Die Gartenlaube (1869)/Heft 8

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 8.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Reichsgräfin Gisela.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)
7.

In diesem Augenblick schrillte eine heftig angezogene Klingel durch den Corridor. Lena, die ein Bündel Kleidungsstücke auf dem Arme trug, drängte sich hastig an den beiden jungen Leuten vorüber und verschwand in einem Seitenzimmer, dessen Thorflügel weit offen standen.

Drüben schalt eine Kinderstimme die Kammerjungfer wegen ihres langen Ausbleibens. Berthold hörte diese herrischen, aber trotz alledem doch so süßklingenden Laute zum ersten Mal; er bog unwillkürlich den Kopf vor. Eine lange Flucht von Gemächern schloß sich dem Boudoir an, in welchem er sich befand.

In der gegenüberliegenden Thür des anstoßenden Salons stand die kleine Gräfin, das Geschöpfchen, das den Nimbus eines feudalen, altberühmten Namens über der Stirn trug und mit seinen kleinen Füßen herrschend auf einem kolossalen Besitz stand. … Eine Portiere von dunkelviolettem Plüsch hing über dem blassen Gesichtchen und verlieh ihm einen häßlich gelben Ton – abstoßend vom Kopf bis zur Zehe stand das Kind dort, für diesen Moment selbst des einzigen Reizes verlustig, den es besaß: die braunen Augen mit dem sonst so weichen Blick sprühten vor Erbitterung und – Hochmuth.

Die Kleine nahm hastig einen Mantel von Lena’s Arm und warf ihn Über die Schultern; das strahlend rosenrothe Hütchen jedoch, das ihr die Kammerjungfer hinhielt, wies sie zurück.

„Es ist ja aber das Neueste!“ bat Lena. „Excellenz der Papa haben es gestern mitgebracht –“

„Ich will nicht,“ entschied die kleine Gräfin kurz und ergriff eine dunkle Capuze, in die sie das Köpfchen hüllte. Dann lockte sie Puß, der auf einem Kissen am Ofen lag, zu sich heran und nahm ihn auf den Arm.

Drunten fuhr donnernd ein Wagen vor. … Die Kammmerjungfer, die bereits in einem dicken Winterüberwurf steckte, warf eine Capuze über den Kopf – das Alles sah aus wie eine schleunige Abreise.

Jetzt erst, als sie sich zum Gehen anschickte, sah Gisela den Hüttenmeister, der währenddem in die Salonthür getreten war. Sie nickte ihm leicht, wie einem alten Bekannten, zu, aber das holde Lächeln, das auch er bisweilen an ihr gesehen, erschien nicht auf dem unschönen Gesichtchen.

„Ich fahre nach Greinsfeld,“ sagte sie trotzig. „Greinsfeld gehört mir ganz allein, hat die Großmama immer gesagt. … Papa will der Fräulein von Zweiflingen die Roxane schenken.“ …

„Wer ist denn Roxane?“ fragte der Hüttenmeister mit dem schwachen Versuch eines Lächelns – seine sonst so volle Stimme klang matt und tonlos.

„Nun, Großmama’s Reitpferd. … Fräulein von Zweiflingen soll reiten lernen, hat Papa heute bei Tische gesagt. … Die arme Roxane, ich hab’ sie sehr lieb und leide es nicht, daß sie so abgehetzt wird! … Und sehen Sie doch, das ganze Seezimmer hat Papa heraufschaffen lassen – die Großmama wird sehr, sehr böse sein im Himmel!“

Sie schritt aufgeregt dem Ausgang zu; aber noch einmal drehte sie sich um. „Ich hab’ dem Papa gesagt, daß ich Fräulein von Zweiflingen nicht leiden kann,“ sagte sie, den kleinen Kopf zurückwerfend – die tiefste, innerste Genugthuung klang noch aus jedem Laut. – „Sie ist unartig, gegen unsere Leute und sieht immerfort in den Spiegel, wenn sie mir Stunden giebt. … Aber da ist Papa furchtbar böse geworden – ich sollte sie um Verzeihung bitten, denn sie hatte ein ganz rothes Gesicht. … O, ich werde mich hüten! Es schickt sich nicht für mich, zu bitten, hat die Großmama immer gesagt –“

Sie brach plötzlich ab – der unten haltende Wagen rollte davon. Fast zu gleicher Zeit, wurde eine Thür am äußersten Ende der langen Zimmerreihe geöffnet, und wenn auch die allerorten liegenden dicken Teppiche die Fußtritte dämpften, so hörte man doch, daß ein Mann rasch näher schritt.

„Excellenz der Papa!“ flüsterte Lena.

Gisela wandte sich um. Jedes andere Kind würde in einer ähnlichen Lage Furcht und Angst empfunden haben, denn das Gefühl der Ohnmacht und Abhängigkeit bricht in entscheidenden Momenten unerbittlich selbst über die trotzigste Kinderseele herein – allein diese kleine Waise wußte ja, daß sie selbständig sei; um das aristokratische Bewußtsein in ihr zu erwecken, hatte man ihr das holde Gefühl kindlicher Abhängigkeit und Unterwerfung geraubt. … Sie drückte ihren Puß fest an sich und erwartete, unter die Plüschportiere tretend, ruhig ihren Stiefvater.

Der Hüttenmeister zog sich in den Hintergrund des Boudoirs zurück.

„Hochmüthige Brut! – Wie gut die kleine Schlange schon zu zischen versteht!“ murmelte der Student grimmig, indem er sich widerwillig neben seinen Bruder stellte – er hätte am liebsten das weiße Schloß mit all’ seinen Insassen im Rücken gehabt.

Der Minister war inzwischen näher gekommen.

„Ah – in der That reisefertig, mein Hühnchen?“ fragte er [114] mit kaltem Spott – wer aber die Stimme dieses Mannes genau kannte, der mußte sofort erkennen, daß ihn die gewohnte Ruhe verlassen hatte – er war offenbar tieferregt. „Also nach Greinsfeld wollte die Gräfin? Und Sie sind albern genug, sie bei dieser Farce zu unterstützen?“ fuhr er die Kammerjungfer an.

„Excellenz,“ vertheidigte sich das Mädchen resolut, „die Gräfin hat stets selbst befohlen, wenn sie ausfahren will, und uns Allen ist streng verboten worden, ihr zu widersprechen.“

Diesen gegründeten Einwurf völlig ignorirend, zeigte der Minister gebieterisch nach der Thür, hinter welcher die Kammerjungfer sofort verschwand; dann ergriff er ohne Weiteres die Katze, um sie nach ihrem Kissen zu jagen, und ebenso rasch nahm er dem Kind Mantel und Capuze ab und warf sie auf den nächsten Stuhl. … Währenddem hatte sein Gesicht jene förmlich versteinernde Ruhe wieder angenommen, die stets für Freund und Feind gleich unergründlich blieb. Auch nicht der leiseste Strahl von Zärtlichkeit fiel aus den tief niedergesunkenen Lidern auf die kleine Stieftochter, gleichwohl strich er liebkosend mit seinen schlanken, weißen Händen über ihren Scheitel – das Kind fuhr zurück wie von der Tarantel gestochen.

„Sei vernünftig, Gisela!“ mahnte er drohend. „Zwinge mich nicht, Dich ernstlich zu strafen. … Du wirst Dich mit Fräulein von Zweiflingen versöhnen, und zwar auf der Stelle, – ich will es noch sehen, ehe ich abreise.“

„Nein, Papa – sie kann wieder in’s Pfarrhaus ziehen, oder zu der alten, blinden Frau im Walde, die so bös war –“

Der Minister faßte erbittert die magere, zerbrechliche Gestalt und schüttelte sie heftig; zum ersten Mal in ihrem jungen Leben wurde die Kleine in der Weise gezüchtigt. – Sie schrie nicht, und die Augen blieben thränenlos, aber ihr Gesicht wurde weiß wie Kalk.

„Papa, Du darfst mir nichts’ thun – die Großmama sieht’s!“ drohte sie mit halberstickter Stimme.

Dieser peinlichen Scene machte der Hüttenmeister rasch ein Ende, indem er sich der Salonthür näherte und somit in den Gesichtskreis des Ministers trat. … Es gab wohl Wenige, die sich diesem Mann ohne Herzklopfen näherten – er war es gewohnt, niedergeschlagene Augen und ängstlich befangene Gesichter vor sich zu sehen – und jetzt stand da drüben im Seezimmer „unangemeldet“ die imposante Mannesgestalt, deren hochgetragener blonder Lockenkopf sich so kühn von dem leuchtenden, seidenrauschenden Hintergrund abhob – zudem überraschte der Eindringling den vollendeten Diplomaten in einem Moment, wo ihm die eiserne Maske vornehmer Ruhe entfallen – diese zwei „Tactlosigkeiten“ waren es ohne Zweifel, die das Gesicht Seiner Excellenz mit einer hohen Zornesröthe übergossen, während ein wahrhaft vernichtender Blick sich in die ernsten, furchtlosen Augen des Hüttenmeisters bohrte. Dies Alles aber war nur die Erscheinung eines Augenblicks.

„Ah, sieh da, Hüttenmeister Ehrhardt! … Wie kommen Sie denn hierher?“ rief der Minister, indem er mit eisernem Griff die widerspenstige kleine Gräfin auf den nächsten Fauteuil nöthigte. … Die Nonchalance und eiskalte Herablassung in seinem Ton, wie auch die meisterhaft markirte Verwunderung über die unverhoffte Anwesenheit des jungen Beamten in Seiner Excellenz Schlosse hatten etwas unbeschreiblich Verletzendes.

„Ich erwarte meine Braut,“ entgegnete der Hüttenmeister, ruhig in seiner nichts weniger als devoten Haltung verharrend.

„Ah so – ich vergaß –!“ Mit diesen Worten legte der Minister seine Hand über Stirn und Augen; diese feinen, schlanken Finger genügten jedoch nicht, die dunkle Gluth zu bedecken, die jählings über sein weißes Gesicht hinfuhr. … Er trat rasch das Fenster und trommelte auf den Scheiben, aber schon nach wenigen Augenblicken wandte er sich nachlässig um – sein Gesicht war blutlos und undurchdringlich wie immer.

„Soviel ich mich erinnere, haben Sie bei meiner jedesmaligen Anwesenheit in Arnsberg den Versuch gemacht, mich zu sprechen,“ sagte er. „Sie werden ebenso, wie alle Anderen, den Bescheid erhalten haben, daß ich lediglich nach dem weißen Schlosse komme, um mein Kind zu sehen, und für diesen Erholungstag alles Geschäftliche bei Seite gelegt wissen will. … Indeß, Sie sind einmal da, und wenn Sie“ – er zog seine Uhr und sah nach der Zeit – „Ihren Vortrag in fünf Minuten fassen können, so sprechen Sie. Aber, kommen Sie herüber – ich kann Ihnen doch unmöglich in Fräulein von Zweiflingen’s Zimmer Audienz ertheilen!“

Diese letzte Bemerkung sollte ironisch, leicht hingeworfen, klingen – einem feinen Ohr konnte der stille Ingrimm und eine Art von fieberhafter Hast in Ton und Wesen des Ministers nicht entgehen.

Er lehnte sich gegen den niedrigen Fenstersims, schlug die Füße übereinander und kreuzte die Arme, während der Hüttenmeister über die Schwelle trat und sich verbeugte. … Und wenn auch Seine Excellenz die höchste Eleganz und aristokratische Feinheit in jeder Bewegung entwickelte, wenn unsichtbar die Freiherrnkrone über seinem Haupte schwebte und sichtbar unzähligemal sich präsentirte auf Wagenschlag, Siegelring und Taschentüchern, wenn jeder Ausspruch seines bleichen Mundes, jeder Wink seiner Hand Tausenden zu denken und zu fürchten gab – er konnte sich doch nicht messen mit dem, der in diesem Augenblick ihm gegenüberstand.

„Excellenz,“ begann der Hüttenmeister, „ich wollte mir erlauben, das mündlich vorzutragen, was ich bereits schriftlich wiederholt, aber, ohne allen Erfolg –“

Der Minister erhob sich rasch und streckte ihm unterbrechend die Hand entgegen.

