und nicht zärtlich, mein Herr!“ versetzte seine Begleiterin munter, und ihr Auge, dessen Braun doch um mehrere Nuancen heller war als das des seinen, begegnete ihm mit fröhlichem Blicke. „Aber um Die dort hinter uns ist mir’s, die –“

„Da sind wir – der Steg hält noch! Aber rasch, rasch!“ rief der Jäger.

Aus dem Gebüsch tretend, sahen sie den rauschenden Bach nahe vor sich. Rechts kamen die Wasser, wie es schien, eine kleine Höhe im Sturz herunter – der Regen fiel so dicht, daß man nur auf wenige Schritte um sich zu schauen vermochte – und füllten das tiefe Bette fast bis an den Rand mit wildem, wirbelndem Gebrause. Jenseits sah man die undeutlichen Umrisse eines anscheinend stattlichen Mühlengebäudes, aber der Weg zu demselben führte über einen allerdings sehr kunstlosen und in diesem Augenblick gefährlichen Steg – zwei Balken nur lagen, fest aneinandergeschoben, von Ufer zu Ufer, kaum glatt behauen, ohne Geländer, und die Wellen spritzten darüber und machten sie schlüpfrig, und bei der sichtbar steigenden Gewalt der Wasser war die Sorge keine leere, daß im nächsten Moment schon die arme Brücke gehoben und fortgerissen werden dürfte.

Der Jäger sprang auf den Steg. Sein Auge flog bachaufwärts, dann zurück auf seine Begleiterin, das folgende Paar. „Es geht – aber mit festem Fuß! Oder – soll ich Sie tragen?“

Zur Antwort trat sie mit einem fast ein wenig spöttischen Lächeln an ihm vorüber und schritt rasch und sicher vorwärts. Die andere Dame folgte ihr nicht minder entschlossen, wenn auch mit ruhigem Blick dem augenscheinlich bewundernden Auge des Jägers begegnend.

„Mein Compliment, mein Herr!“ sagte der Letztere heiter, da er jetzt dem gleichfalls vorübergehenden Joseph sich anschloß. „Das laß’ ich mir gefallen! Da darf man schon eine Fußreise riskiren und sich obendrein auch verirren.“

Es war ein günstiger Augenblick gewesen, da sie den Steg passirten. Der Regen war ein paar Secunden lang weniger dicht gefallen und hatte ihnen einen freien Blick gestattet. Nun aber, da auch der Jäger eben vom Balken auf das Ufer sprang, zuckte ein greller Blitz und der Donner brüllte hinterdrein, wie sie’s heut’ noch nicht vernommen, und zugleich war es, als öffneten sich nun erst die Schleußen der Höhe, so stürzten die Regenfluthen wolkenbruchartig herab; die Damen hatten kaum das kleine Vordach erreichen können, das über der Thür der ganz nahen Mühle schirmend hervortrat.

„Was den Kukuk – gar Damen?“ sagte ein großer, hagerer und ersichtlich sehr alter Mann, der neben ein paar anderen, jüngeren Menschen in der Thür stand, um den Gang des Wetters zu verfolgen oder vielleicht auch der natürlich schon bemerkten Gesellschaft entgegen zu sehen. Seine Stimme klang tief und voll aus der kräftigen, breiten Brust hervor und sein Auge ließ aus dem scharfblauen Stern einen, wenn auch ein wenig düsteren, doch schier jugendlich scharfen Blick hervorbrechen. „Und – bigott! – ist’s der Franz, der sie uns bringt?“

„Macht Platz, Vater, daß die armen Kinder hereinkommen,“ unterbrach ihn eine gleichfalls schon bejahrte, aber noch rüstige und lebhafte Frau und schob ihn ein wenig zur Seite. „Tretet ein und geht nur gleich mit, daß wir nach trocknen Kleidern und Schuhwerk sehen,“ fügte sie gutmüthig lächelnd hinzu. „Daß sich Gott erbarm’, so sauber und in solchem Wetter! Lasse einen Kaffee machen derweil, Peter! Rasch!“

„Bei dem Gewitter da – nein,“ erwiderte der Dritte, der in der Thür gestanden, auch ein Mann in Jahren, kaum weniger groß als der Greis und auch nicht stärker; es mochte dessen Sohn sein, einer gewissen Aehnlichkeit nach zu schließen.

„Was Gewitter – sei nicht thöricht! Das ist schon vorüber,“ meinte die Frau lebhaft, „rasch, wie ich sage.“

Sie verschwand mit den beiden Mädchen im Hause. Der Mann folgte ihr ziemlich widerwillig und rief gleich darauf barsch nach einer Magd. Der Alte aber war in der Thür stehen geblieben, wie er die Ankömmlinge vorübergelassen, und sein Auge, in welchem sich beim näheren Anschauen der Braunäugigen eine [194] jähe Ueberraschung abgespiegelt, haftete noch eine ganze Weile auf der Stelle, wo sie drinnen verschwunden war, bevor er es, langsam den Kopf wendend, auf die beiden jungen Männer richtete, die jetzt neben ihm im Schutz des Hauses standen. Er maß den Fremden mit einem langen, finstern Blick, nickte ihm kurz zu, und indem er dann erst des Jägers Hand schüttelte, sagte er, ohne daß in den starren Zügen des alten Gesichts irgend eine Bewegung sichtbar geworden: „Seid willkommen. Hast’s einmal wieder auf die Minute getroffen, Franz. Sieh’ hin – da geht der Steg zum Teufel.“

Und das war richtig. Das Gewitter war, wie die Frau es gesagt, anscheinend wirklich schon über die Mühle hinaus, aber der Regen strömte noch und der Bach rauschte mit seinen schmutzigrothen Wellen über die Ufer, eben die Balken lüpfend und fortreißend, die vor wenig mehr als fünf Minuten der kleinen Gesellschaft zum Pfade gedient.

Der greise Müller – denn daß dies sein Stand, sah man, obgleich er keinen Rock trug, an der graublauen Weste, und seine ganze Erscheinung, sein ganzes Auftreten ließen darüber nicht im Zweifel, daß er der Herr des Hauses – der greise Müller, sagen wir, sah dem Werk der Zerstörung einen Moment ruhig zu, dann wandte er die Augen auf die beiden jungen Leute zurück, von denen Joseph sich durch Stampfen und Schütteln der größten Nässe zu entledigen suchte, und sprach, indem er ein paar Schritte zurückmachte und die nächste Thür öffnete, einfach: „Tretet ein.“ Und auf eine andere, gegenüberliegende Thür des geräumigen Zimmers deutend, fügte er hinzu: „Da drinnen findet Ihr Kleider von meinem Sohn, Herr, wenn Ihr sie braucht. Du, Franz, ziehst wohl nur den Rock aus.“

„Dabei lass’ ich’s auch,“ versetzte Joseph munter. „Wir sind noch gut davongekommen – gerade vor Thorschluß. Bei den Damen freilich mit ihren dünnen Kleidern wird’s anders stehen.“

„Wie Ihr wollt, Herr,“ sagte der Greis. „Macht es Euch bequem. Ihr habt Recht, es war gut abgepaßt. Der Guß da draußen spaßt nicht. Doch der Franz hat eben immer Glück, aber,“ fügte er hinzu, und sein Ton hatte etwas Freundliches, und da die Augen dennoch auch jetzt noch finster blickten, sah man es wohl, daß dieser Ausdruck kein willkürlicher war, „aber Ihr selbst scheint mir auch kein Unglückskind zu sein, da Ihr gleich auf den da stießet. Wo traft Ihr Euch?“

„Auf dem Vorbühl,“ sprach Franz lustig.

„Auf dem Vorbühl? Wie in des Himmels Namen kamet Ihr dorthin?“ rief der Alte, erstaunt den Kopf schüttelnd. „Ich bin nicht neugierig, junger Herr, der da kann’s Euch bezeugen, und meine Art ist’s nicht, Einen, der bei mir einspricht, nach Wie und Warum zu fragen. Wie Ihr aber zu dem Vorbühl gelangen konntet –“

Joseph – die Leser haben längst begriffen, wen sie in der kleinen, vom Wetter überraschten Gesellschaft vor sich hatten, und daß der von der Excellenz erwartete Neffe keineswegs eine Rheinreise machte, sondern sich, freiwillig oder gezwungen, den beiden Flüchtlingen angeschlossen hatte – zuckte auf diese Frage des Greises die Schultern und meinte fast ein wenig spöttisch: „Ist denn Euer Vorbühl da ein verhexter Platz oder ganz außerhalb der Welt?“

„Beides beinah, mein Herr,“ erwiderte jetzt der Jäger. „Geheuer wenigstens soll es dort bei der alten Eiche zu Zeiten nicht sein, und daß Fremde oder gar Damen auf die Kuppe gekommen, mag kaum jemals der Fall gewesen sein.“

„Weil das Fußreisen abgekommen ist,“ meinte Joseph, von Neuem die Achseln zuckend. „Für uns war es übrigens ganz natürlich, denn wir liefen uns drunten im Walde auf einem Wege müde, von dem man nicht um sich schauen konnte und der obendrein zu Ende ging. Da suchten wir uns eben einen Lugaus.“

Der Greis hatte aufmerksam zugehört, und gerade in dieser Ruhe zeigte sich der finstere Ausdruck des Auges, der tief gefurchten, hohen und kahlen Stirn, des ganzen runzelvollen Gesichts so deutlich und unverstellt, daß der junge Mann in seinem Inneren sich die Frage regen fühlte, ob er seinen alten Wirth bisher nicht gänzlich falsch beurtheilt und statt verhältnißmäßiger Höflichkeit und Dienstwilligkeit von ihm das gerade Gegentheil zu erwarten habe. Der erste, nichts weniger als ermuthigende Empfang an der Thür draußen kam ihm wieder in den Sinn und es tauchte auch der Blick wieder vor ihm auf, der seiner Cousine gefolgt und von ihm wohl bemerkt worden war. Er erinnerte sich an die Worte, welche Eugenie unterwegs zu ihm gesagt; er sah sich den Jäger rasch, aber fest jetzt darauf an: ja, es war unleugbar, es war eine gewisse – nein, überraschende Aehnlichkeit da! Hatte der Alte das junge Mädchen nur darum so scharf angesehen?

Indem meinte der Müller auf des Gastes Erklärung ruhig, beinahe phlegmatisch: „Also verirrt.“

„So scheint’s,“ erwiderte Joseph, die Brauen zusammenziehend, denn die Fragen gemahnten ihn nach und nach wie eine Art von wenig angenehmem Inquisitorium, oder die abgeleugnete Neugierde war dennoch in mehr als billigem Maße vorhanden. „So scheint’s,“ wiederholte er noch kälter, „obgleich man mir in Diesenhart, da wir einmal die Fußpartie vorzogen, diese Richtung als die nähere angab und mir alle Wege genau bezeichnete.“

„Wohin?“ fragte der Müller kaltblütig.

Joseph fühlte den Aerger sich zu Kopf steigen und zwar um so mehr, als er auch den Jäger, der, am Fenster lehnend, dem Gespräch schweigend zuhörte, mit einer mißbilligenden Miene den Kopf schütteln sah. Er nahm sich indessen zusammen, und anstatt heftig oder auch nur lebhaft erwiderte er mit einer gewissen vornehmen oder vielleicht auch ein wenig spöttischen Nonchalance: „Dahin, mein lieber Meister, wohin wir wollen und endlich auch wohl gelangen werden: nach Dernot.“

„Da seid Ihr.“ Die Augen des Greises ruhten auf dem jungen Manne mit dem gleichen Ausdruck, und die Falten und Runzeln waren wie erstarrt. Und ebenso fügte er hinzu: „Dort hinten liegt Schloß und Dorf, und hier ist die Mühle, und Augustin Besseling heißt der Müller.“

„Desto besser, Meister Besseling, so werden wir bald in Ruhe sein können,“ sagte Joseph im vorigen Tone. „Man wird drüben hoffentlich auf uns vorbereitet sein.“

„Ei, so, so!“ Und der Alte regte und seine Miene änderte sich nicht, nur der Ton seiner Stimme war ein anderer. „Da haben wir ja wohl am Ende –“

„Ich heiße Herrenroth und begleite mit meiner Schwester unsere Cousine, Fräulein von Treuenstein, welche diese Besitzung ihrer Familie kennen zu lernen wünschte,“ unterbrach ihn der junge Mann noch kälter, als wolle er durch seine Worte dem Gespräch, oder zum Mindesten diesem Theile desselben, ein Ende machen.

„Fräulein von Treuenstein?“ wiederholte der Greis völlig ruhig. „Nun ja, und da es meines Wissens keine andere dieses Alters giebt, so wäre das also die Herrin von Dernot –“

„Wer ruft mich?“ unterbrach ihn in diesem Augenblick die helle, heitere Stimme des jungen Mädchens, das wir nun wohl beim rechten Namen „Esperance“ nennen dürfen, und zugleich trat sie mit der Cousine und von der freundlichen Frau gefolgt in das Zimmer. Die Damen waren, wie wir wissen, vor dem stärksten Ausbruch des Wetters unter Dach gekommen und bis dahin einigermaßen durch ihre Sonnenschirme geschützt gewesen, so daß ihre Toilette schneller und leichter wieder herzustellen war, als man dem ersten Anschein nach hatte fürchten müssen. Nur mit Schuhen und Strümpfen und ein paar Tüchern hatte die Söhnerin des alten Müllers auszuhelfen gehabt, und nun standen die Beiden frisch und munter und durch das kleine Abenteuer ergötzt vor den Männern. Selbst in Eugeniens mehr ernsten blauen Augen regte sich, da sie, vor den Bruder hintretend, die Spitze des jetzt mit einem starken Schuh bekleideten Füßchens leise unter dem Kleidchen hervorschob, eine Schalkhaftigkeit, welche das von Tante Kunigunde gefällte Urtheil wenigstens nicht ganz unbegründet erscheinen ließ.

Aber Esperance stand vor dem Greise, der sich nun langsam und ein wenig steif erhob, und ihr nußbraunes Auge begegnete fröhlich dem seinen, und sie fragte lächelnd: „Meister, woher wissen Sie denn von mir?“

Selbst ihre reizende Erscheinung brachte kein Leben in das Gesicht des Müllers und er versetzte auch in dem bisherigen unbewegten Ton: „Der Herr Vetter nannte Euch, Fräulein – nöthig hätt’ er’s nicht gehabt. Denn da ich Euch sah, wußt’ ich auch von Euch. ’S ist das alte Gesicht.“

„Hat mein Cousin Ihnen auch meinen vornehmen Titel genannt?“ fragt sie neckend.

„Euren Titel?“ wiederholte er, sein Auge ging nicht von [195] ihr. „Den wußt’ ich auch schon längst. Auf Dernot giebt’s eine ‚Herrin‘, wenn kein ‚Herr‘ da, das war so, seit’s den Namen giebt, Ihr seid nicht die Erste. Aber ob er Euch –“ und indem zum ersten Mal durch die starren Züge etwas hinzuckte, was sich freilich auch jetzt nicht näher bezeichnen ließ, setzte er nach einer secundenlangen Pause hinzu: „ob er Euch Glück bringt, das weiß ich nicht. Bis dahin ist auf Dernot davon wenig daheim gewesen, und bei der alten ‚Herrin‘ am allerwenigsten.“

Auf der Wange des jungen Mädchens zeigte sich bei diesen, auch durch den Ton nicht freundlich klingenden Worten eine schnelle, schimmernde Röthe, und das heitere Auge wurde ernst. Etwas zu erwidern fand sie jedoch, selbst wenn sie das beabsichtigt hatte, für jetzt keine Zeit, da Eugenie plötzlich näher trat und mit einer Art von stolzem Blick und in vornehm nachlässigem oder vielleicht auch zurückweisendem Tone sagte: „Daraus schließen wir also, daß wir hier auf der Herrschaft Dernot und bei einem der – Gutsangehörigen sind?“

Des Greises Auge begegnete fest und düster dem ihren, und er versetzte fast hart: „Da irrt die Dame. Die Mühle heißt freilich die Dernot’sche, weil sie hart an der Herrschaft liegt; aber sie ist für sich, und die Besseling sind von Alters her freie Leute gewesen. – Und derweil die Herrschaften ihren Kaffee trinken,“ sprach er jetzt mit einer gewissen Höflichkeit weiter, „will ich den Wagen für sie rufen lassen, werden wohl in ihre Terminei verlangen, und zu gehen ist nach dem Regen schlecht.“

Als sich die Gesellschaft, nachdem er das Gemach verlassen, fast bestürzt einander anschaute, trat der Jäger an den Tisch und sagte in begütigendem Tone: „Halten Sie dem Alten die Barschheit zu gut, meine Damen. Sie ist weniger böse gemeint, als es vielleicht Ihnen erscheint. Ich glaube, seine Vorfahren und auch er selbst noch haben um ihren Besitz und ihre Freiheit mehr als einen Kampf bestehen müssen. Das verbittert und verhärtet solch ein ohnehin hartes Herz noch mehr.“

Die Frau, die mit dem Kaffeebret in der Hand bei den Worten des Greises in’s Zimmer getreten und dunkelroth geworden war, setzte dasselbe jetzt nach des Jägers Rede nieder und meinte hörbar zornig: „Dadurch wird’s nicht anders, Vetter. Frei sind die Besseling freilich von jeher gewesen, aber grob waren sie auch. Die Herrschaften glauben nicht, was das für ein Kreuz mit den Leuten ist. Aber sie sollen es hören von mir, was sich gegen unsere Gäste schickt. – Lassen’s die jungen Herrschaften gut sein,“ fügte sie dann mit einem tiefem Athemzuge hinzu. „Bitte, langen Sie zu, und Gott gesegne es Ihnen. Ich biet’s von Herzen.“

Sie aßen und tranken, wie sie es nach dem Marsch durch den schwülen Tag und das folgende Unwetter wohl bedurften, allein die fröhliche Stimmung war vor diesen letzten, plötzlichen und herben Stößen völlig entflogen und kehrte nicht wieder, obgleich die Frau und der Jäger auf das Redlichste bestrebt schienen, die jungen Leute ein freundlicheres Bild von der in der Mühle und bei ihren Bewohnern herrschenden Gastlichkeit gewinnen und mit sich fortnehmen zu lassen. Der Greis kam ebenso wenig wie sein Sohn wieder zum Vorschein. Trotzdem athmeten die Drei wie erleichtert auf, als nach dem Aufhören des Regens wirklich ein offener Wagen mit zwei stattlichen, glatten Pferden vor die Mühle fuhr, und eilten, die Abfahrt nicht zu verzögern. – „Wenn man wirklich den Wagen benützen muß?“ fragte Esperance, gegen den sie gleichfalls hinaus begleitenden Jäger gewendet.

