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Die Gartenlaube (1867)/Heft 6

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1867
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[81] No. 6.
1867.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen.     Vierteljährlich 15 Ngr.     Monatshefte à 5 Ngr.

Die Brautschau.
Ein Bild aus den oberbairischen Bergen.
Von Herman Schmid.
(Schluß.)


„Zeit und Weil’ ist ungleich!“ rief der Krämer und schlug auf den vollen Geldgurt um seinen Bauch, daß es klingelte. „Die Zeiten muß man ehren, damit sie Einen wieder ehren! Man macht nicht alle Tag Stuhlfest! Nicht wahr, Vettermann?“ fuhr er mit einer Art freundlicher Herablassung gegen den Wirth fort, der eben eine neue Tracht frisch abgebräunter Leberwürste auf den Tisch setzte und mit höflichem „Wohl bekomm’s“ die grüne Schlegelkappe lüftete. „Was will man machen, wenn man Kinder hat! Einmal muß man doch daran denken, daß man sich in die Ruh’ setzt und läßt die jungen Leut’ ihr Glück probiren – na, Unsereiner kann’s ja thun! Freilich, mir hätt’s nit pressirt und meiner Waben noch weniger – aber der da, mein Schwiegersohn, hat keine Ruh’ mehr gegeben und hat’s abs’lut haben wollen, daß wir heut’ schon hinein sind auf’s Landgericht und haben Richtigkeit gemacht … Hat wohl gedacht, der Silberfisch könnt’ ihm noch auskommen oder abgefangen werden! Hat mir ja das Haus schier niedergerennt … Red’ Schwiegersohn!“ schloß er und stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Seite, „ist’s etwa nit so, wie ich sag’?“

Der Musikus hatte den Mund voll und konnte als Antwort nur einen brummenden Ton hervorbringen, der eben so gut als Nein gedeutet werden konnte, wie als Ja; er machte eine hastige Bewegung, denn es hatte ihm inwendig einen Stich gegeben, wie damals, als er auf den Stufen zur Kirchhofthüre gesessen und die Jungfern mit ihrer Ehrenführerin vorüber ziehen sah. Die Bauern aber steckten die Köpfe zusammen und zischelten und lachten; der Bräutigam sah gar nicht aus, als ob er so besonders stürmisch gewesen, und wenn sie es auch nicht laut erzählten, weil der Reichthum doch überall einen gewissen, mindestens äußerlichen Respect findet, so erzählten sie sich heimlich mit um so größerer Lustigkeit das gerade Gegentheil von dem, was der prahlende Krämer gesagt. Wußte doch fast jedes Kind, daß es der Krämer gewesen, der auf Anstiften der Tochter nicht geruht, bis er den Clarinettisten, der vor ihm hergelaufen war wie ein Hase beim Treibjagen, in’s Netz gescheucht hatte. „Die Geschichte mit der Brautschau gab den Anlaß dazu, wie es einen bessern und willkommneren nicht hätte geben können, denn das Gerede war überall verbreitet und wenn es wo gefehlt hätte, sorgte die schneidige Waben redlich dafür, daß es immer wieder frischen Anlauf und neue Nahrung fand und daß der alte Krämer, wo er sich nur befand, daheim oder im Wirthshaus, auf der Reise oder auf dem Jahrmarkt, nichts Anderes zu hören bekam, als die Geschichte vom Clarinetten-Muckel, der seine Tochter zur Braut gewählt und nun doch sitzen lassen wolle, bis ihm endlich die Galle stieg und er schwor, der Geschichte ein Ende zu machen. „Ich hab’ ihm einmal den Weg gezeigt aus meinem Hause hinaus,“ rief er, „jetzt will ich ihm den Weg hinein zeigen und wenn es mich den letzten Kronthaler kosten sollte!“

Den kostete es nun eben nicht, aber es war immerhin kein kleines Stück Arbeit, hinter dem Flüchtigen her zu sein „wie der Teufel hinter der armen Seele“. Wenn er unbemerkt in ein Wirthshaus zu schlüpfen gedachte, verging keine Viertelstunde und es trat der Krämer in die Stube; galt es, irgendwo zum Tanze aufzuspielen, so war das erste Gesicht, das er von seinem erhöhten Sitze aus erblickte, das seines Verfolgers, der ihm mit höhnischer Freundlichkeit den Krug zubrachte, damit er ihm Bescheid thun solle auf die Gesundheit seiner Braut. Wenn es dann anging, drückte er ihn in eine Ecke hinein und floß über von lockenden Versprechungen des Reichthums und behaglichen Wohlergehens oder er kramte allerlei Schreckbilder aus, um durch Einschüchterung zu erreichen, was etwa der Verführung trotzen zu wollen schien. Er fabelte ihm vor, daß er ihm einen Injurien-Proceß an den Hals werfen werde, weil er seine Tochter in der Leute Mund gebracht und sie nicht wieder zu Ehren bringen wolle – er ließ ihn merken, daß der gestrenge Herr Landrichter auf dem Punkte stehe, sich der Sache anzunehmen und ihm das Musikmachen zu verbieten, denn einem Menschen, der sich erlaube, Spaß zu treiben mit so heiligen Dingen, könne man nicht erlauben, bei den Vergnügungen ruhiger und gesitteter Landbewohner auch nur die Clarinette an den Mund zu setzen. Die Tochter ließ es ebenfalls nicht fehlen, sich zur rechten Zeit einzufinden und die Liebenswürdige zu spielen, daß er manchmal sich erst besinnen mußte, warum er sich denn so sehr sträube, sich ihr gefangen zu geben, denn die schneidige Waben verstand es, so sanft zu reden, als wäre sie gar nicht im Stande, ein böses Wort auszusprechen, und streichelte ihn wie ein schnurrendes Kätzlein, das die Krallen einzieht. Das war mehr, als der Clarinetten-Muckel zu ertragen vermochte; er fing an, blaß zu werden und vom Fleische zu fallen, und glaubte sogar zu bemerken, daß der dünne Haarkranz um seine Platte beginnen wolle, noch dünner zu werden. Die unablässige Verfolgung und Hetze raubten ihm die Ruhe und gewohnte Gemüthlichkeit und verdarben jeden Spaß – er mußte sich diesen Widersacher vom Halse schaffen, wenn er nicht zu Grunde gehen sollte, und da er ihn nicht zu besiegen vermochte, entschloß er sich, zu ihm überzugehen. [82] Er ward allmählich unempfindlicher gegen die Sticheleien, die er von Andern zu hören bekam, daß er wohl thue, eine reiche Frau zu nehmen, die zu dem Gelde auch gleich die Geldcasse mitbringe, oder daß er nicht mehr nöthig habe, in den Wirthshäusern herumzuziehen, weil nun die Frau ihm selber zum Tanz aufspielen werde – sein Widerstand ward immer schwächer und schwächer und zuletzt hatte er eingewilligt, ohne eigentlich Ja gesagt zu haben.

An Neckereien fehlte es auch diesen Abend nicht.

In einer Ecke, dem Brauttische gegenüber, hatten sich einige Burschen bereit gesetzt und ließen sich Karten geben, zum Scheine nur, als ob sie ein Spiel machen wollten: im Ernste war der Tag zu heilig dazu. „Nun,“ riefen sie herüber und ließen die Blätter schwirrend durch die Hand gleiten, „wie ist’s, Clarinetten-Muckel? Uns fehlt der vierte Mann – willst nit ein Labet mitmachen?“

In den Augen des Gerufenen leuchtete es unwillkürlich auf, er mochte auch mit den Beinen unterm Tisch eine Bewegung gemacht haben, als verspüre er Lust, der Aufforderung nachzukommen; aber ein Puff, den ihm die Nachbarin zur Linken ebenfalls unterm Tisch versetzte, brachte ihn augenblicklich wieder zur Besinnung. Mit der andern Hand hielt sie ihm während dessen das gefüllte Glas hin, um mit ihr anzustoßen; sie lächelte ihn auf’s Freundlichste an und schalt ihn dabei leise tüchtig aus. „Untersteh’ Dich,“ sagte sie, „nur mit einem Aug’ zu Deinen alten Cameraden hinüber zu blinzeln – jetzt gehörst Du nirgends hin, als zu mir her!“

Ehe Muckl antworten konnte, rief es ihm schon wieder von anderer Seite zu. Die Kellnerin, eine runde lustige Dirne, die eben nebenan eine Ladung von Krügen absetzte, nickte mit der Vertraulichkeit einer alten Bekannten herüber. „Wirst wohl nit hochmüthig werden, Klankenetten-Muckl,“ sagte sie, „und wirst mich auch einladen zur Hochzeit? Ich mach’ Dir’s wett’ – ich mach’ auch nächstens Stuhlfest, da kannst mir dann einen neuen Landlerischen aufspielen dafür!“

Auch hier war dem Geplagten die Antwort erspart; ein Puff unterm Tisch von der andern Seite belehrte ihn, daß der Krämer ihn der Mühe überheben wolle. „Weißt was, Kathl,“ sagte er, „laß Dir die Musikanten aus der Stadt kommen, daß sie Dir zu Deiner Hochzeit aufspielen! Mein Schwiegersohn rührt kein’ Klankenett mehr an, daß Du es weißt – bei dem geht’s jetzt aus einem andern Ton, als daß er den Bauern noch was vorblasen müßt’!“

„Wie ist das?“ riefen Stimmen dagegen. „Sind wir ihm die Zeit her gut genug gewesen, daß er sein Brod verdient hat von uns? Und jetzt wär’s ihm zu gering, daß er uns Bauern was vorblasen sollt?“

„Das leiden wir nit!“ schrieen Andere. „‘Naus mit ihm! Packt’s ihn am Kragen und zieht’s ihn über’n Tisch – er soll uns was vorblasen und gleich jetzt, oder wir kehren den Stiel um und spielen auf, daß er dazu tanzen soll …“

Der glückliche Hochzeiter begann in gelinden Angstschweiß zu gerathen, denn die entrüsteten Bursche waren aufgesprungen und schrieen in gedrängtem Kreise lärmend auf die verdutzte Gesellschaft hinein – wer weiß, wozu es vielleicht noch gekommen, trotz der Heiligkeit des Abends, wäre nicht plötzlich vor dem Hause lautes ängstliches Rufen vernehmbar geworden. Es kam immer näher, es war deutlicher Hülferuf; Alles hielt inne und wandte sich der Thür zu, ein Knecht stürzte fast athemlos herein und brachte die Nachricht, es sei Jemand im See durch’s Eis gebrochen – man höre das grausliche Geschrei aus der Ferne, aber es traue sich Niemand hinein, denn das Eis sei mürb und brüchig, der See sei dort am allertiefsten und wer hineinkomme, zumal unter’s Eis, sei mit dem Andern rettungslos verloren.

Nur wenige Augenblicke und die Stube war fast geleert; Viele rannten hinab zum Seegestade, an welchem schon Einige rathlos schreiend durcheinander liefen. Es begann eben schwach zu grauen und über die beschneite Eisdecke hin war eine dunkle Stelle zu erkennen, von welcher der Hülferuf schon ermattet und in immer längeren Absätzen herüber kam. „Die Lise ist’s,“ tönte es den Kommenden entgegen, „der Stimme nach ist’s kein anderer Mensch, als die Botenlise! Sie ist Nachts im Dorf gewesen und muß auf dem Heimweg’ die ausgesteckte Bahn auf dem See verfehlt haben! So muß sie an ein Fischloch gekommen sein und ist eingebrochen!“

Ueber der unruhigen Menge, an einer etwas erhöhten Stelle, von der man den ganzen See übersah, stand unter dem weitverzweigten dunklen Gezweige eines mächtigen Buchenstammes eine dicht verhüllte weibliche Gestalt und starrte unbeweglich nach dem Orte des Unheils.

Jetzt wurden Fackeln gebracht; ihr Schein flackerte weit hinaus und beleuchtete denselben.

„Sie rührt sich auf einmal nicht mehr!“ sagte Einer, „sollte sie schon untergegangen sein …“

„Wär’ kein Wunder, wenn sie schon erstarrt wär’ in dem kalten Bad …“ rief ein Anderer, „aber das ist es nicht! Es ist schon Jemand draußen bei ihr …“

„Bei ihr draußen? Wer thät sich untersteh’n, da hinaus zu geh’n!“

„Es ist doch so – ich seh’s ganz deutlich, wie er sich niederbückt … er will sich auf den Boden niederlegen und auf dem Eis zu ihr hinrutschen …“

Der Ruf einer fernen Männerstimme ward vernehmbar.

„Hörst? … Er sagt, es soll Niemand nachgeh’n – das Eis sei zu schwach und trage die Last nicht …“

„Der kecke Mensch! Wer ist es nur?“

„Ich weiß nicht – aber ich mein’, ich wollt’s errathen, … es ist nicht leicht Einer, der so viel Schneid’ hat … es muß der Brunnhofer Vestl sein, mein’ ich!“

Die Vermuthung war vollkommen begründet. In der Unruhe seines Gemüths war er vom Hause fort und auf einem Umwege dem Dorfe zugewandert; er wollte Niemand begegnen, um ein Gespräch zu vermeiden, das ihn vielleicht nur erbittert haben würde; er wollte mit sich und seinen Gedanken allein sein, und sich durcharbeiten durch all’ die Sorgen und Hoffnungen in ihm. So war er zu spät an die Kirche gekommen, als der Gottesdienst bald zu Ende war, und konnte sich nur mit Mühe in eine Ecke hinter der Thür drücken – aber auch da litt es ihn nicht lange; als er den Blick erhob, traf er gegenüber auf eine knieende, in Gebet versunkene, ihm nur zu wohlbekannte Gestalt – eh’ sie ihn gewahr werden konnte, entrann er wieder der gefahrvollen Nähe und stürmte an den See hinab – in Nacht und Frost war es dem jagdgehärteten Burschen wohler, als in der dumpfen lichtstrahlenden Kirche; eine Wildfährte, die er im Zwielicht gewahrte, führte ihn den See entlang und gerade im rechten Augenblick zur Stelle, die ersten Hülfsrufe der Verunglückten zu vernehmen und zu ihrer Rettung bereit zu sein.

Ueber den Anwesenden lag die lautlose Stille angstvoller Erwartung.

„ … Jetzt ist er ganz nah’ dabei …“ flüsterte der Eine, „wenn sich die Frau um aller Heiligen willen nur ruhig hält, wenn er nach ihr faßt, sonst bricht der Eisrand – sie reißt ihn mit hinunter und sie sind alle Beide verloren!“

Sie schwiegen wieder; die Verhüllte droben unter der Buche drückte sich fest an den Stamm – die Hände streckte sie aus, als vermöchte sie, den Eisrand zu stützen, daß er nicht einbrach.

„Gott sei ewig Lob und Dank!“ rief es jetzt von allen Seiten, „er hat sie glücklich herausgebracht … er ist schon ein gutes Stück von dem Loche weg … jetzt ist die größte Gefahr überstanden! Herrgott, ist das eine Angst gewesen, vom bloßen Zuschau’n – ich denk’ meiner Lebtag d’ran!“

Freudig drängte Alles dem Kommenden entgegen, der das triefende erstarrte Mütterchen, einer Todten ähnlich, sichern Trittes und kräftigen Armes an das Ufer trug und dort sachte und sorgsam in den Schnee niederlegte. „Schafft ’was her, daß man eine Tragbahre machen kann,“ sagte er ruhig, „die Alte muß gleich in’s Dorf hinein gebracht werden zum Bader, sonst bringt sie der Schrecken um und die Erkältung … sie ist so schon zwischen Leben und Sterben.“

Einige machten sich rasch daran, seine Anordnung auszuführen; Andere traten hinzu, gaben Vestl die Hand und klopften ihm auf die Schulter und rühmten ihn wegen seines Muthes und wegen seiner kaltblütigen Besonnenheit.

Die Gestalt auf der Anhöhe trat ganz vor, daß sie jeden Laut hören, jede Silbe verstehen konnte.

Sylvester wehrte das Alles ab. „Laßt mich in Ruh’ und macht nicht so viel Wesens,“ sagte er, „es ist nicht der Mühe werth, daß man davon redet! Wenn man ein bissel vorsichtig ist und sich leicht macht, ist es keine Kunst – da trägt das Eis [83] noch mehr … Aber tummelt Euch, Leute, sonst stirbt mir die Alte unter den Händen …“

In dieser Beurtheilung des Zustandes der Geretteten aber irrte er sich doch; unerwartet begann sie sich zu regen, schlug die Augen auf und blickte irr wie fragend und suchend umher. Sie schien sich mit Schrecken zu besinnen, was mit ihr geschehen aber der Frost und das Entsetzen hatte sie der Sprache beraubt: sie vermochte nur, unverständliche Laute zu stammeln; dankstrahlend hing ihr Auge an Sylvester und sie riß seine Hand an sich, als wolle sie selbe an die Lippen drücken.

Eh’ er das zu hindern vermochte, verwandelte sich aber die Geberde des Dankes in eine Bewegung neuen Schreckens – mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in den See hinaus: ihre erregten Sinne vernahmen, was bisher in dem Drängen und Wirrsal des Ereignisses Niemand beachtet hatte.

Vom See her erscholl mattes Gewinsel.