„Aha – bemühen Sie sich nicht weiter – nun weiß ich schon!“ rief er. „Sie wollen Zulage für die Neuenfelder Hüttenarbeiter, weil die Kartoffelernte schlecht ausgefallen ist. … Herr, Sie sind des Teufels mit Ihren ewigen Eingaben – Sie und der Neuenfelder Pfarrer! … Glauben Sie denn, wir schütteln das Geld aus dem Aermel und haben nichts Anderes zu thun, als Ihre Berichte zu lesen und uns um die armseligen Nester hier oben zu kümmern? … Nicht ein Pfennig wird bewilligt – nicht ein Pfennig!“ …

Er ging einige Mal auf und ab.

„Uebrigens,“ sagte er stehenbleibend, „ist es gar nicht so schlimm, wie Sie und noch so manche Andere uns weismachen möchten – die Leute sehen ganz gut aus.“

„Allerdings, Excellenz,“ erwiderte der Hüttenmeister und die schöne Purpurröthe, die sofort jede Gemüthserregung in ihm verrieth, stieg auch jetzt in seine Wangen, „noch ist die eigentliche Hungersnoth nicht über uns hereingebrochen – eben, um ihr vorzubeugen, bitten wir; wenn erst der Hungertyphus wüthet, dann ist es zu spät – der Sterbende braucht kein Brod mehr. … Es wäre unbillig, von der Staatsregierung zu verlangen, daß sie jede Calamität sofort in ihrem Ursprung erkenne – sie hat, wie Euer Excellenz sagen, mehr zu thun – aber ich meine, dazu sind wir ja auch da, die wir im Volke leben –“

„Mit nichten, mein Herr Hüttenmeister dazu sind Sie nicht da!“ unterbrach ihn der Minister – die schläfrigen Lider hoben sich abermals und ein unsäglich hohnvoller, verächtlicher Blick maß den jungen Beamten. – „Sie haben den Leuten ihren Wochenlohn auszuzahlen und damit basta – ob sie damit Auskommen oder nicht, ist ihre Sache. … Sie sind fürstlicher Diener, und als solcher haben Sie einzig und allein den Vortheil Ihres Herrn zu wahren –“

„Das thue ich redlich, wenn auch noch in einem anderen Sinne, als Euer Excellenz meinen,“ versetzte der Hüttenmeister fest – er war bleich geworden, blieb aber unerschütterlich ruhig. „Jeder Beamte, hoch oder niedrig, ist Diener des Fürsten und Volkes zugleich, ein vermittelndes Glied zwischen Beiden, in seiner Hand liegt es zum großen Theil, die Liebe des Volkes zu der herrschenden Dynastie zu befestigen. … Ich kann unserem Herrn nicht treuer dienen, als wenn ich um das Wohl und Wehe der wenigen seiner Landeskinder, die mein Wirkungskreis mit umschließt, rastlos besorgt bin und in dem Glauben lebe, ich sei auf diesen Standpunkt gestellt, um –“

„Genau wie der fromme Pfarrer von Neuenfeld!“ unterbrach der Minister mit einem spöttischen Lächeln den Sprechenden. „Der bringt auch immer seinen gottgesegneten Standpunkt! … Ja, ja, lauter Herren von Gottes Gnaden, die sich einbilden, in’s Regieren pfuschen zu dürfen! … Ich bin übrigens begierig, von Ihnen zu hören, wie wir die nöthigen Mittel beschaffen sollen, denn, ich wiederhole es, zu dergleichen Zwecken haben wir absolut kein Geld. … Soll vielleicht Seine Durchlaucht die für den Mai projectirte Vergnügungsreise aufgeben? Oder wünschen Sie, daß der heutige Hofball abgesagt werde?“

[115] Der Hüttenmeister biß sich auf die Lippen und die Finger seiner schönen, kräftigen Hand krümmten sich unwillkürlich zur Faust – der unglaubliche Hohn des Ministers mußte das friedfertigste Gemüth bis in seine tiefsten Tiefen empören; aber obgleich man das stürmische Herzklopfen in der Stimme des jungen Mannes hören konnte, er entgegnete doch sehr beherrscht: „Wenn unser Durchlauchtigster Herr wüßte, wie es hier oben steht, dann würde er sicher die Reise aufgeben, denn er ist edel. Und zur Ehre der Damen, die heute Abend bei Hofe erscheinen, will ich glauben, daß sie zu Gunsten der Hungernden auf das Vergnügen des Tanzes verzichten würden. … Es könnte Vieles anders sein, wenn –“

„Wenn ich nicht wäre, nicht wahr?“ unterbrach ihn der Minister, indem er mit einem sardonischen Lächeln auf die Schulter des jungen Mannes klopfte. „Ja, ja, mein Lieber, auch ich huldige dem göttlichen Princip, nach welchem die Bäume nicht in den Himmel wachsen dürfen. … Und nun genug! … Mir dürfen Sie am allerwenigsten mit dergleichen sentimentalen, völkerbeglückenden Ideen kommen, denn ich bin durchaus nicht Diener des Volkes – wie Sie vorhin so geistreich zu bemerken beliebten – sondern einzig und allein Hüter und Mehrer des dynastischen Glanzes – das ist mein Streben, ein anderes kenne ich nicht!“

Er ging mit auf dem Rücken gekreuzten Händen wieder auf und ab. Der Hüttenmeister hatte früher manchmal vor diesem Mann gestanden – im gewöhnlichen Verkehr entwickelte er bei aller undurchdringlichen Verschlossenheit der Außenseite doch so viel Liebenswürdigkeit, daß man für Momente vergaß, den bösen Feind des Landes in ihm zu sehen – es mußten außergewöhnliche Vorgänge in seiner Seele sein, welche die Leidenschaft so rückhaltslos auf die Oberfläche trieben. …

„Sie sind ein unverbesserlicher Schwärmer, ich kenne Sie!“ sagte er nach einer Pause stehenbleibend – wunderbarerweise klang seine erst so scharf zugespitzte Stimme plötzlich weich und wohlwollend. „Bei Ihrer sogenannten humanen Anschauungsweise müssen Sie sich hier oben unbehaglich fühlen – ich sehe das ein, kann Ihnen jedoch mit dem besten Willen nicht in der Weise helfen, wie Sie wünschen; … aber einen Vorschlag möchte ich Ihnen machen“ – die langen Lider legten sich bei diesen Worten tief über die Augen, es war unmöglich, auch nur einen Zug seines Gesichts zu entziffern, so starr und unbeweglich erschien es; – „es würde mir ein Leichtes sein, Sie in England brillant zu placiren.“ …

„Ich danke, Excellenz!“ unterbrach ihn der junge Mann eiskalt. „Als mein Vater starb, da legte er mir Zweierlei an’s Herz: die Sorge für meinen unmündigen Bruder und den dringenden Wunsch, daß ich dereinst seinen Posten am hiesigen Hüttenwerk bekleiden möchte. … Er war ein Neuenfelder Kind, ein wackerer Thüringer, der sein ganzes Leben lang nach Kräften gestrebt hat, seinen armen Landsleuten aufzuhelfen. … Und ich denke wie er, Excellenz! … Ich will mit ihnen leben und leiden – ich verdiente nicht, sein Sohn zu sein, wenn ich feig dem Elend den Rücken kehren wollte, das er muthig zu bekämpfen gesucht. …

„Nun, nun, ereifern Sie sich nicht!“ unterbrach ihn der Minister, indem er ihm mit wahrhaft vernichtender Ironie scheinbar besänftigend die Hand entgegenstreckte. „Leiden Sie immerhin, wenn es Ihnen Vergnügen macht!“ …

Die nächste Umgebung des Ministers würde in diesem Augenblicke gezittert haben – diese jähe Gluth, die häßliche rothe Flecken auf die weiße Stirn warf, war das untrügliche Anzeichen eines herannahenden Sturmes – er kam jedoch nicht zum Ausbruch. … Es war nur das leise Knistern und Rauschen seidener Gewänder, das sich dem Salon näherte, aber bei diesem feinen Geräusch schlossen sich die halbgeöffneten Lippen des gereizten Mannes wieder fest aufeinander; wie von einem elektrischen Schlag berührt, wandte sich sein Kopf nach der Zimmerreihe, dabei bewegte er die Hand hastig und gebieterisch als Zeichen der Entlastung nach dem Hüttenmeister zurück – allein, mißverstand der junge Beamte diese unzweideutige Geberde, oder wollte er, aller Etikette zum Trotz, eigenmächtig die Audienz verlängern? … Er wich nur bis an die Thür zurück, dort blieb er stehen, den Ausdruck eiserner Entschlossenheit auf dem blaßgewordenen Gesicht, während der Minister unter die Plüschportiere trat.

„Nun, meine beste Frau von Herbeck, ist Ihnen die Zeit unten gar so lang geworden, daß Sie meine Zurückkunft nicht erwarten konnten?“ rief Seine Excellenz der Gouvernante entgegen, die in Jutta’s Begleitung rasch auf ihn zuschritt.

„Ich konnte unmöglich annehmen, daß Excellenz noch einmal nach dem Speisezimmer zurückkehren würden,“ entgegnete die Dame, tief betroffen von dem heftigen Unwillen in seiner schneidend scharfen Stimme. „Der Wagen wartet bereits.“

Diesen Moment benutzte ein Bedienter, der den Damen gefolgt war – er meldete mit einem tiefen Bückling, daß Alles zur Abfahrt bereit sei.

„Ausspannen und um sechs Uhr wieder Vorfahren!“ herrschte ihm der Minister zu. Der verblüffte Mensch flog davon, wie eine fortgewirbelte Handvoll Spreu.

Mittlerweile glitt die kleine Gisela von ihrem Fauteuil herab, aber nicht, um der Verhaßten, die jeden Augenblick in den Salon treten konnte, aus dem Wege zu gehen. Sie war dem Wortwechsel zwischen ihrem Stiefvater und dem Hüttenmeister regungslos gefolgt; ihr kleines trotziges Herz mußte wohl über den Worten „Hungersnoth“ und „Sterben“ den eigenen Groll und Kummer für einen Moment völlig vergessen haben, denn ohne nur einen Blick auf den Minister und die draußen stehenden Damen zu werfen, trat sie vor den Hüttenmeister hin und fragte hastig, mit nicht zu verkennender Angst: „Haben die Kinder in Neuenfeld wirklich gar nichts zu essen?“

Bei diesen kindlichen Lauten fuhr der Minister herum – er hatte ohne Zweifel gemeint, der Bittsteller habe das Zimmer verlassen, und nun stand er noch dort, so „unanständig selbstbewußt und zuversichtlich“, als sei der Salon der kleinen Gräfin Sturm und das Schloß Seiner Excellenz des Ministers der Boden, auf den er von Rechtswegen gehöre.

Durch die rasche Wendung des Ministers war die Thür frei geworden, an deren Schwelle Jutta stand. Der Moment schien gekommen, wo dies junge Mädchen neidlos an das schimmernde Atlasgewand des mütterlichen Portraits denken konnte. … Sie hatte zum ersten Mal die tiefe Trauer abgelegt. Ein hellgrauer, schillernder Seidenstoff fiel in starren, schweren Falten von den Hüften nieder, um die Büste aber legte er sich glatt und knapp, einen wahren Silberschein über die plastisch hervortretenden, wundervollen Linien gießend. Ein kleiner Kamm von geschliffenen Lavasternen nahm das Haar leicht von der Stirn zurück und ließ es an den Schläfen niederfallen; fast erschienen diese dunklen Lockenmassen, die sich bis auf die Mitte der Brust ringelten, zu wuchtig für den kleinen Kopf – er bog sich in diesem Augenblick leicht vornüber wie das süß hinneigende Haupt der weißen Narcisse. Sie hielt ein prachtvolles Hyacinthenbouquet in den gefalteten, lässig niedergesunkenen Händen – es sah aus, als ruhe ihr gesenkter Blick innig auf den duftenden Blumenglocken; auch nicht ein Zug von Dünkel und Hochmuth entstellte augenblicklich diese Mädchenerscheinung, auf deren Haupt die Natur noch einmal all’ jenen verführerischen Zauber ergossen, der das nun erloschene Geschlecht der Zweiflingen zu allen Zeiten fast noch gefährlicher gemacht hatte, als sein ritterlicher Muth, seine gerühmte Sicherheit in der Waffenführung.

