Die Gartenlaube (1867)/Heft 52
Aus Monterossi, am Rande der Campagna, etwa fünf Meilen von Rom.
Der Vetturin übernachtet hier, liebe Julie; morgen in aller Frühe brechen wir wieder auf, der Siebenhügelstadt zu. Der Wind heult um das Haus, Gewitterregen knattert an die Scheiben; bei der trübsten aller Lampen sitze ich neben meinem Bett auf einem wackelnden Stuhl und suche mich durch Schreiben vor der schlaflosen Einsamkeit zu retten. Ja, meine theuerste Julie, Du sollst endlich Alles erfahren! Ich kann nicht nach Rom hinein, eh’ ich mir diese Last von der Seele geschüttelt; ich kann nicht an Dich schreiben, ohne Dir Alles zu beichten.
Aber das Herzblut steigt mir in’s Gesicht, bis zum Stirnhaar hinauf, wenn ich an dieses demüthigende Bekenntniß denke. Noch immer fass’ ich es nicht. … Als ein eitler, selbstzufriedener Narr, voll der hochfahrendsten Gewißheit, fuhr ich an jenem nächsten Morgen nach Hause zurück. Der Gedanke machte mich selig, sie zu beglücken. Ich entwarf schon alle die Reisepläne, die ich mit ihr ausführen wollte, um ihren Geist vollends aufzuwecken, ihre begonnene Erziehung zu vollenden. Ich sah mich schon mit ihr im Pantheon, auf dem Palatin und führte sie unter den ewigen Rosen des Monte Pincio spazieren: Und endlich landete unser langsamer, überfüllter Zug, und da stand ich in unserem Bahnhof, als wär’ ich von einer weiten, langen Reise heimgekehrt, und wie ein Eisenhammer schlug mein Herz. Es war Sonntag und das goldenste Wetter – o, ein Tag, Julie, wie dazu geschaffen, um sich im Angesichte aller Engel zu verloben! Eine Blumenverkäuferin stand am Weg, ich kaufte ihr schönstes Sträußchen und wand ein rosenfarbenes Band herum, das ich vor wenig Tagen einmal in einem von Anna’s Büchern als Lesezeichen gefunden und in einem ersten Anfall verliebter Tändelei zu mir gesteckt hatte, und so wanderte ich, bei traulichem und erhebendem Glockengeläute, ihrem Hause zu. Die Köchin, die gute Sophie, saß im Sonntagskleid vor der Thür und lächelte mich an. „Sind Sie schon von Rom zurück?“ sagte die Spitzbübin. „Hier finden Sie Niemand zu Haus, den ganzen Tag nicht: die Herrschaften sind mit einer fremden Dame auf den See gefahren und wollen in ‚Marieneh’‘ zu Mittag essen.“ Ich kehrte, ohne „Ah“ oder „O“ zu sagen, stracks wieder um und eilte ihnen nach. Auf dem Wasser schwammen eine lange Reihe von Kähnen mit geputzten Menschen, die alle den Sonntag am See genießen wollten. Die leichten, weißen Wolken spiegelten sich so schön, die Wälder am Ufer dunkelten ernst in diese blaue Heiterkeit hinein, der leise, erfrischende Wind schien mich fast zu tragen, Alles, Alles stimmte mich glücklich und froh, alle die Tage standen mir vor Augen, wo ich hier Anna und unser verstorbenes Cousinchen gerudert oder einsam schaukelnd die Abendstunden verträumt hatte.
Endlich erspähte ich den Kahn, den ich suchte; ich schwenkte mein Taschentuch, rief sie an, lief ihnen am Ufer eine Strecke entgegen. Sie bemerkten mich und kamen zurück. Ich glaubte, Anna bei meinem Anblicke heftig erschrecken zu sehen, doch als das Boot sich dem Ufer näherte, begrüßte sie mich mit ihrer gewöhnlichen Fassung. Nun erkannte ich auch die Fremde, die neben ihr auf der Bank saß: Frau Amanda, meine gute Freundin, im Reisekleide wie eine Engländerin und Anna’s Hand in der ihren. Ich war verwundert, sie in dieser Gesellschaft zu sehen, doch nur einen Augenblick, denn alle Gedanken vergingen mir im Anschauen dieses Mädchens, das mir die Sinne verwirrte. In ihrem hellen Kleid, unter dem breiten, zierlichen Strohhut war sie so reizend, sie war wieder das Märchenkind, das sie in ihrer ersten Knospenzeit gewesen; ein liebliches Durcheinander von aufgeregter Heiterkeit und plötzlichem Ernst, das mich Unglücklichen bezauberte; ich schwankte fast wie ein Trunkener, als ich einstieg. Die Tante bestürmte mich mit Fragen, warum ich wieder da sei; ich antwortete, was ich mir ausgedacht hatte, aber wie aus dem Traum. Anna saß still, und schwieg. Endlich umschlang sie Frau Amanda mit einer seltsam leidenschaftlichen Zärtlichkeit und sagte: „Auch ich werde reisen, und mit dieser holden Frau, – weit, weit in die Welt hinaus!“
Nun erst fiel mir ein, was ich selber Dir einst geschrieben hatte, und ich starrte diese plötzliche Erfüllung meines eigenen Wunsches mit unfrohen Augen an. „Wohin?“ fragte ich stammelnd. „Das ist unser Geheimniß,“ antwortete sie und lächelte so kühl vor sich hin, daß mir alles Fragen verging. „Wir haben uns schnell in einander verliebt,“ sagte Frau Amanda und sah dabei das Mädchen mit innigen Blicken an, „und ich hoffe, wir werden in aller Welt gute Freunde sein!“ – „O, hinaus, hinaus,“ rief Anna mit einer zitternd seligen Stimme, – „mir ist schon, wie wenn ich Flügel hätte! So lange Jahre hab’ ich mir’s gewünscht, geträumt und geträumt und saß hinter meinem Drahtgitter und ließ mich von meiner guten Kerkermeisterin mit Zucker füttern,“ und sie warf einen Blick auf die Alte, der wie Sonnenschein über deren ganzes Gesicht hinüberging, „und nun kommt auf einmal eine weiche Hand und holt mich freundlich heraus und trägt mich [818] über alle Wipfel und Berge!“ Sie schwärmte, sie sang, sie ließ das Wasser durch ihre Finger gleiten, sie drückte Amanda’s Hand, ihr ganzes Wesen schwebte höher und höher. Sie schien so glücklich zu sein. Mir that das Herz weh, – ich kann Dir’s nicht sagen.
Ich starrte eine Weile vor mich hin; endlich blickte ich sie wieder an und sah, wie ihre feuchten Augen auf mir ruhten. Mir war, als müßte ich mitten unter den Menschen aufschreien: „Anna!“ und ihr im engen Kahn vor die Füße stürzen. Sie aber sah wieder kalt und abwehrend zu mir herüber und sagte in gleichgültigem Ton: „Frau Amanda hat mir auch Grüße von Deiner Schwester gebracht, für Dich und mich. Sie glaubte Dich noch hier.“ – „Kennst Du denn meine Schwester?“ fragte ich verwundert. Das räthselhafte Mädchen wandte sich zur Seite, spielte wieder mit dem Wasser und sagte endlich: „Wer weiß!“ Ich starrte sie an und wollte eben Aufklärung begehren, als plötzlich die Tante etwas in die Höhe fuhr und mit ihrer geräuschvollen Stimme flüsterte: „Dort am Ufer geht Walter, Anna, aber von uns hinweg. Er will wohl über Land, zu seinen Eltern.“ Anna ward bleich und roth, starrte in’s Wasser hinein mit unbeweglichen Gliedern und zusammengepreßten Lippen, und schwere Thränen traten ihr in die Augen. „Er wird noch glücklich werden,“ setzte die Alte nach einer Pause hinzu, um nur etwas zu sagen, da wir Alle schwiegen; „er wird die Emilie heirathen, die er von Kind auf so gern gehabt hat; man bleibt doch immer am besten bei der ersten Liebe!“ Anna zuckte zusammen. Wir saßen wieder in der peinlichsten Stille. Ich war unsäglich beklommen, ohne zu wissen, warum, all’ mein Muth war dahin, es legte sich mir wie ein kalter, nasser Mantel um’s Herz, und ich gewann erst wieder Athem, als wir endlich an’s Land stiegen.
Die Mittagszeit kam heran, aber noch immer fand ich keinen Augenblick, meine überfüllte Seele zu entladen. Wir aßen im Wirthsgarten in einer Laube am Wasser; die ersten Rosen dufteten herein, Bienen und Hummeln summten, der See plätscherte mit der ganzen süßen Geschwätzigkeit kleiner Strandwellen heran, aber ich, Julie, ward immer stummer und stummer. Frau Amanda fragte mich nach Tausenderlei von Rom und römischem Leben, und nie in meinem Leben hatte ich weniger Sinn und Verlangen, von Rom zu reden. Ich mußte ihr von den Wirthshäusern, von der italienischen Küche, von den gesunderen Stadtquartieren erzählen, und meine Seele lechzte in Bangigkeit nach einem Zwiegespräch mit ihr, die mir in wechselnder Farbe gegenübersaß. Endlich hatten wir abgetafelt; die Tante und Frau Amanda zog sich zurück, um ein wenig zu schlummern. Als ich sie bis an’s Haus begleitet hatte und fast zitternd vor Erregung mich nach Anna umsah, war sie verschwunden. Ich suchte sie, ging verstört dem Wasser zu und nun sah ich sie in unserem angebundenen Kahn am Steuer sitzen; sie hatte ihr braunes Schirmchen aufgespannt, sich gegen die Sonne zu schützen, und träumte ernst in das Land hinaus.
Ich näherte mich und fragte, ob ich einsteigen, ob ich sie ein wenig stören dürfe. Sie konnte ihre Aufregung nicht verbergen und nur ein stummes, sichtbar erzwungenes Kopfnicken gab mir Antwort. Nun faßte ich mir dennoch ein Herz, löste unvermerkt den Kahn vom Ufer und trieb ihn mit einem langen, sanften Ruderstoß gegen die Landungsbrücke auf den See hinaus.
„Das war nicht die Meinung,“ sagte sie.
„Verzeih’,“ antwortete ich, „was ich Dir sagen möchte, Anna, soll Niemand hören, als der schweigsame See. Laß uns nur immer ein wenig hinaustreiben! Anna, ich bin ein unglücklicher Mensch. Ich habe Dir weh, ich habe Dir Unrecht gethan. Ich habe mein Herz nicht gekannt, und als ich es erkannte, war’s zu spät. Doch nein, Anna, zu spät darf es nicht sein! Was geschehen ist, ist ungeschehen, Du bist frei, Du bist Dein – –“
Doch wie kann ich, Julie, wie kann ich Dir das Alles wiederholen? Weiß ich’s noch, was ich sagte? Und wenn ich es wüßte, was liegt nun daran? Mein Herz lag ihr zu Füßen, meine Zunge sprach durch ihr Stammeln, und was ich sagen wollte, stand in meinen Augen, in allen Zügen geschrieben.
Sie hörte mich ruhig an. Sie wich mir nicht aus, ihre dunklen Blicke waren auf mich geheftet. Sie ließ den Schirm sinken, und die Sonne lag nun voll auf ihrer wachsbleichen Stirn. „Bist Du zu Ende?“ sagte sie endlich mit bebender Stimme.
„Ist das Deine Antwort, Anna?“
„Nein, so kurz ist sie nicht,“ erwiderte sie, „ich habe Dir Manches zu sagen. Du sollst mich nicht wieder verklagen können,“ fuhr sie mit einem unerträglich erschütternden Tone fort, „daß ich unehrlich oder verschlossen sei! Ich habe Dich über Alles lieb gehabt. Nein,“ unterbrach sie sich herb, und die plötzliche Röthe schlug ihr wie eine Flamme bis zur Stirn hinauf, „auch das wäre unwahr, ich habe Dich lieb, noch in diesem Augenblicke. Aber nie werd’ ich Dein Weib, niemals, niemals! Ich hab’ es mir geschworen. Weißt Du, was Du an mir gethan hast? Ich habe Dir Alles aufgeopfert, was ich hatte: mein altes Leben, meine Menschen, meine Ruhe, meine Unwissenheit; dem Gerede der Menschen hab’ ich mich preisgegeben, um in Deiner Gesellschaft wieder leben zu lernen, und nun hattest Du endlich einen Menschen aus mir gemacht, und mit dieser Last auf meiner jauchzenden, beladenen, wund gedrückten Seele ließest Du mich allein! Glaubst Du, daß Du noch das Recht dazu hattest? War ich nun nicht Dein? Durftest Du mich an dem neuen Leben, das Du mir gegeben hattest, verbluten lassen?
Ich habe gewartet,“ fuhr sie fort, und noch immer hör’ ich ihre dunkle, bebende Stimme, „ich habe gewartet mit geduldiger Seele, Tag für Tag hab’ ich in meiner vertrauenden, seligen Ergebenheit geharrt, daß Du mir sagen würdest: ‚Von nun an gehören wir zusammen, Du bist mein Weib!‘ Bin ich nicht sinnlos, Dir das Alles zu sagen? Als aber jene Abschiedsstunde kam und auf die Frage, die ich in aller Herzensangst hervorstieß, mir diese leere, todte Antwort zurückkam, – von dem Augenblick an war es aus zwischen Dir und mir! Da wußt’ ich, daß Du mit mir wie mit einem Vogel oder einer Blume gespielt hattest! Nun kannst Du gehen, Du bist frei, ich habe Dich in jener Stunde losgesprochen, an mich bindet Dich nichts mehr. Was ich zu tragen habe, trag’ ich allein; mein neues Leben will ich mir selbst zurecht machen, und ich werde Dir auch nicht die Liebe anthun, Dich zu hassen.“
– Ich hatte längst die Ruder aus den Händen sinken lassen, der Kahn trieb von selbst wieder dem Lande zu. „Nun weißt Du Alles,“ sagte sie, „Du hast es gewollt.“ Weiter hörte ich nichts mehr. Ich weiß nicht, Julie, was sie noch gesagt haben mag. Ich saß in meinem grenzenlosen Kummer da, ließ sie ruhig aussteigen, sah ihr nicht nach; was hätt’ ich ihr auch erwidern sollen? Ich fühlte in jedem Nerv, daß sie im Recht war. Ich hatte keinen Zorn, keine Erbitterung, keine Empfindung des Widerspruchs, nichts als den Schmerz, daß es so gekommen war, daß ich sie verscherzt hatte.
Als ich mich endlich umzusehen wagte, war sie verschwunden. Ich wollte weder ihr noch den Andern wieder begegnen; ich band den Kahn fest und lief am Ufer entlang nach der Stadt zurück. Und unterwegs kamen die bösen Gefühle herauf, die der erste tiefe Schmerz niedergedrückt hatte. Ich sah mich mißhandelt, beleidigt, gedemüthigt, verkannt; ich fühlte den Haß in mir aufsteigen, den sie mir so stolz verweigert hatte. In dieser Stimmung schrieb ich Dir jene ersten fassungslosen Worte. Damals wäre ich unfähig gewesen, Dir zu bekennen, was ich Dir jetzt – unter tausend Windungen des tiefsten Widerstrebens – zu meiner Buße bekannt habe. Damals war mir unmöglich, was vielleicht Alles noch gerettet hätte: zu Anna zurückzueilen, ihr auf den Knieen in offener Zerknirschung abzubitten. Mein Stolz war empört. Und nun ist Alles vorbei.
Ja, Julie, ich habe sie mit Recht verscherzt, ich bekenne mich schuldig. In grausamer Selbstverachtung sitz’ ich da! Ich kam als ein hochfahrender Thor in meine Heimath zurück. Ich habe Anna’s Seele zu gering geschätzt, weil sie zu meinen fremdländischen Idealen nicht stimmte. Ich habe mit ihr gespielt, leichtfertig wie ein Knabe mit ihrem vertrauensvollen Herzen getändelt, und als ich sah, daß ich schon zu lange getändelt hatte, da ließ ich sie mit ihrer Verzweiflung allein.
O, warum sind wir so blinde, eitle, selbstgefällige Thoren!
Was nun aus mir werden soll, das weiß ich nicht. Ich fliehe nun schon Wochen lang vor mir und ihr, und dem Einen kann ich so wenig wie der Andern entrinnen. Langsam, dann wieder hastig, dann wieder gleichgültig träg an irgend einem Ort an der Landstraße stille liegend, – so bin ich gereist und bis hierher gekommen, bis an die Schwelle von Rom – und dort, Julie, hoff’ ich zu vergessen. Kann ich es, so kann ich es nur in Rom. Und kann ich es auch in Rom nicht – – doch den Gedanken [819] laß mich nicht ausdenken, er führt in die todte Finsterniß. Begleite mich, Schwester, mit Deinen guten Gedanken! – Meine Seele ist weich wie nie, ich muß enden, oder ich zerfließe.