„Was ist denn das?“ frug man. „Ist denn noch wer draußen im See? … Das ist doch keine menschliche Stimm’ …“

„Bläß’ …“ schrie die Alte plötzlich laut aufkreischend, „mein Hund, mein alter treuer Bläß’ … er liegt draußen im Wasser und kann nicht heraus … Bläß’, Bläß! O, er ist zu alt und zu matt … er geht zu Grund, wenn sich Niemand über ihn erbarmt …“

„Wie kommt denn das Vieh da hinaus?“ rief unwillig Einer von denen, die vom Ufer zugeschaut hatten. „Wird sich wohl nochmal Eins seinetwegen hinaus wagen sollen in die augenscheinliche Todesgefahr!“

„Der Hund,“ sagte Sylvester, „ist ihr wahrscheinlich nach, hat sie heraus ziehen wollen und ist drüber selber hineingefallen …“

„Ja, ja – so ist es,“ rief die jammernde Alte, welche den eignen gefährlichen Zustand ganz vergessen zu haben schien, „und dafür, daß er mich hat retten wollen, soll er zu Grund geh’n … Komm’, Bläß, komm …“ schrie sie mit Anstrengung, damit das Thier sie hören und sich selbst heraus arbeiten sollte.

Schwaches, klägliches Geheul war die Antwort.

„Er ist schon zu matt,“ sagte der Bauer wieder, „und das Eis ist zu glatt, an dem kann er sich nicht halten … macht, daß wir ins Dorf hinein kommen, sonst tragen wir Alle einen Denkzettel davon … Komm, Alte, gieb’ Dich drein, um den alten Hund ist doch kein Schad’.“

Sie wollten die Frau anfassen und weiter bringen, aber mit einer Kraft, die man ihr nicht zugetraut hätte, stieß sie Alle von sich und brach in herzzerreißendes Jammergeschrei aus … „Mein Bläß … mein treu’s Thier,“ rief sie, „ich kann ihn nit so zu Grund’ geh’n lassen – ich hätt’ keine ruhige Sterbstund’, wenn ich ihm so gedankt hätt’ für seine Treu’ und seine Anhänglichkeit … Ich bin nur ein arm’s Weib: ich hab’ nichts als ein goldens Ringel daheim, das hab’ ich mir aufgespart für die höchste Noth … ich geb’s her, wer mir den Bläß’ wieder bringt …“

Es regte sich Niemand, der Lust gehabt hätte, den Preis zu verdienen – das Heulen des Hundes klang noch einmal herüber; noch kläglicher als zuvor, es war die letzte Anstrengung vor dem Untersinken.

„So laßt’s mich selber hinaus,“ rief sie wieder und wollte sich aufraffen, „so viel Kraft werd’ ich noch haben, daß ich dem armen Hund helfen kann! Es ist das einzige Geschöpf, das mein gehört und das mich gern hat … Laßt’s mich los, Leut’, und halt’s mich nit – Ihr müßt gar nit wissen, wie das thut, das einzige Geschöpf verlieren müssen, das Ein’ gern hat …“

„Sei still, Alte,“ sagte Sylvester, dazwischen tretend, „behalt’ Dein Ringel – Du sollst Deinen Hund wieder haben …“

„Vestl …“ rief es von allen Seiten durcheinander … „Du wirst doch nicht …“ aber ehe Jemand gedacht oder vermocht hätte, ihn aufzuhalten, war er schon auf dem Eise und eilte mit sicher bemessenem Schritt der gefährlichen Stelle zu. In einiger Entfernung davon zog er die Jacke aus, ließ sich wieder platt auf das Eis nieder und schob, sich so langsam gleitend bis in die Nähe des Eislochs vor, dann warf er die Jacke davor hin, daß das Thier, sie mit den Zähnen packen und sich daran festhalten solle …

Am Gestade war es wieder still, wie im Grabe; die Verhüllte auf dem Hügel war in die Kniee gesunken, einem leblosen Bilde gleich.

„Alle Heiligen stehen ihm bei,“ flüsterte es jetzt durch die Runde, „wenn er nur kein Unglück hat, es wär’ doch jammerschad’ um den prächtigen Burschen … Jesus Maria, das Eis kracht … es bricht ein …“

Ein eigenthümlich knirschender Ton klang herüber – vom Hügel her gellte ein lauter Angstschrei …

Aber dem behenden gewandten Burschen war inzwischen das Wagstück dennoch gelungen: instinctmäßig hatte das Thier sich an der Jacke empor geholfen und rannte nun mit Freudengeheul der rufenden Herrin zu.

Sylvester warf einen Blick nach der Gegend, von woher der Schrei erklungen war; dann schritt er, die Versammlung am Ufer umgehend, die Seebahn dahin, in der Richtung der Heimath. Bald verloren sich auch die Leute vom Gestade und brachten die Alte, die von Dank und Freude überströmte, in das Dorf – die Verhüllte zögerte noch eine Weile, dann schlug auch sie den Weg gegen die Berghöhe ein.

Die beiden Wandrer gewahrten einander wohl in der herandämmernden Morgenhelle – sie schienen sich auch zu kennen und es war manchmal, als ob sie, unwillkürlich angezogen, sich näher kämen und sich zu begegnen wünschten; dann aber wirkte es wieder wie geheimnißvolle Abstoßung – sie flohen weit auseinander und schwanden endlich nach verschiedenen Seiten in Gebüsch und Wald.

Am andern Morgen, am fröhlichen Weihnachtstage schien es, als ob das ganze Thal, der Feier bewußt, sich in seinem schönsten Schmucke zu zeigen suchte. Der ganze Himmel glich einem blauen, lichtdurchflammten Krystall; eine erhabene ruhende Königin lag die Erde, in den weiten fleckenlosen Schnee-Hermelin gehüllt, und wie unschätzbares Geschmeide in ihrem Haar funkelten Reifdiamanten an jedem Aste und Reislein.

Das Gemüth des alten Brunnhofers wollte zu der allgemeinen Helle und Heiterkeit nicht stimmen; er hatte das mürrische Angesicht durch das Guckloch im Fenster der obern Stube gesteckt und hörte ziemlich verdrossen ein paar arm gekleideten Kindern zu, die dem alten Brauche gemäß vor dem Hause standen zum „Christkindl-Singen“. Sie trippelten mit den kleinen Füßen, denn es war wieder kalt geworden gegen den Tag, die Händchen hielten sie unter der Schürze und in der Tasche versteckt, die kleinen Gesichter waren frostgeröthet, aber die Stimmen klangen hell und frisch; sie waren wohlgemuth, denn sie hatten schon an einigen Häusern gesungen und überall war die Aufnahme freundlich gewesen und die Gabe reichlich – was durften sie nicht erst an dem reichen Brunnhofe erwarten! Sie sangen das uralte Volkslied von den Hirten, die einander staunend erzählen, was sich in der heiligen Nacht Wunderbares begeben, und das da anfängt:

„Holla, Jackel, was ist das?
Ich mein’ schier, ich hör’ etwas –
Was soll der G’sang bedeuten,
’S ist zu fruh, zum Tag-Anläuten

Und dann wieder sprachen sie, den nahen Jahreswechsel voraus verkündend, den althergebrachten Volksgruß

„Glückselig neues Jahr!
Ein Christkind’l in ’kraustem Haar,
Auf ein’ goldenen Tisch
Ein’ bachenen (gebacken) Fisch,
Dazu ein Glasel Meth und Wein,
Kann Bauer und Bäuerin lustig sein!“

„Ihr könnt mir gestohlen werden mit Eurem Glückwunsch,“ murrte der Alte. „Bei uns in der Einöd’ heroben giebts weder Bauer noch Bäurin, wo soll da das Christkind’l herkommen im ’krausten Haar …“

Schon hatte er ein paar Pfennige in ein Papier gewickelt und wollte sie den Kindern zuwerfen, mitten in der Bewegung hielt er inne: vom Zaune her kam raschen Schrittes ein Mädchen, ein dichtes Tuch über Kopf und Schultern, in der Hand den Wanderbündel.

Es war die Köhlerin, auf der Wanderung aus der Heimath.

„Grüß’ Gott,“ rief er ihr zu, „willst nit einkehren auf dem Brunnhof? Ich mach’ mein freundlichstes Gesicht und Du hast es versprochen, wenn Du wieder vorbei kommst; und wenn der Bauer unter der Thür steht und Dich anlacht mit dem ganzen Gesicht …“

„Versprochen hab’ ich’s wohl,“ erwiderte sie stockend, „aber Du wirst mir’s wohl schenken müssen, Brunnhofer … es hat sich gar viel verändert seitdem …“

[84] Der Bauer wollte antworten, aber er gewahrte im Augenblick, daß ein dunkles Roth die Züge des Mädchens überdeckte und daß ihr Blick auf einen andern Punkt gerichtet war, als auf ihn und sein Fenster. Eine Ahnung dämmerte ihm auf; hastig schloß er das Guckloch und eilte hinab.

Während des Gesprächs hatte Sylvester die Hausthür geöffnet und war betroffen auf der Schwelle stehen geblieben …

„Wenn ich Dir im Weg’ umgeh’ …“ sagte er mit schwankender Stimme, „sag’s nur, ich kann geh’n … aber schlag’s dem Vetter nicht ab; ich bitt’ Dich auch darum, kehr’ ein auf dem Brunnhof …“

Sie dachte zu enteilen und stand festgewurzelt; er wollte gehen und blieb doch an der Stelle, stumm sahen sie einander an; ungewiß, zweifelnd, halb unbewußt hob er die Arme – ein Zittern durchflog ihren Körper und das Wanderbündelchen glitt herab in den Schnee. Es war nicht zu sagen, wer dem Andern entgegengeeilt, aber in Mitten des Weges trafen sie zusammen und hielten einander umschlungen, fest, innig und wortlos.

„Sternsacra …“ sagte der Alte, der in die Thür getreten, und wischte sich die Augen.

„Willst jetzt einkehren auf dem Brunnhof?“ fragte Sylvester leise das zärtlich an seiner Brust emporblickende Mädchen.

„… Ja …“ flüsterte sie innig und ebenso leise.

„Und willst da bleiben?“

„Ja…“

„Bleiben – für Zeit und Ewigkeit?“

„Ja.“

„Und glaubst mir jetzt, daß ich weiß, was das heißt, Jemand gern haben von Herzens Grund? Und wie ist Dir der Glauben ’kommen?“

„Heut’ Nacht, Vest’l,“ erwiderte sie mit leichtem Stocken, „ich hab’ Alles mit ang’sehn, drunten am See … wer das thut, einem armen alten Mutterl sein’ einzige Lebensfreud’ zu erhalten, der hat ein Herz und noch dazu ein recht gut’s …“

„Also vergeben und vergessen?“

„Alles!“

„Und wieder ist’s der See, der uns zusammen ’bracht hat, wie das erste Mal! Jetzt ist er mir noch einmal so schön und mein’ Lieb’ zu Dir, die soll dauern, so lang noch ein Tröpfel Wasser in ihm ist …“

„Sternsacra,“ rief der Brunnhofer dazwischen und zwang sich zu lachen, um seine Rührung zu verbergen, „ich glaub’ hell-licht, sie nimmt den Buben blos deswegen, weil er einen alten Hund aus dem See ’zogen hat …

O Weiberleut, Weiberleut
Seid’s nit zum Ergründen:
Eh’ wollt’ i’ an Kreuzer
Im Schliersee find’n!

He, Schwagerin,“ fuhr er fort und that einen gellenden Pfiff, „da komm’ die Schwagerin heraus, geb’ sie jedem von den Christkind’lsängern da, die mir das Glück ang’sungen haben, einen Zwanziger und schau’ sie sich das Paar’l an und führ’ sie’s hinein in’s Haus; auf die Läng’ könnt’s doch zu kalt werden da im Freien, selber für die jungen Leut’!“

Die Frau trat herzu, nicht wenig erstaunt über die unvermuthete Wendung, doch desto mehr von ihr erfreut; mit lachendem Mund und thränenden Augen führte sie die Glücklichen in’s Haus, die selbst nicht wußten, wie ihnen geschehen war. „Gott sei Lob und Dank,“ sagte der Bauer leise zu ihr, indem sie hinter dem Paare hergingen, „nun kann ich, wenn’s in die Ewigkeit geht, dem Bruder Andrä doch sagen, daß ich Wort ghalten hab’ …“

„Redlich und ehrlich,“ erwiderte die Hauserin und schüttelte ihm die Hand, „ich mein’, er müßt’ jetzt schon vom Himmel ’runter schau’n und seine Freud’ daran haben!“ –

Zum Dreikönigstage war wirklich Hochzeit auf dem Brunnhofe und seit Menschengedenken war keine unter solchem Jubel gefeiert worden und solchem Zulauf; es hatte auch nicht leicht ein schöneres Paar gegeben, noch eines, das sich gefunden und geworben auf so seltene Art. So sehr auch der Clarinetten-Muckel unter dem Doppelpantoffel von Frau und Schwiegervater stand, hatte er es doch durchgesetzt, daß sie Alle mit zu Gaste waren beim Mahl, und ließ sich’s durch die saure Miene des Krämers nicht wehren, dem Cameraden aus der alten, lustigen, freien Zeit eine Ehre anzuthun und zum Brauttanz den versprochenen Landlerischen aufzuspielen.

Er übertraf sich selber dabei, der Ländler war einzig wie die ganze Hochzeit.

Als er vorüber war und der Bräutigam zu ihm trat, ihm dankend die Hand zu schütteln, flüsterte er ihm rasch und heimlich zu: „Du hast wohl Ursach’, daß Du mir dankst, Vestl, Du hast ein Röserl gekriegt, schön und frisch und schier gar ohne Dorn, aber das kann der beste Gärtner nit auseinander klauben, was ich für eine Blum’ erwischt hab’ …“

„Was giebt’s denn da für Heimlichkeiten auszumachen?“ fuhr die Waben, die ihren Mann keine Secunde aus den Augen ließ, dazwischen. „Darf man’s nit auch wissen?“

„O ja, warum denn nit,“ stammelte Muckel erschrocken. „Wir haben nur davon gered’t und uns darüber gefreut, daß die Brautschau so gut ausgefallen ist für ihn …“

„Für alle Zwei, will ich hoffen?“

„Versteht sich, Weiberl, versteht sich – für alle Zwei!“ erwiderte er mit süß-saurem Lächeln und folgte wieder zum Tisch, nicht ohne sehnsüchtigen Blick auf die Musikantenbühne und die geliebte Clarinette.

Diese sollte ihm aber nicht für immer entrissen bleiben; als der alte Krämer das Zeitliche gesegnet, gelang es ihm, seine Schneidige zu bereden, daß sie Haus und Hof verkauften und in den Markt zogen. Da war die Stelle des Marktthürmers oder Musikmeisters frei; Muckel erhielt sie und die Frau fügte sich darein, war er ja doch kein Musikant und Gesell mehr, sondern wohlbestallter Meister. Da hatte er nun wieder den alten lieben Trost, und wenn die Frau ihr Uebergewicht zu sehr geltend machte, wußte er, wohin er sich flüchten konnte.

Sein Ländler aber ist unvergessen; noch jetzt, nach mehr als fünfzig Jahren, darf bei keiner Hochzeit der „Brautschau-Landler“ fehlen, wenn auch Niemand den Namen des Urhebers kennt oder die Geschichte seiner Entstehung.

Einem fröhlichen Studenten, der auf fröhlicher Fußwanderung zu einer fröhlichen Bauernhochzeit kam, wurde Beides von einem uralten Bäuerlein erzählt, das mit dabei gewesen.

Auf dem Brunnhofe aber war mit Clar’l das neue Leben, das der Alte erwartet hatte, wirklich eingezogen; die junge Bäurin behielt ihr heiter lachendes Angesicht und es vergingen Wochen, in denen der verjüngte Alle sein Poltern ganz vergessen zu haben schien. Jetzt hausen längst deren Enkelkinder auf dem Gute, aber der Wohlstand und der Frohsinn sind dort daheim und bezeugen, daß sie gut eingeschlagen, die sonderbare Brautschau!




Das Haus mit den drei Leiern.
II.
Goethe’s Morgenopfer. – Gretchen. – Das Puppenspiel. – Von Käthchen Schönkopf bis Fräulein von Lewetzow. – Das Kind. – Mephisto-Merck. – Das Höfchen. – Der Sohn des Stadtsoldaten – Das Grab der Frau Rath.


Wie glücklich hat sich Goethe in diesem Giebelzimmer gefühlt! „Ich fühle täglich mehr Anhänglichkeit an das kleine Plätzchen, wo ich so manche Freude genoß;“ in diesem Zimmer hat er Friede und Sturm erlebt. Wie malt er es aus im Dämmerlicht seiner Einsamkeitsstunden!

„War ich guter Junge nicht so selig,
In der öden Nacht
Heimlich in mein Zimmerchen verschlossen?[WS 1]
Lag im Mondenschein,
Ganz von seinem Schauerlicht umflossen
Und ich dämmert’ ein;
Träumte da von vollen, goldnen Stunden
Ungemischter Lust …“

In diesem Giebelzimmer brachte er dem „Höchsten“, dem er einen Altar mit seiner Naturaliensammlung aufgebaut, mit Räucherkerzen,

[85]

Goethe im Giebelzimmer des Elternhauses.
Nach einer Zeichnung von W. A. Beer.