Die Frage des gräflichen Kindes blieb unbeantwortet – der hochgewachsene Mann, an den sie gerichtet, wußte offenbar gar nicht, daß zu seinen Füßen das kleine Mädchen stand und mit den angstvoll fragenden, braunen Augen zu ihm aufsah. … Jutta trat ja eben über die Schwelle, und ihr Blick fiel auf ihn – eine brennende Röthe lief ihr über Gesicht und Hals unter den Augen, die unabweisbar auf ihr ruhten. … Welche Veränderung war mit ihm vorgegangen! Er, der keusch zurückhaltende Charakter, der sich scheute, in Frau von Herbeck’s Gegenwart auch nur einen Finger seiner Braut zu berühren, er schritt jetzt, unbekümmert um die Anwesenden, rasch auf die junge Dame zu und ergriff ohne Weiteres eine ihrer Hände – dabei fiel das Bouquet zur Erde – er dachte nicht daran, es aufzuheben, vielmehr legte er seine. Rechte auf Jutta’s Scheitel, bog ihren Kopf zurück und sah tiefernst und forschend in ihre Augen.

Hätten Frau von Herbeck’s Blicke nicht in namenloser Verlegenheit an dieser Gruppe gehangen, sie wäre tödtlich erschrocken über den Anblick des Ministers. … Einen Moment schien es, als wolle er sich wie ein Tiger auf den Verwegenen stürzen und ihn mit der geballten Faust zu Boden schlagen – wer ahnte [116] wohl unter den schläfrigen Lidern diese funkelnden, eine unbändige Gluth und Leidenschaft ausströmenden Augen! Wer aber auch hätte je gedacht, daß über dies hochmüthige Marmorgesicht ein so lebendiger Ausdruck von Verzweiflung Hingleiten könne!

Jutta’s Kopf schlüpfte elastisch unter der Hand des Hüttenmeisters weg; dann bog sie sich rasch nieder, nahm das Bouquet auf und vergrub ihr glühendes Gesicht in den Blumen; weniger gelang es ihr, die Hand zu befreien – der Hüttenmeister hielt sie mit fast schmerzendem Drucke fest und zog sie ohne alle Hast, aber unwiderstehlich an sich heran; das junge Mädchen mußte ihm wohl oder übel nach dem Seezimmer folgen, wenn es nicht eine förmliche Scene machen wollte.

An der Thür wandte sich der junge Beamte um und verbeugte sich ruhig – der Blick des Ministers fuhr glitzernd über ihn hin, aber diesmal unterblieb das gnädige Handwinken Seiner Excellenz.

„Vergessen Sie nicht, Fräulein von Zweiflingen, daß ich noch das Notturno von Chopin hören muß, ehe ich nach A. zurückkehre!“ rief er hinüber – seine Stimme klang heiser, und das Lächeln, das seine zuckenden Lippen erzwingen wollten, mißlang.

Eine tiefe, stumme Verbeugung des jungen Mädchens war die Antwort, und während er, die kleine Gisela an der Hand, die Zimmer entlang schritt, um in das untere Stockwerk zurückzukehren, trat sie mit dem Hüttenmeister und der ihr wie ein Schatten folgenden Frau von Herbeck in das grüne Zimmer.


8.

Und nun stand auch der Student zum ersten Mal vor der Braut seines Bruders. Die unverbindliche, schlaffe Haltung, das scharfgespannte Muskelspiel in dem fleischlosen Gesicht und die kahlgewordene Stirn machten ihn alt. Zorn und Groll brannten in seinen tiefliegenden Augen – er war ja in seiner Ecke ungesehener Zeuge des Gesprächs zwischen dem Minister und seinem Bruder gewesen. … Jutta hatte offenbar einen sehr unangenehmen Eindruck von ihm, um so mehr, als auch nicht das geringste Zeichen verrieth, daß ihn ihre äußere Erscheinung überraschte. Sie fand kein freundliches Wort und reichte ihm kalt die Fingerspitzen, die er ebenso frostig einen Moment berührte.

Wie ermüdet, oder auch gelangweilt, ganz im Stil einer hochgebietenden, vollendeten Weltdame, ließ sie sich in eine Causeuse fallen – der hinreißende Zauber kindlicher Befangenheit, mit welchem sie vor dem Minister gestanden, war verschwunden. Sie lud die Herren mit einer Handbewegung ein, Platz zu nehmen. Frau von Herbeck setzte sich neben sie auf die Causeuse. Die gute Dame, die nicht wich und wankte in ihrem ehrenhaften Amt als Tugendwächterin, sah sehr echauffirt aus – der Student dachte bei diesen glühenden Wangen und den im feuchten Glanze schwimmenden Augen unehrerbietig genug an einige silberhalsige Flaschen, die er im Vorüberschreiten auf einem Büffet des Vestibüles gesehen.

Sie hatte ihre Verlegenheit und Indignation von vorhin tapfer niedergekämpft und bemächtigte sich sofort der Conversation, da Jutta schweigend und sichtlich verstimmt einzig und allein damit beschäftigt schien, die Hyacinthenglocken ihres Bouquets zu zählen. … Sie sprach von dem großen Wasser draußen, von der Möglichkeit einer Ueberschwemmung, von ihrer Angst, daß das Wasser bis an die Treppe des weißen Schlosses steigen könne, aber mit keinem Wort von den bedrohten Lehmhütten des Dorfes.

Der Hüttenmeister ließ sie eine Zeitlang gewähren – vielleicht hörte er gar nicht, was sie plauderte – sein Blick haftete fest auf dem Gesicht seiner Braut – einmal mußten sich doch diese gesenkten Wimpern heben. … Man sagt, das schlafende Kind erwache unter einem durchdringenden Blick – eine mimosenhafte Empfindlichkeit der reinen Kinderseele! – War alles kindliche Element aus dem scheinbar tief in sich versenkten Mädchengemüth gewichen, oder fehlte der erweckende elektrische Funke, in dem Augenstrahl des ihr gegenübersitzenden Mannes? – sie sah nicht auf, kein Zug ihres Gesichts veränderte sich.

„Ich bin sehr begierig, das Notturno von Chopin von Dir zu hören, Jutta,“ sagte der Hüttenmeister plötzlich mit seiner festen, wohllautenden Stimme mitten in eine fließende Phrase der Gouvernante hinein.

Jutta fuhr empor – jetzt waren die Wimpern aufgeschlagen, und die Augen, größer als je, sahen ihn mit einem Gemisch von Schrecken und Erstaunen an. Frau von Herbeck aber verstummte und erstarrte sollte dieser Mensch wohl so maßlos unverschämt sein, an die Möglichkeit seiner Gegenwart im Musikzimmer Seiner Excellenz des Ministers zu denken? …

„Begreiflicherweise nicht hier, wo Du kein eigenes Instrument hast!“ fuhr er gelassen fort. „Wir gehen in’s Pfarrhaus –“

„In’s Pfarrhaus?“ rief Frau von Herbeck und schlug die Hände zusammen. „Um’s Himmelswillen, wie kommen Sie denn auf diese Idee, bester Herr Hüttenmeister? … In’s Pfarrhaus kann Fräulein von Zweiflingen doch unmöglich gehen – sie ist ja mit den Leuten total zerfallen!“

„Das höre ich zum ersten Mal,“ sagte der junge Mann. „Wie, zerfallen, weil Deine angegriffenen Nerven den Kinderlärm nicht ertragen konnten?“ wandte er sich an Jutta.

„Nun ja, das war der hauptsächliche Grund,“ entgegnete sie trotzig. „Ich schaudere, noch in der Erinnerung an diese Linchen und Minchen, Karlchen und Fritzchen mit ihren nägelbeschlagenen Schuhen und den ohrzerreißenden Stimmen – mein nervöses Kopfweh ist eine Errungenschaft aus jener entsetzlichen Zeit. … Weiter aber – ich sehe nicht ein, weshalb ich Dir’s länger verschweigen soll – habe ich einen unsäglichen Widerwillen gegen die Pfarrerin selbst. Diese grobe, hausbackene Person steckt vollmaßloser Herrschsucht, und ich fühle selbstverständlich nicht die mindeste Lust, mich unter ein Commando zu stellen, das mir durchaus Besen und Kochtopf aufnöthigen und alle höheren Interessen in mir ersticken will.“

Sie sank wieder zurück und ließ die Lider über die Augen fallen. Die dunkle Lockenfluth breitete sich über das grüne Polster, und das marmorweiße Gesicht mit den energisch geschlossenen Lippen hatte etwas Sphinxartiges.

(Fortsetzung folgt.)




Land und Leute.

Nr. 29. Bei den Pichern im Voigtlande.

Wer sein Knabenalter im deutschen Flachlande verlebte und seine ersten Waldstudien unter den mächtigen Eichen und Buchen der Niederungen machte oder an den erlenbesäumten Flüssen im üppigen Grase der großen ebenen Wiesen das, erste stille Naturleben genoß, der kann sich lange nicht an den düstern Schwarzwald der Gebirge gewöhnen. Mich beschlich in den ersten Jahren meines Aufenthaltes in Gebirgsgegenden stets eine Art Heimweh, wenn ich auf meinen Spaziergängen nichts und wieder nichts als die schwarzen Fichten- und Tannenbestände als Belebung der Landschaftsbilder vor Augen hatte, und nur dann wich das beklemmende Gefühl, wenn ich nach Ersteigung eines kühn aufstrebenden Felsens oder eines hohen Berges mich der herrlichen Fernsichten erfreuen konnte. Hat man aber, wie ich, einige zwanzig Jahre in solchen Umgebungen verlebt, so wird der Aufenthalt darin immer angenehmer, wozu die Gemüthlichkeit der Gebirgsbewohner selbst wesentlich beiträgt.

Bald streifte ich mit wahrer Freude in den dunkelen Nadelholzwäldern umher und lernte auf diesen Wanderungen mancherlei menschliche Gewerbe und Arbeiten kennen, die lediglich dem Walde ihre Nahrung verdanken. Besonders interessant war mir eine Begegnung mit dem eigenthümlichen Völkchen der Pechsieder oder Picher, wie wir’sie in unserem sächsischen Voigtlande, meiner derzeitigen Heimath, nennen. Da auch anderwärts, namentlich in den Bergwäldern des Harzes und Böhmens, die Pechgewinnung zahlreiche Hände beschäftigt, so ist es den Lesern der Gartenlaube vielleicht nicht unwillkommen, sich den Picher und

[117] 

Bei den Pichern im Voigtlande.
Nach der Natur aufgenommen.

[118] seine Verrichtungen etwas näher anzuschauen. Es war an einem schönen Octobertage, als mich mein Freund zu ihnen hinaus führte. Morgens acht Uhr begannen wir unsern Ausflug. Der Weg schlängelte sich durch surige Wiesen, oft forellenreiche Bächlein übersetzend, hinauf nach dem Wald. Die Vorhalle desselben bildete cultivirter Niederwuchs. Die Fichten standen hier in dichten Reihen sechs bis zehn Ellen hoch, mit zwei bis drei Fuß langen Sommerschossen und so im Schluß, daß man nicht durchkommen konnte. Unser Pfad war nur zwei Fuß breit und die Aeste der Bäumchen bestrichen häufig unsere Kleider, während der Boden unter dem Bestande dicht mit Nadeln bestreut war und kein Gräschen aufkommen ließ. Der Unterschied zwischen dieser Pflanzung und dem Wildbau der gewöhnlichen Privatwaldungen machte sich hier auffallend geltend. Während in letzteren alte krüppelhaft gewachsene Hochstämme mit verkümmertem dünnstehenden Nachwuchs abwechselten, wo die aussaugende Haide wucherte und kahle flechtengraue Steine überall hervorlugten, war hier jede Handbreit Erde auf’s Trefflichste benutzt, um den größtmöglichsten Gewinn zu ziehen.