„Das müssen Sie allerdings, gnädiges Fräulein,“ entgegnete der junge Mann freundlich. „Lang ist der Weg zum Schloß nicht. Aber die Wiesen werden jetzt beinahe überschwemmt sein.“

„Wir haben Ihnen noch gar nicht für Ihre Freundlichkeit gedankt,“ sprach Joseph vom Wagen herunter zu dem treuen Helfer, „und wissen nicht einmal, wem wir zu danken haben, ob –“

„Ein Gutsangehöriger, bin auch ich nicht,“ fiel der Jäger lächelnd ein, „obgleich ich augenblicklich als Gehülfe des herrschaftlichen Försters hier weile. Ich heiße Burgsheim.“

„Wir werden uns hoffentlich noch einmal und in einer besseren Stunde wiedersehen, Herr Burgsheim,“ sagte Esperance freundlich, und über ihre Wange flog wieder das schimmernde leise Roth. „Sie müssen uns kennen lernen, wie wir sind – lustig und keinem Menschen feindlich!“

Die Pferde griffen tüchtig aus, und da sie, um den Fuß des Hügels, an den die Mühlengebäude sich lehnten, einen weiten Bogen beschreibend, in’s ebene Land kamen, sah man wohl, daß diese Wegstrecke für die Damen unpassirbar gewesen sein würde, denn das Wasser stand hell auf den Wiesen, wie der Jäger es prophezeit, und überfluthete den Weg. Zurückgelegt war derselbe aber bald, und nach kaum einer Viertelstunde fuhren sie bereits langsam den steilen Schloßhügel hinan, einem alten, massiven, neben einem höheren Thurme sich auswölbenden Thore zu. Und nun ging es durch dasselbe auf einen nicht großen, von hohen, alterthümlichen Gebäuden rings umschatteten Hof und vor ein schweres Portal, dessen Thüren geöffnet standen.

„Gott im Himmel,“ rief, da sie hielten, drinnen auf dem dunklen Flur eine erschrockene Stimme, „Mutter, das Frauenzimmer hatte doch Recht – das sind sie – und auf Augustin’s Wagen!“ Und darauf erschien im Portal ein bejahrter, kleiner, aber starker Mann, der eben nur kaum den Rock auf die Schultern gebracht zu haben schien, mit hastigen, tiefen Verbeugungen, und aus dem Hintergrunde eilte eine fliegende Gestalt hervor mit dem klagenden Ruf: „O meine englischen Fräulein, welch’ ein Ort des Schreckens!“

„Da sind wir, wie es scheint, auch nicht willkommen, Esperance,“ meinte Eugenie sarkastisch.

Zudem trat eine dritte Gestalt in die Thür, eine große alte Frau – „Junge giebt’s hier nicht, Dernot stirbt aus,“ sagte Eugenie am Abend einmal lachend –, in würdiger ruhiger Haltung. Ihr Haar war silberweiß, aber ihr Auge noch klar, wenn sein Blick jetzt auch ernst, und das Gesicht zeigte noch jetzt feine stille Züge. „Gott segne Ihren Eingang in Dernot, gnädige Herrschaft,“ sagte sie ehrerbietig. „Hätte die Jungfer da vernünftig gesprochen, statt zu lamentiren und zu zittern, so hätten wir schneller bereit sein können. Aber gleichviel – die Herrschaft kommt immer recht.“

Sie bot den Damen ihre Hand zum Absteigen und führte sie in’s Haus, eine schwere Treppe hinan, in ein weites und hohes, altfränkisch möblirtes und eingerichtetes Gemach. „Haben die Herrschaften nur eine Viertelstunde Geduld,“ sprach sie, sich zurückziehend. „Ich lasse die Zimmer drüben ein wenig lüften.“

„Welch’ ein seltsamer Empfang, welche curiose Menschen!“ sagte Eugenie nach einer Weile kopfschüttelnd.

„Verstehst Du das Alles, Cousin?“ fragte Esperance fast zugleich, – das fröhliche Auge blickte jetzt ernst und die reine Stirn zeigte sich nachdenklich. „Was war das drunten in der Mühle? Und hier oben – weshalb der Schreck des Mannes und diese Haltung der alten Frau, die mich nicht täuscht – willkommen sind wir nicht!“

Joseph ruhte in einem der alten Lehnstühle und zündete sich eine Cigarre an. „Ei nun,“ meinte er in seiner leichten Weise, „die leben eben lieber ohne einen Herrn als mit und unter ihm. Ich fange an zu begreifen, weshalb Onkel Excellenz die Herrschaft Dernot nicht besonders liebt. Und wie ich immer sagte, hohe Herrin,“ fügte er launig hinzu, „diese Eure Thronfahrt erweist sich von Stunde zu Stunde mehr als das schönste Muster eines dummen Streiches der exquisitesten Art!“




4. Auf Dernot.

„Willkommen sind wir hier nicht,“ hatte Esperance gesagt, allein damit schien sie, wie nicht blos sie selbst alsbald erkannte, sondern auch die anderen Beiden zugestehen mußten, auf dieser Stelle nicht das Rechte getroffen zu haben. Der Verwalter, jener kleine starke Mann, zeigte sich so dienstbeflissen und unterthänig wie möglich und wurde sogar für einen Augenblick ganz strahlend, als es sich herausstellte, daß sein Bruder, der Leibjäger Jonas Märzbach, bei den jungen Herrschaften in höchster Gunst stehe. Ja er ließ sich zu der Bemerkung fortreißen – Worte erlaubte er in seiner Ehrfurcht sich sonst nur selten: „Der Jonas hat’s eben immer verstanden; er war nicht blöde. Aber daß er den jungen Gnädigen gefällt, das verwundert mich doch. Denn seine Profession verstand er, aber sonst war er ein Bär. Die großen Reisen freilich und die fremden Städte und das vornehme Leben werden ihn geleckt haben.“

„Nun, was das angeht,“ meinte Joseph, der dies Gespräch mit dem alten Burschen führte, herzlich lachend, „davon ist wenig zu rühmen. Er ist noch immer der alte Bär, allein da er es doch ehrlich und treu meint, so gefällt das den Damen gerade [196] zur Abwechselung nach all’ den Süßigkeiten, die sie sonst hören. Ihr habt ihn wohl lange nicht gesehen, Märzbach?“

„Seit der junge gnädige Herr Baron ihn dazumal mit sich nahmen – nicht, Euer Gnaden, und das sind jetzt – ein-, zwei-, drei-, vierundvierzig Jahre. Der gnädige Herr waren ja seitdem selber niemals wieder hier. Ja, das war eben auch so,“ fügte der alte Gesell achselzuckend hinzu. „Der Jonas verstand’s – ich war immer zu timide. So ging er, und ich blieb.“

Aus diesen Worten erklärte sich zugleich einigermaßen der Empfang, der den Ankömmlingen auf Dernot geworden war: er hatte sich nur in Folge ihres längeren Ausbleibens so erträglich gestaltet. Bei Sophie-Selindens Eintreffen und Ankündigung der Herrschaft sollte der Schreck des ehrbaren Verwalters, nach der Aussage der Zofe, hart an Entsetzen gegrenzt haben und der Mann händeringend und sinnlos umhergeschossen sein, ja selbst die alte würdige Frau hätte für ein paar Augenblicke beinahe die Fassung verloren. Nun bekannte und zeigte gelegentlich auch Meister Tobias Märzbach sich als ein ‚timider‘, leicht einzuschüchternder Mensch, der an nichts weniger als an einem Ueberfluß von Geistesgegenwart und Gewandtheit litt und obendrein vor seiner Herrschaft einen bebenden Respect zu empfinden schien, vielleicht gerade, weil er dieselbe niemals persönlich zu Gesicht bekam, sondern sie nur von fern herrschen, befehlen, bestimmen, strafen und belohnen sah. –

Heiter und wohnlich in unserem Sinne war das Schloß niemals gewesen; zur Zeit, da es gegründet worden, sah man auf dergleichen noch weniger, als daß es Schutz gegen die Herbststürme und die Winterkälte und gelegentlich auch noch gegen einen feindlichen Angriff gewähre. Es stammte urkundlich aus der Mitte des sechszehnten Jahrhunderts. Seitdem hatte dieser oder jener Besitzer daran, aber mehr im Innern als am Aeußeren, gebessert und nachgeholfen, bis plündernde Feinde mehr als einmal böse in den alten Mauern gehaust und die nach und nach verarmende und aussterbende Familie nichts mehr für die Wiederherstellung des Zerstörten zu thun vermochte. Dann kamen die Treuenstein und es geschah wieder etwas für das öde Haus, und als einer von ihnen die Herrschaft in seinem alleinigen Besitz hatte und ein Menschenalter lang hier hauste, wurde wenigstens ein Theil des Schlosses wirklich behaglich und wohnlich, ja fast prächtig eingerichtet. Dann aber war’s vorbei, und nun machte kein Lüften mehr die alten großen, dämmerigen Räume wohnlich, kein Putzen schützte die Fensterscheiben vor dem Sonnenbrand. Die reichen Holz- oder Stuckdecken ließen sich nicht mehr freihalten vom immer tiefer dringenden Staube, die glänzenden Vergoldungen wurden blind, und die kostbaren Vorhänge und Bezüge verblaßten und zerfielen.

Kurz, zum Aufenthalt für vornehme und anspruchsvolle Bewohner eignete sich das Schloß nicht, am wenigsten aber für junge und heitere, und ein Ueberfall der ungekannten und daher noch mehr gefürchteten Herrschaft, wie er Meister Tobias gänzlich unvorbereitet getroffen, hätte mit Fug und Recht auch einen bei weitem weniger „timiden“ Menschen ernstlich erschrecken dürfen. Und da alle Schäden und Mängel bei dem trüben, regnerischen Wetter, das dem Gewitter folgte, nur um so bedenklicher sichtbar und fühlbar wurden, mußte man’s wohl entschuldigen, daß der Arme noch immer nicht seinen Gleichmuth wiederzugewinnen vermochte.

Bei seiner Gattin Katharina war es damit freilich um Vieles anders. Ihr ganzes Wesen und Auftreten ließ jene Angabe Selindens, daß auch sie anfänglich die Fassung verloren habe, täglich weniger glaubhaft erscheinen. Die, man durfte wohl sagen, schöne alte Frau benahm sich ihren jungen Gästen gegenüber auf das Schicklichste und Würdigste, von Befangenheit und Verlegenheit zeigte sich niemals auch nur eine Spur, und nirgends fehlte, was billigen Ansprüchen der jungen Leute genügen konnte. Und je mehr man von der Frau sah und hörte und je besser man sie kennen lernte, desto deutlicher erkannte man auch, daß man in ihr eine tüchtige, doch sehr ernst angelegte oder erst durch das Leben ernst gewordene Natur vor sich habe. Es lag Denken und Sorgen auf dieser Stirn und Leiden in diesen Zügen, und aus ihrer ganzen Erscheinung, aus ihrem Schaffen, Gehen, ja aus ihrem Ruhen, vor Allem aber aus dem Blick der großen, dunkelgrauen, stillen Augen sprach einen an, was man Leuten dieses Standes und Bildungsgrades kaum recht zugesteht – die Melancholie.

Bei einer, wie wir sagten, tief angelegten Natur, wie die Frau Katharinens, erklärte sich dies jedoch zumeist schon aus dem steten Aufenthalt im verödeten Schloß und aus dem einsamen und einförmigen Leben, das seinen Bewohnern geboten war. Mit der Verwaltung und den übrigen Geschäften auf der reichen Herrschaft hatte Meister Tobias nichts zu thun, und von einem zahlreichen Hausstande war auf Dernot auch keine Rede. In Ansehung des Aufenthalts im Schloß aber empfanden selbst die jungen Gäste schon, wie herabstimmend derselbe wirkte. Von der Lust und dem Scherz, von all’ dem heiteren, oder auch ein wenig ausgelassenen Treiben, das die jungen Mädchen hier zu finden, sich zu schaffen gehofft, durch das sie sich zu der übermüthigen Expedition hatten verleiten lassen, – davon fand sich alle Tage weniger.

Es war, um keine schlimmere Bezeichnung zu wählen, ein trübseliger Platz in seiner Stille, Oede und Düsterheit. Die langen, dunklen Corridore, die gleichfalls dunklen, zum Theil baufälligen Treppen und Treppchen, die wüsten Säle und Gemächer, deren Decken eingestürzt waren, wo die Tapeten zerfetzt von den Wänden hingen und im Zugwind rauschten, der durch die schlecht schließenden, hie und da mit Bretern versetzten Fenster drang – „der Rentmeister schlägt jeden Zuschuß ab, Excellenz wolle nichts davon wissen,“ erklärte Meister Tobias den jungen Leuten, die er einmal auf einem „Inspectionsgange“ begleitete, – das Alles war schon traurig genug. Allein auch in den noch bewohnbaren Räumen war es kaum behaglicher, zumal an diesen Regentagen. Sie waren kalt und feucht, die unendlich lange nicht benützten Kamine rauchten, und die hier stets herrschende Dämmerung wurde noch durch die hohen Bäume vermehrt, welche ganz in der Nähe herangewachsen waren und die verhältnißmäßig kleinen, trüben Fenster mit ihren jetzt noch fast ungelichteten Kronen beschatteten.

„Die Schatten der Vergangenheit schweben klagend durch die so traurigen Schauplätze,“ sagte Selinde selbst klagend und auch mit anklagendem Blick ihrer schwärmerischen Augen zum Himmel schauend.

„Sage lieber: ‚die Schatten der Gegenwart‘ – beste Selinde,“ meinte Joseph achselzuckend. „Man rennt sich in dieser Residenz unserer lieben Herrin am sogenannten hellen Tage überall beinah den Schädel ein.“

„O Gott, junger Herr, ich meinte nicht die Dämmerung, sondern die armen körperlichen Schatten,“ erklärte die Zofe; „die Schatten der verfolgten Unschuld und der schrecklichen Wütheriche, die hier – hier gelitten und gehaust. Ich ahnt’ es gleich, daß es hier –“

„Sage um Gotteswillen, Selinde, was redest Du da wieder alles durcheinander?“ unterbrach sie Eugenie lachend. „Hast Du ein ‚Gespensterbuch‘ mit auf die Reise genommen und liesest es Nachts im Bett?“

„O Gott, Fräulein, lesen, dann! Denken Sie, es spukt hier wirklich! Das muß ja so sein in solchem alten Raubschloß, und es ist ja so romantisch. Aber schrecklich ist es doch! Denken Sie, es schlürft und wandelt und seufzt Nachts wirklich im Corridor. Dann geht meine Thür auf, wie von Geisterhänden –“

„Deine Thür, beste Selinde?“ fragte Joseph theilnahmsvoll dazwischen.

„O Gott, junger Herr, meine!“ versetzte sie, hörbar verletzt. „Aber nahe ist sie – sehr nahe! Denn ich hör’s auch, wie sie geschlossen wird, und dann – dumpfes Stöhnen, Murmeln, Klirren –“

„Das find’ ich höchst rücksichtslos gegen Dich und Deine Ruhe, beste Selinde,“ fiel der unbarmherzige Joseph wieder ein, „und würde ich’s mir, an Deiner Stelle, von dem Gespenst verbitten.“ – Als aber die Zofe das Zimmer verlassen hatte, sagte der junge Mann in einem ganz anderen Ton: „Wie romantisch eure liebe Selinde auch sein mag – ganz ohne ist die Sache diesmal nicht. Auch ich habe in der letzten Nacht ein Geräusch im Corridor vernommen, das über die Rattentritte hinausging, und als ich mir die Freiheit nahm, ganz vorsichtig aus der Thür zu lauschen – ich konnte mir wirklich nicht denken, wer zu dieser Zeit hier oben etwas zu thun haben könnte –, schwebte wahrhaftig ein unglücklicher Schatten dahin und –“

„Verschwand, indem der ihn begleitende magische Lichtglanz erlosch,“ sagte Eugenie spottend.