[86] die er mit einem Brennglas angezündet, in seiner kindlichen eigenthümlichen Weise sein „Morgenopfer“ dar. Dort wurde er in den Dienst der Bühnenkunst eingeführt. Dort hatte man das von der Großmutter hinterlassene Puppenspiel wieder aufgestellt und zwar dergestalt, wie der Dichter selbst in Wahrheit und Dichtung und in Wilhelm Meister erzählt, „daß die Zuschauer in meinem Giebelzimmer sitzen konnten, die spielenden und dirigirenden Personen aber, sowie das Theater selbst vom Proscenium an in dem Nebenzimmer Platz und Raum fanden, wodurch bei mir das Erfindungs- und Darstellungsvermögen, die Einbildungskraft und eine gewisse Technik geübt und befördert wurden.“

So waren dem Knaben Wolfgang die Jahre 1757 und 1758 vergangen; das folgende Jahr raubte ihm das bisher innegehabte Reich seines Giebelzimmers, denn in ihm führten nun die Frankfurter Maler und Seekatz von Darmstadt für den Grafen Thorane ihre Bilder aus, durch deren Anblick und Mitgenuß sich ihm ein neues Reich, das der bildenden Kunst, erschloß. Hier auf diesem Giebelzimmer machte er die Gelegenheitsgedichte, deren Ertrag im Jahre 1762 und in den zwei folgenden des Freundes „lustige Gesellen“ verzechten, während er in Gretchen’s Umgang sich entschädigte und zu immer neuem Thun begeisterte.

Mit Gretchen nimmt die Schönheitsgalerie der Mädchen und Frauen, die den Dichter liebten, fesselten und begeisterten und denen er dafür die Unsterblichkeit des Namens verliehen hat, ihren Anfang. Gretchen beginnt den Geisterzug und schreitet als seine Muse durch die Jahre 1762 bis 1764, ja bis an das Ende seiner dreiundachtzig Lebensjahre. Dieser „Frühgeliebten“ hat er auch den vollen Glorienschein der Poesie um’s Haupt gewoben. Wir haben uns, ehe wir in dieses Haus eintraten, jenes Haus in der Weißadler- und Rosengasse angesehen, das früher sogenannte „Puppenschränkchen“ (in Frankfurter Mundart „Bobeschränkelchen“), wo Goethe an Gretchen’s Seite, dem Mädchen aus dem Volke, die ersten starken, aber unschuldigen Regungen der Liebe empfand, die zu ihm sprach: „Nicht küssen! Das ist so was Gemeines, aber lieben, wenn’s möglich ist!“ – „Meine Neigung wuchs unglaublich,“ sagt er und charakterisirt seine erste Liebe im dreizehnten Lebensjahre in den Worten: „Die ersten Liebesneigungen einer unverdorbenen Jugend nehmen durchaus eine geistige Wendung. Die Natur scheint zu wollen, daß ein Geschlecht in dem andern das Gute und Schöne sinnlich gewahr werde, und so war auch mir durch den Anblick dieses Mädchens, durch meine Neigung zu ihr eine neue Welt des Schönen und Vortrefflichen aufgegangen. Die Gestalt dieses Mädchens,“ fährt er fort, „verfolgte mich von diesem Augenblicke an auf allen Wegen und Stegen, es war der erste bleibende Eindruck, den ein weibliches Wesen auf mich gemacht hatte. – Das liebe Mädchen zu sehen und neben ihr zu sein, war nun bald eine unerläßliche Bedingung meines Lebens.“

In diese Zeit der „ersten jungen Liebe“ fiel am 3. April 1764 der feierliche Krönungstag Joseph’s des Zweiten. In der darauf folgenden Nacht wandelte er an Gretchen’s Seite „in jenen glücklichen Gefilden Elysiums“. „Von ‚Pylades‘ (seinem jungen Freunde) geleitet,“ berichtet uns der Dichter selbst, „fanden wir ein ganz artiges Speisehaus (eben jenes sogenannte Puppenschränkchen, welches bereits seit mehreren Jahren einem neuen Gebäude Platz gemacht hat), und da wir keine Gäste weiter antrafen, indem Alles auf den Straßen umherzog, ließen wir es uns um so wohler sein und verbrachten den größten Theil der Nacht im Gefühl von Freundschaft, Liebe und Neigung auf das Heiterste und Glücklichste. Als ich Gretchen bis an ihre Thür begleitet hatte, küßte sie mich auf die Stirn. Es war das erste und letzte Mal, daß sie mir diese Gunst erwies, denn leider sollte ich sie nicht wieder sehen.“

Der Verlauf dieser ersten Liebesgeschichte knüpft sich an das Giebelzimmer, denn auf dieses bannte ihn – o, der schmerzlichen Wandlung! – am folgenden Tag die ängstliche und bedrängte Mutter, nachdem sie ihm, da er noch im Bette lag, verkündet hatte, es sei herausgekommen, daß er „sehr schlechte Gesellschaft“ besucht und sich in die „gefährlichsten und schlimmsten Händel“ verwickelt habe. Der Hausfreund, Rath Schneider, vermittelte endlich glücklich; nur von Schwester und Mutter besucht, verbrachte der plötzlich sich unsäglich unglücklich fühlende Jüngling in diesem Giebelzimmer schmerzliche Tage „im Wiederkäuen seines Elends“, bis er sich allmählich und hauptsächlich dadurch wieder fand, daß er mit entsetzlicher Täuschung vernahm, Gretchen habe ihr Verhältniß als ein gänzlich unverfängliches, wahrhaft geschwisterliches dargestellt, ja den liebesiechenden Knaben „für ein Kind zu den Acten erklärt“. Da war er auf einmal geheilt.

Goethe hat, nach meiner Zusammenrechnung, zwölf Frauen geliebt; wechselnd war es bald mehr eine ideale, bald mehr eine sinnliche Neigung, die ihn entflammte, doch waltete die ideale zur Frau von Stein am längsten vor. Da hatte er Käthchen Schönkopf in Leipzig geliebt, vom Herbst 1765 bis 1769. In demselben Jahre, (1769) fesselte ihn vorübergehend Charitas Meixner, und ich habe selbst in ihrem früheren Wohnhause, der „Eulenburg“ zu Worms, auf der Fensterscheibe, die noch unversehrt ist, den von Goethe eingegrabenen Namen mit der Jahreszahl 1769 gelesen. Dann leuchtet uns vom October 1770 bis August 1771 aus der Idylle von Sesenheim Friederike Brion als das schönste und rührende Frauenbild aus dem Kreise des Dichters entgegen. In das Jahr 1771 bis Ende April 1772, vor dem Abgang nach Wetzlar, fällt einer Liebesgeschichte des Dichters mit der feurigen und reizenden Lila von Ziegler, an die er „Pilgers Morgenlied“ gedichtet hat. Sie war Hofdame der Landgräfin von Hessen-Homburg, hielt sich oft in Darmstadt auf und war eine innige Freundin von Merck und Caroline Flachsland, der Braut Herder’s. Vom Mai 1772 bis zum 11. September desselben Jahres schwärmte der vielliebende und vielgeliebte Dichter für Lotte Buff in Wetzlar, die er in „Werther’s Leiden“ mit dem unvergänglichen Zauber der Romantik mit tragischem Ausgang verherrlicht hat. Nachdem er sich einmal um jene Zeit von ihr losgerissen, schlich sich die schöne Maximiliane La Roche bereits auf der Rückreise in Coblenz in sein Herz ein, welche ihre Mutter, die trotz ihrer gefühlsseligen Zartheit in ihrem „Fräulein von Sternheim“ doch ihre Kinder „gute Partien machen“ ließ, im Januar 1774 mit dem reichen Kaufmann Brentano, einem Wittwer mit fünf unerzogenen Kindern, verheirathete. Merck schreibt: „Goethe ist bereits Hausfreund dort, spielt mit den Kindern und begleitet das Clavierspiel der jungen Frau. Daneben hat er die kleine Brentano über den sie umgebenden Oel- und Häringsgeruch und die Manieren ihres Ehemanns zu trösten.“ Goethe hat uns selbst in „Wahrheit und Dichtung“ den Wechsel seiner Liebesstimmung für Lotte Buff und Maxe Brentano in den Worten angedeutet: „Es ist eine sehr angenehme Empfindung, wenn sich eine neue Leidenschaft in uns zu regen anfängt, ehe die alte noch ganz verklungen ist. So sieht man bei untergehender Sonne gern auf der entgegengesetzten Seite den Mond aufgehen und freut sich an dem Doppelglanze der beiden Lichter.“

Ich habe Ihnen auf dem Wege zum Hirschgraben in der großen Sandgasse das hohe, alte, vornehme Giebelhaus Nummer zwölf gezeigt, wo die „Maxe“ wohnte und ihre berühmte romantische Tochter, die „Bettina“ geboren hat, die den Dichter als Enkelin der Sophie La Roche und Tochter seiner geliebten Maxe in Weimar 1808 mit einem Besuch überraschte, sich „als Kind“ geberdete, sich auf seinen Schoß setzte und eine leidenschaftliche Neigung zu Goethe faßte, ohne daß derselbe sie erwiderte, da damals in seinem Herzen eine neue Flamme für Minna Herzlieb, die Pflegetochter des Buchhändlers Frommann in Jena, entzündet worden, die er als „Ottilie“ in den Wahlverwandtschaften feierte, an die er seine Sonette mit deutlicher Bezeichnung ihres Namens richtete, denen Bettina das Zeug zu ihrem erlogenen romantischen „Briefwechsel Goethe’s mit einem Kinde“ entnahm.

Ich habe Ihnen ebenfalls das nicht weit von hier auf dem großen Kornmarkt auf der rechten Seite neben der reformirten Kirche stehende schöne dreistöckige Wohnhaus Nummer fünfzehn mit fünf Fenstern gezeigt, in welchem im December 1774 Goethe, der junge Sachwalter, der schon berühmt war, „ein Mann von großem Genie, einnehmender Liebenswürdigkeit und eigenthümlicher Originalität“, im Zimmer gleicher Erde rechts vom Eingange, dessen gegenwärtig fast beständig geschlossene Läden (das Haus ist im Besitz des Bankiers Bonn) kaum mehr noch eine Bewohnung desselben vermuthen lassen, seine Lilli oder, wie sie eigentlich heißt, Anna Elisabeth Schönemann, zum ersten Male am Piano erblickte und von ihrem talentvollen Spiele hingerissen, die ersten Eindrücke mit sich fortnahm, die später ihr geistreicher Umgang zur heißen Liebe entflammte. Und an derselben Stelle war es wieder, wo Goethe, [87] den Entschluß der Trennung von Lilli im October 1775 im Herzen, an jenem Abend vor seiner Abreise nach Italien sein Ohr lauschend an das Fenstergitter preßte, um zum letzten Male die süße Stimme zu vernehmen, die, ohne die Nähe des Treulosgewordenen zu vermuthen, seiner mit dem Liede:

Warum ziehst Du mich unwiderstehlich,
Ach, in jene Pracht?

gedachte, das er vor kaum einem Jahre aus liebeglühendem Herzen für die Geliebte gedichtet, nicht ahnend, daß es einst die letzten Regungen für sie darin erwecken und damit auch zum Grabgesang seiner Liebe werden würde. Goethe lernte sie kennen als die einzige Tochter eines großen Frankfurter Bankiers und reichen Handelsherrn, nach dessen frühem Tode die Mutter, eine feingebildete, gescheidte Frau, eine geborene d’Orville, ebenso das Geschäft, wie das im fürstlichen Stile geführte Leben des Hauses fortsetzte. Goethe, zwar der „Löwe des Tages“, stand diesmal mit der bürgerlichen Beschränktheit seines Vaterhauses, mit seinem genialen Sturm und Drang, der sechszehnjährigen reizenden Lilli gegenüber, die seinem Vaterhause und seinen Eltern durch gesellige Stellung, durch Rang, Reichthum, wie durch Weltgewandtheit überlegen war. Durch eine alte, mit den beiden Familien befreundete Jungfer, Demoiselle Delfs aus Heidelberg, ging der Liebeshandel in eine Verlobung über. Aber die schöne Bankierstochter, die „Staatsdame“, wie sie im Vaterhause des Dichters genannt wurde, paßte nicht zu den Eltern Goethe’s, zu den alten, bürgerlich beschränkten Verhältnissen der Familie. Goethe hatte wenigstens erfahren, „wie es einem Bräutigam zu Muthe ist“, er liebte sie wirklich, und noch in späteren Jahren gestand er Eckermann im Gespräche, „Lilli sei die Erste und im Grunde auch die Letzte gewesen, die er tief und wahrhaft geliebt.“

Wir haben noch fünf Frauen, die mit Goethe innig befreundet waren und ihn fesselten, darunter Frau von Stein, eine zweite Charlotte, Mutter von sieben Kindern, sieben Jahr älter, die vom 3. Januar 1776 bis zu seiner Rückkehr aus Italien im August 1788 mit dem Dichter auf seiner Dichterhöhe im innigsten Lebensverkehre stand, aus dem uns wenigstens Goethe’s Briefwechsel und damit der Blick in jene reiche Zeit seines inneren Lebens glücklicher Weise gerettet worden ist. Das war die Frau, welche Goethe für immer hätte geistig fesseln können! Doch während des italienischen Aufenthaltes vom 3. September 1786 bis zum August 1788, in welchen die Liebesepisode mit der „schönen Mailänderin“ fällt, siegte in Goethe, wie auch nach der Rückkehr, die Natur über das Ideal und bewirkte jene Wandlung, die am bald darauf mit seiner Gewissensehe mit Christiane Vulpius begann, welche ihm bereits am 25. December 1789 seinen einzigen Sohn August gebar. Die Geschicke, welche die Ordnung der Stadt umkehrten, brachten den Dichter zur bürgerlichen Ordnung zurück. Am 19. October 1806, nach den Unglückstagen von Jena und Auerstädt, ließ er sich mit seiner „kleinen, dicken, runden Freundin“ in Gegenwart seines einzigen Sohnes August und seines Secretairs und Hausofficianten Dr. Riemer in der Sacristei der Schloßkirche zu Weimar kirchlich trauen. Damit schloß sich sein Familien- und Hauswesen bürgerlich ab. Erst am 6. Juni 1816 starb die Frau Geheimräthin Christiane von Goethe. Der Dichter schien sich einer ewigen Jugend zu erfreuen, er schien nicht zu altern, denn im Jahre 1808 erglühte er für Minna Herzlieb und noch als Siebenzigjähriger, im Jahre 1819, flammte er in leidenschaftlicher, aber auch bald erlöschender Gluth zum letzten Mal für Fräulein von Lewetzow auf.

„Lassen Sie uns jetzt,“ ergriff Halliwell das Wort, „ehe wir das Giebelzimmer verlassen, das uns in das Leben des Dichters so tief hineingeführt, auch seiner Freunde gedenken, die sich innerhalb dieser Wände um ihn versammelten, der plötzlich durch Götz von Berlichingen nicht allein zum Haupt- und Mittelpunkte aller strebenden Schöngeister, sondern auch durch des armen Werther’s Leiden aller Sturm- und Dranggeister geworden war. Zwei Männer treten vor Allen in den Vordergrund, Johann Heinrich Merck aus Darmstadt und Goethe’s Landsmann, Friedrich Maximilian Klinger, der ‚Sohn der Armuth‘. Sagt doch Goethe selbst von Merck: ‚Dieser eigne Mann, der auf mein Leben den größten Einfluß gehabt, war von Geburt ein Darmstädter. Als ich ihn kennen lernte (es war durch die Vermittelung Herder’s in Straßburg und seiner Braut Caroline Flachsland am Ende des Jahres 1771 nach seiner Rückkehr von Straßburg), war er Kriegszahlmeister und später Kriegsrath in Darmstadt. Mit Verstand und Geist geboren, hatte er sich schöne Kenntnisse, besonders der neuen Literatur, erworben und sich in der Welt- und Menschengeschichte nach allen Zeiten und Gegenden umgesehen. Treffend und scharf zu urtheilen war ihm gegeben; man schätzte ihn als einen wackeren, entschlossenen Geschäftsmann und fertigen Rechner. Mit Leichtigkeit trat er überall ein als ein sehr angenehmer Gesellschafter für die, denen er sich durch beißende Züge nicht furchtbar gemacht hatte. Er war lang und hager von Gestalt; eine hervordringende spitze Nase zeichnete sich aus, hellblaue, vielleicht graue Augen gaben seinem Blick, der aufmerkend hin und wieder ging, etwas Tigerartiges. In seinem Charakter lag ein wunderbares Mißverhältniß. Von Natur ein braver, zuverlässiger Mann, hatte er sich gegen die Welt erbittert und ließ diesen grillenkranken Zug dergestalt in sich walten, daß er eine unüberwindliche Neigung fühlte, vorsätzlich ein Schalk, ja ein Schelm zu sein.‘ Merck, der nun eben einmal für Goethe’s Urbild des Mephistopheles gilt, kehrte von jener Zeit an oft bei dem Dichter im Vaterhause ein, nicht blos an des Vaters wohlbestellter Tafel, der sich in seinem Sohne durch einen solchen Gast geehrt fühlte, sondern ganz besonders war es auf des Dichters Giebelzimmer, wo er begeistert dessen Vorlesungen lauschte und dessen Freude am Hervorbringen zu immer neuer Lust entflammte. Auf Merck’s Zuruf:

‚Bei Zeit auf die Zäun’,
So trocknen die Windeln!‘

schickte er den Götz von Berlichingen in die Welt hinaus, zu dem Goethe das Papier herbeischaffte, und den Merck im Jahr 1773 in seiner Privatdruckerei im Dorfe Arheilgen bei Darmstadt druckte. Auf dem Giebelzimmer vollendete Goethe im Jahr 1774 „des armen Werther’s Leiden.“ Aber eine Verstimmung durch Merck hätte das Werk beinahe wieder vernichtet.