Nach einigen Minuten traten wir in den Hochwald – der, wenn auch kein Urwaldbild, sich doch sehr schön zeigte. Die Stämme waren im Ganzen nicht viel über zwei Fuß dick, jedoch schnurgerade, astrein und mit jener rothbraunen Rinde überkleidet, die der Forstmann so gern sieht. Nur selten schimmerte ein Stück blauen Himmels durch die verwachsenen Baumkronen, und im lieblichen Halbdunkel schritt der Fuß unhörbar über die weiche smaragdgrüne Moosdecke, die den Boden wie fleckenloser Sammet überkleidete. Hie und da sah ich Bäume, deren Wurzelkronen, nach Art einiger amerikanischer Baumgattungen, zwei bis drei Fuß hoch über dem Boden sich befanden. Ich konnte mir das anfangs nicht erklären, bis ich einen Stamm gewahr wurde, der auf einem alten morschen, vielleicht schon vor hundert Jahren abgesägten Stock stand und seine Wurzeln durch diesen hindurch in die Erde gestreckt hatte, aus dem Verwesenden doppelte Kraft ziehend. Die Vergangenheit trug die Gegenwart und nährte die Zukunft in anschaulichster Verbindung. Jetzt fielen mir auch die sogenannten Pechrisse auf. Es sind dieses einen bis zwei Zoll breite, oft ebenso tiefe Furchen, welche sich rings um den Baum vertical herabziehen und deren vernarbte Ränder sich jährlich mit mehr oder weniger Harz bedecken. Noch in Betrachtung dieser Einschnitte vertieft, hörte ich das Knistern eines Feuers und bemerkte, dem Tone folgend, auf einer kleinen waldfreien Stelle eine ziemlich große Flamme. Zugleich ertönte von dem Manne, der dieselbe unterhielt, der weithin tönende langgezogene Ruf: „Ko–acht!“ Mein Begleiter trieb mich an, zur Feuerstelle zu eilen, und belehrte mich auf mein Befragen, daß der Ruf so viel als „es kocht“ zu bedeuten habe.

Nach einigen Schritten waren wir am Platz. Das Feuer war in einem länglichen Viereck angelegt, an dessen Seiten eine Menge größerer und kleinerer Töpfe standen, in denen es lustig brodelte und zischte. Ohne sich stören zu lassen, nahm der dabei kauernde Mann mit sachkundiger Miene die Töpfe vom Feuer und stellte sie bei Seite. Mein Freund bezeichnete seine Persönlichkeit mit dem Namen Mästenbauer, der zugleich das Amt des Kochs zu verwalten habe. Mästen sind runde, boden- und deckellose Schachteln aus Fichtenrinde, ungefähr eine Elle hoch und eben so weit, oft auch viel größer. Statt des Bodens dient eine Lage Fichtenreiser, die durch durch das hineingeschüttete Harz sogleich festkleben und somit eine haltbare Unterlage abgeben. Der Mästenmacher hat, wenn er seine Sache versteht, gewöhnlich nicht zu viel Arbeit, denn das Kochen für die Picher nimmt ihm verhältnißmäßig wenig Zeit weg.

Jetzt kommen eilenden Schrittes die Picher. Leute von sehr verschiedenen Körperconstitutionen, aber alle in dürftigen, zerfetzten und beharzten Anzügen. Sie leeren ihre Pechsäcke in die Mästen und werfen sich in das schwellende Moos. Die sich nun darbietende Scene ist malerisch. Jeder Arbeiter holt sich seine zwei Töpfe. Aus dem einen dampft der Kaffee (eigentlich nur ein Cichorienabguß, der sich nur selten rühmen kann, durch einige Bohnen wirklichen Kaffees gewürzt zu sein), aus dem andern duften gesottene Erdäpfel. Allerhand Schachteln, Kober, Säcke, Büchschen, Näpfchen und Kästchen thun sich nun auf, um ihren spärlichen Inhalt an Fett, Butter, Salz, Speck, Käse oder Quark darzubieten. In geschäftiger Eile sucht sich Jeder seinen Tisch auf dem elastischen Boden, breitet seine Herrlichkeiten vor sich aus und hält die Mahlzeit mit beneidenswerthem Appetite.

Nach dem Essen begleiteten wir die Pechmänner zur Arbeit. Ihr ganzes Handwerkszeug besteht aus zwei Stücken: dem Pichmesser und dem Pechsack. Jenes ist ein sonderbar geformtes Instrument, ungefähr wie eine arabische 2 gestaltet. Die obere Krümmung hat eine Schärfe ähnlich der eines Hohlbohrers, während der hölzerne Stiel am vorderen Fuße der 2 befestigt ist und der Hintere ein kleines scharfes Beil bildet. Ueber dem Angriff hängt ein Leder, um die Hände vor dem herabfallenden Harz zu schützen. Der Picher kratzt mit der Spitze des hakenförmigen Theils das Harz aus den Pechrissen, indem er von oben nach unten streicht. Es ist möglich, daß man in uralten Zeiten diese Arbeit mit den Fingernägeln verrichtet hat, denn die Messerspitze hat mit denselben große Aehnlichkeit. Während des Kratzens wird der Pechsack mit dem Knie unten an den Baum gestemmt, um das abgescharrte Harz aufzunehmen. Der Pechsack sieht einem kleinen Fischhamen sehr ähnlich, nur mit dem Unterschied, daß sein halbkreisförmiger Bügel nicht mit Netz, sondern mit starker Leinwand ausgespannt ist, die in der Mitte einen kurzen Sack bildet. Das kleine scharfe Beil des Messers dient nicht zum Hacken, sondern zum Einschneiden der Pechrisse.

Wenn die Fichte angerissen wird, was jetzt meistentheils erst einige Jahre vor dem Niederschlagen derselben geschieht, zieht der Picher mit der Schärfe seines Beilchens zwei Einschnitte am Stamm herab, die ein bis anderthalb Zoll Abstand haben, wendet sein Werkzeug um, löst oben, so weit er reichen kann, die Rinde zwischen den Einschnitten und spaltet mit einem geschickten Zuge den bezeichneten Streifen Rinde. Die Zeit dieser Arbeit fällt in den vollkommenen Saftstand, also ungefähr Ende Mai.

Schon nach einigen Stunden findet man stellenweise Harztröpfchen herausgequollen, die sich nach und nach vergrößern und endlich ganze Schwaden bilden. An lichten Stetten des Waldes wird weit weniger Harz gewonnen als an dichten und schattigen, weil Luft und Sonne dasselbe so schnell verhärten, daß es die Saftporen des Baumes vollständig verstopft und dadurch den weiteren Nachfluß verhindert. Dieses Harz bekommt auch eine grünliche Farbe, weshalb es gemeinhin Grünspahn genannt wird, und die Pechnutzer sehen es sehr ungern. Heiße und dabei feuchte Jahrgänge sind immer die ergiebigsten.

Doch zurück zu den Pichern selbst. Sie sind in voller Arbeit und kratzen mit großer Genauigkeit das Harz aus allen Fugen der Pechrisse, wobei sie so sicher in ihrem Geschäft fortschreiten, daß nur selten ein Baum ungekratzt davon kommt. Das Harz, welches als Ueberfülle herunter in das Moos geflossen ist, lassen sie liegen, denn es wird unter dem Namen „Aufhub“ besonders geerntet und mit zur Rußbereitung verwendet. Die Arbeit des Pichers ist nicht so leicht, wie sie aussieht, weil dabei nicht allein die Arme und Hände, bald oben, bald unten, ihm Dienste leisten müssen, sondern der ganze Körper sich dadurch, daß ein Knie immer den Pechsack halten muß, stets in einer angespannten Stellung befindet. Trotzdem erfreuen sich die Leute während der Periode des Harzsammelns einer guten Gesundheit, ja, kränkelnde Personen behaupten sogar, sich in der Pichzeit viel wohler zu fühlen, als gewöhnlich. Jedenfalls wirkt der Harzduft wohlthätig auf die Brustorgane, während die Kühle des Waldes zu große Erhitzung des Körpers verhindert. Hieraus erklärt sich wohl auch der zufriedene Frohsinn, welcher die Picher immer begleitet, und trotz des geringen Verdienstes und der magern Kost benutzen dieselben jede Annäherung zu einer launigen Bemerkung über gegenwärtige oder jüngst vergangene große und kleine Ereignisse.

Nach ein paar lehrreichen und heiteren Stunden nahmen wir Abschied von den wackeren Leuten, um noch der sogenannten Pechhütte einen Besuch abzustatten. Schon von Weitem leuchteten uns drei trübrothe Flammen entgegen, die einen schwarzen Qualm entwickelten. Sie schlugen aus steinernen Kesseln empor. Quadratische Granitsteine, drei bis vier Fuß im Geviert und achtzehn bis zwanzig Zoll hoch, waren in der Mitte zu einem zwölf bis fünfzehn Zoll tiefen Becken ausgehöhlt, in dessen Tiefe sich ein Loch befand. In den Becken brannten die sogenannten Pechtrinne und durch die Löcher floß das geringere Schwarzpech auf die Erde, wo es dicke glänzende Kuchen bildete. Das feinere Braunpech wird in der Hütte selbst gesotten.

Ein großer kupferner Kessel ist über einem Feuerraume vollständig eingemauert, und nur eine kleine Oeffnung führt in den letztern, um das nöthige Feuerungsmaterial aufzunehmen. Hinter dem Kessel nimmt ein dickes Blechrohr den Rauch auf und trägt [119] ihn über das Dach der Hütte hinaus. Die ganze Hütte war ungefähr dreißig Fuß lang und zwanzig breit, nur mit Schindeln gedeckt und stand auf bloßer Erde. Der Pechsieder, ein Mann, dem man sein Handwerk nicht nur an den Kleidern, sondern auch an Gesicht und Händen ansah, mochte vierzig Jahre zählen. Man rühmte ihn mir als besonders geschickten Arbeiter, obwohl seine bleiche Gesichtsfarbe und seine magern Gliedmaßen weder Kraft noch Ausdauer andeuteten.

Der Pechkessel wurde eben angefeuert. Anfangs wurde nur wenig Harz hineingeschüttet und das Feuer ganz schwach gehalten. Langsam zerging die Masse und bildete einen dicklichen Brei. Nach und nach kam immer mehr Harz hinzu, und das Feuer wurde verstärkt. Endlich war der Kessel ziemlich voll und die geschmolzene Substanz mochte wohl fünf Centner wiegen. Hie und da erhoben sich Blasen, die schnell zersprangen. Winzige Krater darunter spritzten, schäumten, brodelten und wechselten unaufhörlich die Stellen. Jetzt fing die ganze Masse an zu steigen. Das Schaumpech, als das beste, wurde abgeschöpft und, ohne durchgeseiht zu werden, in die Stückgrube gegossen. Stückgruben sind achteckige, sechs Fuß lange, drei Fuß breite und zwölf bis vierzehn Zoll tiefe, mit Brettern ausgeschlagene Erdlöcher.

Noch mehrere Kübel nimmt der Sieder, ohne sie zu seihen, aus dem Kessel und gießt sie hinein. Die Feuerung wird nun fortwährend stark genährt und wehe der Pechhütte, wenn ein einziges Flämmchen der siedenden Masse zu nahe käme! Sofort würde eine haushohe Flamme daraus emporschlagen, das Dach zersprengen und alles Brennbare im Nu verzehren. – Das Pech wird endlich unreiner, da die mit ihm vermischten Rindenstücken, die anfangs zu Boden sanken, nach und nach mit an die Oberfläche kommen. Die Sau (der Seiher) wird deshalb über die Grube gesetzt. Sie besteht aus einem länglichen hölzernen Kasten, dessen Boden ein hölzernes Gitter vertritt, über welches Stroh gelegt ist. Diese einfache Vorrichtung entspricht ihrem Zwecke sehr gut, denn das hindurchgeseihte Pech wird fast ganz rein. Ehe noch die Stückgrube völlig vollgegossen ist, werden ein oder mehrere Kuchen Schwarzpech hineingedrückt und wieder sorgfältig vergossen. Drei Stunden braucht man zu einem Sud und erzielt damit ein Stück, welches drei bis fünf Centner wiegt. Das sächsische Voigtland allein erzeugt jährlich über zweitausend fünfhundert Centner Pech, etwa dreiundzwanzigtausend Thaler an Werth. Die Production desselben ist jedoch bedeutend im Abnehmen begriffen, weil man bei der zusehenden Steigerung des Holzwerthes es vorzieht, die Waldung in ihrem Wuchse ungestört zu lassen. Einen Grund zur Minderbetreibung des Pechbaues mag auch die Einführung des amerikanischen Pechs geben, welches allerdings den Anforderungen, die man an das einheimische stellen kann, bei Weitem nicht entspricht, aber doch in vielen Fällen eine billigere Aushülfe bietet.
B. Hempel.     