So leb’ ich nun also in Rom, liebe Julie, zum zweiten Mal, und wie hier vor einem Jahr mein Geist genas, so soll diesmal, denk’ ich, mein Herz genesen. Ja, ich fühle schon wieder die beruhigende Wirkung dieser ewigen Stadt, dieses versteinerten Märchens. Eine leise, beständige, sanfte Melancholie begleitet mich, in ihren linden Armen hoff’ ich nach und nach zu gesunden. Ich lebe still, ich meide die Trümmerwelt, weil sie mich elend stimmt und in meiner Wunde wühlt und mir die Ruhe der Seele fehlt, sie zu genießen; ich suche lieber das Lebendige auf, die immer junge Natur, das unendliche Licht, die sanften Lüfte. Wenn ich bei Tage in den hohen kühlen Sälen gesessen und die alten Handschriften entziffert habe, führ’ ich am Abend diesen oder jenen meiner Freunde vor’s Thor hinaus, in die nächste Campagna, in eine Villa, einen Weingarten, an’s Tiberufer, überall hin, wo Natur ist, und lerne wenigstens, wenn ich nicht genießen kann, und über ewigem Lernen such’ ich zu vergessen.
Ach, Julie, wie groß, wie schön, wie reich hier Alles gemacht ist! Wir gingen gestern Nachmittag in die Villa Albani, in der vor hundert Jahren Winckelmann so glücklich war. Nie ist mir italienischer zu Muthe gewesen, als hier. Schon der Eintritt mit dem plötzlichen Blick über den langgestreckten, sich leise absenkenden Ziergarten hinaus auf das im Sonnenlicht glühende Sabinergebirge ist so ganz überraschend, und nun der Weg durch die Buchsbaum-Alleen, zwischen den alten bemoosten Hermen hin, bis man auf den freien, von Blumenarabesken durchschlängelten Platz hervortritt und hier das herrlichste, formenreichste Bild sich in tausend warmen Farben harmonisch zusammenordnet: die Riesencypressen, die den Park begrenzen, die künstliche Tempelruine, aus wunderbar tiefgrünen Eichen entgegenschimmernd, und hinter ihr aufragend die classische Silhouette der Vorstadt Santa Agnese, und die in allen blauen und rothen Farbentönen hinauswachsende Campagna, aus der die fernen Bergstädte wie leuchtende Inseln aufsteigen, und endlich der braune Monte Gennaro und das ganze Gebirg – und das Alles verklärt von unermeßlichem Licht! Wir standen wie trunken da und wie wenn dieses ganze, durch einen Schöpfertraum hervorgehauchte Bild nach kurzer Schaustellung wieder versinken müßte. „Hier fehlt nun nichts mehr,“ sagte mein Freund, „als Mozart’sche Musik und ein göttlicher Wein…“ Das fuhr mir auf einmal wie ein Stich durch’s Herz. Ich war wieder aufgestört, ich fühlte, was mir fehlte.
Ach, was hilft es, Julie, daß ich Dir und mir von diesen Wundern erzähle? Als wir nach einer Stunde wieder aus der schönen marmorreichen Halle hervortraten, die Augen mit Statuen und Schönheit und Griechenthum angefüllt, und nun die Lichtverschwendung der untergehenden Sonne in’s Märchenhafte wuchs, die hohen Cypressen sich buchstäblich rötheten, der Thurm von Santa Agnese zu einem feurigen Ofen ward und wir in dieses Feuerwerk von Lebens- und Sterbensgluth des Lichtes stumm hinausstarrten – was half es mir, daß mein Geist anbetend bewunderte? Mir summte ein altes melancholisches Lied im Ohr, und schwermüthiger als jemals wanderte ich heim. Und in der Nacht fand ich keine Ruhe. Im Wachen wie im Traum war ich in meiner Vaterstadt, sah die Sonne hinter unserm See niedergehen, die Kähne, die Segel hin und wieder fahren; hörte deutschen Gesang, und unsere hellen, lachenden Mädchenstimmen, und unsere tiefen, feierlichen Sonntagsglocken – und endlich besann ich mich in tiefen Schmerzen, daß ich in Rom war.
Wohin soll ich hier flüchten? In den Kirchen verleid’ ich mir die Menschheit, in der Natur bin ich allein. Wenn ich in einem dieser christlichen Tempel das Geplärre höre und das stumpfsinnige oder heuchlerische Volk sehe, wie es seinen bronzenen Heiligen die Füße küßt, seine hastigen Gebete murmelt und die Augen verdreht, oder in Büßerinbrunst sich auf den Boden wirft und das Gesicht an die marmornen Fliesen drückt, oder die heilige Treppe des Lateran hinaufrutscht, – soll ich das noch für Menschen halten? Ich hatte mich heute wieder in eine der Kirchen verirrt; im innersten Herzen angewidert kam ich heraus und floh allein in die Campagna, um diesem Volk zu entrinnen. Aber die Oede da draußen bedrängte mir die Brust. Die Ruinen, die Gräberstraßen, die todten Gefilde – leben will ich, Julie, leben mit Meinesgleichen! im gegenwärtigen, augenblicklichen Dasein mich lebendig fühlen, lebendig und glücklich sein! Ich ging an den Teverone und sah, wie das riesenhohe Rohr an seinen Ufern gefällt ward; der Fluß wandert so still, so einsam, so geheimnißvoll durch das Weideland dem Tiber zu, sich hier und da an die wildbewachsenen Felsen herandrängend; weit und immer weiter zieht das Auge mit ihm den sanften, umdufteten Linien der Ferne zu, und ich, Julie, sah das Alles und schlich in Gedanken an unserm heimathlichen Flüßchen entlang und sah durch seine Weiden Anna’s gelben Strohhut herüberschimmern – und ganz Italien hätt’ ich für diesen Strohhut gegeben!
So wanderte ich denn endlich, ungebessert wie immer, zur Stadt zurück. Und wie ich so in meinen unaussprechlichen Gedanken durch die Straßen am Monte Pincio meiner Wohnung zu schlendere, hör’ ich auf einmal einen wilden, markdurchschneidenden Lärm; an der nächsten Ecke wickelte sich aus einer Frauengruppe ein junges Mädchen heraus, in rasenden Bewegungen und gellendem Schreien, zerschlug sich die Brust, riß wüthend an ihren langen Haaren und stieß wie sinnlos die andern Mädchen zurück, die sie zu besänftigen suchten. Weiter oben aber in der ansteigenden Gasse bewegte sich ein unruhiger Menschenknäuel, man hörte, wenn die gellende Stimme einmal verstummte, unheimliche Rufe durch einander; Alles blieb stehen, um die Auflösung dieses Räthsels abzuwarten. Nach einer Weile kam aus jenem Knäuel ein Wagen hervor und fuhr langsam auf uns zu, die Straße herab. Ein Gensd’arm saß neben dem Kutscher, in dem offenen Gefährt ein leichenfarbener Jüngling, mit aufgelösten Gliedern und durch den Tod geadelten, männlich schönen Zügen, das Hemd unter der Brust zurückgeschlagen, man sah seine blutige Wunde. Ein Freund hielt ihn im Arm, ein ihm gegenübersitzender Capuziner seinen kalten Puls. Als er vorbeifuhr, schrie das Mädchen so verzweifelt auf, daß ich zusammenfuhr: „Bruder! Bruder!“ – Die Frauen rangen mit ihr, um sie festzuhalten. Dann verschwand der Wagen, und die Unglückliche versank in eine dumpfe Stille. „Erstochen!“ murmelten die Leute um mich her. Auf einmal stand eine ältere Matrone neben mir, sah mit nassen Augen, aber einem erstarrt stillen Gesicht uns an und sagte scheinbar ruhig: „Das ist mein Sohn.“ Weiter nichts. Ich schüttelte mich und ging von dannen. Mir schauderte die Seele. Im Vorbeigehen hörte ich die Leute sagen, der Andere hab’ ihn aus Eifersucht erstochen; es fiel ihnen nicht auf, sie waren daran gewöhnt. Er war der Bevorzugte, der Geliebte, da mußte er freilich sterben! O Julie, ein Haß überkam mich auf dieses Volk. Sie sind das Leben nicht werth. Mir fiel wieder Walter ein, der Gute, Edle – und damit mein ganzes elendes, unsinniges Schicksal – und ich schlich bei Seite, den ödesten Straßen zu, um meine unaufhaltsamen Thränen zu verbergen.
Julie, Schwesterherz, wie soll ich hier genesen? Alles reißt nur an meiner Wunde, ich weiß keinen Balsam, ich sehe keine Rettung.
Liebe Julie, ich habe eine Gelegenheit gefunden, mit einem Freund auf ein paar Monate nach Neapel und Sicilien zu gehen, und habe sie eilig ergriffen. Hier in Rom halt’ ich’s nicht aus. Bewegung, Veränderung! Das Reisen, das eifrige Arbeiten – denn ich setze dort meine Studien fort – wird mich wenigstens nicht in den Abgrund meines kläglichen Ich versinken lassen… Ich sage Dir, ich kenne mich nicht mehr. Wie ein Jüngling ging ich von hier nach Deutschland, wie ein Greis komm’ ich zurück. Oder nein – wie ein Mann, aber ein unglücklicher Mann! – Doch kein Klagwort mehr, ich muß es tragen.
Morgen ziehen wir davon. Heute noch einmal in die Campagna und in’s Pantheon, und dann hinweg,
Der Flüchtling ich, der Unbehaus’te!
Der Unmensch ohne Zweck und Ruh’!
Der wie ein Wassersturz –
Doch lies es nach, Julie, es sind goldene, grausame, unerbittliche Worte!
[820]
Mein Brief von gestern liegt noch auf meinem Tisch, und ich sitze noch hier in Rom. O Du Verrätherin! O Du liebe, hinterlistige – – Doch nein, das will ich nicht sagen. Fasse Dich, alter Friedrich, überstürze nichts; laß sich Alles, was Dir geschehen, vor den Augen Deiner neugierigen Leserin langsam entwickeln! Ja, was wollt ich noch? Ich wollte Dir vor meiner Abreise noch etwas erzählen, eine kleine, wunderliche Geschichte; lies sie recht aufmerksam, liebe Seele, und erwarte das Ende.
Ich wollte heute Morgen fort; das hatte ich Dir geschrieben. Aber ohne einen letzten Abschied von meinen Lieblingsstätten wollt’ ich nicht gehen. Ich hatte zwei meiner Freunde beim „Carlin“ gefunden und zog mit ihnen hinaus auf die Via Cassia, auf die Höhe der alten Straße, von wo der Reisende den ersten und letzten Blick auf die ewige Stadt hat. Wir aber hatten uns bald unter ein paar mächtigen Korkeichen gelagert, denn die Sonne brannte gewaltig und alles Blut stand mir in den Augen. Wir fingen an, wie Zigeuner vor uns hinzuträumen. Unten auf der Straße zog das festtäglich bunte Landvolk vorbei, Büffel schlenderten vor ihren schwerbeladenen Karren her, und der einförmige, uralte, einschläfernde Gesang des Treibers klang wie ein Ammenlied an unser schon halb eingewiegtes Ohr. Unter meiner Hirnschale entstand ein wohlthuend dumpfer Traumzustand, der mich unfähig machte, Kummer zu haben; mir war ungefähr so wohl wie den Ziegen und Schafen, die an den steinigen Abhängen umherkletterten.
Als es Abend werden wollte, schlichen wir langsam nach der Stadt zurück. Ich löste mich unter einem Vorwand von meinen Gefährten ab und wandelte dem Pantheon zu, um dort noch einmal an Rafael’s Grab mich meinen römischen Erinnerungen hinzugeben. Der Abendhimmel leuchtete durch die große Kuppelöffnung melancholisch feierlich herunter; der hohe edle Raum wirkte wieder, wie er es immer gethan, befreiend und lindernd auf meine arme Seele. Und in diesem alten heidnischen Gewölbe die große Lorenzettische Madonna, mit ihrer barbarischen hohen Silberkrone, Silberherzen an rothen Bändern über ihren marmornen Arm gehängt, und um sie her an der Wand Hunderte von geopferten Herzen und Händen – mir wurde seltsam um mein eigenes Herz. Wäre ich ein Gläubiger gewesen, so hätt’ ich mich hier auf die Kniee geworfen, Julie, und die gute Madonna um ihre Vermittelung bei der guten Anna gebeten! – Aber indem ich das denke, spricht auf einmal etwas mit halblauter, ein wenig zitternder Stimme hinter mir: „Friedrich, willst Du mich noch?“
Julie, die Frage kam mir in diesem Augenblick so unerwartet, daß ich in der Ueberraschung fast vergessen hätte, mich nach der freundlichen Stimme herumzudrehen. Ich dachte in die harten Marmorplatten zu versinken. Doch Du Verrätherin weißt es schon, wer hinter mir stand! – Sie trug ein reizendes Reisekleid, in dem ich sie nie gesehen, und lächelte mich an, aber als ich sie nun fassungslos mit meinen Blicken verzehrte, traten ihr die Thränen in die Augen. „Ich habe Dich endlich gefunden,“ sagte sie und gab mir ihre weiche, warme Hand. „Seit drei Tagen hab’ ich dich gesucht, und auf der ganzen Reise hoffte ich nur auf Rom und Dich; und nun sage mir, Friedrich, ob Du mich noch lieb hast, ob Du mich noch willst?“ Sie glühte dabei vor Erröthen auf, aber nur einen Augenblick; dann sagte sie mit dem süßesten Lächeln: „Ich muß eilen, Dich aufzuklären, sonst erwachst Du mir nicht aus Deiner Verzauberung! Hier an meinem Herzen hab’ ich die Zwischenträger, die mich über Dich erleuchtet haben,“ und sie zog aus ihrem Busen ein Häuflein Papiere hervor, die ich sinnlos anstarrte, ohne sie zu erkennen. „Ich war sehr dreist,“ setzte sie leiser hinzu, „es sind Deine Briefe an Deine Schwester, sie hatte Mitleid mit uns, sie hat sie mir geschickt; ich habe sie alle gelesen. Und nun kenn’ ich Dich ganz. Willst Du mir verzeihen, Friedrich, was ich unglückliches Mädchen Dir zu Leide gethan?“
Ich hatte nur immerfort ihre Hand gedrückt. Nun endlich sagte ich wohl auch etwas, aber ich glaube, Julie, etwas Besonderes wird es nicht gewesen sein! Wir lagen uns in den Armen und waren stumm. Mein Glück schmerzte mich in Kopf und Brust; ich bekenne Dir, ich konnte es kaum ertragen. Als ich endlich wieder aufsah, stand der Kirchenschließer in der Thür, ein langer, hagerer Mann, und klapperte ungeduldig mit seinen Schlüsseln. Aber nicht weit von ihm, in einer der Altarnischen, bog Frau Amanda sich vor, die ich nun erst entdeckte, und blickte in herzlicher Rührung zu uns herüber.
Ach, was sag’ ich Dir weiter? – Ich führte Anna hinaus; draußen, unter den alten gebräunten Säulen der Vorhalle, umschlang ich sie wieder und meine Schmerzen fingen an zu entweichen. Der Brunnen rauschte auf dem stillen Platz; ich sah mich auf einmal in Gedanken an dem plätschernden Brünnlein auf dem Hof in unserm Vaterhaus, wo ich als Knabe Anna zum ersten Mal begrüßt, ihr linkisch und blöd die Hand hingereicht hatte. Nun drückte ich sie an mein Herz und fühlte, wie alle die zerstreuten Bächlein meines unruhigen Lebens wieder gesammelt in einem Strom dahinflossen.