„Einst besuchte er mich,“ erzählt Goethe in ‚Wahrheit und Dichtung‘, „und als er nicht sehr gesprächig schien, bat ich ihn mir zuzuhören. Er setzte sich auf’s Kanapee und ich begann Brief vor Brief das Abenteuer vorzutragen. Nachdem ich eine Weile so fortgefahren hatte, ohne ihm ein Beifallszeichen zu entlocken, griff ich mich noch pathetischer an, und wie ward mir zu Muthe, als er mich, da ich eine Pause machte, mit einem: Nun ja! es ist ganz hübsch! auf das Schrecklichste niederschlug und sich, ohne etwas Weiteres hinzuzufügen, entfernte. Ich war ganz außer mir; denn wiewohl ich Freude an meinen Sachen, aber in der ersten Zeit kein Urtheil über sie hatte, so glaubte ich ganz sicher, ich habe mich im Sujet, im Ton, im Styl, die denn freilich alle bedenklich waren, vergriffen und etwas ganz Unzulässiges verfertigt. Wäre ein Kaminfeuer zur Hand gewesen, ich hätte das Werk sogleich hineingeworfen; aber ich ermannte mich wieder und verbrachte schmerzliche Tage, bis Merck mir endlich vertraute, daß er in jenem Momente sich in der schrecklichsten Lage befunden, in die ein Mensch gerathen kann; er habe deswegen nichts gesehen noch gehört, und wisse gar nicht, von was in dem Manuscripte die Rede sei.“ Ebenso mahnte Merck seinen Freund bei Mittheilung des Clavigo in diesem Giebelzimmer an seine höhere Kraft und Würde mit den Worten: „Solch’ einen Quark mußt Du mir künftig nicht mehr schreiben, das können die Andern auch!“ Bei dieser Gelegenheit nannte ihn Goethe, ohne seines Freundes Absicht zu verkennen, „Mephistopheles“. Aber Merck blieb auch später noch Goethe’s Führer und treuer Eckhard. So stellte er ihm vor dem Antritt seiner ersten Schweizerreise das Horoskop: „Dein Streben, Deine unablenkbare Richtung ist, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben,“ und selbst als Goethe schon als Dichterfürst begrüßt zu werden und die Huldigung der Welt zu empfangen gewohnt war, rief er ihm, als er bei längerem Aufenthalt in Weimar sein contemplatives Wesen mißfällig wahrgenommen, richtend und zurechtweisend die Worte zu: „Siehst Du, im Vergleich mit dem, was Du in der Welt sein könntest, ist mir Alles, was Du geschrieben hast, Dreck!“ und wurde zuletzt so verstimmt, daß er Goethe gar nicht mehr sah und in die Worte ausbrach: „Was Teufel fällt dem Wolfgang ein, hier zu Weimar am Hofe herumzuschranzen und zu scherwenzen, Andere zu hudeln oder, was mir Alles eins ist, sich von ihnen hudeln zu lassen! Giebt es denn nichts Besseres für ihn zu thun?“

„Doch steigen wir,“ mahnte ich, „um auch noch Klinger an der rechten Stelle in Goethe’s väterlichem Hause zu begrüßen, in den Hof hinab.“ Goethe widmete Klingern am 31. Januar [88] 1826 ein Bild dieses Höfchens seines Vaterhauses, mit dem noch erhaltenen Brunnen (Regenpumpe) an der westlichen Mauer, das den hölzernen Schupf an der Südseite zeigt, in dessen niedrigen Dachraum eine kleine Leiter hinaufsteigt. Auf der ersten Seite des Briefbogens (das Original ist im Besitze des ehemaligen Königs Georg des Fünften von Hannover) finden sich folgende Strophen an Klinger (auch in Goethe’s Werken aufgenommen) von Goethe’s Hand:

„An diesem Brunnen hast auch Du gespielt,
Im engen Raum die Weite vorgefühlt;
Den Wanderstab in’s fernste Lebensland
Nahmst Du getrost aus frommer Mutterhand,
Und magst Du gern’ erlosch’nes Bild erneu’n,
Am hohen Ziel des ersten Schritts erfreun.“

Auf der dritten Seite hinter dem Bilde stehen die Zeilen:

Eine Schwelle hieß in’s Leben
Uns verschied’ne Wege geh’n;
War es doch zu edlem Streben,
Drum auf heitres Wiedersehn!“

Heinrich Merck.

Nach gründlichen Untersuchungen, ob wir gleich auch das Wort „eine Schwelle“ im Allgemeinen aus Frankfurt überhaupt beziehen können, ist Friedrich Maximilian Klinger am 17. Februar 1752 in dem vor dem Umbaue vom Hofe aus zugänglichen Nebenhäuschen geboren und Goethe’s Vaterhaus ist demnach auch Klinger’s Geburtshaus. Sein Vater war ein armer Holzhacker und Stadtsoldat und seine Mutter nährte sich nach dessen Tode erst als Waschfrau, dann später durch einen kleinen Feuersteinladen.

Der berühmte Dichter von „Sturm und Drang“, nachdem er bereits russischer Generallieutenant in Petersburg geworden und Gemahl der durch Rang und Schönheit ausgezeichneten natürlichen Tochter der Kaiserin Katharina der Zweiten, Alexandra Alexeff, besuchte in glänzender Militairuniform mit allen seinen Orden die gute Mutter in ihrem Stübchen in der engen Rittergasse (die seit einigen Jahren auf Anordnung des Senats „Klingergasse“ umgetauft worden), die er in zwanzig langen Jahren nicht gesehen hatte und leider nicht bewegen konnte, ihm nach Petersburg zu folgen.

Thaddäus von Bulgarin, der in seinen Memoiren (1856) ebenfalls behauptet, daß Klinger in dem Goethe’schen Nebenhäuschen geboren sei, führt uns das Bild Klinger’s lebendig in den Worten vor: „In Gesellschaft, die ihm zusagte, und in freundschaftlichen Gesprächen war Klinger, wenn überhaupt bei guter Laune, außerordentlich angenehm und interessant; aber im Dienste und seinen Untergebenen gegenüber kalt wie der steinerne Gast im Don Juan. Klinger hatte bei hohem Wuchse und regelmäßigen Gesichtszügen eine starre Physiognomie; nie hat ihn Jemand lächeln sehen.“

Aus dem Höfchen traten wir wieder auf die Straße. Die Freunde warfen noch schweigend einen Scheideblick auf die heilige Dichterstätte.

„Von der Wiege zum Grabe!“ bat nach längerem Schweigen Halliwell. „Unser letzter Gang sei zum Grabe der Mutter.“

Auf dem alten, längst nicht mehr benutzten Kirchhofe, der an die Peterskirche stößt und an dessen Wänden Denkmäler und Wappenschilder anzeigen, wo die alten Patriciergeschlechter Frankfurts gruppenweise ruhen, hat beim östlichen Eingang rechts die Frau Rath am 15. September 1808 ihre letzte Ruhestätte gefunden, an der Seite des ihr vor sechsundzwanzig Jahren im Tode vorausgegangenen Gatten, nachdem sie achtundsiebenzig Jahre gelebt und den vollen Weltruhm ihres Sohnes, wenn auch fern von ihm, in ihrem treuen Mutterherzen mit durchempfunden hatte.

Der schönste Zug bei der ganzen hundertjährigen Geburtstagsfeier ihres großen Sohnes war die Bezeichnung dieser heiligen Stätte durch einen neuen einfachen, das ganze Grab deckenden Sandstein mit der einfachen Aufschrift:

Grab der Frau Rath Goethe.
Geboren am 19. Februar 1731.
Gestorben am 13. September 1808.

An dem Fuße des Denksteins die Aufschrift:

„den 28. August 1849.“

Ja, die Frau Rath war der Schutzgeist ihres Sohnes, so lange er sich in Frankfurt aufhielt. Sie war es eigentlich, welche ihn, da sie trotz einer guten Frankfurterin fühlte, er würde an der Seite des nüchternen Vaters seine höhere Bestimmung verfehlen, antrieb, der Einladung seines jungen fürstlichen Freundes nach Weimar zu folgen. Und sie blieb innig mit dem Sohne verbunden ihr Leben lang. Im März 1807 besuchte der Geheime Rath von Goethe mit Frau und Sohn sie zum letzten Mal in Frankfurt, und ihr einziger Enkel August sah Ostern 1808, als er im neunzehnten Lebensjahre nach Heidelberg als Student ging, nochmals die liebe Großmutter und speiste mit ihr beim Fürst-Primas zu Mittag. Der Sohn aber hielt ihr bei Mittheilung eines ihrer Briefe an Zelter die schönste Lobrede in den Worten: „Darin, wie in jeder Zeile, spricht sich der Charakter einer Frau aus, die in alttestamentlicher Gottesfurcht ein tüchtiges Leben voll Zuversicht auf den unwandelbaren Volks- und Familiengott zubrachte und, als sie ihren Tod selbst ankündigte, ihr Leichenbegängniß so pünktlich anordnete, daß die Weinsorten und die Größe der Bretzeln, womit die Begleiter erquickt werden sollen, genau bestimmt war.“

Wir reichten uns zum Abschied die Hände. Paul Nicard, der immer ernster geworden, sprach beim Scheiden die bedeutungsvollen Worte Elisabeth Goethe’s an Bettina Brentano: „Der Mensch wird begraben in geweihter Erd’; so soll man auch große und seltene Begebenheiten begraben in einem schönen Sarg der Erinnerung, an den ein Jeder hintreten kann, das Andenken zu feiern. Das hat schon der Wolfgang gesagt, als er den Werther geschrieben!“
H. K.




Hinter der Mainlinie.
Kosmopolitische Weltfahrten und Erinnerungen.
Nr. 4. Aus der „Sternkammer“ in Wiesbaden.


Das kleine Nassau ist nicht nur reich an „Sieben wonnigen W’s“ – „Wasser und Wiese und Wald; Wild, Wein und Weizen und Wolle“ – es erzeugt auch einen ausgezeichneten Menschenschlag, schlanke kräftige Männer- und blühende schwellende Frauengestalten. Dazu anmuthige sittige Frauen, echt deutsche Hausfrauen und Mütter; und verständige patriotische Männer, die ihr engeres Vaterländchen warm lieben und ein großes gemeinsames Vaterland heiß ersehnen. Und die Zahl von zähen energischen Patrioten ist unverhältnißmäßig groß, denn die Nassauischen Verfassungskämpfe datiren nicht erst seit 1848, sondern schon von den Befreiungskriegen ab; der mehr als fünfzigjährige Widerstand gegen die Miß- und Uebergriffe einer verblendeten Regierung hat, wie es unter anhaltendem Druck, unter wirklichen Leiden stets zu geschehen pflegt, die Herzen und Geister geläutert und gestählt; der frische Muth und die gläubige Ausdauer in diesem Kampfe hat sich hier von Vater auf Sohn vererbt, und das ganze Ländchen [89] ist gewissermaßen nur Eine große Familie, fast Jedermann kennt den Andern persönlich und es ist fast, als ob Alle untereinander verwandt oder verschwägert wären. In jeder Stadt, in jedem Dorfe sitzen Mitglieder der national-liberalen Partei, Jeder wachsam und nach Kräften thätig für die gemeinsame Sache; sie unterhalten einen engen Briefwechsel, sie besuchen sich gegenseitig und versammeln sich von Zeit zu Zeit an bestimmten Orten, wo sie ihre Ansichten und Erfahrungen austauschen und nach Lage der Dinge ihre Operationspläne entwerfen und festhalten. Meist sind es durch Besitz und Stellung unabhängige Männer, vornehmlich Advocaten, Landwirthe und Industrielle, wie überall auch hier die berufenen Träger der demokratischen Idee, an denen die kleinlichen Chicanen und Verfolgungen der endlich gestürzten Regierung ohnmächtig abprallten; aber nicht Wenigen hat sie auch empfindliche materielle Wunden zu schlagen oder gar ihre Existenz zu untergraben gewußt. Wie mancher Beamter konnte auf der Leiter der Carrière um keine Sprosse höher kommen; wie mancher Arzt – auch die Aerzte gehören bekanntlich in Nassau zu den Staatsdienern – wurde nach dem rauhen und öden Westerwald verwiesen; wie mancher junge Jurist wurde nicht zur Advocatur zugelassen; wie mancher Industrielle konnte nicht die Concession zur Errichtung einer Fabrik erlangen; – blos weil er mit der liberalen Partei ging und wählte! Trotzdem hat keiner dieser „Gemaßregelten“ gewankt, keiner hat sich von der Regierung durch angebotene Titel, Orden, Beförderungen oder sonstige Vergünstigungen verdrehen und zu ihr hinüberziehen lassen.

Die Führer der nationalen Partei sind naturgemäß in der Hauptstadt des Landes, zu Wiesbaden. In ihrem Clublocale, der sogenannten „Sternkammer“, habe ich die meisten von ihnen persönlich kennen gelernt, mit ihnen zusammen gesessen und getrunken und mich an ihrer echtsüddeutschen Einfachheit und Gemüthlichkeit erfreut und erfrischt.

Das untere Ende des einzigen langen Tisches nahm gewöhnlich und fast wie präsidirend die Frau „Sternkammerwirthin“ ein, eine Dame, die ihres angenehmen Wesens und ihrer vortrefflichen Eigenschaften wegen bei der ganzen Gesellschaft in großem Ansehen steht. Sie ist trotz ihres Geschlechts eine entschieden politische Natur, eine begeisterte Patriotin und betheiligt sich nicht selten an den Debatten, ohne deshalb die Grenzen der Weiblichkeit irgendwie zu überschreiten. Seit Jahren hat sie lebhaft für die Fortschrittspartei agitirt und ihr in allen Kreisen Anhänger und Diener zu werben gesucht, ohne sich daran zu kehren, daß ihre Wirthschaft darunter litt, indem diese von Mitgliedern der reactionären Partei systematisch gemieden wurde und noch heute gemieden wird.

An ihrer Seite saß in der Regel Dr. Lang, dessen treue Freundin und Verbündete sie war, mit dem sie – oft vielleicht nur, um ihn sein körperliches Leiden, das ihn noch während meiner Anwesenheit hinwegraffen sollte, auf Augenblicke vergessen zu lassen – halblaut und eifrig plauderte und dessen jäher Tod sie tiefer zu verwunden schien als seine intimsten Freunde. Noch sehe ich sie mit starrem Entsetzen die Hiobspost anhören, einen gellenden Schrei ausstoßen und dann in die Nacht hinausstürzen, nach dem Sterbehause, um mit der verzweifelten Gattin des Dahingeschiedenen zu weinen und mit ihr zu wachen. – „Eine fürchterliche Nacht,“ „sagte sie später zu mir, als sie wieder stumm und mit leise rinnenden Thränen unter uns saß; „eine Nacht, die ich um keinen Preis der Welt noch einmal durchleben möchte!“

Da war ferner Karl Scholz, Director der Rheinischen Versicherungsgesellschaft und Mitglied der ehemaligen ersten Kammer; ein noch junger, kleiner und ziemlich unscheinbarer Mann, aber – wie das Aeußere den Menschen oft mehr verbirgt als ausdrückt – geschätzt durch Kenntnisse, Verstand und Rednergabe. Von diesen gab der einen glänzenden Beweis am Grabe Lang’s, wo er mit überströmenden Augen und erstickter Stimme dem Führers seiner Partei den durch die Blätter bekannt gewordenen schönen und wahrheitsgetreuen Nachruf hielt.

Da saß auch Procurator Schenck, ehemaliges Mitglied der zweiten Kammer, ein kräftiger Dreißiger und von sanftem, etwas wortkargem Wesen. Gleich seinem Freunde Lang, dessen politischen Anschauungen er wohl am nächsten steht, gehörte er zum Nationalverein, wo er ein eifriges Mitglied ist und im Ausschuß sitzt. So eben kam er von Berlin, wohin der Nationalverein eine Versammlung berufen, die Lang seiner wankenden Gesundheit wegen nicht mehr besucht hatte. Dort traf ihn die Nachricht vom Tode Lang’s, dessen Verlust die ganze Versammlung mit ihm als einen unersetzlichen fühlte.

Da sah ich weiter Baron v. Schwarzkoppen, ehemaliges Mitglied der ersten Kammer, als Vertreter der namentlich in Hannover begüterten Gräfin von Kielmannsegge; eine hohe ritterliche Gestalt von feinen Manieren und kluger Rede. Aber wie kommt der Aristokrat in die bürgerliche Gesellschaft? höre ich fragen. Weil er in der Ständekammer stets mit den Liberalen ging und ein entschiedener Feind von Feudalismus wie Absolutismus ist. Deshalb gehört er auch zu den Candidaten, die neuerdings in Nassau für das Norddeutsche Parlament aufgestellt sind, und wird wahrscheinlich gewählt werden.

Von Auswärtigen traf ich in der „Sternkammer“ unter Andern zwei Männer, die gleichfalls eines allgemeinen Ansehens sich erfreuen und in ihrer Heimath eine bedeutende Wirksamkeit ausüben: Born, Director eines großen Hüttenwerks bei Ems, und Procurator Hilf aus Limburg. Beide sind vermögende Leute und gediegene Charaktere, weshalb sie vom preußischen Civilcommissariat zur Berathung von Industrie- und Handelsfragen gegenwärtig zugezogen waren.

Neben Lang, dessen Umgang mir noch wenige Tage vergönnt war, erregte natürlich mein Hauptinteresse sein College und Freund Dr. Braun, dessen Thätigkeit und Bedeutung bekanntlich in Nassau und über ganz Deutschland keine geringere ist und dem nach dem Ableben Lang’s nunmehr die Führerschaft der nassauischen Fortschrittspartei im Großen und Ganzen obliegt.