Wenn uns’re Mutter schlafen geht.

Von Albert Traeger.

Ob Herbstesduft bereits das Haar
Mit weißem Schimmer uns bezogen,
Schon flügge von der eig’nen Schaar
Manch schmucker Nestling ausgeflogen,
Daß wie von kühlem Abendwinde
Ein flücht’ger Schauer uns durchweht,
Noch einmal werden wir zum Kinde,
Wenn uns’re Mutter schlafen geht.

Ein altes Märchen noch im Sinn,
So liegen wir im Bettchen wieder,
Da schleicht sich’s leise zu uns hin
Und beugt sich küssend auf uns nieder,
Wir sehen mild zwei Augen funkeln,
Wir hören halb ein fromm Gebet,
Und plötzlich bleiben wir im Dunkeln –
Weil uns’re Mutter schlafen geht.

Der Kindheit holdes Paradies,
Wir fanden’s wieder ohne Mühen,
Ihr sanftes Wort, ihr Anblick ließ
Uns das Versunk’ne neu erblühen;
Gebrochen ist die schwanke Brücke,
Verschlossen nun die Pforte steht,
Wir scheiden von dem reinsten Glücke,
Wenn uns’re Mutter schlafen geht.

Und hat ein gütiges Geschick
Mit Schätzen uns bedacht und Ehren,
Nichts sind sie da dem feuchten Blick,
Ihn drängt es, rückwärts sich zu kehren:
Kann keiner Schuld sie Dich verklagen,
Die ohne Sühne fortbesteht?
Das ist des Herzens einzig Fragen,
Wenn uns’re Mutter schlafen geht.

Ich habe treu sie stets geehrt,
War folgsam ihr in allen Stücken –
Ein ganzes Leben ist es werth,
Ihr so die Augen zuzudrücken;
Doch müßten reuevoll wir beben –
Eh’ um Verzeihung wir gefleht,
Hat sie uns Alles längst vergeben,
Wenn uns’re Mutter schlafen geht.

Und ihre Liebe dauert fort
Und bleibt zurück mit ihrem Segen,
Sie ging voran, ein gutes Wort
Bei’m Vater für uns einzulegen,
So wird auch unser Schmerz gelinder,
Und heil’ge Tröstung uns umweht:
Wir fühlen uns als Gottes Kinder,
Wenn uns’re Mutter schlafen geht.

[120]
Das Geheimniß des Brahmanen.
Eine holländische Erinnerung.
Mitgetheilt von Ch. v. Vincenti.

Wir saßen im Heiligthum Wischnu's, unter unseren Füßen knitterten, als Opferreste, welke Blumen, und durch die kleinen Rundfenster glühte das Abendroth auf dem Altare, dessen Flamme eben erloschen. Und mein Gefährte erzählte eine gar seltsame Geschichte, die ich ihm nacherzählen werde, sobald ich nur zuerst gesagt, wer mein Gefährte ist und wie und warum wir Beide in den Hindutempel hineingekommen sind.

Ich lag in Paris, so zu sagen, europakrank; mir that eine Badereise nach Indien oder China noth. Ein Gangesbad oder ein Trunk aus dem blauen Strome mußten mich, so dachte ich, radical curiren. So traf mich mein Freund, der Baron H…n, Sportsman und holländischer Erzmillionär. Kaum hatte ich ihm mein Leid geklagt, als er sich unter der Bedingung, daß ich ihn vorerst nach Holland begleite, als Reisegefährte anbot. Wir kamen in Amsterdam an, bestiegen des andern Morgens das Dampfschiff an der Stads-Herberg und überschifften das Y. Nordholland stand eben im prächtigen Maienkleide. Als wir oberhalb Buiksloot den großen Nordcanal verlassend längs einem nach rechts sich abzweigenden Seitencanal hinschritten, breitete sich eine wunderbare Landschaft vor unseren Blicken aus. Monumentale Windmühlen reckten behaglich die langen Gliedmaßen in die blauen Lüfte, am Horizont zogen weiße Segel wie Friedensvögel und das Sonnengold funkelte und flimmerte auf den bunten Emailziegeldächern einer phantastischen Stadt. Jetzt zog eine sanfte Melodie durch die Lüfte.

„Indien!“ lachte mein Gefährte. Hören Sie die Minarete klingen?“

„Ho-i-ho,“ klang es langgezogen.

„China!“ scherzte H…n. Hören Sie die Sprache des himmlischen Reiches?“

„Oder Broek,“ lachte ich zurück, „nicht wahr?“

„Sie haben es errathen, Broek, das Villendorf der holländischen Millionäre, die Capitale von Europäisch-China oder Indien, wie Sie wollen. Sie sehen, daß wir, um das Eine oder das Andere zu finden, keinen Rotterdamer Steamer zu besteigen brauchen. Wir Holländer haben für Europablasirte ein gutes Stück Asien bei uns zu Hause. Sie finden unser Kastenwesen, unsere Neigung zum Ueberschwänglichen, unsere Blumenmanie, selbst unsere Kirmessen, die wahre Schiwafeste sind, am Ganges wieder. Auf der anderen Seite leben wir als eigenartiges Amphibienvolk durch Süß- und Salzwasser abgeschlossen wie die Chinesen, sprechen eine Sprache, die mindestens so viel Zungengymnastik als das Mandarinenidiom erheischt, arbeiten mit derselben berechnenden Ameisengeduld und Ausdauer und führen dasselbe symmetrische Stillleben ohne weite Lebensaussichten, wie die Leute im Reiche der Mitte. In Einem nur unterscheiden wir uns von den Chinesen, wir bewohnen eine Erde der Duldsamkeit, wo in düstern Zeiten ein Freidenker, wie Bayle, ein Asyl gefunden und ein Spinoza nicht verbrannt worden ist, was ihm die Herren Mandarinen schwerlich erspart haben möchten. Gehen wir nach Broek hinein, wo Sie eine Ueberraschung ganz besonderer Art erwartet.“

Der erste Anblick Broek's erinnerte mich so lebhaft an Cyrano de Bergerac's tolle Reisemärchen aus den Planeten, daß ich, auf dem spiegelblanken Pflaster aus goldgelben Gudaer Klinkers (Backsteinen) fortwandelnd, mich beinahe in einen Fabelstern meiner Jugendlectüre versetzt glaubte. Der ferne Osten hat hier die bizarrsten Ausgeburten seiner wunderlichen Architekturen hingezaubert. Ein buntschuppiges Dach stülpt sich hier nach Art der chinesischen „Miao's“, dort ragt ein luftiger Tempel „Fo's“, mit Silberglöckchen behangen, auf jener Rasenhöhe schimmert eine lasurbelegte Pagode, und weiterhin blitzt eine winzige Goldananaskuppel auf einer Minaretspitze. Schmucke, bunt herausstaffirte Villen mit zierlichen Thürmchen, Erkern und Belvederen betrachten sich selbstgefällig in den Miniaturgrachten wie kokette Mädchen im Spiegel. Auf glatten Teichen schlummert das Sonnengold, Schwäne kreisen um schimmernde Gondeln, fabelhafte Blumen träumen unter Glasdomen oder nicken hinter halbverschlossenen Gardinen, und auf lianenumrankten Veranden schlagen Pfauenstutzer ein Strahlenrad. Ueber blumige Abgründe springen Wunderstege, wie aus Perlmutter geschnitzt, indische Götter hocken träumend unter Epheubaldachinen und chinesische Idole schütteln ihr Halsgeschmeide in Marmorgrotten, wo verborgene Wasser rauschen.

Und auf diesem ganzen fremdartigen, farbensatten Bilde spielten heute goldene Lichter wie glückliche Kinder mit der Blüthenbescheerung des Frühlings. So friedlich schien Alles wie ein Eden, so glänzend wie der Wonnetraum eines Ascetikers an den Ufern des heiligen Stromes! Oft verengte sich die Straße so sehr, daß wir dicht an den zierlichen Geländern vorüberstrichen, welche die Gärten vor den Häusern umfrieden. Da rauscht eine Jalousie … ein goldner Mädchenkopf taucht hervor, lächelt still und verschwindet. Dort auf dem Gesimse kauert sphinxrartig ein prächtiger Angorakater, über die Geheimnisse des Courszettels nachsinnend. In jener Laube, wo ein Fratzengott des siamesischen Olymps sich vor Lachen schüttelt, lehnt auf einer Mahagonybank ein Mann im Brocatkaftan mit verbrämter Kegelmütze … Ein Tatarenkhan vielleicht? Nein, ein Broeker Millionär, der sich trotz seiner Millionen langweilt, und das ist es ja, worüber der dumme Götze sich schier zu Tode lachen will.

„Wunderliche Käuze sind's,“ lachte mein Freund, „die Bewohner dieses Millionärdorfes. Es gab eine Zeit, wo keine Empfehlung, wäre sie auch vom Dalai-Lama oder Großmogul, vom Kaiser der Mitte oder von Timbuktu gewesen, einem Fremden Zugang bei einem Broeker Insassen verschafft hätte. Dieses buntscheckige Haus da mit den blauen Kuppeln hat Napoleon besucht, wobei er sich, den localen Reinlichkeitsvorschriften gemäß, dazu bequemen mußte, über seine siegreichen Stiefel prosaische Filzpantoffeln zu ziehen. Dort links den alten wunderlich bemalten Bau mit dem langhalsigen Belvedere wollte Kaiser Joseph der Zweite besichtigen. Der Eigenthümer, ein Pfefferfürst ersten Ranges, schlug die Bitte rund ab. Vielleicht ist die gravitätische Personnage, die dort zwischen vergoldeten Bäumen und rosigen Felsen sich ergeht, der Enkel dieses Fürstenverächters. Sie sehen, er ist in ein Buch vertieft, ohne Zweifel studirt er Phalu, Telinga oder sonst eine asiatische Sprache, um seine Bäume und Tulpenzwiebeln bei Namen nennen zu können.“

Wir mochten eine gute Stunde gewandert sein, als der Baron vor einem Gitterthor mit wetterverwaschener Vergoldung stehen blieb.

„Haben Sie einmal von dem Brahmanenhause gehört?“

Ich verneinte.

„So folgen Sie mir!“

Wir drangen in einen total verwilderten Park, wo uns eine Akazienallee zu einem wunderlichen, dicht mit Geisblatt und wilder Rebe überwucherten Gebäu führte, dessen geschnitzte Galerien und gemalte Säulenwerke an die Häuser von Benares in Ostindien erinnerten. Auf den Treppenwangen des Perrons hockten schwarzmarmorne Schildkröten mit japanesischen Blumenvasen auf den Rücken. Die zum Theil mit Grün überwachsene Thür gab dem Druck nach, und wir traten in eine gewölbte Vorhalle. Eisige Moderluft schlug uns entgegen. Die Bodenmosaik war überall herausgebröckelt, ein grasgrünes Götzenbild grinste aus einer Nische, und wir öffneten nicht ohne Mühe eine Seitenthür, die endlich mit dumpfem Krachen nachgab. Ueberall Grabesdunkel. Nachdem mein Führer das Kerzchen seines Taschenfeuerzeugs angezündet, durchwandelten wir, ohne ein Wort zu wechseln, eine Reihe öder Prachtgemächer. Ueberall persische Teppiche, schlanke Bambusrohrmöbel, chinesische Lackarbeit und schwere Seidentapeten mit strahlenden Vögeln in erhabener Stickerei, vergoldete Schreine, fratzenhafte Nippfiguren, herrliche Gemälde, wunderliche Geräthe und Gefäße, Alles in buntem Durcheinander angehäuft. In einem reizenden Boudoir machen wir Halt. Eine Feuerkieke aus der echtholländischen Familie der „Stoofjes“ stand in der Fensternische unter einem bizarren Vogelkäfig, und vom Plafond hing eine purpurbetroddelte Transparentlampe … auf dem Teppich lag ein winziger Schnabelschuh mit geschwärzter Geldstickerei, und ganze Büschel trockener Blumen raschelten unter den Füßen [121] Mein Gefährte, ein Oelbild beleuchtend, das ein junges Weib von blendender, fremdartiger Schönheit in Lebensgröße und halbindischem Costüm darstellte, sprach „Diava“ … Tiefe dunkle Kinderaugen, ein kränklicher Zug im zartgoldbraunen Antlitz, tief in die Stirn gescheiteltes, schwarzes Haar, ein Profil wie aus einer baktrischen Medaille herausgeschnitten, als Diadem und Halsgeschmeide blitzender Schuppenschmuck, den die indischen Goldschmiede von Cutsch gefertigt haben mochten, und eine schneeige Musselinwolke, durch welche die Haut wie ein Goldfaserngewebe schimmerte …

„Arme Diava!“ flüsterte mein Freund, mich rasch fortziehend.