O Du Verrätherin! O Du hinterlistige, ränkevolle, liebe, theure, geliebte Verrätherin! Nun seh’ ich klar, nun durchschau’ ich erst die ganze Intrigue. Seit sie Dir, um Dich kennen zu lernen, jenen ersten Brief geschrieben, von dem ich niemals erfahren hatte, seitdem war meine kluge Schwester die geschäftigste Spinnerin, um an dem feinen Gewebe unseres Schicksals mitzuweben! Darum hatte sie es so eilig, meinen hingeworfenen Gedanken lebendig zu machen und eine nicht minder herzhafte Evastochter, die Frau Amanda, an Anna’s Seite zu bringen! Und darum warf sie, als wider ihr Ahnen und Erwarten meine Rückkehr und jener unselige Riß erfolgt war, Pflicht, Treu’ und Gewissen über Bord und schickte meine Briefe nach Rom, damit das neugierigste aller Mädchen sie lesen sollte, und während ich am Teverone saß und an Glück und Leben verzweifelte, saß dieses Mädchen hier auf diesem Platz, mit strömenden Augen und ihre Thränen flossen auf meine Beichte an ein verrätherisch mitleidiges Schwesterherz! – O ihr Frauen, ihr Kupplerinnen, ihr rettenden Engel! –
Frau Amanda und Anna sitzen im Nebenzimmer, ich schreibe in ihrer Wohnung, ich höre das unerträglich süße Flüstern – und länger halt’ ich’s nicht aus. Ich glaube, ich habe Dir den längsten aller Briefe geschrieben! Nun weißt Du Alles, leb’ wohl! – In diesem Augenblick tritt sie in die Thür und lächelt mich an, und da fällt mir ein, Du bist ja auch einmal verliebt und verlobt gewesen.
Nachschrift, eine Stunde später. Ich lasse Anna die Feder.
„Meine gute, neue Schwester! Mir schwindelt, das ist Alles, was ich Dir zu sagen weiß. Du hast mir das Leben gerettet; laß uns erst bei Dir sein, so will ich Dir’s auf Deinen Lippen danken!“
Und nun, liebe Julie, von mir noch ein letztes Wort! In dieser Stunde hat mir Anna, in holder Beklemmung, auch von jenem verzweifelten Augenblick erzählt, wo sie mit geschlossenen Augen in den Abgrund hineinspringen wollte und Walter ihr Jawort gab. Jetzt eben schreibt die Tante: Walter ist wieder bei ihr gewesen; er hat ihr versichert, er sei auf dem besten Wege der Genesung. Er werde bald mehr von sich verlauten lassen. Und so werden diesmal die Leute wohl Recht behalten: er wird seine Jugendliebe heimführen – und nicht er allein.
Ja, so ist es gekommen! O, daß Du Recht haben mußtest! Leb’ wohl, Du Schadenfrohe, bis meine dankbaren Arme Dich umschließen!
Wie einfach das klingt, wenn die Berlinerin eines Tages sagt: „Lieber Mann, Du könntest uns wohl einmal Billete zum Opernhause besorgen. Nächstens wird die Afrikanerin gegeben und ich möchte gar zu gern die Lucca sehen und Wachtel hören.“ –
Natürlich ist er damit einverstanden und beeilt sich die Wünsche der bescheidenen Gattin zu erfüllen, um ihr und sich selbst Vergnügen zu machen. Aber die Sache bietet größere Schwierigkeiten, als man denkt, und man kann mitunter leichter in den Himmel, als in das Berliner Opernhaus kommen.
Was thut aber nicht ein guter Mann für seine geliebte Frau!
[821][822] Acht Tage vor der nächsten Aufführung der Afrikanerin setzt er sich an den Schreibtisch und richtet in den höflichsten Ausdrücken sein ergebenstes Gesuch an eine hohe königlich preußische General-Intendanz, mit der Bitte, ihm gefälligst für sein schweres Geld zwei Parquetplätze reserviren zu lassen. Um ganz sicher zu gehen, scheut er nicht den weiten Weg und legt den Brief eigenhändig in den dazu bestimmten Kasten, in der Hoffnung eines günstigen Bescheides. Allein schon der nächste Morgen stimmt diese schönen Aussichten bedeutend herunter. Der gute Mann sitzt bei seinem Kaffee und liest das Hauptblatt seiner „Vossischen“, während seine bessere Hälfte in der Beilage die Ankündigungen der Verlobten, Verheiratheten und Gestorbenen, sowie die verschiedenen Geschäftsannoncen mit besonderem Interesse studirt. Plötzlich läßt sie das eben gelesene Blatt mit einem schmerzlichen Seufzer sinken, der ihm einen gelinden Schreck einjagt. Schon glaubt er, daß ein naher Verwandter oder eine theuere Jugendfreundin ihr entrissen, als sie mit einem wehmüthigen Blick auf die betreffende Stelle zeigt, welche folgermaßen lautet: „Bei der großen Menge der eingegangenen Meldungen für die nächste Vorstellung der Afrikanerin kann nur der kleinste Theil derselben berücksichtigt werden etc.“
Noch ist nicht alle Hoffnung verloren, obgleich der gute Mann aus Erfahrung weiß, daß er zu der bekannten Familie „Pechvogel“ gehört, die stets in der Lotterie eine Niete zieht. Er läßt sich jedoch den Weg nicht verdrießen und begiebt sich zur angegebenen Stunde auf das Bureau, wo ihn der Beamte mit bedauerndem Achselzucken auf die nächste Ausführung der Afrikanerin vertröstet. Zu diesem Behufe erhebt er sich schon, bevor der Morgen graut, von seinem Lager, um der Erste bei der Eröffnung der Casse zu sein, die gegen neun Uhr früh erfolgt. Es hat noch nicht acht Uhr geschlagen, als er vor dem Opernplatz steht, den Rockkragen über die Ohren in die Höhe gezogen, da es ein feuchter, naßkalter Tag ist und er an Rheumatismus leidet. Die Aussicht aber auf die erwünschten Billete läßt ihn die Unbill der Witterung und die leise bohrenden Zahnschmerzen vergessen. Freilich sinkt das Thermometer seiner Hoffnungen um so tiefer, je näher er seinem Ziele kommt. Schon von Weitem bemerkt er eine dunkle Menschenmasse, die seit mehreren Stunden die vorläufig noch verschlossenen Pforten förmlich belagert. Kopf an Kopf drängen, stoßen, drücken, treten sich die Leute auf die Füße, wobei es nicht ohne verschiedene Rippenstöße, schmerzlich berührte Hühneraugen und unangenehme Reibungen abgeht.
Eingeklemmt in dem schmalen, kaum vier Fuß breiten Gange, der durch eine eiserne Barriere begrenzt wird, gleicht die Gesellschaft einem Haufen von Sträflingen, welche, der Freiheit beraubt, von einigen Constablern bewacht werden. Wer einmal in das Gedränge hineingerathen ist, der kann nicht mehr zurück und sieht sich gefangen. So ergeht es auch dem guten Manne, welcher sich wider Willen fortgerissen sieht von dem wilden Strome, rechts von einem stämmigen Dienstmann, links von einem groben patzigen Lakaien bedrückt, während eine Dame sich auf seinen Rücken stützt. Jeder Versuch, sich aus dieser traurigen Lage zu befreien, erweist sich fruchtlos, ja selbst gefährlich, wie ihn die spitzen Redensarten und die noch spitzeren Ellenbogen seiner Nachbarn nur zu empfindlich belehren. Nach langem, unendlich langem Warten wird endlich die Casse von Innen geöffnet, wobei die eingekeilte Menge einen Stoß erhält und in ein bedenkliches Schwanken geräth. Ein eiserner Schlagbaum hebt sich und gestattet den Vordersten den Eintritt zur Casse, um ebenso schnell wieder niederzufallen, da nie mehr als höchstens zehn Personen auf einmal hereingelassen werden. Die Abfertigung dauert eine Ewigkeit und kann selbst die Langmuth eines Hiob erschöpfen. Die gewiß verzeihliche Ungeduld unseres Freundes, der eine entstandene Lücke benutzt, um mit durchzuschlüpfen, zieht ihm eine nachdrückliche Warnung von Seiten des wachthabenden Constablers zu, mit der Drohung, ihn an die Luft zu setzen, oder ihm gar eine freie Wohnung in der Stadtvoigtei zu verschaffen. Stunde auf Stunde vergeht so in dieser entsetzlichen Langeweile und peinlichen Erwartung, während die Aussicht immer trostloser wird, da nach und nach von den ausgehängten Tafeln die verschiedenen Plätze verschwinden. Parquet und Logen sind bereits vergriffen, nur noch Tribüne und zweiter Rang ist in geringer Anzahl vorhanden. Ehe jedoch die Reihe an ihn kommt, ist Alles, rein Alles verkauft und es bleibt ihm nichts übrig, als mit leeren Händen zu der Gemahlin zurückzukehren, wenn er nicht einem Billethändler das Zweifache und Dreifache des gewöhnlichen Preises zahlen will.
Nicht ohne schweren Kampf entschließt er sich endlich zu dem unvermeidlichen Opfer, nachdem er den ganzen Vormittag verloren, sein neuer Hut in dem Gedränge ihm angetrieben worden ist und sein Paletot einige erhebliche Risse aufzuweisen hat. In der Nähe des Opernplatzes findet er mehrere jener würdigen Speculanten, welche mit dem Handel der Theaterbillete ein einträgliches Geschäft treiben. Seitdem Berlin Weltstadt geworden ist, haben sich eine Menge problematischer Existenzen entwickelt, unter denen der Billethändler ohne polizeiliche Erlaubniß eine hervorragende Stellung einnimmt. Meist sind es verkommene Subjecte, welche an Arbeitsscheu leiden und aus Widerwillen gegen jede anstrengende Beschäftigung diesen keineswegs ganz ungefährlichen Erwerbszweig ergreifen, dessen Betrieb sie nur zu oft mit der Polizei in unangenehme Berührung bringt und zuweilen auf die Anklagebank führt.
Das überaus lucrative Geschäft fordert außer einem kleinen Anlagecapital eine große Portion von Schlauheit und edler Dreistigkeit, an denen es einem Berliner Kinde selten fehlt. Die Hauptsache ist die Kunst, sich zu jeder Zeit die gewünschte Waare zu verschaffen, was keineswegs so leicht ist, da zwischen der königlichen Intendanz und den privilegirten Billethändlern ein erklärter Krieg besteht, indem die Theaterbeamten angewiesen sind, Letzteren im Interesse des Publicums entweder gar keine, oder nur eine beschränkte Zahl von Billeten zu überlassen. Trotzdem wissen die Billethändler das gegen sie erlassene Verbot durch ihre List zu umgehen und illusorisch zu machen. Zu diesem Behufe erscheinen sie mit proteusähnlicher Verwandlungsfähigkeit unter den verschiedensten Gestalten und Verkleidungen an der Casse, bald als falscher Dandy oder Student, bald als nachgemachter Dienstmann und Livreebedienter. Gelingt es ihnen damit nicht, weil sie bereits zu gut gekannt und zu schlecht angeschrieben sind, so miethen sie unverdächtige Dienstmänner, unschuldige Frauen und Kinder, Portiers der großen Hotels und Hausdiener geachteter Firmen, denen natürlich ohne Verdacht die verlangten Billete verabfolgt werden. Selbst kleinere Kaufleute und sogenannte Rentiers überlassen ihnen leicht die Benutzung ihres Namens gegen eine entsprechende Provision. Immer bleibt noch der Nutzen so bedeutend, daß die Billethändler das Risico nicht scheuen und sich täglich der Gefahr aussetzen, in die Hände der Polizei zu fallen und wegen unbefugten Gewerbebetriebs bestraft zu werden.
Endlich glaubt unser Freund am Ziele seiner Wünsche zu stehen, da er von einem solchen Billethändler gegen eine bedeutende Provision zwei Billete erstanden hat. In demselben Augenblicke indeß, wo er bereits seine Hand ausstreckt, um den theuer erkauften Schatz in Empfang zu nehmen, legt der Arm des Constablers Beschlag auf die verbotene Waare, die trotz aller Bitten und Beschwörungen confiscirt wird. Außerdem blüht ihm noch das angenehme Vergnügen, als Zeuge gegen den ertappten Billethändler notirt zu werden, um später vor Gericht zu erscheinen. Es ist mithin keineswegs so leicht, sich ein Billet zum Openhause zu verschaffen, trotzdem man sich die Mühe nicht verdrießen lassen darf, da in diesem Augenblick die Berliner Oper unstreitig die besten künstlerischen Kräfte der Welt vereint.
In erster Linie glänzen die Damen Lucca und Frau Harriers-Wippern, Fräulein von Edelsberg, Grün, Frau Blume, die Herren Niemann, Wachtel, Betz und Weworsky etc. Während die Lucca durch ihren genialen Gesang, durch ihre bezaubernde Anmuth, durch ihren dramatischen Vortrag, durch die Gluth und das Feuer der Empfindung die Hörer mit sich unwiderstehlich fortreißt, fesselt Frau Harriers-Wippern durch ihre classisch gebildete Stimme, ihre lyrische Zartheit und entzückende Weiblichkeit. Die Eine die Repräsentantin südlicher Leidenschaft, des italienischen und französischen Gesanges, die gewagtesten Coloraturen und Schwindel erregenden Triller wie ein Füllhorn ausschüttend, selbst in ihren Verirrungen genial und in ihren Fehlern originell; die Andere voll tiefer Empfindung, die Verkörperung des deutschen classischen Gesanges, lyrisch seelenvoll, stets die Kenner erfreuend, den gebildeten Geschmack nie verletzend, aber vielleicht darum jener Verve und dramatischen Gewalt entbehrend. Beide aber ergänzen sich gegenseitig und sind Jede in ihrem Genre vollkommen und unersetzlich.
Da ist ferner Niemann, der geborene Heldentenor, den die Natur zum „Lohengrin“ und „Tannhäuser“, zum Darsteller dieser [823] echt deutschen Gestalten der vaterländischen Sage geschaffen hat; groß und stattlich in seiner äußeren Erscheinung, die hohe Stirn von blonden Locken umwallt, das treue Abbild eines alten Minnesängers oder edlen Recken, für welchen alle Frauen schwärmen, wenn er aus voller Brust seine herrliche Stimme ertönen läßt und in strahlender Rüstung auf dem von Schwänen gezogenen Kahn als Lohengrin erscheint. Soll doch der König oder vielmehr die Königin von Hannover von allen annectirten Schätzen den Verlust dieses Sängers mit am meisten beklagen. Freilich ist ihm nicht an der Wiege gesungen worden, daß er einst selbst so trefflich singen werde. Ursprünglich zum Maschinenbauer bestimmt, am Schlosserambos und zwischen pfeifenden Locomotiven aufgewachsen, ward er durch sein Talent und die Liebe zur Kunst der Bühne zugeführt. Mit ihm wetteifert Wachtel, der unvergleichliche „Postillon“, dessen früheres Leben vielfach an den Helden derjenigen Oper erinnert, welche seinen Ruf zuerst begründet hat. Wachtel, der früher, wie Fama behauptet, ebenfalls Rosselenker war, ist keineswegs schlecht gefahren, als er vom Bock auf die Bühne sprang und nicht nur durch seinen berühmten Peitschenknall, sondern durch das hohe C das Publicum elektrisirte. Gegenwärtig hat er durch Fleiß die Lücken seiner musikalischen Bildung längst ausgefüllt und seine herrlichen Naturanlagen zur künstlerischen Vollendung erhoben.
Auch der ausgezeichnete Baryton, Herr Betz, hatte anfänglich mit großen Hindernissen zu kämpfen; seine wunderbar kräftige Stimme entbehrte noch der Schule und sein Spiel zeigte besonders eine gewisse Ungelenkigkeit. Aber auch er hat durch rastloses Studium diese anfänglichen Mängel beseitigt, so daß er gegenwärtig nicht nur zu den vorzüglichsten Sängern, sondern auch zu den besten Darstellern der Oper zählt.
Selbst die in zweiter Reihe stehenden Kräfte der Berliner Oper dürften an jeder andern Bühne einen ersten Rang behaupten und bilden im Verein mit den Genannten ein Ensemble, wie es kaum in einer andern Stadt, weder in London, noch in Paris, gefunden wird. Rechnet man noch dazu das wahrhaft classische Orchester, wo jedes Instrument von einem Künstler gespielt wird, unter der Leitung eines Dorn und Taubert, die glänzende Ausstattung, die Pracht der Costume und Decorationen, schließlich das Ballet mit seinen männlichen und weiblichen Koryphäen, so wird man es begreiflich finden, daß man für ein Billet zum Opernhaus weder Geld und Zeit, noch Mühe und Beschwerden scheut, besonders wenn eine geliebte Frau darnach so heißes Verlangen trägt, wie dies gewöhnlich der Fall ist.