Aber welcher Gegensatz zwischen beiden Männern, schon im Aeußeren und noch mehr nach Charakter und Begabung!

Lang blond und von untersetzter Gestalt, ernst und gemessen in Sprache und Bewegung; Braun brünett und etwas beleibt, beweglich, munter und gesprächig; Lang gegen Fremde ein wenig kühl und zurückhaltend; Braun entgegenkommend und verbindlich. So sah ich die beiden politischen Dioskuren am Wirthshaustische sich gegenübersitzen. Lang trank nur Wasser, war wortkarg und schien theilnahmlos; Braun schlürfte mit Behagen seinen Wein und erzählte dazu in lebendiger, dramatischer Weise Geschichten und Anekdoten, die von Witz und Laune übersprudelten.

In den nächsten Tagen besuchte ich beide Männer in ihrem Hause. Beide wohnten in derselben Straße, nur wenige Schritte von einander; deshalb und weil sie beide Hofgerichtsprocuratoren waren, meinte der Volkswitz: „Wenn die Bauern in Gerichtssachen nach der Stadt kommen, pflegen sie entweder in die Scylla oder in die Charybdis zu fallen.“ Jeder der Beiden besaß ein hübsches, geräumiges, gegen die Straße durch einen Vorgarten abgeschlossenes Haus, aber Braun zwar gewählter und eleganter eingerichtet, als Lang, dem in Kleidung und Wohnung die größte, oft auffällige Einfachheit genügte.

Ich fand Braun in einem Eckstübchen mit reizender Aussicht nach zwei Himmelsrichtungen, wo er auf dem Sofa ein Mittagsschläfchen hielt. Schon wollte ich zurücktreten, als er erwachte und munter aufsprang. „Ich bedarf nur eines Schlummers von wenigen Minuten,“ sagte er, „dann bin ich für die andere Hälfte des Tages wieder frisch und kräftig.“

Die neuesten Erscheinungen der Literatur, Bücher und Brochüren, Zeitungen und Journale, lagen umher; aber das war nicht sein eigentliches Arbeitscabinet, sondern, wie er sagte, der Ort, wo er zu lesen und zu meditiren liebe. Im Gegensatz zu Lang, der sich fast ausschließlich mit der Politik beschäftigte, interessirt sich Braun für Alles und ist von Allem unterrichtet. Literatur, Kunst und Wissenschaft, Handel, Gewerbe und öffentliches Leben sind ihm gleich wichtig und anziehend.

Die Arbeitskraft, Thätigkeit und vielseitige Begabung dieses Mannes sind wirklich erstaunlich. Er ist der gesuchteste und beschäftigtste Advocat der Stadt, aber neben dieser großen Praxis, wobei ihm allerdings ein paar junge Juristen helfen, läuft eine ebenso ausgedehnte politische, parlamentarische und literarische Wirksamkeit. Niemand sprach häufiger und eingehender in der Kammer denn er; er ist Vorsitzender oder Mitglied verschiedener wissenschaftlicher und gemeinnütziger Vereine, er besucht die meisten Volksversammlungen im Herzogthum und alle Abgeordnetentage in Deutschland, und überall spielt er eine hervorragende Rolle durch Rede oder Schrift. Er ist Verfasser zahlreiche Flugblätter und [90] Brochüren, Mitarbeiter an verschiedenen Journalen, wie „Grenzboten“, „Volkswirthschaftliche Vierteljahrsschrift“, auch an der „Gartenlaube“, und regelmäßiger Correspondent mehrerer Zeitungen, wie der Kölnischen. Und dabei scheint ihm nichts Mühe zu machen, nichts Anstrengung zu kosten, und er findet noch immer Zeit und Muße für alle Genüsse und Ergötzlichkeiten, die das Leben zu bieten vermag. Mit Einem Wort, er ist eine jener vollen glücklichen Naturen, welche die Götter in einer Feiertagslaune erschaffen und mit ihren reichsten Gaben ausgestattet haben.

Seine große Verschiedenheit von Lang trat namentlich auch in den Kammerdebatten hervor. Des Letzteren Reden waren kurz und schmucklos, wenn auch nicht ohne schlagfertige und drastische Wendungen. Braun dagegen liebt Bilder und Gleichnisse, Citate und Sentenzen; auch die trockenste und ernsteste Sache weiß er durch Anekdötchen, historische Parallelen und mythologische Anspielungen zu würzen und zu illustriren. Während Lang seinen Gegnern gerade auf den Leib ging und sie mit Keulenschlägen zu Boden schmetterte, liebkost sie Braun, um ihnen dann ganz unversehens Püffe und Ohrfeigen zu versetzen, doch immer mit Grazie. Lang war ein fester, strenger Demokrat, der von seinen Gesinnungsgenossen gleiche Festigkeit und Strenge verlangte und starr auf das einmal gesteckte Ziel losging; Braun ist neben dem Demokraten zugleich Diplomat und Weltmann, er nimmt Jedermann wie er ist, weiß sich in Zeit und Umstände zu schicken und geht mit der Zeit und den Ereignissen.

„Sind Sie je mit dem Herzog in persönliche Berührung gekommen“ fragte ich Braun im Laufe unserer Unterhaltung.

„Vor Jahren sind Lang, ich und Andere von unserer Partei zuweilen nach Hofe geladen worden; wir folgten auch einige Male, ließen uns aber bald entschuldigen, da wir einsehen mußten, daß mit dem Landesherrn eine Verständigung nicht zu erreichen war. Da kann ich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen, die Zweierlei beweist: einmal, daß der Herzog um Wissenschaften sich gar nicht kümmerte, und zweitens, daß er von jeher eine instinctive Furcht vor dem mächtigen Nachbarstaate Preußen hegte und sich stets mit der dunkeln Ahnung seines nunmehr erfüllten Schicksals trug. Wie Sie wissen, bin ich ein eifriger Jünger der Nationalökonomie und gründete im Verein mit den namhaftesten deutschen Vertretern dieser Disciplin 1858 den volkswirthschaftlichen Congreß zu Gotha. Also eines schönen Tages kommt der Herzog plötzlich auf mich zu und fragt: ‚Sagen Sie ’mal, lieber Braun, was ist denn eigentlich Volkswirthschaft?‘ Sie können sich mein Erstaunen denken, aber ich gab ihm, so gut es mir möglich war, eine kurze Erläuterung. ‚Ah!‘ sagte er sichtlich zufrieden, ‚dachte schon, es wäre wieder so ein preußischer Kniff.‘

„Sobald die Regierung sich den Klerikalen und Oesterreichern in die Arme geworfen,“ fuhr Dr. Braun fort, „betrachtete der Herzog jeden Liberalen als persönlichen Feind und Beleidiger seiner Person. Er duldete es – wenn er’s zuweilen nicht selber that – daß seine Umgebung an offener Tafel und vor seinen Ohren von den ‚Fortschrittsadvocaten‘ sprach und sie ‚Kerls‘ und ‚Canaillen‘ titulirte. Er gab zu, daß die officiösen Blätter den ganzen Stand der nassauischen Anwalte der ‚Beutelschneiderei‘ beschuldigten, ihn eine ‚Landplage‘, einen ‚Krebsschaden‘, ein ‚eiterndes Geschwür‘ nannten. Lesen Sie selber, sonst würden Sie diese Art von officiösem Stil nicht für möglich halten, folgenden Passus der ‚Neuen Wiesbadener Zeitung‘, des damaligen Regierungsblattes, vom Jahre 1863:

‚– – Im Uebrigen halten wir den Tag für den leuchtendsten Glanzpunkt in der deutschen Geschichte, als nach der Schlacht im Teutoburger Walde unsere Altvordern die römischen Advocaten, welche deutsches Recht verdrängt und mit römischen Formeln und Distinctionen in Germanien das Recht gebeugt hatten, abfingen, ihnen die Zungen ausschnitten und an Bäumen aufhängten. Wir selbst würden heute noch mit größtem Vergnügen einige Procuratoren, etwa an der Lichtweißhöhle, eigenhändig abschlachten, der Wissenschaft zum Sühnopfer, den Raben zum Fraß.‘

Auf speciellen Befehl des Herzogs wurden gegen mehrere der ‚Fortschrittsadvocaten‘, darunter immer wieder Lang und ich, wiederholentlich Untersuchungen wegen ‚Verletzung der Amts- und Dienstehre‘, ‚Ueberschreitung der Gebührentaxe‘ etc. eingeleitet; einige Amtleute waren auch so gefügig, uns zu verurtheilen, aber das Hofgericht sprach uns in der Appellation jedes Mal frei. Das versetzte den Herzog in Zorn, er ließ die Mitglieder des Gerichtshofes theils durch die officiellen Blätter als ‚ehemalige Advocaten‘ angreifen, theils machte er ihnen persönlich bittere Vorwürfe. Hören Sie ein Beispiel: Einer unserer kenntnißreichsten Juristen, der sich in seinen knapp zugemessenen Mußestunden mit antiquarischen Forschungen beschäftigte, wurde endlich zum Rath am Hofgerichts befördert, und als er, wie es vorgeschrieben war, deswegen dem Herzog zu danken kam, unterbrach ihn dieser: ‚Schon gut!‘ rief er. ‚Höre aber, daß Sie sich mit Nebendingen, Bücherschreiben etc. beschäftigen. Das gefällt mir nicht, führt auf fortschrittliche Abwege.‘ Der junge Rath wagte ehrfurchtsvoll einzuwenden, daß es seiner unterthänigen Meinung nach einem Beamten nur ersprießlich sein müsse, wenn er sich außerhalb seines Dienstes auch um die Wissenschaft kümmere. ‚Ach was!‘ schrie der Herzog, ‚Wissenschaft?! Verlange von meinen Dienern Gehorsam. Aber man gehorcht mir nicht, man verurtheilt meine Feinde, die Feinde des Landes nicht, man läßt sie frei ausgehen.‘

„Unter diesen Verhältnissen,“ fuhr Braun fort, „mußte der Beamtenstand schwer corrumpirt werden, und in letzter Zeit florirte ausschließlich die ‚holde Mittelmäßigkeit‘. Der Aerger und Haß gegen die ‚Fortschrittsadvocaten‘ war dem armen Herzog schließlich zur fixen Idee geworden und versetzte ihn in eine beständige nervöse Aufregung. Er las nichts weiter als die von Herrn Abt, berüchtigten Angedenkens, für ihn eigens geschriebene ‚Nassauische Landeszeitung‘, und als der Biedermann wegen Beleidigung und Verleumdung mehrerer Mitglieder unserer Partei zu einer Menge von Geld- und Gefängnißstrafen verurtheilt war, kam ihm von oben herab der Wink, diesen aus dem Wege zu gehen. Er verließ das Herzogthum und verfügte sich nach dem nahen Frankfurt, wo er in der neubegründeten ‚Kritik‘ seine Schmähartikel gegen uns fortsetzte und dadurch den Herzog auch ferner mit der allein ihm zusagenden Lecture versorgte. Der von der Hofcamarilla gegen sein Volk sorgsam abgeschlossene und so immer ärger verblendete Fürst war zuletzt zu dem Glauben gekommen, die wiederholten liberalen Majoritätswahlen seien nichts weiter als eine Fälschung der Volksabstimmung durch die ‚Fortschrittsadvocaten‘; und als der Krieg drohte und dann wirklich ausbrach, behauptete das Regierungsblatt, wir trügen daran die Schuld, und bot Alles auf, um den Pöbel gegen uns loszulassen. Hier werden Sie finden,“ schloß Braun, und übergab mir eine lange Folge von Nummern der ‚Nassauischen Landeszeitung‘, „wie man uns täglich und auf jeder Seite als ‚Spione‘, ‚Landesverräther‘ etc. bezeichnete.“

Am Abend dieser Unterredung starb Lang, nachdem er noch eine Viertelstunde vorher in der „Sternkammer“ gewesen; und als ich am nächsten Tage wieder zu Braun ging, fand ich diesen gar sehr verändert: mit überwachtem Gesicht, geschwollenen Augen und in nachlässiger Kleidung. Er hatte den Freund verloren, mit dem er von der Schulbank an, seit dreißig Jahren, fast ununterbrochen Hand in Hand gegangen, sowohl was die wissenschaftliche Ausbildung und politische Gesinnung, als die Berufswahl und Carrière betrifft. Beide befanden sich in gleichem Alter, im fünfundvierzigsten Lebensjahre; aber der Eine hatte bereits vollendet und war eine Leiche, der Andere stand noch blühend und kräftig da und ging wahrscheinlich einer noch langen Zukunft mit reicherem, umfassenderem Wirken und steigendem Ruhme entgegen.

Das ganze Land hatte sich daran gewöhnt, diese beiden Männer stets bei einander zu sehen und ihre Namen wurden nur zusammen genannt. Noch heute Morgen war Braun’s kleiner Junge an das Bett seines Vaters gekommen und hatte ihn in kindlicher Naivetät gefragt: „Onkel Lang ist gestorben; wann wirst Du denn sterben, Papa?“

Ebenso verschieden wie die beiden Freunde von einander waren, ebenso sehr ergänzten sie sich auch gegenseitig. Gerade ihre Verschiedenheit führte sie zusammen und ließ sie vereinigt so mächtig wirken und so Großes leisten. Bis in die letzten Tage pflegten sie an jedem Morgen ein paar Stunden mit einander spazieren zu gehen und dabei ihre Gedanken und Erfahrungen auszutauschen; daher konnte es scheinen, als ob sie die Rollen ausdrücklich verabredet und unter sich vertheilt hätten; indeß war das, wie auch Braun versicherte, keineswegs der Fall, sondern jeder handelte nach seiner Neigung und Begabung, wenngleich sich der Eine durch des Andern Ansichten und Rathschläge häufig leiten [91] und bestimmen ließ. Naturgemäß kamen auch zwischen ihnen zuweilen Meinungsdifferenzen, kleine Mißhelligkeiten und Eifersüchteleien vor, aber sie wurden stets bald ausgeglichen, indem der weiche versöhnliche Braun meist zuerst den starren zürnenden Freund aufsuchte und ihm die Bruderhand bot.

Wenn Braun an Kenntnissen und Talenten reicher war, so überragte ihn Lang durch Energie, Menschenkenntniß und Scharfblick. Auf diesen Scharfblick legte Braun auch jetzt, als er mit mir von dem todten Freunde sprach, den Hauptaccent; und wirklich hat er die Richtigkeit und Sicherheit dieses Blicks zu erproben oft Gelegenheit gehabt, ihn wider Wunsch und Vermuthen oft hinterher bestätigt gefunden und schließlich daran glauben gelernt. Lang’s Blick und Urtheil bewährten sich an den meisten Persönlichkeiten, mit denen die Freunde in ihrer politischen Thätigkeit freundlich oder feindlich zusammentrafen; beispielsweise auch an dem Prinzen Nikolaus. Dieser, Halbbruder des Herzogs und Präsident der ehemaligen ersten Ständekammer, ein junger, schöner, eleganter Herr, Liebling der Damen und von etwas großen Bedürfnissen, dazu nicht ohne Kenntnisse und Talente, spielte zuweilen den Liberalen und liebäugelte dann mit der Opposition. Er lud die Führer der Fortschrittspartei zur Tafel, rauchte mit ihnen gemüthlich eine Cigarre und bedauerte, auf die Regierung so gar keinen Einfluß zu haben, schlug sich jedoch in der letzten Stunde immer auf die Seite des Herzogs. Lang durchschaute bald die zweideutige Rolle, welche der Prinz spielte, und da er sich nicht äffen lassen wollte, zog er sich von ihm zurück, rieth auch Braun, desgleichen zu thun. Aber Braun meinte, sein Freund urtheile zu streng, und versuchte es noch eine Weile mit dem Prinzen, bis er sich denn auch gezwungen sah, ihn aufzugeben. Prinz Nikolaus hat, nebenbei gesagt, sein diplomatisches Talent auch in der neuesten so kritischen Zeit bewährt, wo er, ohne mit dem Herzog zu brechen und ohne andererseits der liberalen Kammermajorität offen entgegen zu treten, geschickt zwischen den Parteien lavirte und sich eine neutrale Stellung gewann, die es ihm jetzt möglich macht, auch bei der preußischen Regierung zwischen dieser und seinem entthronten Bruder den Vermittler zu spielen.

Die Blicke und Hoffnungen des nassauischen Volks sind jetzt vorzugsweise auf Braun gerichtet, ohne Zweifel wird es ihn in’s Norddeutsche Parlament entsenden, und diese Wahl würde eine ebenso verdiente wie glückliche sein; denn mit seinen reichen Gaben wird er dort, wie früher in der nassauischen Kammer, zu den bedeutendsten und angesehensten Mitgliedern gehören.




Auch ein heiliger Stuhl.


Das neue deutsche Parlament weckt aus vieljährigem Schlummer begrabene oder eingekerkerte Hoffnungen. Nachdem uns Preußen mit starken Waffen die Einheit gebracht hat, müssen wir von der Hand dieses lebenskräftigen Staates auch den Ausbau des Freiheitstempels erwarten. Die Hoffnungen und Bestrebungen des deutschen Volks sind auf Verwirklichung beider gerichtet, stehen zu fest und wurzeln zu tief auf geschichtlicher und dichterischer Grundlage in den Herzen aller gesunden Bestandtheile sämmtlicher Classen und Parteien, als daß wir hinreichenden Grund hätten, uns den Hoffnungslosen und Verzweifelten anzuschließen. Kaiser Friedrich der Rothbart hält sich zwar noch tief in seinem Kyffhäuser verborgen und war in Berlin während der Weihnachtszeit in einer Ausstellung als todtes Bild und gegen Entrée zu sehen. Die Raben fliegen und kreischen noch um seine feste, historische Felsenburg herum; allein er ist nicht todt, schlummert nur mit auf- und abzwinkernden Augen, jeder Zeit bereit, dem Rufe des deutschen Volkes zu folgen, als historischer und dichterischer Messias der Einheit und Freiheit in aller seiner Herrlichkeit und Macht hervorzutreten und alle Schätze des deutschen Reiches mitzubringen.