Wir traten in eine Bibliothek … Welch’ fremdartiger Bücherkram! Die heiligen Bücher Manu’s bemerkte ich neben der Niti-Sastra in javanesischem Texte, hier das Drama Sakuntala mit der Jones’schen Uebersetzung neben dem Schu-King, des Confucius Bibel, dort die uralten Götterepen Indiens im Urtexte und die drei Bücher der Zend-Avesta. außerdem viele Sanskritwerke, in „göttlicher“ Schrift geschrieben, tamulische und malayische Manuscripte auf die Blätter der Taliputpalme eingeritzt und andere orientalische Curiosa mehr, ein Entzücken für sprachkundige Bibliophilen, ein Entsetzen für gewöhnliche Menschenkinder. Wir stiegen nun eine geheime Wendeltreppe hinab, schwacher Dämmerschein grüßte, und plötzlich standen wir inmitten eines Hindutempels. Die gemalte Decke ruhte auf zwei Marmorelephanten und Sculpturen deckten die Wände. In einer Altarnische kauerte ein dunkelblauer Gott mit Lotus und Elephantenrüssel … Wischnu und stierte in die ersterbende Opfergluth. War’s ein Traum? Welche Hand hatte hier das heilige Feuer entzündet? Mein Führer öffnete lächelnd eine versteckte Thür. Ich prallte unwillkürlich zurück … Vom Lampenschein, der das reichgemalte Innere eines pagodenartigen Anbaues spärlich erhellte, schimmerte der nackte Fakirschädel eines uralten Mannes, der, auf einer Art Pritsche kauernd, in die Lectüre eines Folianten vertieft schien. Sein kolossaler Bart überfluthete förmlich die Blätter des Buches, goldene Ringe funkelten in seinen Ohren, ein schmutzigweißes, zerrissenes Gewand verhüllte nothdürftig den geheimnißvollen Leser, der quer über die Brust einen breiten Strick trug. Als ich einzutreten zögerte, sprach der Baron.

„Nähern Sie sich ohne Furcht; es ist Dhruva, der Brahmane, er hört und sieht nichts, denn längst ist er halb blind und taub, und besäße er auch alle seine Sinne, so wäre doch nichts in der Welt im Stande, den Alten in der Lectüre der heiligen Vedas zu stören … Was sagen Sie zu meiner Ueberraschung? …“

Ich betastete mich ängstlich, wie war mir doch? Alles dies Wirklichkeit?! … Der Götzentempel, die Pagode, der gespenstische Brahmapriester!! … Ich trat näher, der Greis saß unbeweglich wie sein Gott draußen in der Nische – eine versteinerte Ewigkeit.

Jetzt erst bemerkte ich ein halbnacktes Individuum, das, wie ein Höhlenthier zu den Füßen des Brahmanen zusammengekauert, uns blöd anstierte.

„Brigu, des Brahmanen Diener,“ erklärte der Baron … „und sein einziger Gesellschafter seit vierzig Jahren, beide zusammen zählen wohl zwei Jahrhunderte.“

Wenige Augenblicke später saßen wir im Tempel auf dem Sockel des Götzen.

H. begann. „Was ich Ihnen erzählen will, ist eine Chronik meiner Familie, deren Details ich oft aus dem Munde meiner mütterlichen Großtante, Theobalde van Schapenham, gehört habe, die zur Stunde in unserer Familiengruft zu Zütphen ruht.“

Und jetzt erzählte mir Baron H. die sonderbare Geschichte, die ich „das Geheimniß des Brahmanen“ genannt habe.

Piet van Schapenham war Mitte des vorigen Jahrhunderts der reichste Geizhals in Broek. Er hatte zwei Töchter, Theobalde und Walburga, und einen Sohn, Dirk. Walburga, die Großmutter mütterlicherseits des Barons, starb zur Zeit, während Onkel Dirk, wie mein Freund sagte, der in Folge eines Zerwürfnisses mit seinem Vater in britische Dienste getreten war, sich in Indien gegen die Fürsten des Mahrattenbundes schlug. Dreißig Jahre verlebte Dirk im Lande der Hindu’s, erwarb Ehren und Schätze, und wenn er etwas von sich hören ließ, so war’s in ein paar Zeilen an seine Schwester Theobalde, die er immer zärtlich geliebt hatte. Da starb der alte Schapenham im Alter von neunzig Jahren mit Hinterlassung eimes kolossalen Vermögens. „Dirk kam nach Europa zurück, jedoch in einem so seltsamen Aufzuge, daß alle braven Broeker Mund und Nase vor Erstaunen aufrissen Er trug nämlich ein weißes Brahmanencostüm mit Sandalen und Turban, goldene Ohrringe und eine baumwollene Brustschnur als Kastenabzeichen. Begleitet war er von seiner sechszehnjährigen Tochter Diava, deren Hinduamme Naorie, einem wahrhaftigen Brahmanen in Fleisch und Blut, mit Namen Dhruva, und zwei indischen Dienern Brigu und Savra, blutarmen Teufeln aus der niedrigen Sudrakaste, von denen der letztere noch mit der Bewachung eines garstigen Affen aus der heiligen Affendynastie von Mattra betraut war. Unter diesen braven Leuten waren insbesondere Naorie und die beiden Hindu’s in einer den klimatischen und anstandsüblichen Traditionen Althollands wenig entsprechenden Weise costümirt, indem die Toilette Ersterer aus einem blaugläsernen Nasenring und einem kürzen Röckchen bestand und die armen Sudra's außer Turban und Wollhemd nichts Warmes, als einen Ledergürtel und ein Paar Bronzeohrgehänge besaßen. „Heiliger Gott,“ riefen die Broeker mit aufgehobenen Händen, „Dirk van Schapenham ist verrückt geworden was will er mit seiner gottlosen, halbnackten Gauklerbande?!“ …

Der indische Crösus antwortete auf die Entrüstunug seiner honorablen Landsleute damit, daß er zur Stelle einen Architekten aus England kommen ließ, der ihm in einem Jahre den indischen Palast hinzauberte, welcher noch heute den Namen des „Brahmanenhauses“ trägt. Hier installirte sich der Sonderling mit seiner Tochter, seinem Brahmanen, seinen Hindu’s und dem heiligen Affen, nachdem er seine Schwester Theobalde, die aus Neigung und ihres mangelhaft schönen Wuchses halber unverheirathet geblieben war, gebeten hatte, die Leitung des Haushaltes zu übernehmen. Tante Theobalde, erzählte der Baron, eine grundgescheidte, vorurteilsfreie Frau, die ihren Bruder trotz seiner Brahmamanie herzlich lieb hatte, hat mich in meiner Kindheit oft stundenlang von den Wunderlichkeiten dieses Haushaltes köstlich unterhalten. Dhruva, der Brahmane, entschieden die Hauptperson im Hause, war Hauscaplan, Hofmeister, Vertrauter und Factotum des Onkel Dirk, der dem heiligen Manne die unbegrenzteste Ehrfurcht bezeigte. Theobalde schilderte ihn als einen wunderschönen Hindu von etwa fünfzig Jahren, mit großen, glanzvollen Augen, feinen, wie aus vergilbtem Elfenbein gedrechselten Zügen, kurzem, schwarzem Bart und Haar, mit Händen, durchsichtig wie Bernstein, und einer gebieterischen Gestalt. Cousine Diava schien eine besondere Zuneigung zu ihm zu nähren, welche der schöne Indier sichtlich erwiderte.

Diava war ein zartschlankes Sonnenkind, launig, indolent, krankhaft phantastisch, bald nur Jubel, bald nur Thränen und von ihrem Vater förmlich vergöttert. Schapenham war ein harmloses Original seltenster Art. Eine von Natur krankhafte Phantasie und das jahrelange Studium der indischen Literatur hatten ihn zur fixen Idee geführt, die Seele eines Brahmanen habe sich in ihm verkörpert und er müsse deshalb durchaus nach dem Gesetz Manu’s leben. Er hatte eine Indierin aus der Brahmanenkaste geheiratet und aus diesem Grunde schon von allen Europäern abgeschlossen gelebt. Diava’s Geburt, nachdem er mehrere Kinder verloren, war der Lichtpunkt seines einsamen Lebens. Die Taufe des Kindes war äußerst seltsam. Der glückliche Vater nämlich öffnete das heilige Buch Manu’s und las folgende Stelle:

„Der Name des Weibes soll leicht auszusprechen, sanft und hellklingend sein und in Vocalen enden, damit er töne wie Worte des Segens.“

Und so nannte er das Kind der indischen Mutter „Diava“, das ist „Himmelskönigin“.

Ein zweiter Glückstag war für den indischen Gelehrten der Tag, wo ihm die Leydener philosophische Facultät, in Anerkennung seines analytisch-kritischen Werkes über die „Puranas“ oder indischen Legendensammlungen, das Ehrendoctordiplom verlieh.

In der Hierarchie der Bewohner des seltsamen Hauses kam nun der heilige Affe, der seinen Namen „Dämon“ in jeder Beziehung rechtfertigte. Tante Theobalde konnte nicht genug von dem boshaften Thiere erzählen, das insbesondere die Sudra´s unbarmherzig mißhandelte, welche ihrerseits die gottgeweihte Bestie nicht zu berühren wagten. Diava allein stand in Gnaden bei diesem vierhändigen Satan, dessen Streiche ihr oft viel Kurzweil bereiteten. Das eine Mal hatte der Affe die Bananen und Mangofrüchte verspeist, welche Mynheer Schapenham selbst in einem besonderen Gewächshause zog, um sie Wischnu als Opferspende darzubringen. Dann raubte „Dämon“ seinem in die [122] Lectüre der Vedas vertieften Herrn den Turban und kletterte damit auf’s Dach hinauf, und einmal sogar, als Dhruva und der Hausherr sich anschickten, zu ihren Abwaschungen geweihtes Gangeswasser aus der Messingtonne zu schöpfen, welche der Sonderling, wohl versiegelt und mit dem Echtheitszeugniß eines Brahmanen versehen, aus Indien hatte bringen lassen, fanden sie den Affen darin, ein Morgenbad nehmend.