Vor etwa zwei Jahren starb in England ein Dr. James Barry. Ein halbes Jahrhundert mag etwa verstrichen sein, seitdem derselbe in der Capstadt landete, wo er die Stelle eines Assistenz-Wundarztes (assistent-surgeon) bei den am Cap stationirten englischen Truppen bekleidete. Seine äußere Erscheinung hatte wenig Einnehmendes, er war von kleiner schmächtiger, selbst unproportionirter Figur und hatte ein sehr junges, man konnte fast sagen jungenhaftes Aussehen. Er brachte einen Empfehlungsbrief von einem der bekanntesten schottischen Adeligen an den Gouverneur der Colonie, Lord Charles Somerset, mit, wodurch ihm von vornherein eine freundliche Aufnahme zugesichert war. Sein Diplom bewies, daß er in Edinburgh promovirt war und zwar in dem außergewöhnlich frühen Alter von fünfzehn Jahren. Diese Altersangabe verdient übrigens wenig Glauben, da ein Taufschein unseres Wissens nicht vorhanden war. Die niedrigen Grade der ärztlichen Militärcarriere, so hieß es, habe er nicht durchgemacht, sondern sei abweichend von Reglement und Brauch sofort zu der Stelle, die er jetzt inne hielt, befördert worden. Wenn dies sich so verhält, so würde dies freilich kein günstiges Licht auf die Bildung der englischen Militärärzte – wie sie vor fünfzig Jahren war – werfen. Sei dem aber wie da wolle, Dr. Barry wurde einstimmig in Capetown (wie noch jetzt lebende Zeitgenossen des Doctors versichern) für einen geschickten und in jedem Zweige seines Fachs tüchtigen Arzt erklärt, der mit Liebe an seinem Berufe hing und sich das Vertrauen seiner Patienten in hohem Grade zu erwerben wußte.
Hierbei kam ihm auch ein selbstbewußtes, man konnte fast sagen, anmaßendes Benehmen zu Statten, das bei Vielen Vertrauen erwecken mochte; sagt doch Mephistopheles:
„Wenn Ihr Euch nur selbst vertraut,
Vertrauen Euch die andern Seelen.“
Wenn Dr. James – so pflegte man ihn kurzweg in Capetown zu nennen – zu einem Kranken gerufen wurde und dieser der Krankheit erlag, so lautete das allgemeine Urtheil: Dr. James wurde zu spät hinzu gezogen; kam der Patient davon, so hatte Barry das Verdienst, ihn gerettet zu haben, und die Dankbarkeit der Angehörigen war ihm sicher.
Er sprach nie von seinen Verwandten und Freunden; daß er aber solche und zwar einflußreiche besaß, darüber herrschte kein Zweifel. Denn einige räthselhafte Umstände, die schon damals den Bekannten des jungen Arztes viel Kopfzerbrechen machten, wiesen darauf hin, so vor Allem seine kostspielige Lebensweise, die zu bestreiten sein Gehalt als Assistenzarzt nicht ausgereicht haben würde. Er hielt sich ein Pferd und besoldete einen Bedienten. In den Speisen, die er genoß, war er wählerisch und zugleich ein Sonderling. Er berührte niemals Fleisch, sondern lebte fast ausschließlich von Pflanzenkost. Kartoffeln und Aepfel durften nie auf seiner Tafel erscheinen, dagegen mußte man ihm stets die besten Gemüse und seltensten Früchte, Pfirsiche, Melonen, Ananas und dergleichen mehr, verschaffen. Von Getränken genoß er außer Wasser nur Kaffee und bei Unwohlsein bisweilen einen Schluck Champagner. Uebrigens machte er, trotz dieser kostspieligen Lebensweise und obwohl er – wie man ihn selbst hat sagen hören – kein eigenes Vermögen besaß, doch niemals Schulden.
Viele Umstände vereinigten sich, um die gesellschaftliche Stellung des jungen Arztes zu einer sehr angenehmen zu gestalten. Seine Empfehlungsbriefe führten ihn in die höchsten Kreise der an Officieren, Beamten und begüterten Handelsherren reichen Capstadt ein. Bald wurde er selbst Hausarzt des Gouverneurs, welcher ihn in jeder Weise begünstigte, ja mehr noch, der ihn verwöhnte. Ob der Letztere geheime Instructionen bekommen hat, wissen wir nicht; doch es steht fest, daß er den jungen Doctor von allem anstrengenden Dienst entband und ihm jedmögliche Freiheit gewährte, die das Reglement zuließ; auch hätte James seiner schwächlichen Constitution halber keinerlei Strapazen ertragen können.
Der junge Arzt, welcher auf seine bevorzugte Stellung pochte, nahm sich übrigens Manches heraus, was ihm zu Zeiten eine wohlverdiente Lection zuzog. So machte er eines Tages im Arbeitscabinet des Gouverneurs – in das er unangemeldet Zutritt hatte – einige satirische Bemerkungen über ein dort liegendes Actenstück, und seine spöttische Zunge ruhte nicht eher, als bis der Gouverneur in gerechtem Zorn den kleinen Mann am Kragen der Uniform faßte, zum Fenster hinaushob – dasselbe befand sich nur einige Fuß hoch über dem Erdboden – und ihn in freier Luft schwebend nach Leibeskräften schüttelte. Jetzt bat James natürlich um Verzeihung, die ihm auch zu Theil wurde. Doch hatte dieses Abenteuer ein anderes zur Folge, das leicht seiner Carriere ein frühes Ziel hätte setzen können. Die Züchtigung, die James erlitten, wurde bald bekannt und Neckereien und spöttische Bemerkungen konnten nicht ausbleiben. Wenige Tage nach diesem Vorfall begegnete er auf einem der öffentlichen Spaziergänge der Capstadt einem Officier, der vor Allen sarkastische Bemerkungen über den Liebling des Gouverneurs gemacht hatte. In gereizter Stimmung stellte er [824] denselben zur Rede und es erfolgte ein heftiger Wortwechsel, worin der junge Doctor mit seiner schrillenden Stimme keineswegs den Kürzeren zog. Das Resultat war eine Herausforderung zum Duell, welches auch am folgenden Tage stattfand, doch ohne erhebliche Verwundung endete. Dann versöhnten sich die Duellanten und blieben treue Freunde auf Lebenszeit. Der Gouverneur, dem dieser Vorgang nicht verborgen blieb, zog es vor, über diese wie über so manche andere Thorheit seines Günstlings ein Auge zuzudrücken.
Nach einigen Jahren wurde James zum Posten eines Stabsarztes (surgeon at the staff) befördert. Dabei nahm seine Praxis immer mehr zu und er wurde bald einer der gesuchtesten Aerzte der Capstadt. Sein von Selbstbewußtsein getragenes Benehmen, ein gewisser Grad von Charlatanerie, ja sogar sein erregbares Temperament und seine Sonderlingseigenschaften wirkten bei Vielen als Anziehungsmittel. Obwohl er sich gegen seine Collegen ziemlich rücksichtslos benahm (so ließ er z. B., sobald er die Behandlung eines Patienten übernahm, alle vorher angewandten Arzeneien aus dem Krankenzimmer schaffen), so hielten ihm diese doch Vieles zu Gute und er stand meistens mit denselben in gutem Einvernehmen. Eines seiner beliebtesten und ein in vielen Fällen heilsames Mittel war ein Bad in dem feurigen, kräftigenden Capwein. Auf seinem Pony, von dem schwarzen Diener und einem kleinen Hund – Psyche mit Namen – begleitet, ritt er in der Stadt von Haus zu Haus und in der malerischen Umgebung der Capstadt umher, wohin ihn eben sein Beruf führte. Jedes Kind kannte das vierblättrige Kleeblatt, welches als Wahrzeichen der Stadt hätte dienen können.
Nach mehrjährigem Aufenthalte am Cap kehrte Barry nach England zurück, um von da sogleich zur Armeestation auf Malta befördert zu werden. Dort jedoch – sei es, daß ihm das Klima nicht zusagte, oder daß man sein Verdienst nicht genügend zu würdigen wußte – gefiel es ihm nicht und er traf plötzlich, ohne nur einmal um Urlaub nachgesucht zu haben, in England wieder ein. Er pflegte herzlich zu lachen, wenn er sein unerwartetes Erscheinen vor dem Generalarzt in London beschrieb. „Mein Herr,“ sagte dieser, „ich begreife nicht, wie Sie sich in solcher Art und Weise bei mir melden können; Sie gestehen ein, daß Sie ohne Urlaub hierher zurückgekehrt sind. Darf ich Sie fragen, wie sich dies verhält?“
„Gewiß,“ antwortete James, indem er mit seinen langen, dünnen Fingern durch sein lockiges Haar fuhr, „ich bin zurückgekommen, um mir mein Haar schneiden zu lassen.“
Wie schon oft zuvor, ging er auch dieses Mal straflos aus. Zu wiederholten Malen überschritt er die Dienstordnung, ohne sich je eine ernstere Strafe als die Rüge seiner Vorgesetzten zuzuziehen. Ja, er rühmte sich selbst, daß ihm die Wahl des Ortes, wo er stationirt sein wolle, freistehe. Dies war wirklich der Fall und erregte nicht wenig den Neid seiner Cameraden, die sich in allerlei Vermuthungen erschöpften.
Sein nächster Garnisonsplatz war auf St. Helena. Man sollte von vornherein nicht glauben, daß er sich freiwillig diese öde Klippe zum Wohnort auserkoren haben würde; doch verhielt sich dies so: Das Klima der Insel sagte ihm zu und die vorzüglichen Früchte, welche dieselbe hervorbringt, fielen bei seiner Wahl schwer in’s Gewicht. Auch hier führten ihn seine Empfehlungsbriefe in die besten Kreise ein. Er miethete ein Haus, nicht weit von jener denkwürdigen Stätte, wo zwanzig Jahre vorher der große Verbannte seinen Riesengeist ausgehaucht hatte.
Dr. James war hier oberster Arzt der Garnison, und obwohl er bereits vierundzwanzig Jahre lang prakticirt hatte, so hätte man ihn seiner äußeren Erscheinung nach kaum für mehr als einen Dreißiger halten können. Sein Gang war freilich etwas schwankend, dagegen gaben ihm sein glattes Gesicht, sein blondes Haar, seine helltönende Stimme und eine Reihe glänzender Zähne ein noch jugendliches Aussehen. Seine kostspielige Lebensweise setzte er auch hier fort, nebenbei aber war er, wie seine nächsten Bekannten versichern, sehr mildherzig gegen Hülfsbedürftige und im Stillen ein Wohlthäter der Armen. Seine Erscheinung wird als sehr auffallend, in Uniform selbst caricaturenhaft-lächerlich geschildert. Er trug zwei Zoll hohe Absätze und dabei noch drei Zoll dicke Sohlen in den Stiefeln, an denen ein paar mächtige Sporen klirrten. Man denke sich hierzu einen gewaltigen Dreimaster keck auf den blonden Lockentopf gestülpt und einen schweren Dragonersäbel an der Seite, und die seltsamste aller Figuren ist fertig. Auch auf St. Helena erschien Dr. Barry gewöhnlich auf dem Rücken seines Pony; ob desselben, dessen er sich am Cap bediente, wissen wir nicht. Das Rößlein war vorsorglich vom Kopf bis zum Schweif mit einem großen Musquitonetze bedeckt, während der Doctor selbst zum Schutze gegen die sengenden Strahlen der Tropensonne einen Regenschirm von gewaltigen Dimensionen im Reiten über seinem Kopfe balancirte. Beiläufig sei hier noch seines Sattels gedacht, der, wie sein Besitzer, ein Unicum war. Weichgepolstert und vorn und hinten mit hoher Vor- und Rücklehne versehen, glich er mehr einer Kinderwiege, als einem Sattel, und obwohl es mühsam sein mochte, sich in denselben hineinzuzwängen, so war dagegen ein Herabfallen fast unmöglich.
Auch auf St. Helena erwarb sich James einen großen ärztlichen Ruf und soll einige bedeutende Curen, darunter mehrere größere Operationen, gemacht haben. Die Soldaten mochten ihn gut leiden und hatten großes Vertrauen in seine Geschicklichkeit, obschon er im Dienste streng war. Wenn er im Hospitale erschien, so mußte jeder auf seinem Posten sein, und wehe dem Untergebenen, der im Geringsten von den ertheilten Instructionen abwich. Auch bildete der Gouverneur und dessen Familie James’ Hauptumgang. Jener war ihm gewogen, zog ihn in Krankheitsfällen zu Rathe und hörte geduldig zu, wenn der Doctor von vergangenen Zeiten und von seinen Bekannten unter der englischen Aristokratie sprach, wobei er häufig die hochgestelltesten Personen einer scharfen Kritik unterwarf. Wenngleich sich James in Wort und Handlung sehr viel herausnahm, so ließ sich der Gouverneur doch eine Zeit lang dies Alles ruhig gefallen, bis endlich der folgende Anlaß ihn zum Einschreiten nöthigte.
Eines Tages fing der Doctor in mißgelaunter Stimmung Streit an mit einem Officier der Garnison. Es folgte eine Herausforderung, die aber James dieses Mal, und zwar in höchst unziemlicher Weise, ablehnte. Dies hatte zur Folge, daß er nicht nur aus dem Officiers-Club (garrison-mess), dem er bisher als Ehrenmitglied angehörte, ausgestoßen, sondern auch, daß eine Untersuchungscommission niedergesetzt wurde. Dieselbe erkannte, daß er sofort als Arrestant nach England transportirt werde.
So sagte er denn der Insel Lebewohl, auf der er etwas über ein Jahr gelebt hatte. Ein Augenzeuge, der seinem Abschiede beiwohnte, schildert denselben folgendermaßen: „Es war an einem jener drückend schwülen Morgen, wie sie den Tropengegenden eigen sind, als Dr. Barry die steile, von Jamestown zur Meeresküste führende Straße herabgeritten kam. Der Hufschlag seines Pony, verstärkt durch das Echo der steil überhängenden Felsenwände, unterbrach den tiefen Schlaf, in dem die ganze Insel begraben lag. Der Doctor erschien heute ausnahmsweise in Civilkleidung und sah sehr abgemagert und verfallen aus. Eine blaue Jacke bedeckte lose den Oberkörper, während seine Beine in einer weißen Hose, die dreimal zu groß für ihn war, umherschlotterten. Von seinem breiträndrigen Strohhut wehte ein dichter Schleier, der sein Gesicht den Blicken der Neugierigen entzog. In den Händen trug er auch dieses Mal den unvermeidlichen Regenschirm. Heute präsentirte keine Schildwache das Gewehr, als er vorbeiritt, doch schaute manches Auge theilnahmsvoll ihm nach, als er nun in Begleitung des treuen Dieners, des Pferdes und des Hundes das seiner harrende Boot bestieg.“
Auch jetzt nahm ihn eine geheimnißvolle Macht in ihren Schutz, denn, in England angekommen, wurde er sofort in Freiheit gesetzt. Ueber seine späteren Lebensereignisse will ich kurz hinweggehen, da ich ohnehin die Geduld des Lesers zu ermüden befürchte. Er verbrachte eine Reihe von Jahren in verschiedenen anderen britischen Colonien, bereiste Griechenland, durchkreuzte das mittelländische Meer und besuchte zu zwei verschiedenen Malen die westindischen Inseln. Hier war es, wo er einem Freunde den Eid abnehmen wollte, ihn nach seinem Tode in den Kleidern, in denen er stürbe, zu begraben. Dieser weigerte sich indessen, den Schwur zu leisten; auch fing James deshalb keinen Streit an, da er mit den Jahren versöhnlicher gestimmt und weniger abstoßend wurde. Seine zweite Reise nach Westindien machte er als Freiwilliger, um der Kälte des nordischen Winters zu entgehen. Dabei behauptete er jedoch, daß Liebesgram und financielle Bedrängnisse ihm das Vaterland verleidet hätten. Seine Angaben klingen allerdings nicht sehr glaubhaft. Ein Verhältniß zu einem jungen, reizenden Mädchen – so erzählte er – sei von deren Verwandten abgebrochen worden, [825] während seine Papiere, Werthgegenstände und dergleichen sich an Bord eines Schiffes befunden hätten, welches untergegangen sei.
Im Sommer 1865 kehrte er in Begleitung seines schwarzen Dieners John nach England heim. Zu dieser Zeit muß er wenigstens siebenzig Jahre alt gewesen sein. Er war jetzt sehr schwach und kränklich, doch standen seine Freunde aus früheren Jahren ihm treulich zur Seite. Damen, deren Bekanntschaft er am Cap gemacht hatte, holten ihn zu Spazierfahrten ab und luden ihn zu Diners ein, wobei die Tafel meist mit den seltensten Südfrüchten und Leckerbissen beladen war. Wie man sagt, machte er sich selbst Hoffnung auf den Bathorden und hatte sich eine ganz neue Uniform bestellt, um beim nächsten Lever der Königin vorgestellt zu werden.