(Fortsetzung folgt.)
[197]
Aus dem Steppenleben Rußlands


Das Rußland Alexander’s des Zweiten ist ein anderes als das Nikolaus’ des Ersten. Es ist frei von der Sclaverei, welche an seinem Grund und Boden haftete, frei auch von einer Strafrechtspflege, die so lange europäischer Gesittung Hohn sprach;

Eine Kirgisenalpfahrt.
Originalzeichnung von H. Leutemann.

denn unter dem Regiment des derzeitigen Kaisers hat weder die Knute, jene dreigespaltene Geißel mit den Eisenhaken, dem Gemißhandelten das Fleisch vom Leibe zu reißen, noch die Plete, die Peitsche mit den Bleikugeln, welche dem Delinquenten die Brust zerbrechen, jemals ihre blutigen Dienste thun müssen. Wenn daher in der neueren Zeit auch die deutsche Auswanderung mehr als früher ihr Auge auf Rußland richtet, als auf ein Land, wo noch Hunderte, ja Tausende von Quadratmeilen des fruchtbarsten Bodens bis über die Steppen der Kirgisen hinüber nur emsigerer Hände und intelligenterer Köpfe harren, um die außerordentlichsten materiellen Erfolge zu verheißen, so darf dies Leben nicht Wunder nehmen, nachdem das weite Slavenreich aus dem Zustande asiatischer Barbarei herauszutreten und auf allen Gebieten seines Lebens eine freiere geistige Bewegung den Fortschritt, die Bahn zu europäischer Civilisation und Humanität zu bezeichnen beginnt.

Sonder Zweifel eröffnet sich der Auswanderung nach dem Innern Rußlands mit seinen unerschöpflichen Hülfsquellen, ja bis nach Sibirien hinüber, das bekanntlich weit besser ist als sein Ruf, [198] eine große Zukunft, allein wir glaubten gegen unsere Pflicht zu fehlen, wenn wir nicht eindringlich auf die unendlichen Mühseligkeiten, Strapazen, Schwierigkeiten und Gefahren hinweisen wollten, welche den deutschen Ansiedler in den mittleren und östlichen Provinzen des großen Russenreiches erwarten – Schwierigkeiten, welche denen einer Ansiedlung im fernsten Westen Nordamerikas sicher die Wage, ja mehr als die Wage halten dürften.

Um einen Blick zu thun nur in einige dieser Schwierigkeiten, folge uns der Leser dahin, wo die östlichste Eisenbahn des Czarenreichs endet, besteige mit uns die Tarantasse mit dem klingenden Dreigespann, durchfliege jenseits des Urals mit uns die berüchtigte Barabasteppe und folge uns bis in die Steppe der nomadisirenden Kirgisen – er wird sich sagen, daß eine solche Steppentour nicht Jedermanns Sache ist und neben vielen anderen Erfordernissen, zunächst neben einem stahlharten Körper und ebenso festen Nerven, auch eine tüchtig gefüllte Börse erheischt. Vor Allem muß der Reisende völlig auf dem Pferderücken zu Hause und dabei wetterfest sein. Es darf ihm keine Beschwerde machen, einige Wochen lang während des ganzen Tages im Sattel zu sitzen, während der Nacht die nackte Erde als Bett, den Himmel zur Decke zu haben. Eine gute Büchse, eine sichere Hand und etwas viel Courage sind ebenfalls wünschenswerth. Ist dies Alles zur Genüge vorhanden, sind eine Anzahl Kosaken als Begleiter angeworben, so kann die Reise beginnen. Es ist russischerseits verboten, in kleineren Trupps als zu acht südlich die Grenzposten zu überschreiten. Eine Anzahl Pferde dient zum Wechseln, andere tragen das Gepäck. Man sage nun aller Cultur und ihren beengenden Fesseln Lebewohl und grüße in gereimten oder ungereimten Ergüssen in gehobener Stimmung die Freiheit der Steppe!

Ja, es liegt eine eigenthümliche Poesie im Steppenleben. Die weite weite Ebene dehnt sich aus, unendlich wie das Weltmeer! Der kleine Mensch verschwindet in Nichts gegenüber der allgewaltigen Natur! Die Pferde traben meilenweit über loses Kieselgeröll, dann Tagereisen weit über Sandflächen, mit Krystallen von Bittersalzen überstreut wie mit Schnee. Kiesel und Sand, zerrissene Granitkämme und Porphyrkuppen bilden den Rahmen um die Oasen der Steppe, um die flachen Senkungen, die zeitweise als grünende und blühende Auen erscheinen.

Der schmelzende Schnee oder wiederholte Gewitterregen erwecken sie zu einem üppigen, wenn auch kurzen Leben. Zahlreiche Gräser bilden die Matten; sie werden durchwebt von blühenden Kräutern und Halbsträuchern: Beifuß- und Wermuthgestrüppen, gelbblühendem, blattlosem Saxaul, gelben Rosen, Traganthstauden, harzreichen Dolden, Verwandten des Vergißmeinnicht, zierlichen Kreuzblumen, Silenen, purpurrothem Esparsett, Melden, niedrigen Robinien und anderem kleinen Gewächs. Dort, wo sich Grundwasser findet, wogen Schilfwälder. Wildschweine haben ihre Kessel darin, Wölfe und Tiger lauern auf sie. Auf der grünenden Steppe weiden die Rudel der Saiga-Antilope, dort sammeln sich Trappen, Wachteln, Fasanen und Steppenhühner. Dorthin treibt der Kirgise seine Heerden: Schafe, Rinder, Ziegen, Pferde und Kameele in ungeheuren Zahlen. Der Hirt liebt die weidereiche Steppe, wie der Araber die Wüste, wie der Schiffer das Meer.

Die nördlich wohnenden Horden treiben im Frühling hinab in die Steppen, beim Anbruch des Winters suchen sie Schutz in den Thälern des Altai. Umgekehrt verfahren die Stämme im Süden. Dort, zwischen dem Balkasch-See und Issik-kul, erstirbt im Sommer im Tieflande jegliche Spur von Graswuchs, der Sand wird nach Mittag so heiß, daß ein Flintenlauf, der dort gelegen, der anfassenden Hand buchstäblich Brandblasen erzeugt, – an den feuchten Stellen schwärmen Wolken von Stechmücken, die Menschen und Vieh zur Verzweiflung bringen können. Dort führt der Kirgise ein Leben ähnlich dem Aelpler der Schweiz, nur in größerem Stile. Tritt der Frühling mit milderem Wetter ein, so ziehen Kundschafter voraus in’s Gebirge, hinauf in die Schluchten des Alatau und Karatau bis zu den Ausläufern des Syanschan, des Himmelsgebirges. Sie überzeugen sich, ob der Schnee im Gebirge so weit zusammengeschmolzen, daß die Passage für das Vieh frei ist und die Weideplätze in den Hochthälern zugänglich sind.

Währenddem nahen aus allen Theilen der Steppe die verschiedenen Auls unter ihren Führern den wenigen Engpässen, welche als Pforten zum Hochgebirge dienen. Erklären die Botschafter die Alp für zugänglich, so einigt man sich über die Marschfolge und über die Zeit des Aufbruchs. Am frühen Morgen wird die ganze Steppe am Fuße des Gebirges lebendig. Ströme von Schneewasser brausen donnernd und schäumend durch die Schluchten hinaus in die Steppe, – lebendige Ströme von großem und kleinem Vieh drängen sich mit noch größerem Lärm von der Steppe her nach dem Gebirge hinauf. Reiter sprengen ordnend hin und her, hier antreibend und dort zurückhaltend. Hunderte von langhalsigen zweibuckeligen Kameelen, Tausende von Rindern und zügellosen Rossen, Zehntausende von Schafen nahen sich blökend, brüllend und wiehernd in allen Tonarten. Sie drängen sich in den schmalen Paß ein, der zwischen senkrechten Felswänden allmählich aufwärts führt, stellenweise sich engt, ja durch herabgestürzte Blöcke hier und da versperrt wird, dann wieder sich weitet. Die Hirten reiten mit ihren Familien und ihrem ganzen Hausrath mitten in diesem wilden Durcheinander und suchen nach Kräften etwas Ordnung herzustellen.

Ein wettergebräunter Kirgise mit der Lanze zur Seite und der Streitaxt am Sattelknopf geißelt eine Heerde Rosse vor sich her, die sich untereinander mit Beißen und Schlagen den Vorrang streitig machen. Ein zweiter hetzt mit einem Rudel starker Hunde eine Heerde kräftiger Ochsen zusammen, die dann gleich einer unerschütterlichen Phalanx mit vorgestreckten Hörnern in den Paß einrückt. Ein Hauptbulle erhielt den großen eisernen Fleischkessel auf den Kopf gebunden; das Thier stolpert, der Kessel fällt ihm dröhnend nach vorn auf die Nase. Der Bulle wird wild, schleudert nach einigen Kreuz- und Quersprüngen die polternde, dröhnende Bürde ab und jagt schnaubend in gestrecktem Galopp davon. Er weist grimmig den Männern die Hörner, wenn sie es versuchen, ihn zu seiner Pflicht zurückzuführen. Es bleibt nichts übrig, als einen geduldigeren Collegen aufzusuchen, der das wichtige Möbel weiter schleppt.

Eine junge, kräftige Dirne sitzt auf einem munteren Roß und regiert es trotz dem besten Manne, eine zweite wählte sich ein Rind zum Reitthier. Halberwachsene Kinder benutzen gleiche Reisegelegenheiten, kleinere werden in Filzsäcke gesteckt und an den Seiten eines ehrwürdigen Trampelthiers aufgehangen wie Pistolen in Halftern. Ein anderes Kameel schreitet mit Filzballen beladen einher, an beiden Seiten sind ihm Bündel der langen Zeltstangen angebunden. Bei jedem Schritte schwanken dieselben hin und her, so daß das Thier von Weitem aussieht, wie ein Riesenengel mit hängenden Flügeln. Ein drittes Trampelthier trägt die Zeltspitze auf dem Buckel und erscheint dadurch wie eine wandelnde Jurte. Andere Kameele und Rinder sind mit den übrigen Geräthschaften der kirgisischen Haushaltung bepackt. Die einen tragen Koffer oder Ballen, Säcke, Teppiche, Brennholz und Kochgeschirr. So ungefähr sieht die Scene aus, die unser Bild darzustellen versucht.

Zwei bis drei Tage lang wälzt sich der lebendige Strom ununterbrochen in den Thälern hinauf. Droben vertheilen sich die Heerden altem Herkommen gemäß in die Seitenthäler, wandern dort in ähnlicher Weise, wie es die Senner unserer Alpen thun, je nach der Jahreszeit höher oder tiefer und ziehen sich am Ende des Sommers wieder nach der Steppe hinab, um in geschützten Senkungen oder an den Seeufern zu überwintern.

Kehren wir am Abend in dem Aul, dem Kirgisenzeltdorfe, ein, dessen aufsteigender Rauch uns seit mehreren Stunden als Wegweiser diente. Der Herr des Auls, der Sultan, wie er sich nennen läßt, heißt uns willkommen. Wir werden ganz in die Vorzeit der Patriarchen, in die Zeit eines Abraham und Jakob versetzt. Der Hirtenfürst prangt in kostbaren Kleiderstoffen. Ein langes, schlafrockähnliches Gewand aus schwarzem oder buntem Sammet bildet sein Oberkleid, ein scharlachrother kostbarer Shawl umgürtet seine Lenden, eine Zobelmütze bedeckt sein Haupt. Auch die erwachsenen Söhne und die Frauen sind in gleiche farbenreiche und theure Stoffe gekleidet, die meistens von China aus eingeführt werden. Das Zelt des Sultans ist schon äußerlich bezeichnet durch die lange Lanze mit schwarzem Roßschweif, die am Eingange aufgepflanzt ist. Der Boden im Innern des Zeltes ist mit kostbaren Teppichen aus Buchara bedeckt. Filzballen liegen ringsum und dienen als Ruhekissen und Schlafstellen. Auf einer Querstange sitzt ein gewaltiger Adler, nicht weit davon ein Habicht, beide zur Beize abgerichtet.

Zum Willkommen bietet man dem Fremden einen großen Holznapf voll Kumis, gegohrener Pferdemilch. Ein mannshoher Ledersack im Zelt enthält jenes Labsal und wird während der geeigneten Jahreszeit nicht leer. Dem Gaste zu Ehren wird ein [199] fettes Schaf geschlachtet und zubereitet, dann gemeinschaftlich verzehrt. Zum Nachtisch folgt Thee in chinesischem Porcellan, dazu getrocknete Aprikosen und Rosinen, aus den südlichern Ländern zugeführt. Der Sultan nimmt seinen Thron ein, ein kostbares Möbel aus schönem Holz und Elfenbein geschnitzt und mit edlen Metallen geziert, von Urväter Zeiten herstammend. Bei der Wanderung des Auls wird dies wichtige Kleinod von einem besondern Kameele getragen. Leitet der Besitzer seine Abstammung von Dschingiskhan, dem bekannten großen Eroberer, her, so zieren den Thron und die Pelzkappen der Sultansfamilie Eulenfedern, – führt das Herrschergeschlecht seinen Stammbaum bis auf Timur Tamerlan zurück, so treten Pfauenfedern an jene Stelle. In der Nacht, wenn das Lagerfeuer einen matten, düsterrothen Schein verbreitet und malerisch die ringsum lagernden Nomaden beleuchtet, ergreift wohl der Barde des Auls, der Hofsänger des Sultans, die Balaleika und besingt aus dem Stegreif Leben und Poesie der Steppe in milden, weichen Weisen.

Gewiß, die Steppe hat ihre Reize, das Leben der Nomaden hat seine Poesie und seine Herrlichkeiten, – doch besehen wir uns jetzt auch die dunkele Kehrseite des patriarchalischen Zustandes. Tritt man am Abend hinein in die gastliche Jurte, in der man zu übernachten beabsichtigt, so darf man nicht zartnervig sein, sonst ist man verloren. Etwa ein Dutzend Menschen hocken im Innern des schwarzen Filzzeltes am Boden beisammen; der Regen hat sie zuvor durchnäßt, er sickert noch nachträglich zwischen den Filzdecken hindurch. Ein paar Ziegenlämmchen und einige Hunde liegen zwischen den Menschen und helfen durch ihre Ausdünstung die Luft noch dicker machen, als sie ohnedem schon ist. Die Zeltklappe in der Spitze ist geschlossen, die Thür durch dicke Filze verhängt, um den Wind abzuhalten. Die Umgegend bietet keine Spur von Holz, denn die Steppe hat keine Bäume, nur stellenweise einiges niedrige Gestrüpp. Kameeldünger, von den Kirgisenfrauen zu Kuchen geknetet, dient als hauptsächlichstes Brennmaterial.

Wir wollen nicht vorwitzig sein, nicht in die Geschirre schauen, welche zur Aufbewahrung und Herstellung der Speisen gebraucht werden. Es muß ein sehr beherzter Mann sein, der seine Nase zum zweiten Male einem der ledernen Melkeimer nähert. Auswaschen schadet dem Wohlstande! gilt als Hauptregel der Wirthschaft. Wasser ist in der Steppe oft ein seltener, höchst kostbarer Artikel, Leibwäsche ein unbekanntes Ding. Jeder Rock des Kirgisen hat zwei Seiten; ist die eine zu schmutzig und abgetragen, so wird das Kleid umgewendet, bis beide verbraucht sind. Ungeziefer gehört mit zur Familie. Niemand wird sich Gesicht oder Hände mit Wasser benetzen, schlimm genug, wenn der Regen so rücksichtslos ist es zu thun. Die eigentliche Farbe des Teints ist deshalb bei den kirgisischen Schönen schwierig zu beurtheilen. Kleinere Kinder laufen völlig nackt umher oder behängen sich nothdürftig mit den Fetzen eines Schaffelles. Nachts lagern sie sich in die warme Asche; als Schutzmittel gegen die Mücken nehmen sie auch wohl ein Schlammbad wie die Neger am weißen Nil.

So glühend heiß im Sommer die Steppen sind, so bitter kalt sind sie im Winter. Der Buran, der furchtbare Schneesturm, wirbelt Sand- und Schneemassen daher und droht Tod und Verderben. Die Heerden werden scheu; die Thiere rennen wild schnaubend mit dem Winde davon, wenn es den Hirten nicht gelingt, sie in einem geschützten Thale zum Stehen zu bringen. Sie sinken endlich ermattet nieder und kommen um oder sie stürzen in halbverschneite Klüfte. Nicht selten faßt der jähe Windstoß eine Filzjurte, stürzt sie um und zerstreut ihren Inhalt. In der Finsterniß der Nacht ist Hülfe kaum möglich, manches Kind wird buchstäblich davon gerollt; nach Tagen erst findet man es unter dem Schnee erstarrt als Leiche wieder. Die Horden der Nomaden halten sich wie die Stämme der amerikanischen Rothhäute immer auf einer mäßigen Kopfzahl. Die Sterblichkeit der Kinder ist außerordentlich groß; sie wird herbeigeführt durch die Mühseligkeiten des Wanderlebens.

Folgen sich mehrere günstige Jahre mit verhältnißmäßig milden Wintern, so nehmen die Heerden und mit ihnen der Wohlstand der Nomaden bedeutend zu. Es können ansehnliche Mengen Vieh sowohl nördlich an die Russen, wie auch an die südlichen Nachbarn verkauft werden. Ein einziger harter Winter dagegen bringt sie nicht selten wieder an den Rand des Verderbens. Der Kirgise kennt keinen Ackerbau und keine Wiesencultur. Er bezieht sein Mehl und seine Hirse von den Nachbarn. Er baut keine Futterkräuter und sammelt kein Heu für sein Vieh. Sogar bei hohem Schneefall überläßt er es den Thieren, sich selbst die dürftigen Kräuter unter der gefrorenen Kruste hervor zu scharren. Dann schmilzt freilich nicht selten eine Roßheerde von Tausenden auf wenige Häupter zusammen. Haufen von Rinderleichen und Schafcadavern bezeichnen im Frühjahr die Lagerstätten.