Schapenham las indeß tagtäglich mit seinem Lehrer in der besonders als Brahmanenwohnung erbauten Pagode die heiligen Bücher, brachte Wischnu die vier vorgeschriebenen Opfer dar und vollzog die gebotenen Abwaschungen. Dies einförmige Leben hätte wohl immerfort gedauert, wäre nicht eines Tages ein Gast in der Villa Schapenham zugelassen worden. Dies war Marius Deepenblad, Doctor der Philosophie und Neffe des Herrn Pastors in Broek. Der jugendliche Schlaukopf brachte ein glattes, blondlockiges Milchgesicht und eine angeblich unwiderstehliche Monomanie für die asiatischen Religionen mit, die ihm rasch die Zuneigung des Brahmanen erwarb, während Schapenham selbst, binnen Kurzem die Unwissenheit des verkappten Orientalisten und dessen minder verkappte Absichten auf Diava durchblickend, den Doctor bald mit sichtlicher Kälte behandelte. Deepenblad, der allsogleich Dhruva’s Einfluß im Hause erkannt hatte, bat den Brahmanen ihn in den heiligen Büchern zu unterweisen. Bald erschien der speculative Novize tagtäglich im „Brahmanenhause“. Diava bekam viel zu lachen über die wunderlichen Verstöße und Uebertretungen des angehenden Brahmanenjünglings, den sie im Uebrigen als neues Element in ihrem orientalischen Einerlei leidlich gerne sah. Dhruva hielt große Stücke auf seinen neuen Schüler, welcher dem auf seine Manie und den Umgang des Brahmanen eifersüchtigen Schapenham als Nebenbuhler von Herzen zuwider war. So standen die Dinge, als plötzlich ein Fremder im „Brahmanenhause“ erschien. Es war ein stattlicher Mann von etwa vierzig Jahren mit einem interessanten Kopfe und vornehmen Manieren. Der Fremdling, der einen Empfehlungsbrief von Lord Chelsea vorzeigte, hatte kaum seinen Namen genannt, als Dirk in seine Arme stürzte.

„Elisha Tavor, mein Lebensretter!“

„Sie erinnern sich noch meiner, Sir?“ rief der Fremde, „es sind wohl siebenzehn Jahre her …“

„Als Sie mich auf meiner Reise nach Maissur aus den Würgerhänden einer Thugbande, jener furchtbaren Mörder,[1] retteten, die mich schon halb erdrosselt hatten.“

„Ich war damals ein blutjunger Offieier,“ lächelte der Brite …

Tavor installierte sich auf ein paar Tage in der Villa. Bei Tisch wurde er dem Brahmanen vorgestellt. Seltsam! Als Tavor, der als Anglo-Indier seinen brahmanischen Höflichkeitscodex von Grund aus weg hatte, den heiligen Mann mit dem Brahmanen gegenüber üblichen Gruße: „Mögest Du lange leben, o würdiger Mann“, begrüßte, verlor Dhruva sichtlich die Fassung und blieb dem Gaste die Antwort schuldig.

Während der Mahlzeit, welche die beiden Fanatiker der Vorschrift gemäß schweigend und gegen Morgen gekehrt hinabschlangen, beobachtete Tavor den Brahmanen so aufmerksam, daß er sich dadurch mehrere ironische Bemerkungen Diava’s zuzog. Am Abende, als sich der Brite auf Diava’s Bitten anschickte, die Geschichte von der wunderbaren Rettung ihres Vaters aus den Krallen der Thugs zu erzählen, zog sich der Brahmane in seine Pagode zurück. Niemand, außer Tavor, achtete auf diesen Umstand.

Warum doch verflossen drei Mouate, ohne daß Tavor daran dachte dem „Brahmanenhause“ Lebewohl zu sagen? … Diava fragte sich selbst, warum, und das Kinderlachen erstarb auf ihren Lippen … Tage lang saß sie träumend … Welch’ neue Welt erblühte doch in ihrer Brust! … Der glattwangige Liebling Dhruva’s erkennend, daß Diava nicht von ihm träumte, hatte dem Unterricht seines Brahmanenlehrers, seiner hoffnungslosen Speculation auf das Millionärskind und der ganzen „Narrenvilla“, wie er sich ausdrückte, bald den Rücken gekehrt.

Schapenham war glücklich, seinen Lebensretter bei sich zu haben, und bemerkte insbesondere mit Vergnügen, daß Diava im dunkelblauen Auge des Anglo-Indiers mehr Geheimnisse zu lesen schien, als alle heiligen Bücher Indiens enthalten. Dhruva allein, von seinem Freunde und Diava etwas vernachlässigt, grollte dem Fremdling und entzog sich soviel als möglich dessen forschenden Blicken.

Da eines Tages belauschte Diava ein Gespräch zwischen Dhruva und ihrem Vater in der Pagode. Es war von ihrer Verbindung mit Elisha Tavor die Rede. Der Brahmane zeigte sich als der erbittertste Gegner dieser Heiralh und beschwor seinen Freund und Schüler auf den Knieen, Diava nicht einem Manne, den er haßte, zum Weibe zu geben. Das Mädchen konnte das außerordentliche Interesse, welches der Brahmane an ihrer Verheirathung zu nehmen schien, durchaus nicht begreifen.

Von dieser Stunde aber zeigte sie sich kälter gegen den Brahmanen, dem diese Aenderung tiefen Kummer zu verursachen schien. Die Scene in der Pagode hatte Diava dem Mann ihres Herzens mitgetheilt. Kurze Zeit darauf, des Nachts, lag Dhruva in tiefem Schlafe, da flüsterte ihm eine Stimme in´s Ohr: „Sarpa!“ Der Brahmane fuhr auf … Tavor stand vor ihm. Der Brite deutete stumm auf die nackte Brust des Indiers, wo eine blaue Schlange gemalt stand. „Sarpa“ heißt „Schlange“. Dhruva schloß blitzschnell sein Kleid, das Tavor ihm während des Schlafes geöffnet hatte, um ein geheimnißvolles Zeichen zu finden, welches seine Vermuthungen über die Person des Brahmanen bestätigen sollte. Dies Zeichen hatte er nun gefunden.

„Dhruva,“ sprach er langsam, „furchtbarer Würgengel, Haupt der Thugs, Deine Stunde ist gekommen!“

Der Brahmane starrte den Briten mit wilden Blicken an.

Tavor fuhr fort.

„Du hast längst den Sipoyofficier erkannt, der Deine Bande an den Ufern des Kaveri vernichtet. Du allein entkamst damals, heute bin ich da, um Dich den Schergen meines Königs zu übergeben.“ …

„Das heilige Gesetz verbietet Deinem Könige einen Brahmanen zu tödten,“ sprach Dhruva dumpf …

Der Engländer stieß ein spöttisches Lachen aus. „Hast Du vergessen, daß General Moore an einem Tage fünf gefangene Brahmanen aus einer Thugbande zu Seringapatam hinrichten ließ?“

Dhruva sank auf sein Lager zurück.

„Der Wille Brahma’s geschehe!“

„Nimm dies Gold hier, verlasse dies Haus, schwöre mir auf die heilige Welle des Ganges, nie mehr wiederzukehren, und Du bist frei!“

„Dies Haus verlassen?“ schrie der Brahmane in wildem Schmerze; „niemals!“

„Schwöre!“ drohte Tavor.

Der Brahmane umfaßte schluchzend die Kniee des Briten:

„Stoße mich nicht von dieser Schwelle, tödte mich lieber!“

„Ich gebe Dir Bedenkzeit bis morgen früh,“ schloß Tavor, die Pagode verlassend, indeß der Indier sich wie ein zerhauener Wurm auf seinem Lager wand.

Welch’ geheimnisvolle Bande mochten den früheren Thughäuptling an dies Haus fesseln? Das war das Geheimniß des Brahmanen, der trotzdem am kommenden Morgen verschwunden war. –

Von dem räthselhaften Verschwinden Dhruva’s, worüber sich alle Bewohner der Villa, Schapenham insbesondere, vergeblich den Kopf zerbrachen, datirte ein neues Leben für das indische Haus, aus dessen Mauern mit dem Brahmanen der fremdartige Geist entwichen schien. Mynheer Dirk wurde zugänglicher für seine Landsleute und legte in Gesellschaft selbst sein Brahmanengewand ab. Diava’s Glück verjüngte den sonderbaren alten Mann. Die Hochzeit beider Liebenden wurde auf den Geburtstag der Braut in sechs Mouaten festgesetzt, da der Bräutigam sich wichtige Familienpapiere aus Calcutta zu verschaffen hatte. Diava fand zwar die Zeit unendlich lange, indeß am Ende kam doch der Tag des „Beglückwünschungsfestes“, der in Holland jeder Heirath um eine Woche voranzugehen pflegt.

Tavor hatte Abends vorher ein Kistchen erhalten, welches den Poststempel „Madras“ trug. Er fand darin ein wundervolles Bouquet von den seltensten, farbenprächtigsten Blumen Indiens. Obwohl dem duftigen Geschenke nicht die geringste Angabe über den Spender beigegeben war, so zweifelte er dennoch keinen Augenblick daran, daß die Blumen ein Hochzeitsselam seines in Madras [123] ansässigen Bruders sein mußten, und beschloß seiner Braut den leuchtenden Blumengruß aus der fernen Heimath zum morgigen Tage darzubieten.

Nie hatte das düstere Brahmanenhaus so zahlreiche Gesellschaft gesehen, wie zum Tage der „Beglückwünschung“ der schönen Indierin. Diava bot mit strahlendem Antlitze ihren Gästen den „Brautzucker“ und den Festwein, den man in Holland so poetisch die „Brautthränen“ zu nennen pflegt. In ihrer Hand hielt sie den Prachtstrauß, dessen Duft sie von Zeit zu Zeit mit einer wilden Begierde einzuathmen schien.

Das Festgelage zog sich in die Länge. Papa Schapenham, um sich für seine langjährige Brahmanenenthaltsamkeit zu entschädigen, sprach dem goldnen Weine tapfer zu. Die Liebenden saßen dicht beisammen, ihr Hauch vermischte sich mit dem würzigen Odem der indischen Blumen, hinter denen Diava ihr erröthendes Haupt verbarg. Festfreude glühte auf jedem Antlitz. Da plötzlich tauchte der Kopf Diava’s hinter dem Strauße hervor … sie war todtenbleich … Tavor starrte seine Braut entsetzt an … In diesem Augenblicke erschien eine weiße Gestalt am Eingange, es war Dhruva, der Brahmane …

Ein Blick auf Diava, ein Angstruf: „Mein Kind!“ und der Indier riß die Blumen aus den Händen der Braut, die Tavor mit seinen Armen umfaßt hielt. Einen Augenblick stand der Bräutigam noch, dann brach er zusammen, und Beide lagen da im Tode verschlungen. Die indischen Blumen waren vergiftet …

Die Gäste flohen vor Entsetzen …

Der Brahmane aber ergriff den versteinerten Brautvater bei der Hand und zog ihn fort nach dem Wischnutempel. Hier begann er: „Wisse endlich das Geheimniß meines Lebens. Diava ist mein Kind und nicht das Deinige.“

Dirk van Schapenham stierte den Indier mit irren Blicken an. Dhruva fuhr fort: „In einer dunklen Nacht, wo die Zeichen der Göttin Kali schwiegen, überfiel der Brite Tavor mit seinen Sipoys eine Schaar Thugs am Strome und würgte sie alle, Weib und Kind bis zum letzten lebenden Wesen. Einer nur entkam mit einem neugeborenen Kinde, dessen Mutter im Todeskampfe lag. Auf der Flucht traf er Dein Landhaus. Du warst abwesend. Die Verfolger auf den Fersen, rettete er sich in das Schlafzimmer Deines Weibes, das mit ihren Dienerinnen in Thränen lag. Sie hatte vor wenigen Stunden ein Kind geboren, das Kind aber war todt. Sie hatte Mitleid mit dem Flüchtlinge und verbarg ihn; die Gefahr ging vorüber. Der Anblick Deines todten Kindes gab dem Verfolgten einen Gedanken ein. Wie sollte er seines geliebten Kindes Dasein fristen, bei dem Leben, das ihm gleich einem gehetzten Wilde bald in Waldeshöhlen, bald in den Einöden der Dschungeln bevorstand? Da machte er seinem Kinde das geheimnißvolle Zeichen auf die Stirn und gab sein lebend Fleisch für Dein entseeltes hin … Die Mutter und die Frauen jauchzten auf, denn sie wußten, daß Dein heißester Wunsch nach einem Kinde ging. Der Vater aber floh und lebte eimsam; denn Du weißt, ein entdeckter Thug kehrt nie mehr zu seinem Handwerk zurück. Der Thug war ich. Bald zog’s mich mächtig zu meinem Kinde zurück, und eines Tages kam ein Bettler an Deine Schwelle, Du speistest ihn. Der Bettler war ich. Einige Zeit darauf kam ein Mann, der sprach: „Ich bin ein Brahmane, der ein Opfer bringen will“. Du nahmst ihn auf. Der Brahmane war ich, denn echt Brahmanenblut strömt in meinen Adern … Ich sah mein Kind und sah, daß man streng das Geheimniß bewahrt. Dein Weib starb, Du wolltest Brahma’s Jünger werden, und ich kam für immer in Dein Haus. Jahre vergingen, ich lebte bei Diava und war glücklich. Da verließen wir das heilige Land und zogen unter diese bleichen, kühlen Menschen … was that’s? Ich lebte bei Diava, und sie liebte mich. Da kam der Fremde, er sah mein Kind und böse Lust stieg in ihm auf … umsonst versuchte ich alle Zauberformeln, der Dämon siegte, und Diava’s Herz wandte sich von mir …“

Hier hielt der Brahmane inne; Thränen stürzten aus seinen Augen.