Allein das Schicksal wollte es anders. Fiebernd und vor Kälte bebend kam er eines Abends von einer Spazierfahrt in seine Wohnung zurück und legte sich sogleich zu Bette. Am andern Morgen trat John in das Schlafzimmer seines Herrn, um, wie gewohnt, dessen Leibwäsche herauszulegen. Sechs Handtücher durften bei James’ Toilette niemals fehlen, und obwohl der Bediente nie im Zimmer geduldet wurde, während sein Herr sich wusch und ankleidete, so hatte John doch so viel bemerkt, daß der Doctor seine hagere, abgezehrte Figur beim Waschen in diese Tücher zu wickeln pflegte. Nebenbei sei hier noch bemerkt, daß James sich an regelmäßige Blutentziehungen (bald durch Aderlaß, bald durch Blutegel) gewöhnt hatte oder wenigstens solche in periodischen Zwischenräumen zu wiederholen vorgab.
Am besagten Morgen – es war ein Sonntag – fand John seinen Herrn sehr schwach und angegriffen. Er wollte einen Collegen und Freund des Doctors herbeiholen, aber dieser duldete es nicht. Den ganzen Tag über lag der „General“ (eine Abkürzung für General-Arzt, mit welcher der Bediente seinen Herrn zu tituliren pflegte) in Fieberphantasien da. Gegen Mitternacht kam er zu sich und trank auf John’s inständige Bitten einen Schluck Champagner mit Wasser verdünnt – sein gewöhnliches Zufluchtsmittel in Krankheitsfällen –, dann nöthigte er den Bedienten, für den er eine außergewöhnliche Zärtlichkeit an den Tag legte, selbst eine Stärkung zu sich zu nehmen. Es war, als ob Dr. Barry heute mehr als sonst das Bedürfniß fühlte, sein Herz auszuschütten. So sagte er unter Anderem: „Ich führe jetzt ein einsames Leben; die Freunde meiner Jugend sind längst dahin geschieden; doch habe ich immer noch Freunde, die, wenn ich nicht mehr bin, Deine treuen Dienste belohnen werden. Nun aber,“ fuhr er fort, „lege Dich im Nebenzimmer hin, Du hast selbst Ruhe nöthig. Ich bedarf Deiner Hülfe jetzt nicht, denn ich bin sehr schläfrig.“
Und der ersehnte Schlaf kam, aber es war der Schlaf, aus dem es kein Erwachen giebt. Als John bei Tagesanbruch das Krankenzimmer betrat und die Bettvorhänge von einander schlug, fand er den „General“ todt; die Augen waren geschlossen, die Gesichtszüge ruhig; der Tod war offenbar ohne Schmerzen eingetreten. John deckte die Leiche zu und stieg hinab in die Küche, wo er eine Krankenwärterin traf, welche er bat, dem todten „General“ sein Sterbekleid anzuziehen. Dann zog er sich in sein eigenes Zimmer zurück und legte sich, erschöpft vom Wachen, zum Schlafen nieder. Kaum aber hatte er die Augen geschlossen, als die Wärterin herein eilte und zu ihm sagte: „Was soll das heißen? Sie fordern mich auf, die Leiche eines Generals anzukleiden, und ich finde die Leiche einer Frau vor!“
Die allgemeine Ueberraschung, welche dieser Entdeckung folgte, möge der Leser sich selbst ausmalen. Der General-Registrator ordnete, als er diese Nachricht erhielt, sogleich eine gerichtsärztliche Untersuchung der Leiche an, welche denn als unzweifelhaft herausstellte, daß der verstorbene Dr. James Barry, der nahezu fünfzig Jahre im Dienste der englischen Regierung gestanden, nicht nur ein Weib, sondern auch Mutter gewesen sei.
Auch unsern John überraschte diese Entdeckung auf’s Höchste. Es war ihm freilich bisweilen ein Verdacht aufgestiegen, daß es mit dem Doctor nicht ganz richtig sei, doch hatte er sich solche Gedanken immer rasch wieder aus dem Sinne geschlagen. Ebenso mochte es den meisten Bekannten Dr. Barry’s ergangen sein; allerlei Gerüchte in Betreff seiner waren in Umlauf gewesen, den wahren Sachverhalt jedoch hatte keiner gewußt.
Ich habe nur noch wenig hinzuzufügen. Dr. James Barry wurde im Juli 1865 zu Kensal Green, einer Vorstadt Londons, begraben. Ein Testament war nicht vorhanden; auch war ein solches unnöthig, denn obwohl er – oder vielmehr sie – während ihrer nahezu fünfzigjährigen Praxis bedeutende Summen verdient haben muß, so hinterließ sie doch keinen Penny. Ihre wenigen Effecten wurden bevollmächtigten Agenten eingehändigt und am Tage nach ihrer Beerdigung erschien ein Livrée-Bedienter, um den werthvollsten Nachlaß der Verstorbenen, den treuen Hund, in Empfang zu nehmen. Derselbe Bediente händigte dem treuen John eine nicht unbedeutende Geldsumme ein, die mehr als genügend war, um dessen Rückkehr in seine Heimath – eine von den westindischen Inseln – zu bestreiten. Von wem aber das Geld kam, welches er erhielt, ist unbekannt geblieben. Der Schleier des Geheimnisses, der das Leben der merkwürdigen Frau bedeckte, ist auch nach ihrem Tode nicht gelüftet worden. Bis jetzt hat man weder gehört, ob ihr Kind noch am Leben ist, noch ob andere Verwandte von ihr existiren. Sollte die Zukunft hierüber irgend welche Aufklärungen bringen – und vielleicht geschieht dies eben mit Hülfe der ja auch in England so viel gelesenen Gartenlaube – so werde ich nicht verfehlen, die Leser derselben hiervon in Kenntniß zu setzen.[2]
Die meisten städtischen Gemeinden besinnen sich bei gewissen Gelegenheiten keinen Augenblick, Tausende für Festlichkeiten und Feuerwerke in die Luft zu verpuffen; allein es giebt nur sehr wenige, welche dafür sorgen, daß ihre Bevölkerung einen Spazierplatz für den Winter, d. h. eine Eisbahn, habe, wo sie ihre Gesundheit stählen und das erheiterndste gesellige Vergnügen genießen kann. Die Ursache mag darin zu suchen sein, daß die meisten Städte an Flüssen liegen oder daß sich Teiche in der Nähe befinden und so also die Natur von selbst sorgt.
Indessen gefrieren Flüsse nicht immer und selten glatt zu, es bleibt daher stets noch etwas zu thun übrig. Nur in wenigen Gegenden werden Wiesen überschwemmt, noch minder aber zu diesem Zweck, und doch dienen solche am besten, weil sie am ehesten gefrieren und keine Gefahr des Ertrinkens darbieten. Schon der vielen Unglücksfälle wegen, welche sich im Winter fast überall beim Einbrechen in’s Eis ereignen, sollten die „Väter der Städte“ darauf bedacht sein, daß geeignete Eisplätze mittels Ueberschwemmung im Winter hergestellt werden; denn wenn sie das Wohl und die Sicherheit der Einwohner im Auge haben wollen, so helfen doch Verbote des unzeitigen Besuches gefährlicher Plätze nicht viel. So weit aber werden sie auf der anderen Seite schwerlich nicht gehen wollen, wie der letzte Kurfürst von Trier, Clemens Wenzel, der in landesväterlicher Fürsorge das Schlittschuhfahren überhaupt verbot.
In Fällen, wo kein geeigneter Eisplatz von Natur vorhanden ist und die Magistrate nicht zu bewegen sind, etwas zu thun, bleibt immer der Weg der gesellschaftlichen Hülfe und der Privatspeculation übrig. In Bern und in Basel sind Eisplätze durch Ueberschwemmung von Wiesen auf Anregung der gemeinnützigen Gesellschaft, in letzterer Stadt durch die Mittel dieser Gesellschaft, in ersterer durch freiwillige Beiträge und Erlös von Zutrittskarten hergestellt worden. Die großartigsten Anstalten aber sind in dieser Hinsicht in einigen Städten Canadas und der nördlichen Staaten der amerikanischen Union, begünstigt durch die strenge Kälte jener Länder, getroffen worden. In Chicago wurde sogar ein Eisplatz überdacht, so daß auch bei starkem Schneefall an zehntausend Personen fahren können. [826] Daneben sind Ankleidezimmer und geheizte Buffets. Ein Orchester mit rauschender Musik spielt zum Eistanz auf.
Indeß sollte nicht blos mehr geschehen, um das Schlittschuhlaufen möglich zu machen und zu begünstigen, sondern es können Vereine auch wesentlich mitwirken, um die vorhanden Gelegenheiten besser auszunutzen; denn ich habe vielfach die Erfahrung gemacht, daß in den meisten Wintern wirklich vorhandene prachtvolle Eisbahnen aus Flüssen und Seen nicht benützt werden, weil man sie nicht kennt, weil es immer nur Einzelne sind, welche den nöthigen Eifer und Spürsinn haben und sich die Mühe geben, eine Gelegenheit auszuforschen. Ich will dafür nur zwei Beispiele aus meiner eigenen Erfahrung vom Bodensee, von Main und Rhein mittheilen.
So oft ich in den Ferien meiner Universitätsjahre nach Constanz kam, in dessen Nähe meine Eltern damals wohnten, hörte ich klagen über mangelnde Eisbahn, weil der Rhein nie zugefriert und der Obersee, an den die Stadt unmittelbar stößt, seit dem Jahr 1829/30 außer kleinen Stellen am Ufer nicht mehr zugefroren war. Als ich nach vollendeten Studien den ersten Winter zu Hause zubrachte, machte ich gleich beim ersten Frost eine Entdeckungsreise nach dem eine halbe Stunde entfernten Untersee und fand die prachtvollste Eisbahn, die ich in meinem Leben gesehen, nur von den Bewohnern der in Mitte des See’s liegenden Insel Reichenau benützt. Der See wird durch die Insel so zu sagen in zwei Theile getheilt, in eine nördliche und eine südliche Hälfte. Durch die letztere zieht sich das Bett des Rheines und sie gefriert daher nur selten, die nördliche dagegen fast jedes Jahr. Auf der östlichen Seite der nördlichen Hälfte ist der See auf eine Uferlänge von einer halben Stunde und zehn Minuten Breite nur einen halben bis einen Fuß tief, so daß diese Strecke gleich beim ersten Frost (oft Anfangs December) fest zuzugefrieren pflegt, während die eigentliche Wassermasse des See’s erst noch abdampft und meist erst im Januar gefriert, aber dann in der Regel so rasch, daß zweinächtiges, oft sogar einnächtiges Eis schon betreten werden kann. Dieses schnelle Gefrieren bewirkt es, daß auf dem See in der Gefrierzeit sehr wenig Gefahr vorhanden ist und fast nie ein Unglück sich ereignet; desto mehr jedoch nach eingetretenem Thauwetter, nachdem die Jugend übermüthig, unvorsichtig und dreist geworden ist. Dazu kommt, daß der Föhn (Südwestwind) schuhdickes Eis in einer Nacht ungangbar machen kann, wogegen ich in Jahren, in denen der Föhn lange ausblieb, während die Straßen überall bereits kothig und das Eis nahe am Ufer aufgethaut war, so daß man nur mittels eines Brettes die Bahn erreichen konnte, noch am 2. März über den See fuhr, weil dieser von einer anderthalb Fuß dicken Eiskruste bedeckt war, die noch von unten auf Kälte bezog, denn der See erwärmt sich ebenso langsam, wie er sich abkühlt.
Das ist die Eisfläche, auf der auch der jetzige Kaiser Louis Napoleon häufig Schlittschuh fuhr, als er noch den gegenüber am schweizerischen Ufer liegenden Arenenberg bewohnte. Die Reichenauer, welche tüchtige Schlittschuhläufer sind und längst nach Art der Holländer und Friesen glatte Schlittschuhe führen, während die Bewohner der umliegenden Städte und Flecken noch gerinnte hatten, benutzen die Eisbahn im Winter, um aus dem auf dem nördlichen badischem Ufer liegenden Walde sich das Holz auf Schlitten zu holen. Sie stehen hinten auf den Kufen und stoßen sich mit Stangen ziemlich rasch auf dem Eise vorwärts. Jeder führt seinen Compaß bei sich, denn im Nebel kann man dort einen Tag in der Irre umherfahren, ohne von der Stelle zu kommen, da der See vier Stunden lang und eine halbe bis anderthalb Stunde breit ist. Dauert die Eisdecke lange, so wird auch gefischt durch in’s Eis geschlagene Löcher mittels Angelhaken und einer Strohwand zum Schutze des Fischers gegen den Wind. Am reizendsten ist der Fischfang auf kleine Hechte von einem Viertel- bis einem halben Pfund, welche sich in den seichten Stellen des Sees unter dem Eise aufhalten, bevor noch die große Wasserfläche gefroren ist. Diese Fische streichen so weit gegen das Land hin, daß der Wasserstand zwischen dem Grund und der Eisdecke nur wenig Spielraum bietet. Die Hechte stehen da, bis der Schlittschuhläufer über ihnen herfährt. Dann suchen sie nach dem tieferen Wasser zu entweichen. Zieht man nun solche Kreise, daß man ihnen scheinbar den Weg nach dem See versperrt, so wenden sie sich wieder nach der andern Seite. Ein Schlag mit der Axt auf das Eis genau über den Fisch betäubt ihn, so daß man Zeit hat das Eis aufzuhacken und ihn lebendig mit der Hand herauszuholen. Einst gelang es mir sogar, mit einem spitzigen Steine ein ganzes Taschentuch voll kleine Hechte zu fangen. Das Herrlichste, was sich denken läßt, ist aber, an einem schönen Abend über die glitzernde Eisfläche zu fliegen im Angesicht der in die Gluth der Sonne getauchten Berge des Höhgaus, deren historische Erinnerung Victor Scheffel in seinem „Ekkehard“ so anmuthig aufgefrischt hat, daß man bedauert, daß er nicht auch die Reize dieser Eisbahn erforscht.
Eines der prachtvollsten Schauspiele hatte ich, als ich eines Abends schon nach eingetretener Dunkelheit allein den ganzen See entlang von Radolfszell bis gegenüber nach Gottlieben bei Constanz fuhr. Wenn nach einem sonnenhellen Tage, wo das Eis durch die höhere Temperatur sich ausgedehnt hat, mit der Nacht strengere Kälte eintritt, so zieht das Eis sich so rasch zusammen, daß große Sprünge und Spalten, in dortiger Gegend „Wonen“ genannt, hineinreißen, die sich über den ganzen See hinziehen, oft fünf, sechs bis zehn und zwanzig Schuh weit klaffen und das dunkelgrüne Wasser des Sees offen legen. Im Moment, wo eine solche Spalte sich reißt, dröhnt ein Schlag, wie ein langhinhallender Donner, durch die Nacht.
Als ich auf der weiten Eisfläche dahinglitt, auf welcher das Licht der Sterne und ein Achtel des Mondes einen weißen Schimmer hinwarfen, so daß ich gerade meinen Weg zu sehen vermochte, dröhnte von Zeit zu Zeit der fernhinrollende Donner springender Wonen zu meiner Rechten herüber. Ich hielt mich so nahe als möglich am nördlichen Ufer und war in der größten erreichbaren Schnelligkeit (in welcher man eine Stunde in etwa zehn Minuten zurücklegt), da plötzlich schimmert ein Streifen Wasser vor mir. Es ist eine fünf bis sechs Schuh breite Spalte. Zu sehr im Schuß, konnte ich mit glatten Schlittschuhen nicht mehr zeitig genug anhalten. Da half nichts. Ich mußte in’s Wasser hinein – oder hinüber. Ein Satz – und fröhlich flog ich auf der andern Seite weiter. Ich hatte mich längst auf das Hoch- und Weitspringen auf dem Eise eingeübt, so daß ich noch jetzt auf acht Fuß Weite und drei Fuß Höhe wetten kann, während ich früher in der besten Uebung vier Fuß Höhe und zwölf Fuß Weite nahm. Bei Hoch- oder Weitsprung wird gleich gesprungen. Der Kunstgriff besteht darin, daß man einen so starken Anlauf nimmt wie möglich und dann mit gleichen Füßen so hoch springt wie man kann. Beim Weitsprung bewirkt die im Lauf vorher erhaltene Schnelligkeit den Nutzeffect, denn einen Abstoß zum Sprunge kann man nur in die Höhe nehmen.