In den Schluchten der südlichen Gebirge ist während des Winters der Aufenthalt mit den Heerden unmöglich. Nicht nur, daß dort der Schnee viel früher sich aufhäuft und später wegthaut, hier verfangen sich die von der Steppe hereinbrausenden Stürme in einer wahrhaft grauenvollen Weise. Sie wüthen dort so arg, daß die Nomaden allen Ernstes behaupten: die Dämonen der Steppe verbündeten sich mit Schaitan (Satan), dem Teufel der Kirgisen, und führten Krieg mit den Gespenstern der Gebirge. Das Heulen des Sturmes ist zu Zeiten grausig; stellenweise trifft man ganze Waldungen von Pichta- und Arvenkiefern in den oberen Gebirgsthälern zerbrochen und zusammengestürzt. Man vermuthet, daß die Baumlosigkeit der weiten Steppe durch jene Orkane herbeigeführt sei.

So grauenvoll aber die Unbilden der Witterung für die wandernden Hirten auch sind, die keinen andern Schutz haben als das Filzzelt, so sind sie doch nicht das schlimmste der Uebel. Auch die Wölfe sind es nicht, die in Rudeln herumschweifen, auch nicht die Tiger, die einzeln selbst bis zum Irtisch vordringen. Das größte Unglück für jene Völker sind ihre eigenen Sitten, vorzüglich die Raubzüge (Barantas), die gleich einem Krebsschaden von einer Generation auf die andere vererbten und durch die Macht der Gewohnheit leider in den Augen der halbwilden Reiter selbst zu einer Ehrensache geworden sind. Das junge Geschlecht wird durch die Lust an Abenteuern dazu veranlaßt. An Ursachen zu Händeln fehlt es nicht. Verlaufenes Vieh, streitige Weideplätze, eine entführte Geliebte, für welche dem Schwiegervater der Kalym, das mitunter sehr hohe Brautgeld, nicht bezahlt ist, eine Viehseuche oder ein harter Winter, welche die eigenen Heerden so herunter gebracht haben, daß sie nicht mehr zur Existenz der Leute ausreichen, u. dgl. geben den ersten Anstoß dazu, einen andern Aul zu überfallen und – ein wenig Vieh wegzutreiben. Mord wird nicht beabsichtigt, kommt aber gar zu leicht vor, wenn die Angegriffenen, wie natürlich, ihr Eigenthum vertheidigen. Blut kann nur durch Blut gesühnt werden; es entspinnen sich hieraus Kämpfe zwischen benachbarten Horden, die sich von einer Generation auf die andere vererben und nicht selten entweder erst mit der Vernichtung des einen Stammes oder mit der völligen Erschöpfung beider endigen. Jeder Begegnende, Jeder, der sich einem Aul naht, gilt zunächst als Feind. Keine Nacht darf man sich unbesorgt einem sichern Schlafe überlassen. Ein permanenter Kriegszustand Aller gegen Alle ist so ziemlich die Regel.

Bekanntlich theilen sich die Kirgisen in die kleine, mittlere und große Horde, von denen die beiden ersten in den russischen Steppen umherschweifen, die letztere frei in Turkestan lebte. Zwischen den Gebieten der großen und mittlern Horde befand sich ein Landstrich, der zum Zankapfel zwischen beiden Kirgisenstämmen ward. Die Russen wurden zu Schiedsrichtern angerufen, machten zum Schein einen Versöhnungsversuch, der ohne Erfolg blieb, und errichteten bei dieser Gelegenheit dort das Fort Kopalsk, das sie mit einer Batterie armirten. Zu spät erkannten die Kirgisen den politischen Fehler, den sie gemacht hatten. Sechs- bis siebentausend Reiter der großen Horde griffen in zwei Abtheilungen nach Art ihrer Barantas den kleinen Kosakenposten an, allein eine gutgezielte Kartätschenladung und dann als Abschiedsgruß noch einige Vollkugeln beendigten den ganzen Kampf. Die Karakirgisen (die Schwarzen) in den Gebirgen, langjährige Feinde der großen Horde, begrüßten die Russen als Freunde, verbündeten sich mit ihnen und riefen nachher den Schutz derselben gegen den Herrscher von Taschkend und Kokand an. Hierdurch wurden die ernsteren Kämpfe herbeigeführt, welche im verflossenen Sommer die Herrschaft der Russen bis zum Syr Darja ausdehnten.

Schon in den wenigen Jahren, in denen die Russen am Balkasch und Issik-kul, am Alatau und Karatau ihre Macht befestigten, haben sich die oben geschilderten wirren Verhältnisses bedeutend gebessert. Die Nomaden haben sich theilweise schon bewegen lassen, feste Wohnungen zu bauen, Bewässerungen der [200] Steppe anzulegen und Ackerbau zu treiben. Die Kosaken gehen ihnen hierin so wie in allerlei Handwerken mit gutem Beispiele voran. Räubereien dürfen nicht mehr vorkommen, sie werden auf’s Strengste geahndet. Ueber Streitsachen entscheidet der kaiserliche Richter.

Mag auch nach europäischen Begriffen in den dortigen Verhältnissen noch gar Vieles zu wünschen sein, so tritt doch hier unter den Kirgisenhorden und unter dem Räubergesindel der Grenzbezirke Turkestans der Kosak wirklich auf als Genius der Civilisation. Der Schritt aus dem beweglichen Filzzelt in das feste Wohnhaus, zu welchem er den Nomaden veranlaßte, ist der erste zur weitern Cultur, andere werden jenem nachfolgen, wie die Civilisation unverkennbar das ganze weite Czarenreich in ihre Bahnen gerissen hat. Immerhin aber muß der ein ganzer Mann, härter und fester noch als die alten Squatters am Mississippi und die Regulatoren von Arkansas sein, welcher jetzt schon als deutscher Ansiedler im Innern Rußlands leben und gedeihen will.




Das Wiener Chormadel.


An einem Sonntage des Jahres 1856 – wir erzählen nur Wahres, nichts Gemachtes – wenige Minuten vor zehn Uhr Vormittags, herrschte auf dem Chore der Karlskirche in Wien große Unruhe und Verwirrung. Das Hochamt und die dabei auszuführende Musikmesse sollte beginnen; die berühmte Hoftheater-Sängerin T. hatte versprochen, während des Offertoriums ein religiöses Solo zu singen; fromme und neugierige Gläubige füllten die Kirche, als plötzlich von der sehnsüchtig Erwarteten die Schreckenskunde kam, sie wäre krank und könne nicht erscheinen. War ihre Gesundheit wirklich angegriffen? Hatte ihr der Applaus im Theater am vorigen Abende nicht donnernd genug geschienen? Glänzten gestern die Edelsteine im Schmucke einer Rivalin noch blendender als in dem ihren? Wer vermochte hierüber Kunde zu geben?! – genug, sie kam nicht, und die versammelten Gläubigen sollten sie nicht hören. – Aber die Messe mußte beginnen; es fehlte nur noch eine Minute bis zehn Uhr, der Priester sah hinauf zum Capellmeister, dieser blickte nach dem Regens chori, der glotzte auf den Organisten und dieser warf bekümmerte Blicke auf die Choristen und Musiker, die unter einander flüsterten. Da plötzlich schien der Regens chori von einer Eingebung erleuchtet – er eilte auf den Capellmeister zu, sprach einen Augenblick eifrig mit ihm; dieser schüttelte den Kopf, wie Einer, dem das, was er eben hörte, sehr curios vorkam – doch er hob den Tactstock und „Kyrie Eleison“ schallte durch die Räume des Gotteshauses. Es war eine herrliche Messe von Mozart, aber nur wenige wahrhafte Kenner und Verehrer der Kirchenmusik lauschten andächtig den erhebenden Klängen, der größere Theil der eleganten Gläubigen, die an jenem Tage versammelt waren, harrte des Offertoriums, wo die Stimme der berühmten Künstlerin vom Theater auch einmal im Dienste des Höchsten ertönen sollte. Nun kam endlich der ersehnte Augenblick – alle Augen schauten nach der Stelle oben, wo die Solosänger immer erschienen, Augengläser und Lorgnetten wurden in Bewegung gesetzt; hie und da in versteckteren Winkeln sogar ein Operngucker – doch was war das? Anstatt der imposanten Gestalt der Berühmten tauchte ein kleines Köpfchen auf, das kaum über die Brüstung des Chores reichte, und ein Gesang ward vernommen, der weit verschieden von dem, auf welchen so sehnlich gewartet worden, dennoch nach wenigen Augenblicken die allgemeine Aufmerksamkeit fesselte – voll und holperig zugleich, ungeschult aber begeistert, ohne jenen richtigen Uebergang in den verschiedenen Abstufungen des Vortrags, den nur die musikalische Bildung verleiht, doch so frisch und natürlich, so warm, so eigenthümlich selbst in der Unbeholfenheit, daß die Hörer sich unwillkürlich angeregt fühlten.

Die Messe war kaum beendet, da stürzte ein Musikenthusiast auf das Chor. „Wer hat denn das Offertorium gesungen?“ fragte er.

Ein Musiker wies auf die Sängerin.

„Was? dös klane Madel hot die große Stimm?! Was is sie denn?“

Der noch in Wien lebende Chordirigent Rupprecht trat hinzu; er kannte den Frager. „Das ist die kleine Lucca,“ erklärte er; „nicht wahr, sie singt schön? Das Mädel hat ein kolossales Talent, aber sie lernt nix; wenn sie etwas ordentlich kann, habe ich ihr’s mit dem Fiedelbogen auf den Buckel zuerst eingebläut (historisch); das hat bisher noch am besten geholfen.“

„Aber warum halten die Eltern das Kind nicht strenge zum Lernen an? Warum geben sie ihm nicht eine sorgfältige Erziehung, warum geht sie nicht auf’s Theater? Die müßte ja ihr Glück machen!“

„Ja,“ meinte der würdige Chordirigent, „sie ist schon am Kärnthnerthor engagirt … als Choristin. Die Eltern können nichts für sie thun. Erstens sind sie blutarm; der Vater war eine Art Seidenwaarenhändler, ist im Jahre 1848 ganz verarmt und hat kaum meinen Unterricht bezahlen können. Die Kleine hat mit den Kindern des Sängers Erl, der hier in der Nähe wohnt, öfters gespielt, dieser ließ sie einmal im Scherze etwas nachsingen, das er ihr zuerst gegeigt, und war überrascht, eine so klare und kräftige Stimme zu entdecken. Er leitete die Aufmerksamkeit der Eltern auf die reiche Fundgrube im Talente dieses Mädchens – aber was konnten sie thun? Die Mutter bat mich, das Kind zu unterrichten; ich that, was ich vermochte – damals war sie zehn Jahre alt – jetzt in ihrem fünfzehnten muß sie schon denken, die Familie zu unterstützen … es blieb ihr nichts, als jenes Engagement anzunehmen. Uebrigens, wenn die Eltern auch vermöglich gewesen wären, ‚dös Madel‘ hätten sie doch nicht zum ordentlichen Lernen gebracht, der kleine Satan hat seinen eigenen Kopf; was der nicht paßt, dazu bringt sie kein T–, nicht einmal mehr der Fiedelbogen.“

So sprach der würdige Regens chori der Karlskirche, so auch dachte der Chordirigent der Oper am Kärnthnerthor, dem das wilde Mädchen manchen Aerger bereitete. Als er ihr einmal im Zorne den Rath an den Kopf warf, sie solle lieber Tänzerin werden, da sie doch immer wie ein junger Geisbock herumspringe, antwortete sie gleich: „I warum nicht?“ machte Entrechats und ahmte die Bewegungen der berühmten Tänzerinnen nach, daß der ganze Chor in helles Lachen ausbrach, in welches der Erzürnte zuletzt selbst mit einstimmte.[1]

Indeß entfaltete sich ihre Stimme immer mächtiger; man ward aufmerksam auf sie und selbst die berühmte Sängerin Medori von der italienischen Oper begann sich für sie zu interessiren. Auch der kleine Trotzkopf selbst sah ein, daß, um seinen Willen durchzusetzen, eine andere Carrière nothwendig sei, als die einer Choristin, und so wurde sie endlich am Olmützer Theater mit sechszig Gulden monatlich als Sängerin für „italienische Partien“ angestellt; vorläufig auf ein halbes Jahr.

Ein seltsamer Zufall wollte, daß unsere Heldin, noch bevor sie die Wiener Bühne verließ, einen kleinen Triumph feierte. Am Abende, wo ihr Engagement als Choristin endete, wurde Weber’s Freischütz gegeben. Die Führerin des Brautchors, die das „Wir winden dir den Jungfernkranz“ zu singen hatte, erkrankte plötzlich und – Pauline wurde ausersehen, an deren Stelle zu treten. Die guten Wiener waren schon seit langen Jahren gewohnt, „Kranzljungfern“ zu schauen, für welche das alte Soldatenlied „Schier dreißig Jahre bist du alt“ besser paßte, als Weber’s heiterer Jugendgesang; als mit einem Male das blühende Gesichtchen mit den feurigen Augen und dem Rabenhaar, die zierliche elastische Gestalt vortrat und nun gar die prächtige Stimme so lustig und hell ertönte, da klatschten sie Beifall aus Leibeskräften, und die Direction des Hofoperntheaters wollte den neu entdeckten „Stern“ gleich fixiren; aber es war zu spät. Am andern Tage reiste Pauline ab; am 7. September 1859 trat sie zum ersten Male als Elvire in Ernani auf und errang gleich einen derartigen Erfolg, daß ihr binnen kurzer Zeit neue glänzende Anträge von größeren Bühnen Oesterreichs und Deutschlands zukamen. Sie konnte also wählen und ging auch schon vier Monate nach ihrer Ankunft in Olmütz – als Gefangene auf die Citadelle.

Die einzelnen Anlässe, welche diesen Zwischenfall herbeigeführt haben, sind jetzt wohl nicht mehr genau darzulegen; leichter ist’s, [201] in die verwickeltste diplomatische Unterhaltung, in schwierigste staatliche Fragen einen klaren Blick zu gewinnen, als in manche Theaterangelegenheiten, und eher läßt sich eine aufrichtige Versöhnung zwischen Preußen und Oesterreich denken, als zwischen zwei streitenden Bühnenköniginnen. Genug, eines schönen Tages erklärte die kleine Pauline Lucca, sie werde nicht mehr auftreten, wenn ihr eine gewisse Dame (ebenfalls Mitglied der Bühne) nicht Abbitte leistete für beleidigende Anspielungen und Reden. Der Contract wurde ihr vorgehalten, worin ausdrücklich Gefängnißstrafe stipulirt war für Verweigerung der Dienstpflicht. Sie spazierte ohne langes Besinnen auf die Citadelle und blieb einen Tag und eine Nacht daselbst, bis das allgemeine Aufsehen, welches der Vorfall im Publicum erregt hatte, den Director bewog, seinen ganzen Einfluß bei jener Dame anzuwenden, und diese das Verlangen der erzürnten Primadonna erfüllte. Die Annalen des so gefürchteten Castells erzählen übrigens, daß Pauline Lucca daselbst sich gar nicht übel befunden, in ihrer Zelle sogar den Gouverneur und dessen Gemahlin empfangen und sich mit ihnen besser unterhalten habe, als in der Gesellschaft ihres Herrn Directors und dessen Ehehälfte. Daß sie zu gleicher Zeit aus dem Gefängnisse und vom Theater entlassen wurde, konnte ihr auch gleichgültig sein, ihrer wartete ein Engagement in Prag mit dreitausend Gulden; von den Thoren der Olmützer Citadelle aus betrat sie den Pfad ununterbrochener, immer glänzenderer Triumphe.

Im März 1860 erschien sie auf der deutschen Bühne der alten Czechenstadt als Valentine und Norma. Der Jubel des Publicums war endlos. Die böhmische Aristokratie, welche von jeher der Musik reges Interesse widmete, zog das jugendliche Genie in ihre Kreise, und die Fürstin Colloredo, die Schwester des Gouverneurs Grafen Clam-Gallas, protegirte „das reizende ungezogene Kind“ ganz besonders. Ihr Ruf drang weit nach allen Richtungen, und in Massen kamen die Intendanten, die Directoren, Regisseure und Agenten – Jeder wollte den neuen Kometen sehen, Jeder ihn bestimmen, den Lauf nach seinem Theater zu richten. Doch ein kluger Astronom in Berlin hatte diesen Lauf schon genau berechnet, er kam gar nicht zum Vorschein, aber der Komet zog nach seiner Sphäre: das war Meyerbeer. Der damalige Regisseur des Berliner Hofoperntheaters hatte ihm bereits seit einiger Zeit berichtet, in Prag sei eine geniale, ganz naturalistische Sängerin erschienen, eine unvergleichliche Darstellerin der Valentine; das Gleiche meldete ein in Prag ansässiger Kunstfreund, dessen Meinung der greise Meister sehr hoch schätzte. Er forschte schon damals ängstlichen Blicks nach einer Sängerin, der er seine Afrikanerin anvertrauen könnte; es gab deren bedeutende genug in Deutschland, doch ihm schwebte das Ideal einer solchen vor, welche die Partie ganz nach seinen Angaben und nicht nach ihren Gewohnheiten und ihrem Willen geben würde; es erschien ihm als eine glückliche Vorbedeutung, daß die vielgerühmte Lucca noch ganz Naturalistin, noch ganz jung war, daher im Anfange ihrer Laufbahn stand und angewiesen war, seiner Anleitung zu folgen. Mit der ihm eigenen Vorsicht, die jede Initiative vermied, wußte er es einzuleiten, daß der Generalintendant Herr von Hülsen selbst nach Prag ging und nach dem aus eigenem Hören festgestellten Urtheile unsere Heldin mit viertausend Thaler jährlich auf drei Jahre engagirte.