Ja, es ist gut, sich bei diesen Hoffnungen und Bestrebungen auf unsere Dichter und alten volksthümlichen Sagen zu berufen und die Wirklichkeit der Geschichte und die Thaten der Gegenwart damit gleichsam zu bekränzen. Unsere deutsche Kaisergeschichte und selbst die verunglückte deutsche Kaiserwahl des gewaltsam zersprengten deutschen Parlaments in der Paulskirche bilden eine solide historische Vorarbeit zu den jetzt wieder erwachten Hoffnungen des Volkes und den Bestrebungen der nach Berlin berufenen Vertreter des norddeutschen Staatenbundes. Sie finden unter Anderm auch einen historisch ehrwürdigen, frisch geschmückten, sehr soliden Stuhl auf einer malerischen Stelle am Rheine für den alten Rothbart, damit er von da aus die geeinigte deutsche Nation um sich versammele, ihr den Reichseid leiste und den Schwur der Treue und Thatkraft für Wiederbelebung und Ausbildung der deutschen Einheit und Freiheit von ihnen vernehme. Es ist der Königsstuhl bei Rhense am Rhein, unweit des bekannten Stolzenfels, auf welchem einst hoch unter freiem Himmel und mitten unter ihren Wählern die römischen Könige und deutschen Kaiser den Reichseid leisteten und den Schwur der Treue empfingen, das Denkmal eines politischen Protestantismus gegen päpstlichen und kirchlichen Einfluß, schon zwei Jahrhunderte alt, als die ersten Bannstrahlen aus Deutschland von hier aus gegen Papstthum und Concordat geschleudert wurden.

Freilich ist von dem alten Denkmal nur ein einziges Stück Säule übrig geblieben und der ganze Königsstuhl jetzt ein Neubau aus den Zeiten der ersten wiedererwachten deutschen Hoffnungen und Bestrebungen für die neue Erbauung politischer Freiheit und Einheit. Im Jahre 1840 bildete sich zu Coblenz ein Verein zur Wiederherstellung des 1808 abgetragenen Denkmals und sammelte zu diesem Zweck Beiträge in ganz Deutschland, die aber so spärlich flossen, daß König Friedrich Wilhelm der Vierte in seinem poetisch-romantischen Sinne für Erhaltung oder Vollendung historischer Denkmale zwei Drittel zu den auf dreitausend Thaler veranschlagten Kosten beitrug, wofür ihm denn auch der ganze neue Königsstuhl geschenkt ward. Dieser besteht aus einem aus Basaltlava aufgeführten, auf neun Pfeilern ruhenden Achteck und steinernen Sitzplätzen, zu welchen eine große Freitreppe führt, und erhebt sich in wunderschöner rheinischer Landschaftlichkeit hoch über die malerische Umgegend empor. Wir wollen dabei nicht unerwähnt lassen, daß das achtundzwanzigste preußische Infanterieregiment allein einhundertundfünfzehn und einen halben Thaler zu den Baukosten beitrug und zwar unter der Bedingung, daß der Pfeiler für den Sitz des Kurfürsten von Brandenburg mit dem preußischen Adler und der Nummer des Regiments geschmückt werde, welche jedoch von dem Comité, obgleich es das Geld annahm, nicht erfüllt ward.

Von der Gestalt und dem Totaleindruck des neuen Königsstuhls giebt die beigefügte Abbildung eine wahrheitsgetreue Vorstellung. Das einzige Stück von dem alten Denkmal ist der mittleren Säule eingefügt, von welcher die Schwibbogen ausgehen, die den eigentlichen Stuhl tragen und mit den Pfeilern eine zwölf Fuß hohe offene Halle bilden. Das ganze Bauwerk, obgleich noch nicht von dem verschönernden Roste der Jahrhunderte überzogen, macht in der wundervollen Gegend, welche es von seiner einsamen Stätte überschaut, einen inhaltvollen Eindruck und weist zum Theil in glorreiche Vergangenheit der deutschen Geschichte zurück, zum Theil in unsere vielbewegte Gegenwart hinein und in die Zukunft hinaus, welche aus diesen gegenwärtigen Bestrebungen ein neues Oberhaupt für den vereinsamten Königsstuhl und die fürstlichen Sitze daneben erwartet. Der erste Versuch, diese einsame, offene Halle mit frischem politischem Leben, mit dem neuen deutschen Geiste der Einheit und Freiheit zu erfüllen, mißlang, wie alle damaligen architektonischen Bestrebungen für Erbauung des Einheits- und Freiheitstempels. Mögen die jetzt mit andern Mitteln und für andere Formen aufgenommenen Versuche ein schöneres Ergebniß liefern!

Am Eröffnungstage des deutschen Parlaments in der Paulskirche zu Frankfurt, am 18. Mai 1848, zog ein großer Theil der Bevölkerung von Coblenz und der Umgegend nach einem feierlichen Hochamte in der Liebfrauenkirche hinauf zu dem festlich bekränzten Königsstuhl, zum Theil mit Musik, Gesang und fliegenden Fahnen. Es wurden feurige politische Reden und Gesangvorträge gehalten, wobei ein Redner sich als Wiedertäufer offenbarte und vorschlug, man sollte den Königsstuhl fortan Volksstuhl nennen. [92] Dies hielt das Volk für eine Aufforderung, sofort selbst König zu spielen, und stürmte jubelnd die Freitreppe hinauf, vertrieb Redner, Sänger und Fahnenträger, wurde aber durch herabströmenden Regen und die noch dichter fallenden Hiebe einer allgemeinen Keilerei verhindert, auf den Königs- und Fürstensitzen die Herrschaft über das deutsche Volk auf längere Zeit zu übernehmen.

Der alte Königsstuhl diente ursprünglich besonders den rheinischen Kurfürsten und Bischöfen als Versammlungsplatz für ihre Berathungen und zur Weihung der aus dem Wahlrecht hervorgegangenen deutschen Kaiser. Man wählte dazu diese Gegend bei Rhense, weil die geistlichen Kurfürsten, nachdem aus dem deutschen Erb- ein Wahlreich geworden war und der Ausfall der Wahlen sehr bedeutend von ihnen abhing, hier einen bequemeren Mittelpunkt fanden, als in Denkelheim, dem Orte des früheren Königsstuhls, und weil sich die Volksmassen in Betheiligung an diesen

Der Königsstuhl bei Rhense am Rhein.

Wahlfeierlichkeiten von Mainz aus, der salischen Hauptstadt, wo sie sich versammelten, leichter anschließen und rings umher gruppiren konnten. Die Grenze der vier rheinischen Kurfürsten zog sich dem Königsstuhle gegenüber mitten durch den Rhein. Vielleicht trug zu dieser Verlegung des Königsstuhls auch der Umstand bei, daß Rhense eine Colonie von Rheims war, wo seit Philipp August alle Könige der Westfranken gekrönt wurden, und daß im Jahre 1308 die Wahlfürsten der Ostfranken zum ersten Male in der Nähe von Rhense zusammentraten. Bald darauf scheint der Königsstuhl gebaut worden zu sein; er wurde einige Jahrzehnte später zu einem der bedeutendsten Denkmäler der deutschen Geschichte, nämlich 1338, als hier eine große Kurfürstenversammlung im stolzen Gefühl ihrer Unabhängigkeit und im heiligen Groll gegen das oft mißbrauchte Nichtbestätigungsrecht des Papstes feierlich erklärte, daß der gewählte deutsche Kaiser als römischer König, wenn einmal in aller Form Rechtens gewählt, der Bestätigung durch den römischen Stuhl nicht mehr bedürfe, sondern berechtigt sei, die Güter und Rechte des Reiches zu verwalten und den Titel eines römischen Königs zu führen. „Darwider soll sich,“ wie es in dem betreffenden Schriftstück wörtlich heißt, „Keiner behelfen, mit keiner Dispensation, Absolution, Relaxation, Abolition, in integrum Restitution.“ Es würde mit Deutschland, namentlich mit den süddeutschen Staaten und Oesterreich, mit ihrer Cultur, mit ihrer Bildung, ihrem Wohlstande, ihrer Reife und Fähigkeit für deutsche Freiheit und Einheit viel besser stehen, wenn sie dieses vor mehr als fünf Jahrhunderten ausgesprochenen und geltend gemachten politischen Protestantismus gegen kirchliche Gewalt in weltlichen Angelegenheiten stets eingedenk geblieben wären.

Wir wollen hier nicht auf Untersuchungen eingehen, in welcher Zeit der Königsstuhl eigentlich gebaut worden sei, und auch die Kaiser nicht aufzählen, die hier gewählt wurden oder wenigstens den Reichseid leisteten, und beschränken uns auf Kaiser Karl den Vierten von Böhmen, 1346, den Pfalzgrafen Ruprecht den Dritten und Kaiser Maximilian, 1486, welche von hier aus ihre Weihe als deutsche Kaiser erhielten.

Die Geschichte ist mit dem Verfalle des deutschen Kaiserreichs aus diesen Säulen und Hallen gewichen und an die Stelle des Geistes sind Geister getreten, die hier spuken; namentlich soll ein böser Kobold noch heute Vorübergehende necken und in Furcht setzen, auch den Hexen des Rheins diente der Königsstuhl einst als Tanzboden, wie der Brocken oder Blocksberg den Schwestern des Nordens. Gleich diesen kamen auch sie auf Besenstielen mit fliegenden Gewändern und Haaren durch Nacht und Sturm herangeritten, um hier ihren Teufelscultus zu treiben und ihre schauerlichen Tänze aufzuführen. Der abergläubische Volksgeist ließ sich durch die wunderliebliche Gegend, aus welcher sich der Königsstuhl hervorhebt, nicht abhalten, sie mit Unholden und Kobolden zu bevölkern, wie er dies mit allen historischen Ruinen zu machen beliebt, aus denen der Geist gewichen ist. Doch wir halten uns an die Wirklichkeit, welche auch hier wieder solides Leben hervorrufen wird. Die große, neue Rheinstraße belebt sich und die Umgegend mit modernen, soliden Gestaltungen und Bestrebungen, mit Reisenden und Wanderern, welche ohne Furcht vor Hexen [93] und Kobolden eine der schönsten Gegenden des Rheinthales, die sich um den Königsstuhl herum gruppirt, bewundern und genießen. Dicht vor uns wälzt der Rheinstrom seine grünlichen Wellen langsam und majestätisch durch das Thal; auf dem jenseitigen Ufer schaut von einem hohen Felsen die Marksburg herab, und zu deren Füßen lacht das Städtchen Braubach hervor. Nicht weit davon nistet behaglich Oberlahnstein zwischen blühenden oder fruchttragenden Obstbäumen in einem stillen Thale, das von der Lahn und dem Rhein umspült wird. Daraus hervor hebt sich die Burg Lahneck, der vierhundert Fuß hohe Allerheiligenberg mit einer Capelle, und am Einflusse der Lahn das alte romantische Bauwerk der Johanniskirche. Aus dem Rheine selbst streckt sich die Insel Oberwerth mit dem Zauberschlößchen eines Landhauses empor; rechts grünt in bläulicher Umduftung der Lützelforst, auf der linken Seite erhebt sich das majestätische Schloß Stolzenfels, und vom Westen her duften die schönsten Wiesenthäler zwischen waldbekränzten Höhen in malerischer Vielgestaltigkeit heran auf die Stätte, von welcher die Säulenhallen des Königsstuhls emporragen, stets bereit, das neue Oberhaupt eines neuen vereinigten und freien Deutschlands, dessen Wähler und die Vertreter eines glücklichen Volks zu begrüßen.

Wie gering auch manche Hoffnungen sein mögen, daß aus dem jetzigen deutschen Parlamente ein solches majestätisches Haupt, die Persönlichkeit dieser Einheit und Freiheit, hervortreten werde, so wollen wir doch nicht verzweifeln, sondern freudig hoffen und arbeiten, um einem solchen glücklichen Ereignisse die Stätte zu bereiten und den Königsstuhl zu schmücken, auf dem vielleicht bald der Kaiser Barbarossa, wenn nicht mit Haut und Haar, so doch im Geiste und der Wirklichkeit der neuen Zeit Platz nehmen und den vereinigten Fürsten und Völkern den Schwur leisten mag, daß er die deutsche Einheit und Freiheit gegen alle „Dispensation, Relaxation, und Abolition“ schützen und wahren und in rechtsgetreuer Uebereinstimmung mit den Vertretern des Volkes zum Heile aller deutschen Stämme und Parteien zu immer schönerer Blüthe und Frucht stärken wolle.




Pariser Bilder und Geschichten.
Seltsamer Beruf.


Vor einigen Jahren überfiel mich im Odeontheater plötzlich heftiges Unwohlsein, ich mußte nach Hause fahren. Die drei Treppen zu meinem Zimmer schienen mir fast unersteiglich; ich legte mich, kaum oben angekommen, in mein Bett und versank in jenen unbehaglichen Zustand, welcher in der Regel der Vorbote nervöser Fieber ist. Halb träumend mochte ich mehrere Stunden allein gewesen sein, als ich eine sehr angenehme Männerstimme sagen hörte: „Wie geht es Ihnen, mein Herr? Ich werde Ihnen einen Arzt holen.“

Der liebenswürdige deutsche Arzt, Dr. Otterburg, kam; nach einigen Wochen war ich wieder völlig hergestellt. Als ich im Hause nach dem Herrn fragte, der mir hülfreich erschienen war, erfuhr ich, daß derselbe den Namen Albanus führe, nur zwei Monate mein Hausgenosse gewesen sei und daß man seine jetzige Wohnung nicht wisse. Herr Albanus hätte, als mein Zimmernachbar, mich seufzen gehört, daraus geschlossen, daß ich sehr krank sei, und den Arzt gerufen. Da ich mich in sicheren Häusern des Nachts niemals einschließe, hatte er ohne Mühe zu mir kommen können.

Gern hätte ich dem Herrn für seine Güte gedankt, allein, so oft ich ausging und mich nach ihm umsah, niemals begegnete er mir. Wie krank ich mich auch gefühlt hatte, Albanus’ Erscheinung hatte mir einen tiefen Eindruck hinterlassen, und seiner hohen Gestalt, seiner schönen Stimme, sowie seiner großen, stahlgrauen Augen erinnerte ich mich sehr wohl.

Einmal, als ich dem Bau des Ausstellungsgebäudes zuschaute, fiel mir ein Blousenmann auf, welcher dem vorüberreitenden Kaiser ein „Vive l’Empereur!“ zurief, in das alle Arbeiter einstimmten. Gestalt und Augen erinnerten mich an Albanus, doch unmöglich konnten sich die Verhältnisse des Mannes so schnell geändert haben, daß er jetzt eine Blouse tragen mußte.

Im März vorigen Jahres besuchte ich in der Gemäldegalerie des Louvre meinen Freund, den Maler Gilbert. Vor einem großen Historienbilde stand ein modern gekleideter Herr neben einem kleinen Mädchen.

„Haben Sie jemals ein reizenderes Kind erblickt, Eugen?“ flüsterte Gilbert mir zu; „ich wünschte mir schon oft, es säße mir einmal.“

„In Wahrheit, ein schönes Wesen! In sechs Jahren wird es Aufsehen erregen.“

Die Stimme des Begleiters der Kleinen war mir aufgefallen; sie, sowie Gestalt und Augen – obgleich letztere durch die Brille bedeckt – mahnten mich an Albanus. Ich schritt grüßend auf ihn zu; er blickte mich gleichgültig fragend an, als habe er mich niemals gesehen.

„Sie erinnern sich meiner wohl nicht mehr, mein Herr? Als Sie in der Rue Richelieu wohnten –“

„Verzeihen Sie, mein Herr, ich habe niemals in der Rue Richelieu gewohnt und entsinne mich nicht, jemals in Paris oder wo anders die Ehre gehabt zu haben, Ihnen zu begegnen.“

Ich murmelte eine Entschuldigung und ging wieder zu Gilbert.

„Kennen Sie diesen Herrn, Eugen?“

„Nein, ich irrte mich, eine Aehnlichkeit – wissen Sie, wer er ist?“

„Er kommt oft mit der schönen Kleinen hierher, welche großes Interesse an Gemälden zu haben scheint. Ich habe einige Male an der Table d’hôte im Hotel Mirabeau ihm gegenüber gespeist. Dort hörte ich ihn von Anderen Baron nennen.“

Einige Tage später besuchte mich ein Vetter aus Deutschland, welcher bisher stets in einem schlesischen Städtchen gelebt hatte; Paris war die erste Großstadt, welche er sah. Ich machte seinen Führer, und da das schönste Wetter uns begleitete, waren wir sehr heiter. In lebhaftem Gespräch wandelten wir eines Morgens im Luxembourg-Garten umher. Ueberall war es schon grün und der Duft der Frühlingsblumen, die hier in reichster Fülle zu sehen sind, stimmte uns freudig.