Ebenso freudige, vielleicht noch anregendere, weil abenteuerlichere Fahrten habe ich mit meinem Bruder und mit Freunden auf dem Main und dem Rhein gemacht. Diese und andere Flüsse gefrieren, mit Ausnahme seltener ganz gelinder Winter, fast in jedem Jahre ganz oder theilweise zu. Dennoch wird die Eisbahn nur wenig benutzt, weil die Meisten sie im Ganzen für unbrauchbar halten. Als mein Bruder und ich uns in niederließen, ging zwar die Sage, es seien einst junge Männer bis nach Mainz Schlittschuh gelaufen, allein bezeichnen konnte sie Niemand. Man war allgemein der Ansicht, daß eine solche lange Eisbahn nur durch eine so außerordentliche Gunst des Wetters möglich gemacht werde, daß in einem Menschenalter kaum einmal die Rede davon sein könne. Durch unsere Erfahrung am Bodensee gewitzigt, ließen wir uns nicht mit dem allgemeinen Glauben beruhigen, sondern stellten Untersuchungen an, und es ergab sich, daß in allen Wintern, in welchen der Fluß zuging, gute Eisbahnen zum Schlittschuhlaufen auf mindestens Stunden weit, oft aber Tagereisen weit bis nach Mainz und mehrere Stunden rheinabwärts vorhanden waren, von denen Niemand etwas wußte. Einzelne Stellen vor jeder Stadt und jedem Dorfe wurden benutzt, doch nicht erforscht, ob eine zusammenhängende lange Bahn vorhanden sei. Auch nachdem wir einen Schlittschuhclub in Frankfurt gegründet und unsere Ausflüge zu Dutzenden oft aufwärts bis gegen Aschaffenburg und abwärts bis nach Mainz ausgedehnt hatten, fiel es in diesen Städten doch Niemandem ein, sich bis nach Frankfurt zu wagen.
Eine wesentliche Ursache dieser Erscheinung will ich hervorheben, weil sie wahrscheinlich auch bei den meisten andern Flüssen Nordeuropas vorkommt und weil ich durch meinen Wink den Genossen in manch anderer Gegend einen Gefallen erweisen kann.
Die Flüsse gefrieren in der Regel zuerst dadurch, daß das [827] sogenannte Grundeis sich an einer Brücke oder an einer starken Krümmung etc. stellt. Geschieht dies nun wie gewöhnlich ziemlich weit unten, weil erst viel Treibeis aus Nebenflüssen und Bächen zusammengeführt sein muß, bis die Masse so groß ist, um sich zu stellen (deshalb stellt sich auch der Rhein vor dem Main), so setzt sich das Treibeis, Stoß auf Stoß anrückend, aufwärts an und bildet für den oberflächlichen Blick eine rauhe schollige Fläche. Allein durch den Proceß des Sichstellens, welcher das Weiterfließen des nachfolgenden Grundeises verhindert, wird dieses unter die Eisdecke, zuweilen bis auf den Grund geschoben und es entsteht eine partielle, zeitweise Stauung des Wassers, welche bewirkt, daß die Eisdecke in der Mitte des Flusses gehoben wird und das sogenannte Schwellwasser an beiden Ufern mehr oder weniger über die rauhe Eisfläche tritt. Hält nun die Kälte an, so ist dieses Schwellwasser in einer, längstens zwei Nächten fest gefroren und bietet eine je nach den Umständen breite oder schmale, spiegelglatte Eisbahn längs den Ufern dar.
Ganz besonders günstig tritt diese Erscheinung zu Tage, wo zum Zwecke von Flußcorrectionen sogenannte Buhnen oder Querdämme in den Fluß gebaut sind, weil diese die Bildung größerer glatter Flächen erleichtern. Manchmal hört allerdings auf dem einen Ufer die glatte Bahn auf, und man muß mit einiger Mühe das andere Ufer gewinnen, oder auch einmal die Schlittschuhe abschnallen, oft ist aber durch eine kleine Nachhülfe durch Schruppen und Begießen, was ein Verein ja leicht bewerkstelligen kann, die Verbindung herzustellen. Wir haben dies öfters in Frankfurt a. M. machen lassen, um eine ununterbrochene Bahn von mehreren Stunden zu gewinnen. In vielen Wintern ist schon von Natur eine ununterbrochene Spiegelbahn auf Meilen weit, einmal breiter, einmal schmäler, vorhanden. Die Ursache aber, warum dieser Umstand so wenig bekannt war und ist, rührt daher, daß meist, von Weitem betrachtet, nur die Hauptmasse des Flußbettes in die Augen fällt und man da nur Scholleneis sieht; daß die glatten Stellen nicht immer gerade in Nähe der Stadt und die in die Augen fallendsten sind; daß man in der Regel nur in dieser Nähe untersucht, und endlich, weil die meisten Schlittschuhläufer ein genügsames geselliges Völkchen sind, die sich mit einem schmalen Winkelchen zufrieden geben, wenn sie nur Gesellschaft haben. Deshalb bringt die Gründung von Eisclubs, wie in London, Glasgow, Frankfurt, New-York, Bern, stets reges Leben und Unternehmungslust hervor.
Es giebt wenig reinere und erheiterndere Vergnügungen, als Eisexpeditionen auf Flüssen, welche die Zurücklegung ganzer Tagereisen gestatten. Schon die Untersuchung der Haltbarkeit des Eises und der Gangbarkeit der Bahn, welche nothwendig ist bei einer jungfräulichen Decke, nimmt große Aufmerksamkeit und reges Interesse in Anspruch, so daß uns ein Gefühl beschleicht, fast wie bei einer Entdeckungsreise. Gutes Geschirr ist da die Hauptsache. Nachdem der Schlittschuh Jahrhunderte lang seine Form nicht geändert hatte und eigentlich nur zwei Sorten, der glatte friesische oder holländische mit langem Schnabel und der gewöhnliche geriefte, bekannt waren, haben die Nordamerikaner in neuerer Zeit eine Menge Erfindungen gemacht, aus denen sich nunmehr ein wirklicher Normalschlittschuh, der jetzt gewöhnlich ohne Schnabel fabricirt wird[3], herausentwickelt hat und aus dem besten Stahl von Parker und Thompson in Sheffield, sonst aber auch ganz gut und billiger von Remscheider Fabriken hergestellt wird.
Ich kann mich einiger Erfahrung in dieser Beziehung rühmen, da ich mir selbst schon über ein Dutzend Schlittschuhe nach selbst angegebener Form habe fertigen lassen, um alle möglichen Experimente zu machen, die zuweilen oft komisch ausgefallen sind, wenn ich über die mathematischen Linien zu wenig nachgedacht hatte. Auch die Anschnallmethode ist jetzt, nach allmählichem Abschaffen der dicken Ringe der Klappen, welche die Knöchel unsäglich zu martern pflegten und nicht wenig dazu beitrugen, das Schlittschuhfahren zur Qual und unpopulär zu machen, eine befriedigende geworden, so daß auch die Damen in allen größeren cisalpinischen Städten anfangen, am Eislaufe Theil zu nehmen und dazu beitragen, die köstliche Uebung zu einem wahren Volksfeste zu gestalten.
Für Damen, welche das Schlittschuhlaufen lernen wollen, hat man in New-York Gestelle auf Schlitten, ähnlich den auf kleinen Rädern befindlichen Gestellen, an denen bei uns die Kinder laufen lernen. In diesen Gestellen stehend, können sie sich auf beiden Seiten mit den Händen stützen und so das Fahren ohne weitere Beihülfe lernen. Einen ähnlichen Erleichterungsapparat für Lehrlinge der edlen Kunst hat unlängst ein englischer Freund und Prakticus des Eislaufs, ein Mr. Berney in der Grafschaft Norfolk, erfunden. Es ist dies das Gestelle, welches die eine der umstehenden Abbildungen darstellt und das sich vor den erwähnten amerikanischen Schlittschuhlaufgestellen durch die außerordentliche Sicherheit auszeichnet; das breite Querbret verhindert jedes Ausgleiten nach vorn und damit das sonst so häufige Fallen nach rückwärts, während die langen schräg nach außen gerichteten Seitenlattenstücke, die nicht etwa auf dem Eise schleifen, sondern etwa in Zollhöhe frei darüber schweben, das Ganze im nothwendigen Gleichgewichte halten.
Das zweite Erforderniß, außer guten Schlittschuhen, ist bei ununtersuchtem Eis ein Stock mit einfacher Zwinge ohne Stachel, so schwer, daß man sich darauf stützen kann. Um die Festigkeit des Eises zu erproben, stößt man den Stock mit aller Kraft auf das Eis. Hält dieses den Stoß aus, ohne daß es ein Loch giebt, so trägt es auch den Mann, denn dem schmalen Durchmesser des Stockes kann die Eisrinde weniger Widerstand leisten. Bricht der Stab durch, so soll man das Eis nicht betreten. Diese Methode ist probat. Ehe ich sie anwendete, brach ich in jedem Winter mehrmals, oft sehr lebensgefährlich, ein, mit dem Stock nie mehr. Alle Eltern und Lehrer sollten deshalb den Kindern einschärfen, für den Eisgang starke Stöcke zum Erproben der Dicke der Eisdecke mitzunehmen; es würde dadurch manches Menschenleben geschont. Hat man bei einer größeren Expedition das Eis einmal an verschiedenen Stellen in dieser Weise erprobt, dann kann man in der Regel sich auch auf das Auge verlassen, weil dieses bei einiger Uebung leicht unterscheiden kann, ob das übrige Eis von gleichem Alter ist. Einnächtiges Eis betrete man nie, weil es, sollte es auch mehrere Personen und Kinder tragen, für eine größere Menge nicht hält. Je größer die zu erwartende Menschenmasse und je geringer die Kälte, desto länger muß man natürlich warten, bis man die Eisdecke betritt.
Mir wird für mein ganzes Leben eine Fahrt auf dem Main bei Frankfurt in Erinnerung bleiben, so erfrischend, wie die hehren Eindrücke der gelungensten Hochalpenbesteigung. Es war im günstigen Winter von 1863 zu 64. Wir hatten Tags vorher recognoscirt und Wetter und Eis waren angethan zu einer großen Expedition. Das Stelldichein war im Hafen gegeben, von wo aus zuerst ein schmaler Saumpfad dem rechten Ufer entlang mainabwärts leitete, allmählich aber immer breiter werdend bald unübersehbare, spiegelglatt gefrorene Bahnen vor unserem Blicke eröffnete. Der Himmel war günstig, die Sonne lächelte. Wind im Rücken, kümmerten wir uns wenig um die Rückkehr, hatten wir ja dazu die Wahl zwischen zwei Eisenbahnen auf beiden Ufern des Flusses. Zuerst wurde noch da und dort das Eis mit dem Stocke sondirt, allein bald überzeugten wir uns, daß die Decke über den ganzen Fluß capitalfest [828] und daß das Schnellwasser an den Ufern, welches uns die glatte Bahn verschaffte, vollkommen gefroren war. Da ging es nun darauf los, wie im Wettrennen, mit der Schnelligkeit von vier, fünf, sechs Stunden in einer. Ein Horn diente als Signal, die Mannschaft zusammenzuhalten, denn die Kräfte sind auch unter Rennern ungleich. Die Sonne wirft eine Strahlensäule vor uns auf die glitzernde Bahn, auf welcher wir mit Jubelschrei dahinsausen, die Luft scheint in destillirten, reineren Atomen uns zuzuströmen, es ist, als würde man von einem begeisternden Aethertrank, nach Art der Olympier, berauscht. Am Ufer springt ein Hase auf, nach und nach zwei, drei, zwanzig, fünfzig im Laufe des Tages. Sie rennen eine Zeit lang mit, dann querfeldein, mühsam im tiefen Schnee, der sie an’s Ufer getrieben, um den Hunger an den Weidenrinden zu stillen.
Einer läuft länger mit, als wolle er uns auf die Probe stellen; da sieht er, im Laufe um sich blickend, uns näher rücken. Hui, wie greift er da aus, keine Möglichkeit mehr, ihm nachzukommen! Wir biegen um eine Ecke, ein Jauchzer: Siehe da das Städtchen Höchst mit seinen mittelalterlichen Thürmen, seinem alten und seinem neuen Schloß! Vorbei! Vorbei Schwanheim mit seinen tausendjährigen Eichen und Griesheim mit seinem dampfenden Riesenschlot, Sindlingen mit seinem Landhaus und Garten im Rococostil. Vorbei! Links ragt die Windmühle von Kelsterbach; vorbei! Dort die Insel, das Eldorado der Entenjäger, der Schlupfwinkel unseres prächtigen, alten Pfaff; vorbei! Heute giebt es eine andere Jagd, er sieht sich kaum nach seinem geliebten Wild um. Die Mühle rechts, um die der Bach von Hofheim einmündet, sie ist unser Wegstein, sie zeigt uns, daß wir bereits zwei Meilen zurückgelegt, schon halbwegs Mainz angelangt sind. Da ist Kriftel! Halt, laßt uns die Nachzügler erwarten. Das Wirthshaus winkt am Strande. Das Horn ruft den Bergherrn, eine Flasche wird geleert, ohne auszuschnallen, auf dem Eise. Die Bauernkinder umgaffen uns, auch die Alten staunen ob der seltenen Gäste. Sie konnten sich nicht erinnern, je solche fahrende Schüler aus der alten Kaiserstadt gesehen zu haben, obwohl zwischen da und Flörsheim die Dorfjugend auch schon des Stahlschuhes sich bedient. „Auf, nach Valencia!“ Weiter fliegt die wilde Schaar. Flörsheim rechts, Rüsselsheim links! Vorbei! Dort aber braust der Eisenbahnzug, uns einholend; eine Zeit lang suchten wir Stand zu halten, die Schaar stäubt auseinander, Einer hinter dem Andern zurückbleibend, je nach den Kräften. Da kommen die Buhnen, welche zwingen, Zickzack zu fahren. Vorbei braust der Zug! Ein wenig gedemüthigt[WS 1], eilen wir an Hochheim vorbei, seines goldenen Weines im Fluge gedenkend. Jetzt, um eine Ecke biegend, was erblicken wir? – die Thürme des „goldenen Mainz“ über das grünsilberne Eis herschimmernd. Ein Jubelschrei aus allen Kehlen: „Das goldige Mainz!“ Die Bahn wurde immer breiter, glätter, glänzender, immer freudiger die Schaar. Bald wurde eine Rune in’s Eis geschnitten, bald ein Satz über eine Buhne gemacht, bald vorgebeugten Leibes die Stahlsohle geliebäugelt, wie sie in rasender Eile unter sich das grüne Eis verschlang. Kostheim ist erreicht, die Rheinbrücke mit ihren hohen eisernen Fischbauchbogen kommt in Sicht. Die Dorfbewohner sind zahlreich auf dem Eis und machen einen Ringelreihen.
„Trägt die Eisdecke bis Mainz?“ fragte ich.
„Wir wissen es nicht. Noch Keiner hat es erprobt.“
„Wollen es selber thun. Vorsichtig, mir nach! Ich bin der Schwerste, mein Stock der stärkste. Wenn es uns Beide hält, dann seid Ihr geborgen!“
Im Gänsemarsch geht’s vorsichtig weiter. Wir nähern uns der Mündung des Mains in den Rhein.
Da wo der Main dem Rhein sich eint, stoßen wir an eine offene Stelle. Langsam und vorsichtig wird vorwärts geglitten, von Meter zu Meter mit dem Stock sondirt. Links erscheint jetzt die Brücke, vor uns der Dom von Mainz und das ganze reizende thürmereiche linke Rheinufer. Rechts aber – was sehen wir rechts?
[829]Der ganze Rhein fest mit einer Decke Spiegeleises bedeckt und mit einem Gewimmel von Tausenden von Menschen. Der Rhein hatte sich zwischen Castel und Mainz am frühesten gestellt, es war also da die dickste Eisdecke. Alt und Jung, Mann und Weib vergnügte sich hier mit Schleifen, mit Schlittschuhlaufen, im Schlitten und im Caroussell. Buden mit Speisen und Getränken waren da eingerichtet. Der Jubelruf der Tausende schwamm wie in dem seligen Ton einer Riesenorgel zusammen und drüben lächelte die Sonne und spiegelte sich in dem erstarrten Silber des Rheines.
Wir waren mit dem Stolze von Eroberern herangefahren; da hörten wir, es sei schon Jemand von Oppenheim herabgekommen und den Rhein weiter hinuntergefahren.