Die Prager boten natürlich Alles auf, sie zurückzuhalten, allein der Contract war unterzeichnet, und so zog die kleine Lucca nach der preußischen Hauptstadt. Ihr Auftreten daselbst und der immense Erfolg, den sie sogleich errang, bezeichnen einen Hauptwendepunkt in der neuen Aera der Berliner Oper. Vor der Lucca haben nur die Sontag, die Schröder-Devrient, die Jenny Lind sich einer ähnlichen Aufnahme von Seiten des Berliner Publicums zu erfreuen gehabt. Diese Sängerinnen waren vollendete Künstlerinnen, welche die gründlichsten und geregeltesten Studien mit außerordentlichem Talente vereinigten; aber die Lucca wirkte im Gegensatz zu diesen nur durch das rein Naturalistische, durch schöne Stimme, angenehmste äußere Erscheinung, originelle spontane Auffassung und leidenschaftlichen, nicht von den Gesetzen der Kunst geregelten, sondern von den Eingebungen des Moments getragenen Vortrag. Ist es heutzutage doch nicht mehr die vollendete künstlerische Leistung, welche das große Publicum hinreißt, sondern die Specialität, die Originalität, die durch neue Mittel neue Aufregung hervorruft. Jede neue Rolle war ein neuer Triumph für sie; zugleich erregte ihre Persönlichkeit auch außer dem Theater die allgemeine Aufmerksamkeit.

Herr von Hülsen, der Generalintendant des Hoftheaters, wußte die kostbare Acquisition wohl zu schätzen – er sah voraus, daß diese Sängerin einst ein Magnet sein werde, welcher nicht Eisen, sondern Gold und Silber in die Theatercasse zieht, und als sie nach einigen Monaten in Folge übermäßiger Anstrengung von einem bedenklichen Halsleiden befallen wurde, sorgte er, daß sie aus der Theatercasse zu einer Badereise unterstützt ward. Gestärkt kehrte sie im Herbste 1861 wieder, und das Glück, das bisher ihrem glänzenden Talente zur Seite gestanden hatte, wandte ihr eine neue, große Gunst zu: Meyerbeer unternahm es, mit ihr die Partie der Valentine und der Selica in der Afrikanerin, welche damals eben fertig geworden war, zu studiren.

Bei der bekannten Vorsicht, die der große Componist in allen seinen Schritten beobachtete, da er gern Alles vermied, was auf eine directe Einwirkung seinerseits auf die Bühnendarstellung schließen ließ, kann man sich leicht vorstellen, wie sorgfältig er die Unterweisung, welche er der gefeierten Sängerin ertheilte, vor den Augen der Welt und besonders der Collegen geheim hielt, wie Niemand ahnen durfte, daß er seine Afrikanerin mit ihr studirte. Während acht Monaten besuchte er sie mehrere Male in der Woche und studirte unverdrossen manchmal Stunden lang mit ihr, ja er änderte hier und da Manches an der Partie der Selica, was für die Stimme Derer, die er zur Trägerin dieses letzten Werkes ausersehen hatte, nicht ganz passend schien.

Diese heimlichen musikalischen Berathungen wurden plötzlich unterbrochen, als Meyerbeer seinen Schützling bewegen wollte, ein Engagement an der französischen Großen Oper (Académie Impériale de musique) anzunehmen, und die Sängerin geradezu erklärte, es ginge ihr in Berlin sehr gut und sie habe keinen „Mum sich in Paris einer Blamage auszusetzen“; wenn sie schon die deutsche Bühne verließe, könnte es nur sein, um sich der italienischen Oper zu widmen, bei der es nicht, wie bei der französischen, auch auf deutliche Aussprache, sondern nur auf brillanten Gesang ankomme. Der etwas gereizte Maestro nahm die Partie der Selica wieder nach Hause und schmollte während einiger Zeit mit der Sängerin, die ihm einen wahrscheinlich lange gehegten Lieblingsplan durchkreuzt hatte. Doch in seiner milden Natur lag es nicht, dauernd zu grollen, und da die geniale Sängerin das Ihre that, um ihn zu versöhnen, ward der Friede bald wieder geschlossen. Seinem Einflusse verdankte sie dann jene Berufung nach London, wo sie auf den Gipfel ihrer Laufbahn gelangte. Ihr ganzes Auftreten daselbst zeigt wieder recht deutlich, wie das elegante Theaterpublicum der großen Städte behandelt werden muß, damit es recht in Ekstase gerathe.

Gye, der Director des Coventgarden-Theaters, hatte die Lucca im Jahre 1863 für drei Gastrollen engagirt, gegen ein Honorar von einhundertundfünfzig Guineen. Sie erregte als Valentine in den Hugenotten denselben Enthusiasmus, den sie in dieser Rolle überall hervorgerufen hatte, und der kluge Director schloß sofort einen Contract für 1865 mit ihr ab, für zweihundertundfünfzig Guineen (eintausendsiebenhundertundfünfzig Thaler) monatlich – er dachte „ein sehr gutes Geschäft gemacht zu haben“, denn das Honorar war für London und für die Leistungen der Lucca ein sehr geringes, allein er hatte sich verrechnet. Unsere Sängerin kam 1864 nach der englischen Hauptstadt, sie trat als Margarethe in Faust auf, gefiel ganz außerordentlich, das Publicum strömte nach Coventgarden und vernachlässigte das Majesty’s Theatre, die große italienische Oper, wo die Tietjens sang. Gye rieb sich vergnügt die Hände – aber eines schönen Tages war die kleine Lucca verschwunden. Sie hatte Angesichts der großen Summen, die ihre Mitwirkung einbrachte, auf eine Erhöhung ihres Honorars angetragen; der Director, anstatt diesem nicht unbilligen Ansinnen zu entsprechen, hatte sich auf seinen Contract gestützt und jedes Zugeständniß verweigert; ihre Colleginnen am Theater ließen, wie es scheint, es auch nicht an den Liebenswürdigkeiten fehlen, mit denen Rivalinnen einander das Leben so angenehm zu gestalten verstehen, und so segelte unsere Sängerin ruhig nach dem Continente zurück. Freilich gab sie den Grund an, die Luft an der Themse bekomme ihr nicht, wir glauben aber gar nicht zu irren, wenn wir behaupten, sie bekam nicht genug Guineen!

Im Anfange glaubte der kluge Gye sie entbehren zu können, ja, er mochte vielleicht froh sein, daß er den Trotzkopf los geworden, doch bald zeigte es sich, daß der letztere besser zu berechnen [202] verstand, als sein kluger Director. Im darauf folgenden Jahre mußte die Afrikanerin in London aufgeführt werden; Gye hatte von dem Pariser Verleger das Anrecht hierzu erworben und war gezwungen, dem Rivalen Mapleson von der großen italienischen Oper (Her Majesty’s Theatre), der seinerseits die größte Anstrengung entfaltet hatte, um seinem Theater die vogue zuzuwenden, einen mächtigen Hebel entgegenzusetzen; keine Sängerin, das mußte er sich selbst gestehen, vermochte dieses Gegengewicht zu bieten, als die Lucca, und er mußte die, welche ihm den Streich gespielt hatte, noch bitten, wiederzukommen und ihr Bedingungen zugestehen, nach welchen ihr für drei und einen halben Monat fast zwanzigtausend Thaler gesichert wurden. Sie kam, sie trat als Selica in der Afrikanerin auf, sie faßte alle ihre Erinnerungen an des verewigten Meyerbeer’s Unterweisung zusammen, sie entfaltete alle Mittel ihrer großartigen Begabung, und mit einem Satze schwang sie sich gerade mit dieser Partie auf eine Höhe, wo sie alle Rivalinnen weit hinter sich ließ. Weit nach allen Landen erscholl ihr Ruf, von Petersburg aus kam das Anerbieten von vierzigtausend Rubel für vier Monate, von Paris eine Einladung, doch wenigstens als Gast einige Tage daselbst zu weilen. Sie folgte auf ihrer Rückreise von London dieser Einladung und war der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit; alle großen und kleinen französischen Componisten brachten ihr Huldigungen dar; Auber, in dessen Hause sie die Zerline (aus Fra Diavolo) sang, schenkte ihr die Feder, mit welcher er diese Oper geschrieben hatte; Rossini erschöpfte sich in Liebenswürdigkeiten. Umstrahlt vom Glanze dieser Erfolge kehrte sie nach Berlin zurück, und die preußische Hauptstadt, die nicht hinter denen Englands und Frankreichs zurückbleiben wollte, überbot sie; die Luccaverehrung wurde zum Luccacultus, die früheren Bewunderer wurden Enthusiasten, die Enthusiasten Fanatiker, die Fanatiker wurden ganz verrückt.

Seit dem November 1865 ist sie mit dem ehemaligen Gardelieutenant Baron von Rahden vermählt; er war einer der schönsten Officiere der preußischen Armee; ihn hat sie aus der nicht geringen Zahl hochgeborner Werber erkoren, und die künstlerische und gesellschaftliche Stellung, die sie heute behauptet, ist eine, wie sie bisher noch keiner activen Sängerin zu Theil geworden ist. Denn selbst die Sontag trat, als sie Gräfin Rossi wurde, von der Bühne zurück, welche sie nur vom Zwang der Verhältnisse getrieben wieder aufsuchte. Die Lucca aber blieb Mitglied des Theaters, während ihr Gemahl seine bisherige Laufbahn aufgab, und sie ist das Meteor der Berliner Oper, der Fixstern, um den sich Alles dreht, Planeten gleich, das Alpha und Omega eines nicht unbedeutenden Theiles des Berliner eleganten Lebens. Viele unserer eleganten Löwen vom Schlachtfelde kennen in der Stadt neben Hof- und Avancementsangelegenheiten nur die eine: Die Soiréen bei Frau von Rahden; die jungen Helden von der Börse kennen nur zwei Fragen: Wie stehen die Curse? und: wann singt die Lucca? Gar viele der kunstbegeisterten Damen, die zu Hause für Gluck und Mozart schwärmen, gehen in’s Theater, nur wenn die Lucca im Trovatore oder in der Afrikanerin singt – manche strenge Recensenten, die jeden Sänger zermalmen, welcher sich eine unpassende Roulade, irgend den Gesetzen der keuschen Kunst widersprechende Nüancen erlaubt, haben nur Ausdrücke der Bewunderung für die Lucca; wenn die Gefeierte singt, so verwandeln sich die Theaterbillets in Actien, die wie das beliebte Papier gesucht und bezahlt werden. Der Platz vor dem Opernhause ist eine geheime Börse, wo sehnsüchtige Theaterbesucher mit den Händlern feilschen; wenn die Lucca singt, so stehen schon vor Tagesanbruch, ja oft schon von Mitternacht an (factisch!) eine Masse Menschen vor dem Opernhause, die in stoischer Aufopferung der Nachtruhe dort warten, bis die Pforte sich erschließt und sie drängend und gedrängt, stoßend und gestoßen, schimpfend und geschimpft an die Cassa gelangen und einen Sitz für den Abend erobern können.

Prüft man nun die künstlerische Bedeutung der Sängerin, so muß vor Allem und ohne Rückhalt zugestanden werden: die Lucca ist ein darstellendes Genie. Sie ist Naturalistin, die Kunst des Gesanges steht bei ihr in zweiter Reihe, man darf von ihr nicht die Coloratur, nicht den reinen, immer sichern Ansatz, nicht die vollkommene Beherrschung des Materials und den integren Vortrag erwarten, die nur Resultate der vollendeten Kunstschule und hohen Auffassung sind; nichtsdestoweniger ist sie einzig in ihrer Art! Diese nicht gleichmäßig gebildete, manchmal scharfklingende Stimme entwickelt – oft plötzlich – in Momenten der Leidenschaft Fülle und durchdringende Kraft, andererseits in lyrischen Scenen, wo die natürliche Empfindung und nicht die höhere Auffassung maßgebend ist, einen weichen Schmelz, eine eindringliche Wärme, die von mancher geschulten Künstlerin vergebens angestrebt werden. Diese kleine zierliche Gestalt mit dem mehr reizend pikanten als schönen Gesichtchen und dem lebhaften Auge – und die man, bei einer ersten Begegnung außerhalb der Bühne, sich nur als Cherubine, als Zerline oder Norma denken kann, entfaltet in allen modernen hochtragischen Rollen eine überwältigende Macht der Leidenschaft im Vortrage und in der Darstellung, die selbst dem strengen Richter die Anerkennung abzwingt, daß hier etwas von dem „Dämon“ lebt, der momentan über Jeden seinen Zauber ausübt.[2]

Eine solche überreiche Begabung rechtfertigt die außerordentlichen Erfolge und erklärt, wie das große Publicum ganz übersieht, daß die berühmte Sängerin in der wahren deutschen Oper nicht auf derselben Höhe steht, daß ihr die höheren Rollen Mozart’s, Gluck’s und Weber’s fern liegen.

Was nun die gesellschaftliche Persönlichkeit, das Gebahren der berühmten Sängerin betrifft, so konnte der geneigte Leser sich aus unserer Erzählung wohl selbst einigermaßen ein Urtheil bilden; jedenfalls wird er es sehr begreiflich finden, daß über eine solche Persönlichkeit die widersprechendsten, verschiedenartigsten Meinungen vorherrschen, daß jedes ihrer Worte, jeder ihrer Schritte besprochen und commentirt wird, mehr als eine Rede des Grafen Bismarck. Es giebt Leute, welche behaupten, die Lucca sei über alle Maßen hochfahrend, launisch, fast ungezogen, Andere erblicken in ihr das graciöseste, natürlichste, gutmüthigste, liebenswürdigste Geschöpf unter der Sonne – die Einen wollen wissen, daß sie mit ihren Collegen bald sehr höflich verkehrt, bald wieder sie keines Blickes würdigt, daß sie an Tagen, wo das Publicum ihr nicht genügend huldigt, allen Leuten, die ihr gerade in den Wurf kommen, sehr ungebundene Phrasen an den Kopf wirft; daß sie bei jeder Gelegenheit mit der Drohung „Auf der Bühne hab ich’s letzte Mal gesungen“ zur Hand ist – wieder Andere versichern, es gebe keine weniger anmaßende, freundlichere, von Intriguen entferntere Primadonna, und nur die verschiedenen Manöver, die man gegen sie ausführte, brächten sie in solch’ üble Laune, die aber vor dem ersten freundlichen Worte wieder verschwinde.

Um zwischen solchen Widersprüchen ein ganz richtiges Urtheil fällen zu können, müßten wir eine noch genauere Kenntniß des Coulissenwesens besitzen, als wir, aufrichtig gestanden, uns anzueignen wünschen. Wir wollen hier nur darauf hinweisen, daß der berühmten Primadonna die eine Anerkennung vor vielen anderen gebührt: Sie ist nicht übermüthig geworden im Glücke: die kleine Choristin des Kärnthnerthor-Theaters, die „Sechszig-Gulden“-Elvira in Olmütz, die gefeierte Sängerin, die europäische Berühmtheit, die Königliche Kammersängerin, die auf Lebenszeit mit hohem Gehalte und Pension angestellte erste Primadonna der Berliner Hofoper, die Baronin Rahden – sie sind im Charakter eine und dieselbe Erscheinung.

Mancher der oben angeführten Widersprüche in den Urtheilen mag daher entspringen, daß die Lucca in ihrer Redeweise wie in ihrem ganzen Gebahren noch den ursprünglichen Typus der echten Wienerin beibehalten hat, der eben eigenthümliche Gegensätze bietet: ist sie gut gelaunt, dann erscheint sie liebenswürdig, jovial, voll naiven Witzes und ohne den leisesten Anflug von Hochmuth, auch voll Herzensgüte; und jener Dialekt, der auf der Bühne hie und da nicht gerade dramatisch wirkt, klingt im gesellschaftlichen Verkehr „natürlich, entzückend, melodiös“, als „Sprache des Frohsinns“

[203] unwiderstehlich etc. etc. ad infinitum. Ist aber die Lucca „schlecht aufgelegt“, dann mag sie allerdings denen, die ihr in die Quere kommen, nicht graciös und liebenswürdig erscheinen und ihrem schönen Munde mögen, wenn sie in Zorn geräth, Donnerworte entrollen, die mitunter an die mythischen Traditionen des Wiener „Schanzl“ erinnern.[3] Sie ist eben ein Unicum, und als solches muß man sie gelten lassen.
H. Ehrlich.




Die Geschichte des Kladderadatsch.


Alle Geschichte beginnt bekanntlich mit Mythenbildung und hüllt sich in ein gewisses feierliches Dunkel. So ergeht es auch dem bekannten Witzblatt „Kladderadatsch“, da schon heute die Sage seinen Ursprung mit ihren bunten Fabeln schmückt. Bald läßt ihn dieselbe aus dem sogenannten „Rütli“, einer zwanglosen Gesellschaft witziger Literaten und geistreicher Lebemänner in Berlin, hervorgehen, bald gleich der bewaffneten Minerva aus Einem Haupte, aus dem Kopf eines speculativen Buchhändlers oder Humoristen entspringen.