Eben standen wir auf der Terrasse, ich betrachtete die Statue der Anna von Bretagne, als ich meinen Vetter lebhafter, als es seine Weise ist, ausrufen hörte: „Ha, welch’ schönes Kind!“

Ich sah mich um und erblickte dasselbe Mädchen, das ich schon im Louvre bewundert hatte, leicht und anmuthig am Arme ihres Vaters uns entgegen kommen.

„Wollen wir heimkehren, Julie?“ fragte der Baron neckend in französischer Sprache.

Das Mädchen schüttelte den Lockenkopf und erwiderte so recht in der Art eines verzogenen Kindes: „Nein, Papa, noch lange nicht.“

Jetzt wußte ich es ganz gewiß, Julie’s Vater war kein Anderer, als mein Herr Albanus. Da er mich aber kürzlich nicht hatte kennen wollen, so ging ich fremd an ihm vorüber, im Gespräch mit meinem Vetter, der unaufhörlich fragte und dabei seine Bewunderung über Paris aussprach.

Spioniren ist nicht meine Weise, beobachten aber muß der Schriftsteller, denn kein aus Büchern geschöpftes Wissen kommt den Erfahrungen gleich, welche das Leben uns bringt, wenn wir nur zu leben gelernt haben. Wie Alles in der Welt, will auch das Leben gelernt sein. Also beobachtete sich das reizende Mädchen und den stattlichen Mann und sah jetzt, daß ein Herr rasch auf ihn zuschritt; der Letztere war kein Anderer, als der Präfect der Seine, Herr Haußmann. Beide Herren sprachen mit einander halblaut; natürlich hielten wir, mein Vetter und ich, uns in anständiger Entfernung von den Redenden.

Um meinem Verwandten so viel wie möglich von Paris zu zeigen, führte ich ihn an diesem Tage in ein Hotel zum Speisen, welches er noch nicht kannte, wo meist Engländer, Deutsche, Amerikaner, [94] aber wenig Franzosen zu treffen sind und wo man stets eine gute Tafel und leichten Burgunder findet. Ein alter Edelmann, seiner politischen Gesinnung nach Legitimist, sprach sich gegen die herrschende Geschmacksrichtung in Paris aus; er tadelte das einförmige Repertoir der großen Oper, die Unsittlichkeit und Plattheit einiger neuen Dramen und sagte entrüstet: „Nie wäre bei den Bourbons, ja nicht einmal bei den Orleans, eine Therese in die Tuilerien gekommen!“

Mir gegenüber saß ein Herr, dessen Gesicht von einem dunklen Barte fast über die Hälfte beschattet war, seine großen Augen erinnerten mich lebhaft an den Baron und an Albanus; er sprach gar nicht, speiste mit vielem Appetit und während er sich eine Orange schälte (wobei seine aristokratischen Hände und ein Ring mit einem herzförmigen Rubin sichtbar wurden), bestellte er sich eine Flasche Champagner. In diesem Moment brachte ein Kellner dem Herrn ein kleines Billet. Er las es, runzelte die Stirn und zerriß es in kleine Stücke. Rasch stürzte er zwei Glas Champagner hinab und stand auf.

Mein Vetter fragte einen Herrn, in welchem der Theater der Kaiser am häufigsten zu sehen sei.

„Wenn Sie ihn heut’ sehen wollen, mein Herr, so besuchen Sie das Théâtre de la Gaieté,“ bemerkte höflich der Baron, dann verließ er, flüchtig grüßend, den Speisesaal.

„Hm,“ brummte der Edelmann, „woher hat denn dieser Herr so genaue Kunde über die Zeiteintheilung unserer Majestät?“

„Dieser Herr kann das leicht wissen,“ sprach der Hotelbesitzer; „er hat in den Tuilerien einen Cousin, der ist, glaube ich, viel um den Kaiser, einer seiner Lieblingsdiener.“

„Dann wollen wir gehen, ich hoffe, wir finden noch Platz,“ bemerkte ich. „Bitte, wie nennt sich jener Herr, und kennen Sie ihn schon lange?“

Der Hotelbesitzer erwiderte: „Gewiß, er speist schon seit vier Jahren allwöchentlich einmal bei mir; er heißt Herr von Albanus.“

„Ist der Herr Franzose?“

„Seiner Sprache nach, auch sagt er es selbst, doch habe ich ihn schon Deutsch, Englisch, Italienisch, Spanisch und Polnisch sprechen hören, stets sehr geläufig, so weit ich es zu beurtheilen vermag.“

Eine halbe Stunde später saßen wir, mein Vetter und ich, im Théâtre de la Gaieté und zwar auf Plätzen, welche uns gestatteten, den Kaiser, falls er das Theater besuchte, deutlich zu sehen. Kurz vor Beginn der Vorstellung trat Napoleon der Dritte in seine Loge. Er ward mit Enthusiasmus empfangen, man klatschte und rief: „Vive l’Empereur!“ Besonders that sich ein Herr hervor, welcher zwei Ordensbändchen im Knopfloche trug, indem er applaudirte, als ob eine von ihm leidenschaftlich geliebte Theaterkönigin erschienen wäre. Ich faßte ihn scharf in das Auge. Er war es, aber diesmal ohne großen Bart, er, Albanus, der Baron, der Vater der schönen kleinen Julie. An seiner feinen Hand funkelte der herzförmige Rubin, den ich vor einer Stunde im Hotel bewundert hatte. Ob er auch mich sah, konnte ich nicht bemerken; es schien mir aber, als habe er seine Augen überall, wie ein Chef der Claque. Der Kaiser trat an die Logenbrüstung und dankte freundlich nach allen Seiten hin.

Nach dem Theater gingen wir in ein nahe gelegenes Restaurant zum Speisen. Zufällig trafen wir hier auch Gilbert.

„Wissen Sie schon, welch’ ein Glück mir zu Theil geworden ist, Eugen?“ rief er mir entgegen.

„Nein.“

„Ich bin der Lehrer des schönen kleinen Mädchens geworden, das wir neulich in der Galerie sahen; sie hat ein merkwürdiges Talent für Malerei. Ihr Vater hat mich im Louvre malen sehen und gefragt, ob ich seine Tochter unterrichten wolle. Natürlich sagte ich mit Freuden Ja.“

„Wer ist der Herr? wo wohnt er? hat er mehr Familie?“

„Albanus, Herr von Albanus, er bewohnt ein mit Rasenplätzen und blühendem Gebüsch umgebenes Landhaus unweit von der Villa Rossini. Seine Gattin, eine Deutsche, ist ebenso schön, wie das Kind, kaum dreißig Jahre alt. Andere Kinder hat das Ehepaar nicht, welches sich zärtlich liebt. Ich fahre wöchentlich zweimal zu meiner Schülerin, deren erste Versuche mich mit Staunen erfüllt haben.“

„Was ist das Geburtsland des Herrn von Albanus?“

„Ich weiß es nicht, er nennt sich einen Kosmopoliten, Eugen.“

„Im Vertrauen gesagt, Gilbert, ich halte den Herrn, ungeachtet er sicher nicht ohne Gutmüthigkeit ist, für ein Mitglied der geheimen Polizei, deren Dasein man nicht sofort bemerkt, die aber vorhanden ist.“

„Hahaha, Unsinn!“ versetzte er. „Albanus war, auch im Vertrauen gesagt, im Jahre 1848 in Deutschland auf den Barricaden; er ist aus Oesterreich und Preußen verbannt. Uebrigens lebt er zwar sehr anständig, doch durchaus nicht luxuriös, und man darf seine Gattin, sein Kind, ihn selbst nur ansehen, so weiß man, daß dieser Mann nicht fähig ist, einen Andern in’s Gefängniß zu liefern.“

Ich sagte nichts mehr, sondern dachte, was ich wollte. Das herrlichste Aprilwetter lockte meinen Cousin in das Boulogner Wäldchen. Gern begleitete ich ihn, der sehr wünschte, bei dieser Gelegenheit den kaiserlichen Prinzen spazieren reiten zu sehen. Das Glück war ihm günstig; auch der Kaiser kam gefahren, stieg aus und schlenderte sorglos, als habe es nie einen Pianori oder Orsini und ihre Bomben gegeben, zwischen den Lustwandelnden umher, obgleich einige Blousenmänner, wohl auch einer oder der andere den Landmann aus der Provinz verrathende Spaziergänger dem Kaiser ziemlich nahe kamen. Am nächsten betrachtete ihn ein Herr, dessen Anzug und Art, den Hut zu tragen, ihn als Engländer kennzeichneten. Als er dem Beherrscher der Franzosen fast ganz auf den Leib gerückt war, grüßte er ehrerbietig, der Kaiser erwiderte diesen Gruß und lächelte.

Mein Vetter raunte mir in das Ohr: „Der Kaiser ist doch ein Mann voll Muth.“ Ich antwortete nicht, denn ich heftete meine Blicke nur auf den Engländer. Ohne Bart, ohne Brille stand er da, kein Anderer als – Albanus. Unwillkürlich mochte ich ihn ziemlich lange angestarrt haben, denn ich bemerkte, daß er die Farbe veränderte.

Mehrere Abende hintereinander hielt mich Arbeit in meinem Zimmer, erst nach einigen Tagen ging ich wieder in’s Freie. Wie von einem Magnet angezogen, schlug ich den Weg nach der Villa Rossini ein und suchte in deren Nähe mir unter mehreren kleinen Häusern und Villen die auf, welche ich mir als Wohnung der Familie Albanus vorgestellt hatte. Endlich sah ich Rasenplätze, blühende Goldregen-, Schneeball- und Syringenbüsche. Zwischen ihnen spielten zwei anmuthige Gestalten Federball, eine schöne, schlanke Mutter mit ihrem reizenden Töchterchen, mit Julie. Indem ich Beide in einiger Entfernung betrachtete, kam ein Herr aus dem Hause, sah sich forschend nach allen Seiten um, gewahrte mich und ging rasch, ohne Mutter und Tochter bemerken zu wollen, dem Innern der Stadt zu. Um nicht indiscret zu erscheinen, schritt auch ich davon, ohne Albanus zu beachten. Die herrliche Frühlingsluft lockte mich immer weiter. Es war nur angenehm, endlich einmal auf längere Zeit dem Pariser Straßenlärm entronnen zu sein, und ohne mich sonderlich um meine Umgebungen zu bekümmern, ging ich in Gedanken vertieft in’s Blaue hinein. Endlich sah ich mich um und gewahrte ein kleines, einsam stehendes Haus, dessen Schild den Gasthof anzeigte. Ich trat ein; im Zimmer, in das ich kam, sah es nicht eben elegant, aber doch behaglich und sauber aus. An einem Seitentische saßen zwei bärtige Männer, deren Mienen nichts Vertrauenerweckendes hatten, hinter ihrer Flasche. Sie sprachen wenig, Französisch, aber mit ausländischem Accent, ich hielt sie für Italiener. Ich bestellte mir Wein und erhielt vortrefflichen. Der Wirth setzte sich an einen großen Tisch und speiste mit vielem Appetit, ich selbst bekam Hunger und ließ mir die aufgetragenen Speisen schmecken. Auf die Männer am Seitentische achtete ich wenig, und als ich einmal aufblickte, sah ich, daß sie eben aufstanden und fortgingen. Als ich mit dem Wirthe allein war, sagte derselbe zu mir: „Sind Sie nicht ein Deutscher, Herr?“

„Allerdings, mein Herr.“

„Dann sind wir Landsleute,“ gab er mir zur Antwort. „Wüste Gesellen, welche eben fortgingen! denken Sie aber deshalb nichts Uebles von meinem Hause und sprechen Sie wieder zu. Ein Wirth kann eben seine Gäste nicht wählen.“

„Sehr natürlich. Halten Sie jene Männer für gefährlich? Und in wie fern?“

„Hm, man kann freilich nicht immer nach den Gesichtern urtheilen, aber unter zehn Mal trifft es doch neun Mal zu, daß, [95] wer eine böse, wilde Denkungsart hat, etwas davon auch auf dem Gesicht geschrieben trägt. Ich will nicht behaupten, daß jene Leute Strauchdiebe oder noch Schlimmeres sind, doch – sind Sie schon lange in Paris?“

„Ziemlich lange, aber ich wohne im Herzen der Stadt und habe diese Gegend bisher noch nicht gekannt.“

„Hm, es kommt nicht Alles in die Zeitungen, ja, von Manchem erfährt sogar unsere tüchtige Polizei nichts. Ich möchte nicht, daß einem Landsmanne auf dem Heimwege Unheil widerführe. Einen derben Knotenstock gebe ich Ihnen gern, oder –“

„Unbesorgt, ich gehe nie ohne Stockdegen aus.“

„Das ist gut. Herr Landsmann, es giebt in Paris viel Glanz und Reichthum, aber auch viel Noth und Elend und – Verbrechen. Die Wohnungen und Lebensmittel sind eben doch zu theuer für die Hälfte der Einwohner. Da geschehen denn Räubereien und Mordthaten unter den geringeren Classen der Gesellschaft, Betrügereien und Schwindel in den höhern. Die große Weltausstellung soll freilich viele Wunden heilen; nun, wir wollen sehen!“

Es war schon dunkel, als ich den Gasthof verließ. Der Mond war noch nicht aufgegangen, und in jener Gegend noch fremd, verirrte ich mich und stand plötzlich auf einem großen, öden Platze. Ich wußte nicht, sollte ich mich rechts oder links wenden, um zu meiner Wohnung zu gelangen. Unentschlossenheit liegt mir fern, also schritt ich tapfer darauf zu, irgend wohin mußte ich doch kommen und endlich einem Fiaker begegnen, der mich aufnahm und heimfuhr.

Jetzt ging der Mond auf, ich erblickte die Thürme einiger mir bekannten Kirchen und wußte nun, welchen Weg ich einzuschlagen hatte. Plötzlich, als ich um eine Ecke bog, sah ich in geringer Entfernung drei dunkle Gestalten. Es waren zwei Männer, welche mit einem Dritten rangen, der sie um Kopfeslänge überragte. Instinctiv zog ich meinen Degen aus der Scheide und eilte dem Manne zu Hülfe, welcher sich bisher nur mit seinen Armen löwenmäßig gegen die beiden Männer gewehrt hatte. Als dieselben meine blanke Waffe im Strahl des Mondes blitzen sahen, flohen sie; das Seil, mit welchem sie den Angegriffenen hatten binden wollen, war auf dem Boden liegen geblieben.

„Tausend Dank, mein Herr, Sie kamen zur rechten Zeit,“ sagte mein Geretteter, in dem ich zu meinem nicht geringen Staunen Albanus erkannte.

„Sie sind es, mein Herr?“ rief ich unwillkürlich aus. „Seltsam, Sie hätte ich für vollkommen sicher gehalten.“

„Ich weiß, was Sie damit sagen wollen, mein Herr,“ erwiderte er. „Sie halten mich für ein Mitglied der geheimen Polizei und haben folglich ein Vorurtheil gegen mich, gestehen Sie es nur.“

„Ich kann es nicht leugnen; konnte ein Mann von Ihren Naturgaben nicht einen andern Beruf wählen?“

„Wählen? Wie weit geht die Wahlfreiheit des Menschen und wie groß ist die unsichtbare Macht des Schicksals? Ich fühle mich ermattet; wollen Sie mich begleiten, so gehen wir in ein gemüthliches Restaurant und ich erzähle Ihnen meine Lebensgeschichte. Ich habe einmal Ihnen einen Dienst geleistet, vielleicht wäre wenige Stunden später der deutsche Arzt zu spät gekommen, Sie haben mir heute sicherlich das Leben oder, was dasselbe ist, die Freiheit erhalten; ich bin Ihnen großen Dank schuldig. Jene Feigen wollten mich berauben oder tödten, ohne Sie –“

„St! Welcher Mann ginge vorüber, wenn er Zwei gegen Einen sieht, der waffenlos ist?“

„Ganz richtig, dennoch danke ich Ihnen. Ich sehne mich, einem Manne, den ich achte, zu erklären, daß ich etwas Anderes bin als ein Spion oder Verräther. Wollen Sie mich hören und mein Geheimniß bewahren? Denn ich habe bemerkt, daß Sie mich in meiner letzten Verkleidung erkannten, und wünsche nicht, daß Sie davon sprechen möchten.“

„Ich begleite Sie, und keine Seele in Frankreich soll hören, was Sie mir vertrauen; auch Ihr Name soll streng verschwiegen bleiben, sollte ich jemals einem Freunde von Ihrem seltsamen Berufe, den ich jetzt fast errathe, etwas mittheilen.“

Was Albanus mir erzählte, ist Folgendes; ich lasse ihn selbst sprechen: „Mein Großvater väterlicher Seite war ein Deutscher, seine Gattin eine Italienerin, von welcher ich als Knabe Italienisch lernte. Meine Mutter war ein Pariser Kind, ihr Vater ein Franzose, ihre Mutter Engländerin, ich selbst wurde in Wien geboren. Ich besaß einen rastlosen Geist, viel Phantasie, aber wenig Lernfähigkeit, ich lernte von Eltern und Großeltern spielend gleichzeitig vier Sprachen, Lateinisch und Griechisch in den Schulen, außerdem aber mehr durch das Leben als durch Bücher.