[830] „Also es geht noch weiter?“
„Ja, bis Walluf.“
„Hurrah!“
Bald ist auch Mainz hinter uns. In Biebrich wird ausgeschnallt und ein Imbiß genommen. Die Bahn war eine Viertelstunde weit durch Scholleneis unterbrochen. Dann schnallten wir wieder an. Was aber jetzt kam, dagegen trat alles Bisherige in den Hintergrund. Kaum hatten wir uns an den Anblick des breiten zu Eiswellen erstarrten Stromes gewöhnt, als wir auf dem bald schmaleren, bald breiteren Pfad, welchen das Schwellwasser geebnet, uns Schriesheim näherten und hier nach Recognoscirung des Hafens entdeckten, daß zwischen da und Walluf ein ganzer See grasgrünen, spiegelblanken, fußdicken Eises sich ausdehnte, auf welchem eine fröhliche Jugend sich tummelte. Härte und Glätte des Eises waren so groß, daß wir anfangs mit den Stahlschuhen ausglitten. Dann schwebten wir beim Abschiedsleuchten der Sonne, die auf der Bahn sich goldig grün spiegelte, unter künstlichem Curvenschneiden langsam, wonnig, beglückt dahin, um den Tag bei einen Becher duftenden Rheinweines zu schließen, der am ganzen Strom in keinem Wirthshaus besser zu finden ist, als in der Schenke zu Walluf. – Um zehn Uhr Nachts langten wir mit der Eisenbahn wieder in Frankfurt an, nachdem wir einen der herrlichsten Tage verlebt. Und ebenso ging es einen zweiten und einen dritten Tag! Die Geschäfte wurden an den Nagel gehängt; das Wetter richtete sich ja nicht nach den Geschäften[WS 2]. Am vierten Tag beabsichtigten wir unsere Expedition bis Worms auszudehnen, weil wir gehört hatten, daß die Bahn bis dahin frei sei, allein das Wetter schlug um. Es kam Schnee und dann Regen, welcher bald die Eisdecke des Maines brach. Auch die des Oberrheins ging fort.
Nur am Binger Loch hatte sich merkwürdiger Weise bis auf den Grund eine solche Eismasse gethürmt und gestopft, daß dieselbe bis zum März nicht durchbrochen wurde und man Wassersnoth fürchtete; jedoch lief Alles noch glücklich ab. Uns aber gelang es noch am 3. März, indem wir eines Nachmittags von Frankfurt aus mit Eisenbahn bis in die Nähe des Johannisbergs eilten, den Rhein von da bis Bingen mit Schlittschuhen zu überschreiten, ein paar Stunden bis Abend auf dem Binger Loch herum zu fahren und nach Einkehr bei einem unserer gastfreien Rüdesheimer Freunde mit dem letzten Zug zurückzukehren. Das Thauwetter hatte nämlich die Oberfläche des Rheins zwischen Rüdesheim und Bingen nivellirt, und da die Decke viele Schuh dick war und von unten herauf gefrieren half, so hatte ein gelinder Märzfrost genügt, um eine brauchbare Bahn herzustellen.
Ich stand schon auf mancher Hochalpenspitze; einmal lag fast die ganze Schweiz wie eine Landkarte vor meinen Augen, das Wetter war so klar, daß ich in alle vier Nachbarländer sah, nach Italien und Deutschland, nach Oesterreich und Frankreich, von der Rauhen Alb und dem Schwarzwald bis zum Monte Generoso, vom Montblanc bis zur Ortelsspitze – ein Anblick unermeßlicher Erhabenheit! Dennoch war das dabei genossene Glück nicht schöner und reiner, als bei jener Eisfahrt. Solche Fahrten müssen aber im Norden Deutschlands – in den Niederlanden geschehen sie bereits – viel häufiger zu machen sein, als man weiß. Die Spree und Havel, die Elbe, die Oder, die norddeutschen Seen und Canäle, die Haffs der Ostsee und endlich in strengen Wintern das baltische Meer selbst, an dessen Ufern der Schlittschuh vor Zeiten erfunden wurde, müßten Gelegenheit zu wunderbaren Ausflügen geben, welche vielleicht dereinst Touristen ebenso anlocken, wie die Gletscher der Alpen. Nur müssen sich Gesellschaften mit Zweigvereinen und Sectionen bilden, ähnlich dem englischen und dem schweizerischen Alpenclub, welche die Gelegenheit auskundschaften und Mittel haben, um bei Schneefall große Strecken reinigen zu lassen.
Nicht immer aber kann oder will man weite Expeditionen machen; meist ist der Raum enge zugemessen, auch zeigt sich nirgends mehr, daß der Mensch ein Gesellschaftsgeschöpf ist. Dafür giebt es mannigfache andere Belustigungen; die berühmten jährlichen Wettläufe auf dem Eis in Friesland könnten überall eingeführt werden. Haben wir doch am Rhein und Main nächtliche Fackeltänze, Quadrillen mit Musikbegleitung, für welche manche schöne, edle Dame schwärmt, aufgeführt, und ist nicht der Baarlauf oder das Kriegsspiel auf dem Eise viel reizender als auf dem Lande? Ist nicht in Frankfurt a. M., wenn der Main zwischen den beiden Brücken glatte Bahn bietet, der berühmte Eiscorso, wenn neben Hunderten von Schlittschuhläuferinnen und Tausenden von Schlittschuhläufern viele hübsche und feine Damen auf zahllosen Stuhlschlitten gefahren werden?
Das interessanteste und mannigfaltigste Vergnügen aber ist das Kunstfahren, als dessen Grundlage das sogenannte Bogenfahren zu betrachten ist. Es ist dies Bogenfahren jedoch nicht blos zur Augenweide und zum wonnigen Schweben der Glieder gut, denen Flügel zu wachsen scheinen, so frei fühlen sie sich von den Fesseln der plumpen, trägen Erde – sondern oft hat gar Mancher schon sich vor der bösen Ran gerettet, die aus einem Wasserloch oder aus berstendem Eise lauerte. Am interessantesten indessen ist es doch wohl jenem Nordamerikaner gegangen, der sich durch geschicktes Bogenfahren vom sicheren Tode rettete. Ein Ansiedler im fernen Nordwesten, wo Seen, Canäle und Flüsse, im Winter von Eis starrend, ein weites Feld zum Abenteuern darbieten, war zu Schlittschuh auf die Jagd gegangen. Dieselbe war erfolglos gewesen und die Munition ihm ausgegangen. Das gerieth er in Gefahr, selbst Jagdbeute zu werden. Er fuhr in langsamen langen Zügen heimwärts einen breiten Fluß hinab. Die Sonne war schon untergegangen und der aufgehende Mond streute ein elfisches Licht über das Eis und die schneebedeckten Bäume des Ufers. Der Ansiedler war in Träumen versunken an die väterliche Heimath im Osten. Da auf einmal hörte er ein Schnauben hinter sich. Er blickt herum, und man male sich sein Entsetzen: er sieht drei Wölfe, die ihn gewittert, in seiner Verfolgung begriffen. Der Mann zog aus, was die Kräfte ihm erlauben, allein die Wölfe wurden im Laufe durch die Glätte des Eises doch nicht so sehr aufgehalten, daß sie sich nicht nach und nach näherten. Von Zeit zu Zeit rückwärts geworfene Blicke ließen dem Mann keinen Zweifel mehr, daß die Raubthiere ihn erreichen mußten. Noch einmal zog er aus, was die Leibeskräfte zu leisten vermochten, er merkte indeß endlich, daß ihm der Athem ausging. In dieser äußersten Noth versuchte er es, sich durch Geistesgegenwart und Geschicklichkeit zu retten. Er konnte gut Bogen fahren und übertreten, während den Wölfen wegen ihres steifen Rückgrates das Wenden sehr schwer wird und auf dem Eise noch mehr erschwert wurde. Er mäßigte seinen Lauf, ließ die Wölfe herankommen, und wie er schon ihren glühenden Athem zu spüren wähnte und die gierigen Augen ihn zu verzehren schienen, machte er halb Kehrt und ließ die Wölfe an sich vorbeischießen. Der Athem ging dem Ansiedler leichter, sobald er die Wirkung seiner List sah. Die Raubthiere, obgleich sofort gewillt ihm nachzufolgen, obgleich versuchend, sich in’s Eis einzukrallen, wurden doch durch den eigenen Stoß und die Glätte des Eises noch eine gute Strecke fortgerissen. Bis sie sich inne gehalten, umgedreht und wieder in vollen Lauf gesetzt hatten, um auf den Verfolgten loszustürzen, hatte dieser sich erholt und in Bereitschaft gesetzt, in einem Bogen um die Wölfe herum seinen Weg fortzusetzen. Diese mußten auf’s Neue Kehrt machen und der Mann erhielt einen großen Vorsprung. Während er dieses Manöver öfter wiederholte, näherte er sich immer mehr der Ansiedelung, so daß endlich ein Ruf seinerseits ein Echo fand und die Wölfe, die Nähe menschlicher Wohnungen merkend, die Verfolgung einstellten.
Wenn ich mich schließlich zu den eigentlichen Adepten unserer Kunst wende, so geschieht es deshalb, weil ich in mehr als dreißigjähriger Uebung einige Combinationen gelernt habe, die, ich will nicht sagen, unbekannt sind, welche ich aber bei meinen vielfachen Reisen nirgends ausgeführt gesehen habe, aber doch gern in weiteren Kreisen verbreiten möchte.
Das gewöhnliche Schlittschuhlaufen im Schneckenlaufe und mit Ausziehen, beides vorwärts und rückwärts, das Uebertreten vorwärts und rückwärts und den Bogenlauf vorwärts und rückwärts, auswärts und einwärts, mit und ohne Ueberschlagen, das Rückwärts- und Vorwärtsspringen im schnellsten Lauf, den Tanzmeister- oder Schneiderzug, d. h. das Geradeausfahren in einem Strich mit quergestellten Füßen, so daß die Absätze sich berühren, den Weit- und Hochsprung, die Schlangenlinie mit einem Fuß, sowie das sechs bis acht Mal auf dem Absatz sich Drehen, was nur mit Schlittschuhen der alten Façon geht, deren Eisen vor dem Absatz aufhören, – dies Alles setze ich als bekannt voraus.
Hier muß ich zuvörderst den allgemeinen Glauben an das „Namenschreiben“ unter die Mythen verweisen, fast wie Vater Raff’s Gemsjäger, der, verstiegen, sich die Fersen aufschneidet, um [831] sich an die Felswand mit seinem eigenem Blute fest zu kleben. Man kann wohl einzelne Buchstaben in lateinischen Current-Initialen, C, , S mit Bogen in’s Eis schreiben, und also auch Namen, die aus diesen Buchstaben bestehen, allein schlechtweg Namen schreiben kann man nicht, wenn man zugleich dabei eine dem Auge gefällige Leibeswendung beobachten will. Denn ich verlange hierbei, daß ein jeder einzelne Buchstabe je nur von einem Fuß in einer Bewegung ausgeführt werde. Es besteht überhaupt die Kunst und Schönheit des Bogenfahrens darin, daß schwierige Bogencombinationen je mit einem Fuß gemacht werden. Wenn nun in einer neueren Schrift über das Schlittschuhlaufen von J. Zähler, um dem Namenschreiben in’s Dasein zu verhelfen, das ganze Alphabet in Bogenstrichen umschrieben und vorgeschlagen wird, jeden Buchstaben mittels vier, fünf, sechs, ja sieben und acht verschiedenen Bogen, die abwechselnd mit dem einen und mit dem anderen Fuß in’s Eis geschnitten werden, herzustellen, so halte ich dies für eine Zangengeburt, welche ganz gegen den Geist des Schlittschuhlaufs verstößt. Weiß ja Herr Zähler nicht einmal, daß man das S und die 8 mit einem Fuß fahren kann!
Schöne Bewegungen, welche die Schlittschuhbücher noch enthalten und die namentlich zum Fackelzug oder Fackeltanz bei Nacht sich prächtig ansehen, sind folgende: 1. Bogen rechts vorwärts auswärts mit dem einen Fuß und rückwärts auswärts mit dem andern Fuß und so fort, so daß man sich fortwährend um sich selbst herum und in einem Kreise herumdreht. Diese Bewegung ist hübsch anzuschauen und zugleich sehr gesund für das Hüftgelenke. 2. Doppelbogen oder mit dem einen Fuß, indem man zuerst Bogen vorwärts auswärts zieht und einen Bogen rückwärts einwärts abschließt; dann denselben Doppelbogen mit dem anderen Fuß macht und so fort. Dadurch, daß man die Bogen mehr oder weniger dem Halbkreis und dem Kreis nähert, und dadurch, daß das ledige Bein beim Einwärts-Rückwärts-Bogenschneiden eine anmuthige Rückwärtsschwenkung machen muß, kommt eine außerordentliche harmonische Verschlingung der Bewegungen zu Stande, die, wenn der Eistänzer bei Nacht eine Fackel in der Hand trägt, wahre Funkenguirlanden in die Luft zieht, so daß man sich wohl erklären kann, wie der Laie bei diesem Anblick glaubt, der Held schneide in Runen den Namen der Geliebten auf’s Eis. Die Anleitung bei dieser Bewegung ist bei Zähler recht gut gegeben. Auch hat er noch das Doppel , wogegen ihm das im Schlittschuhbuch des Glasgower Schlittschuhclubs befindliche S und S fehlte. Auch die Spirale oder Schnecke, selbst bis zum vierfachen Kreis, ist fast überall bekannt.
Ich komme nun zu einigen weiteren Kreiscombinationen, die ich während einer langjährigen Praxis aus Trieb zu Neuem so weit als denkbar auszudehnen suchte und welche, wenn ich nicht irre, anmuthige und kühne Körperstellungen und Bewegungen darstellen, auch nur mit einem Fuß gemacht werden.
Sehr kühn erscheint das vierfache , d. h. vorwärts-auswärts und rückwärts-einwärts auf einem Fuß vier Mal nacheinander, ohne sich des andern Fußes zu bedienen, namentlich bei sehr glattem Eis, man die Bogen weit genug ziehen kann; denn der Läufer wird wie ein Kreisel über die Fläche gedrillt. Es läßt sich diese Bewegung, je nachdem man die Bogen flacher oder enger schneidet, in einem weiten Bogen oder im Kreise machen, wie die erste und zweite Figur zeigen.
Die zweite Figur macht so mit Einem Fuße, was H. Zähler unter dem Namen der Rose mit zwei Füßen darstellen will.
Sehr schwierig, aber ebenso interessant sind die Bogencombinationen mit S und mit einem und demselben Fuß, indem man entweder mit dem ersteren oder letzteren anfängt und diese gelegentlich verdoppelt.
Eine äußerst kühne und schwungvolle Bewegung stellt sich dar, wenn man Fig. IV. mit dem einen und dann sogleich darauf Fig. III. mit dem anderen Fuße macht. Das Eis muß aber glatt und wenig verfahren sein, wenn man die Kraft dazu erlangen will. Es ließen sich noch weitere Combinationen denken, wenn man das S in gleicher Weise nach rückwärts wie nach vorwärts schneiden lernte. Ich gestehe indeß, daß mir das noch nicht gelungen ist.
Eine der schönsten Bewegungen, welche ich erst vor zwei Jahren nach vieler Mühe lernte, in Folge der Frage eines Freundes, ob man die Spirale auch wieder aufwickeln könne, ist die auf einem und demselben Fuße gezogene Doppelspirale. Sie ist eigentlich ein an beiden Seiten spiralisch verlängertes S und wird auf dieselbe Weise gemacht, nur erfordert sie mehr Kraftaufwand. Beim S wirft man, sobald man einen Bogen auswärts, ich will annehmen vorwärts, gezogen hat, den lediglich schwebenden Fuß zuerst so weit wie möglich vorwärts. Auf diese Weise kommt die Kraft der Abschwenkung in den innern Bogen heraus, um das S zu vollenden. Bei der Doppelspirale schneidet man zuerst auswärts, dann einwärts eine Schnecke und in die Mitte trifft die S-Schwenkung. Natürlich kann man keinen vierfachen Kreis in jeder der beiden Spirale ohne Unterbrechung zuwege bringen. Doch läßt sich eine Doppelspirale mit zwei Kreisen auswärts und drei einwärts mit Sicherheit ausführen, und ich hatte die Bewegung nach der Uebung eines Winters vollständig in der Gewalt. – Auf eine Reihe anderer und noch künstlicherer Figuren denke ich später zurückzukommen.