Ein glücklicher Zufall gestattet uns, die Geschichte des Kladderadatsch von allem mythischen Beiwerk zu reinigen und der Wahrheit gemäß darzustellen. Unsere Quelle ist ein bisher unbenutztes Actenstück von fast amtlichem Charakter. Der Urheber desselben war ein bekannter, talentvoller Publicist, der unter Hinckeldey’s Herrschaft eine einflußreiche Stellung in dem sogenannten „Druckschriften-Bureau“ bekleidete und in dieser Eigenschaft vielfach mit dem Kladderadatsch in Berührung kam. Nicht nur ein officielles, sondern weit mehr noch ein persönliches Interesse fesselte ihn seit dem Beginn an das witzige Blatt, dem er bis zu seinem Tode ein Freund und Gönner blieb. Dieses Verhältniß mochte ihn wohl veranlaßt haben, ein eigenes Tagebuch über Entstehung, Schicksale und Verbreitung des Kladderadatsch zu führen, worin er die wichtigsten Momente mit historischer Treue verzeichnet hat. Seine durchaus glaubwürdigen Angaben liegen den folgenden Mittheilungen zu Grunde und werden nur hier und da aus anderen Quellen ihre Ergänzung finden, wo dies nöthig scheinen sollte.

Im Monat Mai des Jahres 1848 entstand Kladderadatsch in dem Kopfe des bekannten humoristischen Schriftstellers und Possendichters David Kalisch. Die Idee lag gleichsam auf der Straße, der Stoff in der Luft. Die März-Revolution hatte das alte System gestürzt. Die ganze bürgerliche Ordnung, der Staat, die Gesellschaft befand sich in einem Stadium der Zersetzung und Neubildung. In den Straßen herrschte die Anarchie, in den Fürstenschlössern die Furcht, in den Ministerhotels Zweifel und Rathlosigkeit, in den politischen Clubs und Volksversammlungen die geschwollene, inhaltsleere Phrase.

Eine zersetzende Kritik, das Kind Hegel’scher Sophistik und Heine’scher Frivolität, vereinigte sich mit dem kecken Berliner Witz und schuf eine neue Literatur, welche bald als „Placat“ an den Straßenecken prangte, bald von fliegenden Buchhandlern geschäftig colportirt wurde und unter dem Schutze der eben erst errungenen Preßfreiheit mit gleicher Rücksichtslosigkeit Personen und Zustände geißelte. Der Gedanke lag wohl nahe, diese zerstreuten Stimmen zu einem Chor, die zerstiebenden Witzstrahlen in einen Brennspiegel zu vereinigen, und David Kalisch, der bereits vor den Märztagen in seinen „Hunderttausend Thalern“ die politische Satire und das Couplet mit Erfolg auf die Bühne gebracht hatte, war auch ganz der geeignete Mann dazu.

Ein längerer Aufenthalt in Paris, wo er mit Heine und Proudhon persönlich in Berührung kam, mit den Socialisten Marx, Wolf, Karl Grün und mit dem Dichter Herwegh verkehrte, trug dazu bei, seinen politischen und socialen Gesichtskreis zu erweitern, während das Leben, die Theater, die Gesellschaft und die Literatur des modernen Babel einen nachhaltigen Einfluß auf ihn übten, ihn geeignet machten, die französische Leichtigkeit, Schlagfertigkeit, den Esprit und vor Allem das Couplet mit dessen scharfen Pointen und Spitzen in sich aufzunehmen und mit angeborenem Talent auf unsere deutschen Zustände zu übertragen. Dazu kam noch später in Berlin seine Bekanntschaft mit Bruno Bauer und der sogenannten Hippel’schen Clique, den letzten Ausläufern des Hegel’schen Systems und einer die Welt verachtenden Kritik. So waren ihm die Elemente und zum Theil auch die Form gegeben, die er noch mit geschickter Benutzung seiner Vorgänger, besonders der „Narrhalla“, einer von dem talentvollen Ludwig Kalisch, welcher nicht mit ihm verwechselt werden darf, in Mainz herausgegebenen Carnevals-Zeitung, zu ergänzen und zu erweitern suchte.

Mit dem vollständigen Manuscript der ersten Nummer und mit dem Titel „Kladderadatsch“, was so viel als allgemeine Auflösung oder Bankrott bedeutet, trat Kalisch eines Tages in das Geschäftslocal des Buchhändlers Albert Hofmann, der damals vorzugsweise humoristische Literatur verlegte, und bot demselben das neue Unternehmen an. Dieser schwankte und forderte einige Tage Bedenkzeit. Nach Ablauf der Frist entschloß er sich, das projectirte Blatt in Commission zu nehmen, wenn der Autor sich verpflichten wollte, die Kosten für Druck und Papier zu tragen. Das Honorar wurde vorläufig auf einen Friedrichsd’or für die Nummer festgesetzt. In den nächsten Tagen riefen die fliegenden Buchhändler zum ersten Mal in den Straßen von Berlin: „Kladderadatsch, Kladderadatsch!“ Das Publicum kaufte aus Neugierde das neue Blatt, las, lachte über den witzigen Leitartikel, amüsirte sich besonders mit der Novelle „Elwine“, welche in pikanter Form die Abenteuer einer damals vielgenannten Schauspielerin erzählte. Mit jeder Nummer stieg der Beifall, wuchs die Zahl der Freunde, aber auch der Gegner, da Kladderadatsch nach allen Seiten unparteiisch seine Hiebe austheilte.

Die Kühnheit, womit er Alles angriff, bedrohte schon in den ersten Tagen seines Daseins die fernere Existenz des kaum geborenen Kindes und dessen junges Leben schwebte in ernstlicher Gefahr. Ein Witz auf die Berliner Bürgerwehr reizte das bewaffnete Philisterthum eben so sehr, wie den wüthenden Stier der Anblick eines rothen Lappens. Eine Anzahl ergrimmter Bürgerwehrmänner drang in die Wohnung des Buchhändlers Hofmann und wußte diesen durch Drohungen zu der Erklärung zu bestimmen, den Debit des Kladderadatsch aufzugeben und sich von dem ganzen Unternehmen zurückzuziehen. Vergebens suchte Kalisch nach einem andern Verleger, Niemand wollte das Wagstück unternehmen und sich der Gefahr aussetzen, bis sich Hofmann durch wiederholte Bitten endlich bewegen ließ, noch einen Versuch zu machen.

Von dieser gefährlichen Krisis erholte sich Kladderadatsch in kurzer Zeit und wuchs an Geist und Körper, indem er, an Witz und Abonnenten zunehmend, außerdem eine frische, bedeutende Kraft an dem Zeichner Wilhelm Scholz gewann. Dieser war ein echtes Berliner Kind und hatte sich bereits als Mitglied des „Rütli“ in der von dieser Gesellschaft herausgegebenen Privat-Zeitung und durch die im Verein mit Kossak veröffentlichte humoristische Beschreibung der letzten Kunstausstellung einen Namen erworben. Ursprünglich zum Maler bestimmt und Schüler des eleganten Hofmalers, Professor Wach, zeigte er ein größeres Talent für die komische, als für die ernste Seite seiner Kunst, indem er statt schwindsüchtiger Märtyrer und langweiliger Ritter derbe Caricaturen und ausgelassene Chargen lieferte. Es war daher die glücklichste Wahl, ein wirklich kühner und gelungener [204] Griff, daß die Illustrationen des Kladderadatsch dem liebenswürdigen, geistvollen Künstler übertragen wurden.

Später trat noch Rudolph Löwenstein hinzu, gleichfalls ein Mitglied des Rütli und angehender Philologe, der, ein ausgezeichneter Lyriker, reizende Kinderlieder sang, nebenbei sich mit der Kunst der „Mnemotechnik“ beschäftigte und eine demokratische „Bürger- und Bauern-Zeitung“ redigirte. Vorläufig jedoch blieb Kalisch die Seele des Ganzen, der fast allein den ganzen ersten Jahrgang schrieb und eine wahrhaft staunenswerthe Thätigkeit entwickelte. Bald erregten einzelne Artikel eine große Sensation und übten einen wachsenden Einfluß auf die öffentliche Meinung aus. König Friedrich Wilhelm der Vierte wurde mit der Zeit ein eifriger Leser des Kladderadatsch und, selbst witzig, fühlte er trotzalledem eine gewisse Neigung für den verwandten Geist. Auch die damaligen Parteiführer erkannten die neue Macht, und der gefürchtete Agitator Held wurde hauptsächlich durch die kühnen Angriffe des genannten Blattes von seiner Höhe gestürzt. Dagegen huldigte Kladderadatsch der wahren Größe und dem Mannesmuth eines Johann Jacoby und anderer wahrhaft großer Charaktere.

Indeß wurde der politische Horizont immer finsterer, immer schwärzer und drohender zogen sich die Wolken der hereinbrechenden Reaction über Berlin zusammen. Im November wurde die Nationalversammlung aufgelöst und der Belagerungszustand über die Residenz verhängt. Vor Allem wurde die kaum befreite Presse von Neuem gefesselt und verfolgt. Auf der Proscriptionsliste der verbotenen Journale befand sich natürlich auch der Kladderadatsch, dieser Dorn im Auge der Reaction, der unermüdliche Spottvogel und Geißelschwinger des Philisterthums. Es blieb ihm nichts übrig, als auszuwandern; er ging zunächst nach Leipzig und fand daselbst ein freundliches und sicheres Asyl bei Ernst Keil. Die Nummer 29 erschien im Verlage dieser Firma. Hofmann und die übrigen Mitarbeiter hielten es ebenfalls für gerathen, Berlin zu verlassen und sich dem Arm der Rache zu entziehen. Löwenstein eilte nach Dessau, wo er unter dem liberalen Minister Habicht sich gemüthlicher und sicherer fühlte als unter Wrangel’s Militärregimente. Hofmann hielt sich in Leipzig auf und nur Scholz und Kalisch blieben in Berlin, wie Daniel in der Löwengrube der siegreichen Reaction.

Noch lebte Kladderadatsch, wenn auch unter tausend Aengsten und Nöthen. Das zum Druck bestimmte Manuscript mußte unter fingirter Adresse von Berlin nach Leipzig geschickt werden, da man von Angebern und Spionen umgeben war. Selbst diese Vorsicht genügte nicht und öfters wurde ein zuverlässiger Bote mit dieser wichtigen Mission betraut, so daß der Druck mit den größten Umständen und Hindernissen zu kämpfen hatte. Trotzdem verlor Kladderadatsch weder den Muth, noch seinen Humor, wenn er auch manchen Abonnenten einbüßte, manchen Freund abfallen sah. Unter dem Dache seines freundlichen Beschützers lachte er über alle seine Feinde, spottete er aller Verfolgungen, bis für ihn die Stunde der Erlösung schlug. Eine Deputation von Buchdruckern, Setzern und Affiliirten des Blattes hatte sich an den General Wrangel, den Befehlshaber der Marken, mit einer Vorstellung gewendet, worin sie den Nachtheil eines solchen Verbotes für ihren Erwerb mit so guten Gründen nachzuweisen wußten, daß Kladderadatsch wieder in Berlin erscheinen durfte. Mit der Caution in der Tasche kehrte Hofmann von Leipzig zurück.

„Selbst Wrangel fühlte ein Erbarmen
Und hat den Kladderadatsch erlaubt.“

Damit war jedoch die Gefahr keineswegs beseitigt und mit Recht erschien der bekannte Kopf des Kladderadatsch rings von bewaffneten Soldaten bedroht, im eigentlichen Sinne unter dem Belagerungszustand. Bald sah sich die Redaction gezwungen, noch einmal und zwar nach dem nahen Neustadt-Eberswalde auszuwandern. Jetzt trat Rudolph Löwenstein an die Spitze und lenkte muthig als geschickter Steuermann das bedrohte Schifflein, welches Kladderadatsch und sein Glück trug, durch die empörten Wogen und Klippen der Reaction. Als nach einiger Zeit das Blatt aus dem Exil zurückkehrte, stellte sich immer mehr die Nothwendigkeit heraus ihm einen neuen Redacteur zu geben, der in der Person des Schriftstellers Ernst Dohm höchst glücklich gefunden wurde. Derselbe hatte in Halle unter Tholuck und Wegscheider Theologie studirt, als Candidat bereits mit Erfolg die Kanzel bestiegen und später eine Hauslehrerstelle bei einer angesehenen Familie in der Nähe von Berlin bekleidet. Sein Talent und Liebe zur Unabhängigkeit führten ihn von der theologischen Laufbahn allmählich der Literatur zu und statt den Bauern zu predigen, schrieb er für die – ganze Welt. Jahrelang experimentirte er jedoch, ehe er den geeigneten Wirkungskreis fand; er errichtete ein Pensionat, quälte sich mit Privatstunden, arbeitete für das „Magazin für die Literatur des Auslandes“, für den „Gesellschafter“ von Gubitz, erwarb damit wenig Geld, aber manche Kenntnisse, besonders der neueren Sprachen und einen Schatz von literarischer Bildung, verbunden mit einem sichern kritischen Tact.

Mit ihm und durch ihn kam ein neues Element in das Leben des Kladderadatsch, ein höherer Aufschwung, ein ideelleres Streben, eine universellere Richtung. Der specifischere Berliner Witz wurde durch die reinere Form und den tieferen Gehalt über sich selbst emporgehoben, durch den Zusatz antiker Cultur gleichsam geadelt. Der Humor feierte gewissermaßen seine Wiedergeburt, die Vermählung der modernen Pointe mit der classischen Kunst, des Couplets mit der Parabase, des höheren Blödsinns mit der antiken Komödie, des Kladderadatsch mit Aristophanes. Aus einem bloßen Localblatt wurde jetzt ein Weltblatt, aus einem Organe von und für Bummler ein Organ von und für höhere Geister.

Demgemäß mußte auch die Stellung des Blattes immer einflußreicher, seine Bedeutung immer größer, die Theilnahme des Publicums immer lebendiger werden. Dichter wie Dingelstedt, Prutz und Herwegh verschmähten es nicht, von Zeit zu Zeit, wenn auch nur anonym, Beiträge zu geben, und manches „Eingesandt“, besonders aus Potsdam, floß aus hoher Quelle. Trotzdem ließen es die Gegner nicht an neuen Chicanen und Verfolgungen fehlen. Diensteifrige Bureaukraten wie einzelne Postbeamte legten der Verbreitung jedes ihnen zu Gebote stehende Hinderniß in den Weg, und es bedurfte der ganzen Umsicht, Thätigkeit, Energie und Gewandtheit des Buchhändlers Hofmann, um die verschiedenen Machinationen zu beseitigen, die beabsichtigten, bald offenen, bald geheimen Schläge zu pariren. Unter den vielen Buchhändlern Deutschlands ist der selbst witzige Hofmann einer der wenigen, die einer solchen Aufgabe gewachsen waren.

Noch einmal drohte ein heftiger Sturm dem Bestehen des Blattes, als der Kaiser von Rußland im Jahre 1852 Berlin besuchte. Es galt dem allmächtigen Czaren eine bessere Meinung von der revolutionären Bevölkerung beizubringen und ihm einen schmeichelhaften Empfang zu bereiten. Der Polizeipräsident von Hinckeldey ließ zu diesem Behufe alle verdächtigen Elemente ausweisen und sorgte auf dem Bahnhof für eine im Voraus angeordnete Ovation. Die Vossische Zeitung brachte ein von Rellstab verfaßtes Huldigungsgedicht, die übrigen Blätter stimmten mit ein oder schwiegen, der Kladderadatsch war so kühn, mit dem Autokraten anzubinden, vor dem damals noch ganz Europa zitterte. Einige Witze über die gemachte Begeisterung, über die gebotene Verfälschung der öffentlichen Meinung genügten für Hinckeldey, um ein furchtbares Strafgericht zu üben. Löwenstein und Kalisch wurden ohne Erbarmen ausgewiesen und Letzterer nur durch die Hülfe eines edlen Unbekannten vor der beabsichtigten Haussuchung und möglichen Verhaftung behütet. Plötzlich um Mitternacht geweckt, sah er einen jungen Mann, den Sohn eines seitdem verstorbenen Polizeibeamten, vor seinem Bette stehen. Derselbe theilte ihm mit, daß sein Vater soeben den Auftrag erhalten habe, eine Haussuchung bei Kalisch vorzunehmen. Dieser benutzte die freundliche Warnung, entfernte alle compromittirenden Papiere und brachte seine Person in Sicherheit. Nur Dohm, der das Berliner Bürgerrecht besaß, trotzte dem Zorne Hinckeldey’s und blieb auf seinem Posten.

Die armen Ausgewiesenen kehrten zwar nach einiger Zeit wieder heimlich nach Berlin zurück und wurden von den nachsichtigen Behörden stillschweigend geduldet, aber über ihrem Haupte schwebte fortwährend das Damoklesschwert der polizeilichen Willkür. Ein neuer Witz, irgend eine Anspielung vertrieb sie wieder, so daß Monate lang ihr Leben eine Hetzjagd war, eine ununterbrochene Wanderschaft zwischen Berlin und Spandau, wo sie sich im Verborgenen aufhielten. Endlich gelang es der Vermittelung des bekannten Hofraths Schneider und des berühmten Garten-Directors Lenné, den Bann aufzuheben und den Verfolgten die bisher versagte Niederlassung zu verschaffen. Doch erst nach dem Tode Hinckeldey’s hörten diese kleinlichen Chicanen auf und auch der Kladderadatsch durfte freier athmen. Dagegen drohte ihm eine

[205]

Die Gelehrten des Kladderadatsch.
Ernst Dohm.     David Kalisch.     Rudolph Löwenstein.
Wilhelm Scholz.