Meine Eltern waren wohlhabend; kleine Reisen nach England und Frankreich abgerechnet, lebte ich stets in Wien, das angenehme Wiener Leben der dreißiger und vierziger Jahre. Der liebste Mensch auf Erden war mir ein Wiener, auch er lebte nur für mich. Ferdinand war mir Gespiele, Freund, Bruder, später auch mein Schwager, denn seine einzige Schwester wurde meine Gattin. Meine Großeltern starben, als ich eben in das Jünglingsalter trat, meine Eltern gleichzeitig an der Cholera, als ich neunzehn Jahre alt war. Das Jahr 1849 verminderte mein Erbtheil auf die Hälfte; ich hatte in Wien auf den Barricaden gestanden und mußte fliehen.

Ich schrieb mehrere Dramen, Herr, es ist Blut und Leben darin, aber ich brachte nicht eins davon zur Aufführung. Karl Stuart der Erste, Papst Sixtus der Fünfte, der Letzte der Piasten, interessante, aber verbotene Stoffe. Ich wählte andere Gegenstände, kam aber bald zu der Ansicht, daß bei allen Theaterdirectoren der Welt das Werk Nebensache, die Person des Dichters Hauptsache ist. Hat ein Autor, ich spreche von edleren, nicht vom Possenschreiber, keine hohe Protection, oder Verbindungen, Hülfe von der Presse oder viel Geld, so muß er auf Aufführungen verzichten.

Ich lernte bald genug die Welt kennen, dadurch ward ich Philosoph und jagte nicht mehr dem Unerreichbaren nach. Ich übersetzte, schrieb für Zeitungen, aber ich erwarb damit nicht genug, um den von mir zärtlich geliebten Meinigen eine angenehme Existenz bereiten zu können. Meine Phantasie ist immer geschäftig, ich würde eine ganze Reihe interessanter Romane geschrieben haben, wenn ich die Fähigkeit besäße, täglich mehrere Stunden still zu sitzen. Zufällig lernte ich einen Mann von großem Einfluß kennen, er brauchte meine gründlichen Sprachkenntnisse und trug mir einen Posten an, zu der Zeit, wo mein Ferdinand gestorben und ich vor Betrübniß nicht fähig war, irgend etwas als Schriftsteller zu leisten. Um meinen Posten genügend auszufüllen, bedurfte ich nur Muth, scharfe Augen, ein wenig theatralisches Talent und Sprachkenntnisse. Ich habe oft mehrere Tage nichts zu thun, dann wieder viel. Ich bekomme einen anständigen Gehalt, brauche weder zu lauschen noch zu denunciren, ich muß nur – so will es mein für die Sicherheit des Cäsars besorgter Vorgesetzter – überall, wo Er sich zeigt, in seiner Nähe sein, und damit es nicht auffällt, in verschiedenen Costumen. Ich habe die Augen offen zu halten nach allen Seiten hin, darin besteht mein ganzes Geschäft!“

„Ihr ganzes Geschäft?“ sagte ich lachend. „Etwas mehr thun Sie doch wohl, es ist ein wahres Wort, was Bulwer sagt: ‚Die Masse ist träge und stumpf, Einer muß sie leiten‘, und ich habe schon mehr als einmal gesehen, wie Ihr Händeklatschen und Vivatrufen die Menge anfeuerte, es Ihnen gleich zu thun.“

„Nun ja, Jeder, er stehe so hoch er wolle, bedarf den Beifall des Publicums; übrigens, da ich Niemandem schade, schäme ich mich meiner Wirksamkeit nicht, wenn sie auch, wie die meiner Collegen, eine geheime bleiben muß, und sollte es sich fügen, daß ich ein Attentat vereitelte, so würde ich froh darüber sein, denn der schnelle Tod dieses einen Mannes kann für die ganze civilisirte Welt große Folgen haben.“

Auf dem Heimwege sagte ich zu mir selbst: „Wieder einer jener Menschen, die man nur in Paris finden kann. Sein Beruf ist ein Zeichen der Zeit!“

Ueber so Manches, was mir bisher unbekannt geblieben, war mir jetzt ein helles Licht aufgegangen, und ich dachte nun wieder besser von dem Manne als vorher. Gesehen habe ich Albanus einige Male von fern, gesprochen seit jener Unterredung nicht wieder.



[96]
Blätter und Blüthen.


Eine Messe in der Sistina. Der Zutritt zu den Feierlichkeiten einer päpstlichen Messe in der Sixtinischen Capelle ist bei der Beschränktheit des Raumes ein Privilegium der Fremden geworden. Diejenigen, welche im schwarzen Frack erscheinen und sich als Fremde legitimiren, werden eingelassen, Einheimische dagegen zurückgewiesen. Der römische Volkswitz behauptet daher, daß man erst Ketzer werden müsse, um den Papst fungiren zu sehen. Für die Damen besteht der vorgeschriebene Anzug in schwarzseidener hoher Robe, in schwarzem Schmuck und einem schwarzen Spitzenschleier statt des Hutes, ein Costüm, in welchem die Ladies sich theilweise recht sonderbar ausnehmen.

Den Aufgang zur Capelle, welche bekanntlich im Vatican liegt, bildet die sogenannte Scala regia, eine prachtvolle Treppe mit großem Porticus, welche, vom seitwärts einfallenden Sonnenlichte erhellt und von Schweizern, Cardinälen, Pagen und Abbés belebt, ein unvergleichliches Interieur bildet. Beim Eintritt in die Capelle selbst wird man durch deren Einfachheit überrascht. Während die meisten Kirchen Roms mit Gold und Marmor überladen sind, besteht hier der einzige Schmuck in den berühmten Fresken Michel Angelo’s, welche vom Zahne der Zeit schon bedeutend gelitten haben.

Zur Linken des Altars ist ein Thron für den Papst errichtet; an den Wänden umher läuft eine Sitzreihe, welche für die Cardinäle bestimmt ist; die Sänger befinden sich in einem vergitterten Balcon zur Rechten, und das Ganze wird von dem für das Publicum bestimmten Raume durch eine Schranke getrennt, deren Eingang von einer Dragoner-Wache mit gezogenen Schwertern besetzt ist. Im Uebrigen versieht die Schweizergarde den Dienst, große, bärtige Leute im Costüm der Landsknechte des Mittelalters, mit mächtigen Hellebarden bewaffnet. Auch alle übrigen handelnden Personen erscheinen in ihrem alten, historischen Costüm: die camerieri segreti (Kammerherren) im schwarzen, spanischen Anzuge, die Sänger in violetter Seide mit einem Spitzenkragen, der Senator (Bürgermeister) von Rom im langen Purpurgewande mit einem Gefolge von sechs kleinen Pagen. Allmählich kommen die Cardinäle angefahren, jeder in einer schwerfälligen rothen Carosse mit schwarzem Gespann. Die drei Diener, welche vorschriftsmäßig hintenaufstehen müssen, tragen merkwürdigerweise lange Kutschermäntel und haben auf dem schmalen Brete kaum Platz, so daß man jeden Augenblick erwartet, einen herunterfallen zu sehen. In die Capelle folgt der Eminenz nur ihr Hausabbé, welcher die Schleppe trägt, das rothe Gewand und den Hermelinkragen zurechtzupft und dann auf einer niedrigeren Sitzreihe zu den Füßen seines Herrn und Meisters sich niederläßt. Uebrigens sieht man es diesen einst so furchtbaren Kirchenfürsten an, daß ihre Rolle in der Geschichte ausgespielt ist. Nur wenige Gesichter haben noch den Ausdruck geistlichen Hochmuths; die übrigen sind gutmüthige Greise, welche sich kaum die Mühe nehmen, die eingelernte Rolle mit Würde zu spielen. Der einzige bedeutende Kopf ist Antonelli, welcher ohne Affectation seine Ueberlegenheit zur Schau trägt. Wenn die Cardinäle versammelt sind, so treten durch die rechts vom Altare in den Palast führende Thür verschiedene Hausprälaten, Kammerherren und sonstige Würdenträger ein, deren Erscheinen die baldige Ankunft des Papstes verkündet. Endlich erscheint dieser selbst, inmitten eines Schwarmes von geistlichen und weltlichen Hofleuten; die Cardinäle erheben sich, die Operngläser der Fremden richten sich auf die Thür, und die Sänger intoniren ein Halleluja. La santità del nostro Signore (wie der Papst in der officiellen Sprache heißt) trägt ein weißes, goldgesticktes Gewand und ist ein recht gut aussehender alter Mann von einnehmender Gesichtsbildung. Das Haupt schmückt bei dieser Gelegenheit nicht die dreifache Krone, sondern eine Art spitzer Bischofsmütze, welche mit Goldpapier überklebt ist und die ihm während der Ceremonie mindestens zehn Mal abgenommen und wieder aufgesetzt wird. Sobald der Papst auf dem Throne Platz genommen hat, beginnt der Handkuß der Cardinäle, indem diese in langer Procession, jeder mit seinem Schleppenträger hinter sich, die Stufen des Thrones hinansteigen, die vorgestreckte Hand des Papstes küssen und dann auf ihren Platz zurückkehren. Hiernach nimmt der eigentliche Gottesdienst seinen Anfang. Ein Mitglied der Prädicanten-Brüderschaft hält dabei eine lateinische Predigt, welche wegen der fremdartigen italienischen Aussprache unverständlich bleibt, der aber das Hauptverdienst einer Predigt, die Kürze, nicht abzusprechen ist.

Das Interessanteste bei der ganzen Ceremonie und ein wirklicher Kunstgenuß ist die Musik der päpstlichen Capelle, welche, wenn auch aus bekannten Gründen nicht mehr so vorzüglich, wie in alter Zeit, doch noch immer vortrefflich geschult ist und nur ausgezeichnete Compositionen alter Meister – Palestrina, Allegri u. A. – vorträgt. Es giebt in der Sistina weder eine Orgel noch Instrumentalmusik. Die Sänger executiren Alles allein, und es ist erstaunlich, wie sie im Stande sind, in langen Fugen, ohne Begleitung, mit größter Sicherheit den Ton zu halten. Dabei werden die einzelnen Figuren, Triller etc. mit außerordentlicher Präcision ausgeführt, und der strenge Stil der Compositionen macht einen um so wohlthuenderen Eindruck, als man bekanntlich sonst in den italienischen Kirchen ganz unpassende Sachen, Opernarien und Tänze, hört. –

Die Messen in der Peterskirche verlaufen in ähnlicher Weise, nur daß Alles noch feierlicher und glänzender ist. Der Papst erscheint hier in Procession, von acht Dienern auf der Sella gestatoria getragen, mit den beiden Pfauenwedeln zur Seite und die dreifache Krone auf dem Haupte. Der feierlichste Moment ist der, wo der Papst den Abendmahlskelch an den Mund setzt, alles Volk auf die Kniee sinkt und aus der Wölbung der Peterskuppel eine unsichtbare Musik wie vom Himmel herabtönt. Uebrigens ist das Ganze etwas anstrengend; denn nur für die Damen sind Sitzplätze reservirt; die Herren müssen während der ganzen Feierlichkeit stehen. Trotzdem verfolgt man die Ceremonie mit dem höchsten Interesse, denn als historisches Bild hat sie noch immer den größten Reiz. Man sieht hier den ganzen äußeren Apparat, womit das Papstthum Jahrhunderte hindurch die Welt beherrschte. Dieser Apparat ist mit einem meisterhaften Geschick zur Hervorbringung der größten Wirkung benutzt. Wie die Peterskirche – Alles in Allem genommen – gewiß das größte Bauwerk ist, welches Menschenhände geschaffen haben, die Pyramiden und die ägyptischen Felsentempel nicht ausgeschlossen, so hat auch kein anderer Cultus die berechnende Feierlichkeit und den mysteriösen Effect der päpstlichen Messen erreichen können. Aber der kritische Geist dringt endlich durch alle Hüllen, womit das Priesterthum sich umgeben mag. Kein theatralisches Gepränge kann zuletzt die Hohlheit des inneren Kernes verbergen, und einst wird die schmucklose Wahrheit den Thron einnehmen, welchen eine schlaue Theokratie so lange mit blendendem Glanze erfüllt hat.


Noch einmal das Thierleben an der Eisenbahn. Ich fuhr vor einigen Jahren sehr oft von der unsrer Stadt naheliegenden Station Bornitz, zwischen Riesa und Oschatz, nach Leipzig. Wie überall, wo die Bahn nicht vor der Thür, sondern entfernt vorübergeht, war auch ich immer zeitiger als nöthig in Bornitz und unterhielt mich bis zur Ankunft des Zuges mit dem freundlichen Bahnwärter Schmidt, der gleichzeitig als Billeteur fungiren muß, weil Bornitz Nebenstation ist. Die Bahn läuft dort eine ziemliche Strecke geradeaus und eines Tages, als ich wieder auf den Zug wartete und aus langer Weile auf einem Schienengleise balancirend hin und her ging, fiel mir in einiger Entfernung vom Bahnwärterhause ein dunkler Punkt in der unmittelbarsten Nähe der Schienen auf; ich befragte hierüber Schmidt, der mir denn sagte, daß dies ein „Lerchennest“ sei und daß die Alten eben jetzt Junge hätten. Ich ging sofort hin und fand seine Aussage zu meinem Erstaunen bestätigt. Das Nest war an der Außenseite der Schienen, wohlweislich, weil innen der Räderfalz geht (ist dies auch blos Instinct?), fest an die Schiene angebaut, und munter flogen die Alten ab und zu und fütterten. Spaßhaft, aber auch zugleich rührend war es, nach Aussage Schmidt’s, wenn ein Zug kam, als die Alte brütete, und später, als die Jungen ausgekrochen waren. Die Frau Mama hat sich beim Kommen des Zuges nicht vom Nest gerührt, sich niedergeduckt und erst nach Hinwegrollen des Zuges das Nest verlassen. Später, als die Jungen größer geworden, die Alte mithin dieselben nicht mehr bedecken konnte, die Jungen auch beim Kommen des Zuges unvorsichtig aus dem Neste guckten, hat Schmidt aus Vorsorge, es möchte einem derselben einmal doch das Köpfchen zerfahren werden, das Nest weggenommen und seitwärts an den Bahndamm gesetzt, wo denn auch sämmtliche Junge glücklich ausgeflogen sind.

Es ist dies jedenfalls ein neuer Beweis von der Vorliebe, mit welcher viele Thiere sich gerade an den Eisenbahnen heimisch machen, ein neues Beispiel zu den neulich in Ihrem Blatte angeführten, und es würde mir unglaublich erschienen sein, wenn ich nicht selbst es gesehen hätte.




Die Pfahlbauten des Neuenburger Sees. Seit einer Reihe von Jahren haben die zunächst in mehreren der Schweizer Seen aufgefundenen sogenannten Pfahlbauten, d. h. Ueberreste von Bauten und Geräthen aus einer vorgeschichtlichen Periode, aus der Stein- und Bronzezeit, das Interesse nicht nur der Gelehrten, sondern der gesammten gebildeten Welt auf sich gezogen und bereits eine förmliche Literatur hervorgerufen. Eine der bedeutendsten Schriften dieser letzteren ist das von dem bekannten Neuchâteler Geologen Professor E. Desor veröffentlichte Werkchen über die Pfahlbauten des Neuenburger Sees, von dem im Adelmann’schen Verlage zu Frankfurt a. M. Friedrich Mayer eine mit sehr gelungenen Holzschnitten ausgestattete deutsche Bearbeitung gegeben und das Smithsonion-Institut in Washington soeben eine illustrirte Uebertragung, der Congreß der Vereinigten Staaten selbst aber eine in zehntausend Exemplaren verbreitete Volksausgabe veranstaltet hat. Nichts dürfte wohl mehr für den Werth dieses Buches sprechen, auf das wir später ausführlicher zurückzukommen denken, als dieser letztere Umstand.




Berichtigung. In unsere kleine Notiz über Koberstein’s vortrefflichen „Grundriß der deutschen Nationalliteratur“[WS 2] hat sich ein recht unangenehmer Irrthum eingeschlichen: der Verfasser des Buches ist nämlich noch nicht todt, sondern erfreut sich glücklicher Weise noch des besten Wohlseins. Allerdings war er aber bedenklich erkrankt, so daß schon verschiedene Blätter von seinem Tode berichtet hatten. Daher auch unser Irrthum. Möge sich der alte Volksglaube, daß ein Todtgesagter dafür um so länger lebe, auch an dem hochverdienten Lehrer der alten Schulpforte bewähren!
D. Redaction.




Inhalt: Die Brautschau. Ein Bild aus den oberbairischen Bergen. Von Herman Schmid. (Schluß.) – Das Haus mit den drei Leiern. II. Mit Illustrationen. – Hinter der Mainlinie. Kosmopolitische Weltfahrten und Erinnerungen. Nr. 4. Aus der „Sternkammer“ in Wiesbaden. – Auch ein heiliger Stuhl. Mit Abbildung. – Pariser Bilder und Geschichten. Seltsamer Beruf. – Blätter und Blüthen: Eine Messe in der Sistina. – Noch einmal das Thierleben an der Eisenbahn. – Die Pfahlbauten des Neuenburger Sees. – Berichtigung.




Die Deutschen Blätter, Literarisch-politische Feuilleton-Beilage zur Gartenlaube, Nr. 5 enthalten: Ein muhammedanisches Glaubensfest. – Umschau: Eine süddeutsche Stimme über das neue Deutschland. – Das Kaiserreich amüsirt sich. – Dramatischer Zeitstoff. – Krieg und Frieden. – Für die Schillerstiftung. – Ein Kabel-Roman. – Vorträge über den Gang der Weltgeschichte. – Ein glücklicher Gedanke.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. in der Vorlage: erschlossen; korrekt heisst es "verschlossen"
  2. Eine deutsche Literaturgeschichte, 1866, Heft 51