Der Sittenagent. Als ich einst in Paris um die Mittagsstunde über den Boulevard du Temple ging, bot sich mir ein eigenthümliches Schauspiel dar. Ich sah nämlich einen Polizeidiener mit einem jungen Mädchen im Kampfe. Das Mädchen hatte allerlei Kurzwaaren, Geldbörsen, Uhrketten, Federmesser etc. auf dem Trottoir feilgeboten und sich dadurch gegen das Gesetz vergangen. Der Polizeidiener wollte nun die junge Krämerin, eine feurige, schwarzäugige Marseillerin, verhaften, diese aber wehrte sich vor ihrer Waare, die auf einem Brette lag, mit allen Kräften gegen den Diener der öffentlichen Sicherheit. So oft er sie fassen wollte, versetzte sie ihm mehrere Puffe an den Kopf oder an die Brust, und der arme Teufel konnte nicht Gleiches mit Gleichem vergelten, ohne sich den Unwillen der Menge zuzuziehen, die immer mehr anschwoll und dem Kampfe mit großer Spannung zusah. Der Polizeidiener blickte sich beständig nach einem Collegen um, zu seinem Unglück war aber just kein solcher in der Nähe. Plötzlich drängte sich ein Mann in einem braunen Oberrock durch die Volksmassen, holte aus der Brusttasche eine kleine Karte hervor, die er vor die Augen
[832] des Polizeidieners hielt und schnell wieder einsteckte, und bemächtigte sich der Waare, welche die arme Dirne jetzt nicht mehr zu vertheidigen vermochte. Diese folgte, den ungleichen Kampf aufgebend, dem Polizeidiener und die Menge verlief sich etwas unwillig über den unpoetischen Schluß des kleinen Dramas.
Wer aber war der Mann, die wie ein Deux ex machina so unerwartet den Knoten löste? Ein Agent, der in Civilkleidern die öffentliche Sicherheit und die Sittlichkeit überwacht. Diese Agenten bilden in Paris eine kleine Schaar, die den Namen „Brigade de Sûreté“ führt. Sie stehen unter dem Befehl eines Brigadiers, zweier Sousbrigadiers, eines Generalinspectors und eines Officier de Paix, und diese Beamten stehen sämmtlich ihrerseits unter dem Befehl des Polizeipräfecten. Sie werden aus den Unterofficieren der Armee genommen, müssen sich eines guten Rufes, einer vortrefflichen Gesundheit erfreuen und dürfen das Alter von fünfunddreißig Jahren nicht überschritten haben. Auch wird von ihnen eine gewisse Schulbildung verlangt; sie werden zu diesem Zwecke einem Examen unterworfen. Nach seiner Ernennung erhält ein solcher Agent eine sogenannte Sicherheitskarte (carte de sûreté). Dieselbe hat eine ovale Form und ist auf der einen Seite roth, auf der andern gelb. Auf der rothen Seite befindet sich der kaiserliche Adler und die Inschrift: „Surveillance générale“, auf der gelben Seite stehen die Worte: „Le Nommé X – a le droit de requérir au besoin la force publique“. (Der X. hat das Recht, nöthigenfalls die öffentliche Gewalt in Anspruch zu nehmen.)
Er darf jeden Verbrecher verhaften, der auf frischer That ertappt wird. Sein ganz besonderes Amt ist es aber, die Prostitution zu überwachen und beständig auf der Fährte der Schaar von Unterhändlern, Kupplern und Verführern zu sein, die in der Weltstadt ihr Unwesen treiben. Daß dieses Amt nicht leicht und gefahrlos ist, kann man sich unschwer denken. Es erfordert sehr viel Muth und Unerschrockenheit, sehr viel Scharfsinn und Geistesgegenwart.
Der Agent hat seinem Vorgesetzten jeden Tag einen ausführlichen Bericht einzuhändigen über das, was er am vorhergehenden Tage beobachtet hat. Außer seinem Jahresgehalte, der von zwölfhundert bis zu dreitausend sechshundert Franken steigen kann, erhält er noch jährlich zweihundert Franken für Wohnung, zwölf Sous täglich für Omnibusfahrten und zwölf Franken monatlich als Prämie für bewirkte Verhaftungen. Er hat sich um halb acht Uhr Morgens in seinem Büreau einzufinden. Um fünf Uhr Nachmittags ist er frei – wenn es nichts zu thun giebt. Jeden fünften Tag muß er bis elf Uhr Abends auf der Wache sein. Er hat außerdem noch manche Nacht zu durchwachen; ist dies der Fall, so darf er am folgenden Tage ausruhen. Erst nach dreißigjährigem Dienste hat er Anspruch auf Pension.
Diese Agenten heißen auch „Agents de moeurs“. Sie sind auf allen öffentlichen Tanzplätzen, in zweideutigen Wirthshäusern und in allen Anstalten zu finden, wo die weibliche Verdorbenheit nach Beute sucht. Sie gehen selten einzeln, meistens zu Zweit auf ihre Streifzüge, auf denen sie sich häufig ernsten Gefahren aussetzen.
Die Agent de moeurs haben eine ganz eigenthümliche Industrie in’s Leben gerufen. Da sie nämlich im Geheimen wirken und keine Uniform tragen, geben sich viele Taugenichtse und Pflastertreter für solche Agenten aus, drohen mit Verhaftungen und lassen sich durch Geld zur Milde bewegen. Die falschen Agenten, auf welche die wahren beständig Jagd machen, finden sehr häufig ihre Opfer unter Denen, die noch nicht lange auf der Bahn des Lasters wandeln; die Erfahrenen jedoch, die mit der Polizei bereits ein Hühnchen zu pflücken hatten, fragen gleich, wenn sich ein Agent bei ihnen einfindet, nach seiner Karte. Der falsche Agent, der natürlich keine solche besitzt, setzt sich der Unannehmlichkeit aus, hinter nackten Kerkermauern seine Keckheit zu bereuen.
Zur Tractätchenliteratur. Die Gefährlichkeit des Mysticismus, namentlich für geistig beschränkte Personen, ist längst von verständigen und echtes Christenthum hochschätzenden Menschen anerkannt. Dennoch wird zu wenig gethan um dem Treiben der Dunkelmänner, denen man Zähigkeit und Ausdauer in ihren verderblichen Bestrebungen nicht absprechen kann, entgegen zu arbeiten.
Wir wollen deshalb uns hier mit einem Gegenstande beschäftigen, der, obgleich bekannt und weit verbreitet, noch immer nicht die Beachtung gefunden, die er verdient, und der doch so unendlich viel Schaden anrichtet. Wir meinen die sogenannten Tractätchen, die, gratis zu Tausenden ausgetheilt, Ansichten und Begriffe im Volke verbreiten, welche ganz geeignet sind, alles Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes zu ersticken. Denn während Christus uns den Schöpfer als den liebevollsten Vater darstellt, lehren Jene, daß Gott ein Gott des Zornes, der Rache und ein Tyrann sei, der schlimmer wüthet und quält, als je ein Mensch auf Erden es gethan.
Zum Beweise, daß dies keine Uebertreibung ist, mögen einige Stellen aus einer dieser sogenannten Erbauungsschriften buchstäblich folgen. In Nr. 140 der von der „Niedersächsischen Gesellschaft zur Verbreitung christlicher Erbauungsschriften“ herausgegebenen Tractätchen heißt es in dem Aufsatze: „Die Natur der Bekehrung und Anleitung zu derselben“ Seite 9 wörtlich:
„Beschuldige Dein Herz; führe seine Sünden demselben vor, und Du wirst nicht mehr gut von Dir denken. Betrachte, was Deine Sünde verdient hat; sie schreiet zum Himmel um Rache gegen Dich; ihr Verdienst ist Tod und Verdammung; sie bringt den Fluch Gottes auf Deine Seele und auf Deinen Leib. Das kleinste sündliche Wort, ja der kleinste sündliche Gedanke legt Dich unter des Allmächtigen Zorn. O, was für eine Ladung des Zorns, welches Gewicht des Fluches, welche schreckliche Rache haben Deine Millionen von Sünden verdient!“
Auf derselben Seite und Seite 10 heißt es ferner:
„Bestrebe Dich, ein tiefes Gefühl Deines gegenwärtigen Elendes in Dir lebendig zu machen. Bedenke, wenn Du Dich niederlegest, daß Du nicht gewiß bist, ob Du nicht aufwachest in den Flammen und in der Marter; und bedenke, wenn Du aufstehest, daß vielleicht, ehe die nächste Nacht kömmt, Du in der Hölle gebettet bist. Bist Du noch zufrieden, in diesem furchtbaren Zustande zu bleiben? zitternd über dem Abgrunde höllischer Qualen zu stehen, nicht wissend, wie bald ein Zufall oder eine Krankheit Deine arme, sündliche, verdammte Seele in den ewigen Brand hinabstürzt?“
Ferner Seite 11:
„Bedenke, was es ist, in ewiger Qual, wo der Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht verlöscht, mit dem Teufel und seinen Engeln in ewiger Verzweiflung zu leben.“
Kaum sollte man es für möglich halten, daß solche Blasphemien gedruckt und verbreitet werden dürften, wenn nicht die Thatsache Schwarz auf Weiß vorläge.
Der „Dichter der Gartenlaube“, Albert Traeger giebt, wie vielen unserer Leser bekannt, seit einer Reihe von Jahren eine Neujahrsgabe heraus, der durch ihren textlichen wie illustrativen Inhalt und ihre prachtvolle äußere Ausstattung ein hervorragender Platz in der alljährlich massenhafter auftretenden Weihnachtsliteratur gebührt. Es hat sich dies Jahrbuch, unter dem Titel: „Deutsche Kunst in Bild und Wort; Originalbeiträge deutscher Maler, Dichter und Tonkünstler“ – im Verlag von J. G. Bach in Leipzig – bereits so sehr in den deutschen Häusern und auf den deutschen Christtischen eingebürgert, daß wir hiermit blos mittheilen wollen, wie soeben der neueste Jahrgang des eleganten Werkes erschienen ist, überzeugt, damit gar vielen Lesern und namentlich Leserinnen der Gartenlaube die Wiederkunft eines alten lieben Freundes zu verkünden. Eine Würdigung des Buches, das uns fast noch reicher geschmückt dünkt, als die ihm schon vorhergegangenen neun Bände, behalten wir uns für später vor.
Inhalt: Heimath. Novelle von Adolf Wilbrandt. (Schluß.). – Flüchtige Federzeichnungen aus Deutschlands Großstädten. 1. Ein Billet zum Berliner Opernhause. Von Max Ring. Mit Abbildung. – Der geheimnißvolle Doctor. – Auf den Flügeln des Stahls. Von Max Wirth. Mit Abbildungen. – Blätter und Blüthen: Der Sittenagent. – Zur Tractätchenliteratur. – Der „Dichter der Gartenlaube“.
Mit nächster Nummer schließt das vierte Quartal und der fünfzehnte Jahrgang unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten ihre Bestellungen auf das erste Quartal des neuen (sechzehnten) Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen.
verbreitet ist, überhebt uns jeder weitern Darlegung, wie sehr es unserm Blatte gelungen, die Gunst des Publicums zu erlangen und sich zu bewahren. Die Namen unserer Mitarbeiter sind in ihrer Mehrzahl den Lesern alte liebe Freunde, wir brauchen sie daher nicht mehr aufzuzählen; wir wollen nur aus der Fülle von werthvollen literarischen und artistischen Beiträgen, die uns wiederum vorliegen, einige wenige nennen, welche in der nächsten Zeit zum Abdrucke kommen werden. Es sind dies u. a., außer den bereits früher angekündigten:
Erinnerungen an Heinrich Heine. Von Heinrich Laube. – Die Herbergen der Gerechtigkeit. Von Aug. Becker. Mit Abbildungen. – Aus meinem Leben. Von Karl v. Holtei. – Das norddeutsche Nürnberg. Von Mor. Busch. Mit Illustrationen. – Die Menschenfresserei. Von Rich. Andrée. – Skizzen aus dem Land- und Jägerleben. Wort und Bild von Ludwig Beckmann. 2. Das Deputatsstück. – „Der alte Feldherr“ in Solothurn. Mittheilungen eines Zeitgenossen. Mit Illustrationen. – Die Blattpflanzen und ihre Cultur. – Bilder aus dem Schwarzwald. Von Ludwig Steub. Mit Illustrationen von Theodor Pixis. – Ein königlicher Dramatiker. – Nach dem Maskenball. Von Rud. Löwenstein. Mit Bild von L. Katzenstein. – Das altdeutsche Haus. Von Moritz Heyne. – Erinnerungen aus dem Burschenschaftsjubiläum auf der Wartburg. Mit Illustration von E. A. Döpler. – Die drei preußischen Wehs. Von Max Ring. – Eine Bergpredigt in Franken. Mit Abbildung. – Am Theetisch Bettina’s. – Thiercharaktere von Adolph und Karl Müller. 1. Das Eichhörnchen. – Ein Schwingfest im Berner Oberland. – Erinnerungen aus dem letzten deutschen Kriege: Der Marketender von der siebenten Division. – Für die in und mit Staub Arbeitenden. Von Bock. – Rheinfahrten von Ferdinand Heyl. Mit Abbildungen. – Goethe und Oeser. Mit Illustration.
Leipzig, im December 1867. Redaction und Verlagshandlung.
Zur Nachricht.Für diejenigen Abonnenten, welche sich die Gartenlaube einbinden lassen, sind durch uns auch zum Jahrgang 1867
nach eigens dazu angefertigter Zeichnung zu beziehen. Alle Buchhandlungen sind in den Stand gesetzt, dieselben zu dem billigen Preise von 13 Ngr. zu liefern. Die Verlagshandlung.
- ↑ Ich erlaube mir den Lesern der „Gartenlaube“ in nachfolgender Skizze die Biographie einer Persönlichkeit zu geben, die in der Capcolonie ihre Laufbahn begonnen hat. Die eigenthümliche Entdeckung, die nach ihrem Tod stattfand, hat mit Recht in zweien Welttheilen großes Aufsehen erregt und eine Zeitlang das Tagesgespräch gebildet. – Möge diese Erzählung nur halb das Interesse erregen, mit dem wir Deutschen in diesem entfernten Winkel der Erde die Aufsätze der Gartenlaube verfolgen, die uns regelmäßig aus der lieben Heimath zukommt. Dr. M. Alsberg, Graaff-Reinet (Cap der guten Hoffnung).
- ↑ Wir bitten ausdrücklich darum und würden auch andere Beiträge aus der Feder des deutschen Landsmanns am Cap der guten Hoffnung gern und dankbar entgegennehmen. D. Red.
- ↑ Ich zähle mich in dem philosophischen Streite unserer trefflichen Schlittschuhmäcene Goethe und Klopstock, ob „Schlittschuh“ oder „Schrittschuh“ richtiger sei, unter die Gegner Klopstock’s; denn der Eisschuh ist einmal dem Schlitten nachgemacht, und wer geübt ist, schreitet nicht, sondern hebt den Fuß nur unmerklich und fährt oder gleitet. Ein eigentlicher Schrittschuh sind nur Schusters Rappen. Das wesentliche Erforderniß eines guten Schlittschuhes ist: an der Fläche so wenig wie möglich Reibung zu machen und auch nicht einzuschneiden. Er darf also nicht zu breit und muß unten glatt sein, unbeschadet der Schärfe der Kanten, wie bei einem Lineal, niemals convex, weil man sonst den Halt im Stehen verliert. Um aber bei möglichster Schmalheit nicht einzuschneiden, darf die Schweifung oder der Bogen der Stahlsohle der Länge nach nicht zu stark, beziehentlich zu gekrümmt sein, doch wieder nicht ganz gerade, weil man sonst keine Bogen fahren kann. Will man aber nicht Bogen fahren und wünscht einen Schlittschuh, der die möglichste Schnelligkeit erlaubt, dann lasse man ihn unten glatt, schmal und ganz gerade machen. So sind die der Reichenauer, welche größere Schnelligkeit erlauben, als die holländischen und friesischen. Wer schwache Gelenke hat, nehme sich niedrige Eisen, weil man so leichter steht, obwohl die Schnelligkeit etwas vermindert wird. Man wähle lange Eisen, welches der Vorzug vieler neuerer Schlittschuhe ist, die eben durch die neue Befestigung des Eisens gestatten, daß die Stahlsohle bis hinter den Absatz geht, während sie bei den ältern Schlittschuhen vor dem Absatz aufhörte und dadurch bedeutend an Schnelligkeit verlor, weil das Eisen mehr einschnitt. Also die Normalform ist die richtige Mitte. Diese ist von dem neuen Fabrikate von Parker und Thompson, so wie von den denselben nachgemachten Remscheider Schlittschuhen vollkommen getroffen. In Bezug auf die Art der Befestigung halte ich die Schrauben sehr zweckmäßig, doch genügen auch sehr lange Stacheln oder metallene Kappen, in denen der Absatz steht. Zum Anschnallen führen die Schlittschuhe am besten vier Löcher in den Hölzern, in welchen vorn und hinten lange Riemen kreuzweise geschnallt werden, der eine vorn über den Fuß, der andere über den Reihen (die Spanne). Indeß sind neben einer Schraube auch zwei Löcher mit nur kurzen Riemen hinreichend.