Reihe von Preßprocessen, unter denen „die Klage des Liegnitzer Magistrats“ eine gewisse Berühmtheit erlangt hat und dem Blatte nun eine neue Menge von Abonnenten zuführte. Auch die viel genannte Fürstin Karoline von Reuß und der feudale Herr Senfft von Pilsach theilten das gerade nicht beneidenswerthe Loos des Liegnitzer Magistrats. Alle diese Anfechtungen hatten jedoch nur den entgegengesetzten Erfolg und fielen auf das Haupt ihrer Urheber zurück, während Kladderadatsch, mit der Märtyrerkrone geschmückt, die Lacher auf seiner Seite hatte und an Abonnenten so zunahm, daß er schon 1852 gegen fünfzehntausend Abnehmer, gegenwärtig aber gegen neununddreißigtausend zählt und sich über die weite Welt bis nach Indien und Südamerika verbreitet.

Ein eigenes Glück begünstigte von Anfang an das Unternehmen und führte ihm im rechten Zeitpunkt die geeigneten Kräfte zu. Ein wunderbarer Zufall fügte es, daß Kalisch, Dohm und Löwenstein nicht nur Geistes-, sondern Blutsverwandte waren und sich nach jahrelanger Trennung in Berlin zusammenfanden. Alle Drei stammen aus Breslau, sind daher geborene Schlesier und keine Berliner Kinder, wie allgemein, aber fälschlich, geglaubt wird. Nur der Zeichner Wilhelm Scholz darf diese Ehre für sich beanspruchen. Alle Drei besitzen auch eine gewisse Familienähnlichkeit, das Erbtheil eines angestammten Humors, obgleich ihr Witz in verschiedenen Formen und Färbungen gebrochen wird. Unstreitig besitzt Kalisch die größte Ursprünglichkeit, die meiste Vis comica und ist der Vielseitigste von Allen, obgleich seine Erziehung auch die größten Lücken zeigt. Er ist der Vater des höheren Blödsinns, der Erfinder des berühmten „Zwückauer“, der Pathe von „Müller und Schulze“, zwei Figuren, die der Buchhändler Hofmann [206] zufällig, ebenso wie den Kopf des Kladderadatsch, den ein junger Kaufmann gezeichnet, in einem Leipziger Verlag im Holzschnitt fand und so glücklich war, für den Kladderadatsch zu acquiriren. Er hat ferner den Quartaner „Karlchen Mießnik“ geschaffen und liefert außerdem fast sämmtliche prosaische Artikel im Berliner Dialekt, Parodien, travestirte Novellen und die „Sprüche der Weisheit“, für die sein Vorgänger und Namensvetter Ludwig Kalisch ihm die Form und das Muster gab. Auch hat er den „Kladderadatsch-Kalender“ in’s Leben gerufen, den „Kladderadatsch zur Industrie-Ausstellung in London“, so wie die ersten Bände von „Schulze’s und Müller’s Reisen am Rhein und im Harz“ geschrieben.

Dagegen ist Rudolph Löwenstein der Poet des Blattes; der sinnige Dichter der Kinderlieder versteht nicht nur zu scherzen, sondern auch zu rühren. Mit der Pritsche und Schellenkappe verbindet er ein tieferes Gefühl, selbst eine gewisse schwärmerische Weichheit. Er ist Meister der Form und handhabt den Reim mit bewunderungswürdiger Geschicklichkeit. „Prudelwitz und Strudelwitz“, die beiden Typen eines bornirt blasirten Junkerthums, sind seine Geschöpfe, und nebenbei giebt er häufig die Idee zu den Illustrationen an. Ernst Dohm aber führt die Redaction mit jenem feinen Tact und einer universellen Bildung, denen der Kladderadatsch hauptsächlich seine allgemeine Verbreitung und Bedeutung verdankt. Seine Kenntnisse, seine classische Erziehung und die kritische Schärfe seines Geistes stellen ihn naturgemäß an die Spitze des Blattes und verleihen seinen Arbeiten, selbst dem kleinsten Gedicht, einen eigenthümlichen Reiz. Die meisten seiner Leistungen besitzen einen dauernden Werth und seine Poesien sind Gelegenheitsgedichte im Sinne Goethe’s, „Stimmungslieder der Zeit“ in vollendeter Form, reich an Gedanken und geistsprühenden Pointen. Er ist, wenn auch nicht der originellste, doch wohl der gelehrteste unter den Gelehrten des Kladderadatsch.

Zu diesen gesellt sich noch Wilhelm Scholz mit seinem Talent als Zeichner. Seine meist nur flüchtig hingeworfenen Skizzen bekunden eine unerschöpfliche Fülle von komischen Einfällen und witzigen Motiven. Mit scharfem Blick faßt der Künstler das Lächerliche der Personen und Zustände so sicher auf, daß nur wenige Striche genügen, um stets das Charakteristische, den humoristischen Kern darzustellen. Selbst in seinen übermüthigen Chargen und Caricaturen verleugnet er nie die Natur und sogar aus der lustigen Maske blickt uns die Wahrheit entgegen. Seine angeborene Liebenswürdigkeit im Leben weiß er auch auf seine Illustrationen zu übertragen, so daß seine kecksten Bilder uns nicht so leicht verletzen. Andere Zeichner sind gewiß freier, vollendeter in der Ausführung, tiefer und gediegener in der ganzen Conception, aber nur wenige werden sich mit Scholz an Geist, Frische und ursprünglichem Humor messen können.

Das sind die Gelehrten des Kladderadatsch, dessen Geschichte eine culturhistorische Bedeutung hat, trotzdem wir auch die Schattenseiten des Blattes nicht verkennen. Daß ein so erfolgreiches Blatt wie der Kladderadatsch vielfache Nachahmungen hervorgerufen hat, ist natürlich; unter allen diesen Nachahmungen hat sich indeß bis jetzt nur eine lebenskräftig gezeigt – es sind die in Hamburg erscheinenden „Wespen“.




Die Fortschrittspartei auf dem Katheder.
1. Ein Jubilar.


Durch die Straßen von Berlin leuchtete ein glänzender Fackelzug der studirenden Jugend und erhellte die dunkle Nacht am 15. März 1867. Kopf an Kopf gedrängt wogte ein Menschenmeer vor dem Hause des Mannes, dem das seltene Glück zu Theil geworden, das sechszigjährige Doctor-Jubiläum zu feiern. Im Kreise seiner Familie und seiner Freunde, zu denen die Elite der Wissenschaft zählt, stand der würdige Greis und blickte freudig und gerührt auf das großartige Schauspiel, womit seine Schüler und Mitbürger ihn und sich selbst ehrten. Der Fackelzug gewann eine symbolische Bedeutung, denn sein Geist hatte diese strebsame Jugend entzündet und ein helles Licht war von ihm zu allen Zeiten ausgegangen, das Licht der Wissenschaft, der Humanität und der Freiheit. Deshalb war diese Feier eine so allgemeine, ein wahres Volksfest im schönsten und besten Sinne. Nicht nur die Universität und die Akademie, sondern ganz Berlin brachte dem würdigen Jubilar die wohlverdienten Huldigungen dar. Vom König auf seinem Thron bis zum jüngsten Studenten wurde an diesem Tage der Name August Böckh mit der höchsten Achtung und Anerkennung genannt.

Wenige Gelehrte haben aber auch einen ähnlichen Standpunkt als Mensch und Bürger eingenommen, wenige wie Böckh mit der Wissenschaft den lebendigen Geist des Fortschrittes, den unbestechlichen Sinn für Wahrheit, den unerschrockenen Muth der inneren Ueberzeugung zu vereinen gewußt. Seine Studien und Forschungen im Gebiete der Philologie beschränken sich nicht auf noch so werthvolle Entdeckungen in den alten Sprachen, auf Herausgabe ihrer classischen Schriftsteller, auf den gelehrten Apparat, sondern sie drangen in die Tiefe, in den Geist des Alterthums, in das innerste Leben einer großen Vergangenheit. In ihr suchte und fand er die herrlichsten Schätze für die Gegenwart, sprechende Zeugen und Urkunden, erhabene Beispiele, anschauungswerthe Institutionen, die Grundbedingungen für das Gedeihen und die Wohlfahrt der Staaten und der Völker unserer und aller Zeiten.

Und was er hier gefunden, verbarg er nicht aus Furcht vor den Mächtigen; aus irgend einer menschlichen Schwäche verhüllte er nicht vor profanen Blicken, sondern er zeigte der ganzen Welt, vor allem Volke, das von ihm aus dem Schutte von Jahrhunderten herausgegrabene, mit unsäglicher Mühe von Moder und Wust gereinigte Bild eines durch die Freiheit blühenden Staatswesens, einer echten und wahren Demokratie. In seinem „Staatshaushalt der Athener“ führt er uns in die Volksversammlung, zu der jeder Bürger freien Zutritt hatte, in die Berathungen der Staatsmänner, deren Beredsamkeit uns mit Bewunderung erfüllt, in den Gerichtshof, wo das ganze Volk Theil nahm und seine höchsten Beamten und Würdenträger zur Verantwortung zog, in das kriegerische Lager, wo Greise und Jünglinge, die Vornehmsten und Geringsten für das Vaterland zu kämpfen und zu sterben bereit waren. Mit bewunderungswürdigem Scharfsinn deckt er die Quellen des Nationalwohlstandes der Athenienser auf, giebt er uns ein anschauliches Bild von Handel und Wandel, von Maß und Gewicht, der Besteuerung und der Steuervertheilung dieser alten Republik, welche in vielen Beziehungen noch heute uns zum Muster dienen kann.

Aber die innige Berührung mit dem Alterthum hat Böckh keineswegs seiner eigenen Zeit entfremdet, sondern ihm nur die Bürgertugenden und humanen Anschauungen der antiken Welt für die Gegenwart verliehen, ihn im eigentlichen Sinne zum Bürger zweier Welten gemacht, dessen Geist in den schönen Gefilden Griechenlands, dessen Herz in unserer Mitte weilt, an unserem Kämpfen und Streben den lebendigsten Antheil nimmt und mächtig für das Wohl und Wehe des Vaterlandes schlägt. Wie seine erhabenen Vorbilder ist er vor Allem Mensch und Bürger seiner Stadt und des Staates, übt er jede Pflicht, dünkt er sich weder zu vornehm, noch zu hoch, um sich mit gelehrtem Dünkel über die Parteien zu stellen und sich von der Welt und ihren Forderungen abzuschließen; Meister des Wortes, mit dem reichsten Wissen und der classischen Form begabt, hat er seine Stellung als Professor der Beredsamkeit an der Universität oft dazu benutzt, um ohne Menschenscheu furchtlos seine Meinung auszusprechen und vor Allem für die Freiheit der Wissenschaft sein gewichtiges Wort in die Wagschale zu legen, selbst zu einer Zeit, wo ihre „Umkehr“ von maßgebender Stelle dringend gefordert wurde. Darin steht der Gefeierte gleich groß als Gelehrter und Bürger da, darum ist sein Jubiläum ein Fest nicht nur für die Universität und gelehrte Welt, sondern für das ganze Volk, nicht nur für Berlin, sondern für das gesammte Deutschland, darum darf die Geschichte seines Lebens und seiner geistigen Entwickelung auf die Theilnahme aller Gebildeten Anspruch machen.

Es kann indeß nicht Aufgabe der Gartenlaube sein, noch eine [207] ausführliche Biographie des Gefeierten zu bringen, nachdem jetzt alle Zeitungen den Gang seines Lebens und seiner Bildung mehr oder minder eingehend geschildert haben. Wir erwähnen nur, daß auch Böckh ein Kind des schönen Schwabenlandes ist, dort, in der alten Reichsstadt Nördlingen am 24. November 1785 geboren wurde, in Karlsruhe Schule und Gymnasium besuchte, in Halle unter dem berühmten Philologen August Wolf seine Studien machte, 1806 auf kurze Zeit als Lehrer am „Grauen Kloster“ nach Berlin kam und dann in Heidelberg eine Professur erhielt.

Unterdeß hatte die preußische Regierung nach den schweren Prüfungen, welche der Katastrophe von Jena folgten, in der Bildung des Volkes, in der Pflege der Wissenschaft das einzige und richtige Mittel der Rettung und Hebung des gesunkenen Staates erkannt. Mitten in der tiefsten Noth, in der höchsten Bedrängniß faßten die großen Lenker und Leiter der neuen Bewegung, vor allem Wilhelm von Humboldt, den kühnen Plan zur Gründung der Berliner Universität als einer Pflanzstätte des Geistes, als des Ausgangspunktes jener lebenden Ideen, welche den Kampf mit dem Despotismus aufnahmen, das nationale Bewußtsein stärkten und die unsichtbaren Waffen zur Befreiung des bedrückten Vaterlandes schmiedeten. Männer wie Fichte und Schleiermacher wurden berufen und verliehen der Wissenschaft durch ihr begeistertes und begeisterndes Lehren und Wirken den unsterblichen Ruhm, ein neues Leben entzündet, die Wiedergeburt des Volkes hauptsächlich herbeigeführt zu haben. Diesen Geistern reihte sich Böckh würdig an, als er im Jahre 1811 nach Berlin kam, um an dem großen heiligen Werke Theil zu nehmen.

Griff er auch nicht so unmittelbar wie die Genannten durch ihre Reden in die Oeffentlichkeit ein, so war seine stillere Wirksamkeit nicht minder segensreich und bedeutend für das neue Vaterland. Seine gelehrten Arbeiten „über die Versmaße des Pindar“ gereichten der Universität, der er angehörte, zur Ehre. Aber noch wichtiger waren seine öffentlichen Vorträge, in denen er seinen jungen Zuhörern die Größe und Bedeutung des Alterthums in einer Weise erschloß, daß ihre Seele mit den erhabensten Gedanken, ihr Herz mit den heiligsten Empfindungen erfüllt wurde. Für ihn war die Philologie nicht die grämliche Hüterin todter Schätze, bestaubter Rollen und vermoderter Folianten, sondern die Göttin ewiger Jugend, geistiger Auferstehung. In diesem Sinne wirkte er als Lehrer, bildete er jene Schaar ausgezeichneter Schüler, unter denen wir aus dieser früheren Zeit nur die berühmten Namen Göttling in Jena, Döderlein in Erlangen, Fichte in Tübingen, Osann in Gießen, vor Allen Alexander von Humboldt nennen wollen, aus späteren Jahren den dem Meister so nahe verwandten Otfried Müller, Haase, Otto Jahn und die beiden Brüder Ernst und Georg Curtius.

Mit welchem universellen Geiste Böckh seine Ausgabe erfaßte, beweist wohl am besten der bunte Zuhörerkreis, der aus allen Ständen und Facultäten sich um den berühmten Lehrer sammelte und seinen interessanten Vorlesungen lauschte. Wir finden unter seinen Schülern Juristen, wie Gneist, der später sein Schwiegersohn geworden ist, Gaupp, Huschke und Bluntschli, Philosophen, wie den jüngeren Fichte und Trendelenburg, Geschichtschreiber wie Duncker, Rudolph Kügler, Giesebrecht und Jaffé, die Aegyptologen Lepsius und Brugsch, den berühmten Reisenden Heinrich Barth und die Schriftsteller Gustav Freytag, Paul Heyse und Hermann Grimm, als glänzende Zeugen seiner segensreichen Thätigkeit.

Im Jahre 1817 veröffentlichte Böckh das Resultat seiner tiefen Studien, „die Staatshaushaltung der Athener“, nachdem er in verschiedenen gelehrten Abhandlungen und philologischen Untersuchungen eine Fülle von Licht über die schwierigsten Probleme seiner Wissenschaft verbreitet hatte. Gleich beim Erscheinen wurde das genannte Werk als eine der wichtigsten und größten Leistungen der Gegenwart mit der höchsten Anerkennung aufgenommen. Man bewunderte nicht nur die tiefe Gelehrsamkeit, die gründliche Forschung, den Geist und Scharfsinn, womit er aus dem aufgehäuften Material, aus einer unübersehbaren Menge von Einzelheiten das gesammte Leben der antiken Welt und ihre Institutionen zu einem großartigen Bilde gestaltete, sondern noch weit mehr den großartigen Blick, die wahre staatsmännische Einsicht des Verfassers in die wichtigsten Grundsätze der Politik und der socialen Verhältnisse. Nicht nur Gelehrte, sondern Staatsmänner, wie der spätere Finanzminister von England, George Cornwall Lewis, schenkten dem Buche ihre Theilnahme und trugen durch Uebersetzung desselben in fremde Sprachen zu dessen Verbreitung bei.

Dieses Hauptwerk, welches in wiederholten und wesentlich durch die Bearbeitung des atheniensischen Seewesens vermehrten und verbesserten Auflagen erschien, ist jedoch nur als ein Theil des von Böckh beabsichtigten „Hellen“, einer umfassenden Arbeit über das gesammte Culturleben des griechischen Volkes, anzusehen. Aber selbst in diesem Bruchstück erscheint das Genie des Verfassers, welcher damit eine neue Bahn betrat und seine Wissenschaft völlig umgestaltete. Böckh selbst wurde im eminenten Sinne der Begründer der modernen historisch-philosophischen Schule in der heutigen Philologie, der Schöpfer einer vor ihm kaum geahnten Auffassung des Alterthums. Die bisher meist nur auf die Erforschung der Sprachgesetze beschränkte Philologie gewann durch ihn eine höhere Bedeutung, indem er in ihr den geschichtlichen Schwerpunkt der griechischen Welt entdeckte. Durch ihn erschienen die Geschichte der Philosophie und der übrigen Wissenschaften als Theile der Philologie, indem er die Literaturgeschichte nur als Geschichte des Stils, die Grammatik als Geschichte der Sprache betrachtete, das Hauptgewicht der Darstellung aber der Volksthätigkeit, der Entwickelung des Staatslebens beilegte und ihr die Kritik und Hermeneutik (Auslegungskunst) als unentbehrliche Hülfsmittel zugesellte.

Derselbe historische Geist, der ihn bei der Erforschung des Alterthums beseelte, ließ ihn den lebendigsten Antheil an der Entwickelung und den Kämpfen der Gegenwart nehmen, wofür seine Reden, die er in seiner Eigenschaft als Professor der Beredsamkeit an der Universität hielt, ein glänzendes Zeugniß ablegen. Stets benutzte er die ihm gebotene Gelegenheit, seine Stimme für die Freiheit der Wissenschaft, für den politischen Fortschritt zu erheben. Niemals mißbrauchte er seine Stellung, um der Macht zu schmeicheln, und wo er die herrschende Regierung lobend anerkannte, so geschah dies aus innerer Ueberzeugung, ohne jede Nebenabsicht, ohne alle Hintergedanken. Mit Freude begrüßte er die politische Freiheit des Jahres 1848, vorsichtig aber warnte er vor den Verirrungen einer zügellosen Demokratie, wie er muthvoll jedes absolute Gelüsten von Oben bekämpfte und gegen die zunehmende Reaction ungescheut für die Unabhängigkeit der Wissenschaft eintrat. Im vollsten Maße erkannte er die neue Richtung der Zeit an: das Streben nach allgemeinem Wohlstand, die Benutzung der chemischen und physikalischen Entdeckungen zur Vermehrung des nationalen Reichthums, allein zugleich verurtheilte er den wachsenden Materialismus, wies dagegen auf die ewige Macht der Ideen hin und stellte der Wissenschaft die Aufgabe, das Leben des Volkes zu veredeln, den Geist der Nation zu erleuchten. Vor Allem aber lehrte er die Liebe zu unserem gemeinsamen Vaterlande, indem er, vermöge seiner Geburt dem Süden, durch seine Stellung dem Norden angehörig, die jetzt wieder hervortretenden Gegensätze zu vermitteln, den Zwiespalt zu versöhnen suchte. Noch in diesem Augenblicke müssen wir die Worte anerkennen, welche er am 15. October 1848 sprach: „In dem Zeitalter Friedrich’s des Großen blickten die Gebildeteren unter den Süddeutschen mit Liebe und Bewunderung nach dem Norden; erst später haben romantische Geister die Bildung des deutschen Nordens herabzusetzen unternommen, und unter der Napoleonischen Herrschaft ist von einem gewissen Punkte aus der Gegensatz des Nordens und des Südens mit besonderem Eifer und selbstsüchtiger Leidenschaft geltend gemacht worden. Bedenklicher könnte der Unterschied der Religion sein, welcher von Anstiftern der Uneinigkeit mit dem meisten Erfolg ausgebeutet wird, denn zu allen Zeiten hat man die Religion zu politischen Zwecken gemißbraucht, denen sie nach der Lehre des göttlichen Stifters ganz fremd ist; ja, man spricht sogar unverhohlen von einer katholischen Politik, wie man vor Jahren von katholischer Philosophie fabelte.“

So wirkte der Gefeierte in der Wissenschaft wie im Leben, als Gelehrter wie als Bürger, von dem Geist classischer Humanität und christlicher Liebe gleich beseelt, und gewann sich dadurch die Bewunderung und Hochachtung nicht nur der ihm näher stehenden Kreise der Gebildeten, sondern der gesammten Bevölkerung. Die höchsten Auszeichnungen wurden ihm von seinem Könige, von fremden Fürsten, von fast sämmtlichen gelehrten Körperschaften [208] des In- und Auslandes zu Theil, aber es charakterisirt seine Denkweise, daß er kein Diplom mehr schätzt, als den Ehrenbürgerbrief der Stadt Berlin, daß ihn kein Beweis des Zutrauens mehr erfreut hat, als die Anfrage seiner Mitbürger, ob er geneigt wäre, ein Mandat für das preußische Abgeordnetenhaus anzunehmen, obgleich ihn Gesundheitsrücksichten zur Ablehnung zwangen. Mit Ehrfurcht grüßt jeder Berliner den freundlichen Greis mit den klugen Augen, der trotz seines hohen Alters von zweiundachtzig Jahren in dem schwachen, gebrechlichen Körper sich die geistige Frische bewahrt hat und mit Recht unter seinem Bilde den Vers des griechischen Weisen auf sich anwenden darf: „Ich altere beständig Vieles lernend“.

Im häuslichen Kreise seiner Familie und in Gesellschaft seiner Freunde entwickelt Böckh eine seltene Humanität und Liebenswürdigkeit. Das Alter hat ihn nicht stumpf, sondern wie edlen Wein nur milder gemacht, und noch heute liebt er heitere Laune, fröhliche Gesichter, attische Scherze und selbst witzige Stachelreden, wie in den Tagen seiner Jugend, wo er in Heidelberg mit Achim v. Arnim und Clemens Brentano lustig schwärmte und der damals grassirenden Romantik seinen Zoll entrichtete. Zwei Mal verheirathet ist er mit Söhnen und Enkeln gesegnet, unter denen der Regierungsrath Richard Böckh sich als Statistiker einen bedeutenden Namen erworben hat. Seine Tochter aus erster Ehe ist die Gattin des berühmten Juristen und Abgeordneten, Professor Gneist. Zu seinen Freunden aber zählt der würdige Jubilar die Besten seiner Zeit, und das ganze deutsche Volk liebt den großen Mann, den die Wissenschaft nicht dem Leben entfremdet, sondern zum wahren Lehrer seines Volkes erhoben hat: ein leuchtender Stern an dem Himmel der deutschen Nation, voll Glanz und Klarheit, zu dem wir und einst noch unsere Nachkommen mit Bewunderung und Ehrfurcht aufblicken werden.
Max Ring.




Blätter und Blüthen.


Gegen den Entdecker der Gregarinen. Unverkennbar haben wir den mikroskopischen Forschungen der Neuzeit außerordentlich viel zu danken, und dieselben gewiß nicht unterschätzend, fühle ich mich als Sachkenner verpflichtet, nicht etwa gegen die Forschungen des in Petersburg lebenden deutschen Naturforschers Herrn Lindemann und dessen neueste Entdeckung unsichtbarer Ungeheuer, der Gregarinen, in den menschlichen Haaren (s. Gartenlaube Nr. 5, S. 79), in die Schranken zu treten, sondern gegen einige seiner weitgreifenden Behauptungen.

Bemerken muß ich vorerst, daß ich kein Gelehrter bin und nur aus einer fünfzigjährigen Erfahrung spreche. Es kann deshalb nicht meine Absicht sein, der wissenschaftlichen Autorität, welcher wir diese Mittheilung verdanken, zu nahe zu treten, aber wundern muß ich mich doch, daß Herr Lindemann sich nicht mit der Erfahrung in Verbindung setzte, denn die Erfahrung war ja oft mächtiger als die Wissenschaft und giebt absolute Gewißheit; in unserm Falle hier die, daß alles organische und vegetative Leben durch dauernde Siedehitze sicher zerstört wird.

Weit glücklicher, scheint Herr Lindemann, trotz der kurzen Bekanntschaft mit diesen Ungeheuern, in seinen Erfahrungen hinsichtlich der Krankheiten, welche durch dieselben im menschlichen Körper entstehen, gewesen zu sein. Welchen großen Fund die medicinische Wissenschaft durch alle diese Beobachtungen und Erfahrungen gemacht hat, liegt meiner Beurtheilung fern, nur möchte ich das Resultat meiner fünfzigjährigen Erfahrung gegenüberstellen, nach welcher, so viel mir bekannt, noch kein Arbeiter in den Fabriken, die sich mit der Präparation der Menschenhaare befassen, an den angegebenen Krankheiten gelitten hat. Inwiefern nun die von Herrn Lindemann entdeckten und so sehr gefürchteten Gregarinen ein so eminentes Unheil verbreiten sollen, ist in der That nicht erklärlich, wenn man weiß, mit welcher Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit die Menschenhaare überhaupt, folglich auch diejenigen, welche zu Chignons verwendet werden, in guten Fabriken schon seit geraumer Zeit von allen fremdartigen Stoffen gründlich gereinigt werden, denn sie werden in Siedhitze stundenlang ausgekocht und dann noch in heißem Wasser mit Soda ausgewaschen.

Wenn nun Herr Lindemann behauptet, daß selbst durch Auskochen die etwaigen Gregarinen nicht absterben, so werden Wissenschaft und Erfahrung darüber noch entscheiden müssen. Meiner Ansicht nach ist es unmöglich, daß ein thierisches Wesen, selbst wenn es auf der niedrigsten Stufe des organischen Lebens steht, nach längerer Einwirkung der Siedehitze jemals noch ein Lebenszeichen von sich geben kann. Um dies zu wissen, braucht man vielleicht kein Naturforscher zu sein; ein Beweis ist es aber wohl, daß Herr Lindemann in seinen Behauptungen zu weit gegangen, oder die jetzige Präparation der Menschenhaare nicht kennt, wie diese aus guten Fabriken zu beziehen sind.

Den durch jenen Artikel geängstigten Damen und Herren, welche durch den Verlust des eigenen Haares genöthigt sind, künstliche Haararbeiten zu tragen, theils zur Verhütung von Entstellung oder Erkältung, theils auf Grund einer beliebten Mode, kann ich zur Beruhigung die Versicherung hier niederlegen, daß die gegenwärtige Präparation der Menschenhaare Strafthiere der Unreinlichkeit oder Gregarinen sicher nicht aufkommen laßt.

Zur weiteren Begründung des Nachweises über die fabrikgemäße, gewissenhafte Bearbeitung der Haare zu künstlichen Arbeiten und dieser meiner Erwiderung habe ich der geehrten Redaction der Gartenlaube meinen Namen hinterlegt.




Wieder eine Liebesgabe von jenseit des Oceans. Auf Anregung und durch Vermittlung des sächsischen Consuls in Batavia, Herrn Kinder, sind uns für die Verwundeten und Waisen des letzten Krieges abermals eintausend Thaler zugegangen, die unsere braven deutschen Landsleute in Java, und an deren Spitze zwei deutsche Handlungshäuser in Batavia, im Laufe des vorigen Jahres gesammelt haben. Diese eintausend Thaler sind, nachdem gleich große Beträge schon nach Preußen, Sachsen und Süddeutschland abgegangen, ausdrücklich für Oesterreich bestimmt und durch unsere Veranstaltung und durch die Freundlichkeit des Herrn Demuth (Gerold’sche Buchhandlung) in Wien in einzelnen Gaben auch bereits an die Unglücklichen des Jahres 1866 vertheilt worden. Indem wir unserer Seits auch öffentlich über diese ansehnliche Liebesgabe quittiren, statten wir im Namen der Betheiligten unsern herzlichsten Dank ab, namentlich auch für den abermaligen Beweis, daß deutsche Herzen, wohin sie auch das Schicksal führen mag, doch immer warm und treu für das alte Vaterland fortschlagen und diese Liebe in wahrhaft großartiger Weise bethätigen.

D. Red.




Kleiner Briefkasten.

v. S. in B. Das schöne Böttcher’sche Bild „die Glücklichen im Schloß“ ist nach England an den großen Kunstfreund Kaufmann Schwabe in Liverpool verkauft und leider bis jetzt noch in keiner Nachbildung erschienen.

A. in K–n. Ganz selbstverständlich; wenn wir seither noch keine Skizzen aus dem norddeutschen Reichstage brachten, so hat das den sehr triftigen Grund, daß, ehe sich die Parteien gebildet und die Fractionen geklärt hatten, ehe in der Versammlung überhaupt etwas geschehen war, alle dergleichen Schilderungen auf eine bloße Spielerei hinausgelaufen wären. Schon in der nächsten Nummer unseres Blattes aber werden Sie aus der Feder eines bedeutenden deutschen Schriftstellers und derzeitigen Mitglieds des Reichstags mit einer Reihe von Photographien aus diesem letztern den Anfang gemacht finden.

H. H. in Düsseldorf. Der Kriegsgeschichten sind nun genug. Alle uns eingehenden Gedichte zu lesen, haben wir keine Zeit.




Zur Nachricht!

Mit dieser Nummer schließt das erste Quartal. Wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das zweite Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.


Der uns sehr knapp bemessene Raum gestattet uns aus dem reichen und mannigfaltigen Schatze uns neuerdings gewordener Beiträge, die nun nach und nach zum Abdruck gelangen werden, nur auf die nachstehenden hinzuweisen:

Photographien aus dem Reichstage des norddeutschen Bundes. Mit großen Abbildungen. – Schilderungen aus dem Vorarlberg von Felder, dem jüngst viel genannten neuen bäuerlichen Dichter aus dem Vorarlberg’schen. – Nach Paris. Vorschule für Besucher der Weltausstellung. Von H. A. Berlepsch. Außerdem wird unser Pariser Specialcorrespondent über die Ausstellung selbst mannigfache Berichte erstatten. Zugleich wird in dem nächsten Quartale die schon früher angezeigte neue Erzählung von E. Marlitt: „Das Geheimniß der alten Mamsell“ beginnen.

Alle Postämter und Buchhandlungen nehmen Bestellungen an.
Leipzig, im März 1867.
Redaction und Verlagshandlung.




Inhalt: Die Herrin von Dernot. Novelle von Edmund Hoefer. (Fortsetzung.) – Aus dem Steppenleben Rußlands. Mit Illustration. – Das Wiener Chormadel. Von H. Ehrlich. – Die Geschichte des Kladderadatsch. Mit Portraits.– Die Fortschrittspartei auf dem Katheder. 1. Ein Jubilar. Von Max Ring. – Blätter und Blüthen: Gegen den Entdecker der Gregarinen. – Wieder eine Liebesgabe von jenseit des Oceans. – Kleiner Briefkasten.




Die Deutschen Blätter, Literarisch-politische Feuilleton-Beilage zur Gartenlaube, Nr. 12 enthalten: Ein Sturm auf Jamaica. – Umschau: Das Jubiläum Böckh’s. – Der einjährige Freiwillige. – Eine schwere Anklage gegen die Lebensversicherungs-Gesellschaften. – Patriotische Bemühung. – Der Statthalter von Bengalen. – Silberverbrauch der Photographen. – Ein demokratischer Taufact. – Cylinderhut und Frack. – Schwindel in Deutschland. – Schleiermacher’s Anfänge im Schriftstellern. – Unwillkommene Lorbeeren. – Zweistöckige Eisenbahnwaggons.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Damals war allgemein der Glaube verbreitet, die kleine Lucca werde zum Ballet übergehen, und das mag auch erklären, daß viele Leute meinen, sie wäre in der That zuerst Tänzerin gewesen.
  2. Der Verf. dieses Artikels hat Frau Lucca in der ersten Vorstellung der Afrikanerin gesehen, nachdem er den beiden Hauptproben beigewohnt hatte – er ging an dem Abende mit jener Gleichgültigkeit eines Zuhörers in die Oper, dem an der Musik nicht die Neuheit und das hohe Agio der Plätze imponirte – als aber plötzlich die Lucca im Costüm der Selica in den Berathungssaal stürzte und die Versammlung des hohen Rathes, vor dem sie als Königin, als Sclavin erscheint, mit stolzem, zornigem Blicke maß, fühlte er sich auf’s Höchste überrascht – sein Interesse blieb rege bis an’s Ende der Vorstellung – dies war das Werk der Lucca! Und ein sehr großer Künstler, der würdigste und entschiedenste Vertreter der edelsten classischen Musik, gestand, daß er nicht ohne eine gewisse Voreingenommenheit gegen die vergötterte Sängerin in die Vorstellung der Hugenotten gegangen sei und daß auch ihn die dramatische naturalistische Macht ihrer Darstellung und ihres Gesanges höchlichst überrascht und angeregt habe.
  3. „Am Schanzl“ ist der Platz zwischen der ehemaligen Rothenthurmbastei und dem an der Kettenbrücke gelegenen Theile des Donauarmes, der die Leopoldstadt und Jägerzeile von der innern Stadt trennt. Wahrscheinlich stand dort einst eine kleine Schanze, wie das Diminutivum „Schanzl“ schließen läßt. Dort war in früheren Zeiten ein Obstmarkt, dort thronten auf hohen Hökerstühlen die hehren Dryaden, die als „Schanzelweiber“ gleich den „Müttern“ des Faust schon durch ihren Namen heilige Scheu einflößten. Dort wirkte noch vor fünfundzwanzig Jahren die in ihrer Art unerreichte „Zweschzenliesel“, von der die Sage erzählt, sie habe dem Kaiser Franz, dem Großvater des jetzigen, als er in seinem schlichten Civilrocke – er trug nie einen andern – unerkannt bei ihr „Plutzerbirn“ kaufen wollte und sie fragte: „Wern’s denn auch gut sein?“ im junonischen Zorne über diesen leisen Zweifel in ihre Waare die Antwort entgegengeschleudert: „Schmeck’s, Kropfeter!“