„Sollte der Mann, der Diava’s Mutter und alle Unseren hingemordet, das süße Kind besitzen? Nimmermehr! – Er hatte mich erkannt und zwang mich im Geheimen, das Haus zu fliehen, wo meine Augenweide war – ich schwor ihm bei des heiligen Stromes Welle, niemals zurückzukehren …“

Dhruva stieß ein wildes Gelächter aus …

„Ein Schwur in den Wind war’s, denn wir Thugs schwören den furchtbarsten der Schwüre nur bei der ‚heiligen Axt‘, und längst hatt’ ich diesen Schwur gethan, unsern Todfeind zu vernichten. Ich ging … und heute bin ich wieder da … die Blumen waren meine Todesboten; ich sandte sie dem Feinde, damit er sterbe, bevor er meine süße Blume pflücke. Ich wollte den Adler würgen und zermalmte mit ihm die Taube. Brahma’s Wille war, daß Diava sterbe, Brahma sei verherrlicht in alle Ewigkeit.“

Mit diesen Worten verschwand der Brahmane in der Pagode.

Am Morgen fand man Dirk van Schapenham zu Füßen Wischnu’s … todt … Der furchtbare Schmerz hatte ihn getödtet.

Ein von zwei Jahren her datirtes Testament des Sonderlings vermachte sein ganzes Vermögen seiner Tochter Diava mit der Clausel, dem Brahmanen Dhruva die Broeker Villa mit allem dazu Gehörigen zur lebenslänglichen Benutzung zu überlassen. Tante Theobalde, die einen Theil der Erzählung des Brahmanen im Tempel belauscht hatte, klagte den Indier vor Gericht des vorbedachte Mordes an Elisha Tavor an. Da jedoch in der Voruntersuchung der Zustand unheilbaren stillen Wahnsinns bei dem Unglücklichen constatirt wurde, ließ man die Anklage fallen und installirte, dem Testamente gemäß, den harmlosen Irren in der Schapenham’schen Villa, nachdem die beiden anderen Hindus mit den nöthigen Mitteln zur Rückkehr in ihr Vaterland versehen worden waren. – –

Mein Freund hatte geendet. Tief erschüttert verließ ich das „Brahmanenhaus“ …

Ein Jahr darauf schrieb mir Baron H.: „Ich bin mit meiner jungen Frau auf Besuch bei Dhruva gewesen. Während wir im Tempel saßen, erschien der Brahmanengreis plötzlich am Eingange der Pagode. Er wankte einige Schritte vorwärts, sprach mit dumpfer Stimme das Wort ‚Aum‘ und brach beim Bilde seines Götzen todt zusammen. Sein letztes Wort war das mysteriöse Wort der indischen Dreieinigkeit gewesen, welches für die Brahmanen das ewige Leben in der Anschauung des allerhöchsten Wesens enthält.“ –

Heute ist das „Brahmanenhaus“ Eigenthum meines liebenswürdigen Reisegefährten, dem ich diese Mittheilungen verdanke.




Ein Morgen auf der Götterburg der Athener.

Ein schöner heller Frühlingsmorgen lächelt uns an. Von den benachbarten Bergen, die im Schimmer der eben aufgegangenen Sonne strahlen, weht uns der Wind die Düfte wilden Thymians zu. Der Himmel ist wolkenlos, die Luft von jener südlichen Durchsichtigkeit, bei der die Umrisse der Gegenstände auch von fern gesehen vollkommen klar und deutlich erscheinen. Wir stehen auf dem letzten einer Reihe mäßig hoher Felshügel, die sich ungefähr in der Richtung von Norden nach Süden über eine breite Strandebene hinzieht, welche ferner draußen im Osten und Norden von höheren und breiter hingelagerten Gebirgsmassen eingeschlossen ist, während im Süden, uns zur Rechten, ein weinfarbiges Meer glänzt. Den Mittelpunkt des Landschaftsbildes aber, auf das wir blicken, bildet ein Hügel, höher als unser Standort, auf seiner unteren Flanke großentheils kahl und nur hin und wieder mit Gruppen von Strauchwerk und niedrigen Bäumen bedeckt, gleich den anderen Höhen über der Ebene, oben zum Theil in schroffen Kalksteinwänden endigend. Den Gipfel des Hügels krönen graue Mauerläufe, über denen sich von dem safranfarbigen Morgenhimmel ein mittelalterlicher Streitthurm in einem Gewirr gelblicher Säulen mit und ohne Bedachung, und weiter oben zur Rechten die Front eines mächtigen Tempelbaues aus dem Alterthum abheben. Rechts von der Straße, die sich um den Trümmerberg windet, sind auf der Ebene einige riesenhafte Säulen sichtbar. Links, im Nordosten, steigt der Rauch einer Stadt auf. Droben bleibt Alles klar, still und einsam.

Es ist eine Erinnerung an Griechenland, die ich hier zu

[124]

Die Akropolis von Athen.
Areopagos. Pentelikos. Lykabettos.  Odeion. Hymettus. Jupitertempel.
Im Sommer 1868 nach der Natur aufgenommen von K. Sprosse.

[125]  WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [126] malen versuchte. Wir stehen auf einem der Türkenberge inmitten der Ebene von Attika. Der Rauch zur Linke steigt von Athen auf. Der eine der zerklüfteten Felsen auf dieser Seite ist der Areopag, wo das höchste peinliche Gericht der Athener seine Sitzungen hielt und wo Sophokles das Geschick des Oedipus enden läßt, der andere, der höher und ferner aufstrebt, der Lykabettos. Die beiden mächtigen Berge am nördlichen Horizont sind der Parnes und der Pentelikos, jenseit dessen Marathon, die erste Siegesstätte der Griechen im Perserkriege, liegt. Der gewaltige Höhenzug rechts im Osten ist der bienenumschwärmte Hymettos, die Ruinensäulen unter seinen Ausläufern in der Fläche gehörte einem Tempel korinthischen Stils an, den Kaiser Hadrian dem Zeus erbaute. Das weinroth schimmernde Meer im Süden trug die Flotte des Xerxes zur Schlacht bei Salamis. Der Hügel in der Mitte der Landschaft aber, der mit seinen Hallen- und Tempeltrümmern so hehr und still auf uns herniederschaut, ist die Akropolis von Athen, einst die Burg der Theseusstadt, der Wohnsitz ihrer höchsten Götter, der Brennpunkt alles dessen, was dem Volke Attikas als das Heiligste galt, die Verkörperung seiner edelsten Kunstgedanken, jetzt eine Ruinenstätte, aber die stolzeste und reichste in ganz Griechenland.

Steigen wir an der Hand der Erinnerung hinauf, um zu sehen, was die Akropolis einst war, als Perikles und Phidias ihre künstliche Ausschmückung vollendet, und was sie jetzt ist, nachdem Jahrhunderte der Barbarei über sie hinweggegangen. Ein Gefühl, gemischt aus Bewunderung und Wehmuth, wird uns begleiten, eine Fülle holder und erhabener Empfindungen uns aus allen Richtungen der Burg Pallas Athene’s zuströmen.

Der Hauptbau der Akropolis war im Alterthum der Parthenon, ein Tempel der jungfräulichen Göttin Athene, der unter der Leitung des Perikles und der besonderen Aufsicht des Phidias auf der Stelle eines von den Persern zerstörten älteren Heiligthums von Iktinos erbaut wurde und in welchem man zugleich den Schatz der Athener aufbewahrte. In geringer Entfernung davon, nach Nordwesten hin, erhob sich ein kleinerer Tempel, welcher eine Zusammensetzung mehrerer Heiligthümer, vorzüglich aber dem Erechtheus-Poseidon geweiht war, weshalb er jetzt den Namen des Erechtheions führt. Das Ganze war mit Mauern umgeben, die den heiligen Gipfel zugleich zur Citadelle von Athen machten. Den Eingang zu dieser Tempelburg ließ Perikles von dem Baumeister Mnesikles mit einer prachtvollen Thorhalle, den Propyläen, schmücken, zu der eine breite Freitreppe emporführte und neben welcher ein dritter, sehr kleiner Tempel sich erhob, welcher der Nike Apteros, d. h. der ungeflügelten Siegesgöttin, gewidmet war. Das Material aller dieser Bauwerke war der alabasterweiße Marmor vom Pentelikos, der indeß, da in ihm Eisentheile sind, im Laufe der Zeit gelblich wurde und überdies, wie jetzt feststeht, an vielen Stellen bunt bemalt war.

Von den Bildhauerarbeiten, welche die Akropolis zierten, können hier nur die bedeutendsten angeführt werden. Im Parthenon stand die Kolossalstatue der Athene als Jungfrau, die von Phidias aus Elfenbein und Gold geschaffen wurde. Zwischen jenem Heiligthum und den Propyläen erhob sich im Freien das sechszig Fuß hohe eherne Riesenbild derselben Göttin als Stadtbeschützerin, eine Statue, die mit der blitzenden Spitze ihrer Lanze den Schiffern draußen auf der See als Leuchtfeuer diente und deren ernstes Antlitz die Gothen Alarich’s von der Plünderung Athens zurückgeschreckt haben soll. Unten bei der Freitreppe lag eine eherne Löwin ohne Zunge, das Werk des Amphikrates, welches symbolisch die heroische Verschwiegenheit der Geliebten des Tyrannentödters Aristogeiton feierte. Weiter nach dem Areopag hin standen die Statuen Aristogeiton’s selbst und seines Freundes Harmodios, von denen ein bei athenische Gelagen beliebtes Lied sang:

„Im Myrthenzweig will ich tragen das Schwert,
0 Wie Harmodios und Aristogeiton,
Als sie den Zwingherrn erschlugen
0 Und den Athenern gleiches Recht schufen.“

In späterer römischer Zeit endlich erhob sich über der Freitreppe dem Niketempel gegenüber die Reiterstatue des Marcus Vipsanius Agrippa als Dankzeichen der Wohlthaten, die derselbe den Athenern erwiesen.

Von den gedachten Bildwerken ist jetzt nichts, von den Bauten dagegen sind sehr bedeutende Reste noch vorhanden, die wir nun in Augenschein nehmen wollen.

Die große Freitreppe, welche nach der Säulenhalle der Propyläen hinaufführt, ist jetzt zum Theil durch eine wahrscheinlich erst im Mittelalter erbaute Mauer verdeckt, in der sich ein hohes, nach oben sich verjüngendes Thor öffnet. Nur bei besonderer Veranlassung wird das Eisengitter aufgeschlossen, welches vor diesem Thore angebracht ist. Der gewöhnliche Aufgang zur Akropolis ist ein etwas weiter rechts befindlicher tiefer gewölbter Thorweg, durch den wir in einen schmalen Vorhof gelangen, welchen links Gemäuer überragt, während man zur Rechten in die Tiefe des Odeions des Herodes hinabblickt, eines in den Felsen gehauenen antiken Opernhauses, dessen halbkreisförmige Sitzstufen und dessen Bühne jetzt vollständig wieder ausgegraben sind. Weiter hinauf führt ein zweiter Thorweg in den Hof, in welchem die Veteranen wohnen, die mit der Bewachung der Akropolis beauftragt sind. Einer von ihnen geleitet die Fremden in’s Innere, und zwar nicht sowohl als Führer – denn diese alten Kriegsbärte sprechen nur griechisch – wie als Beaufsichtiger, eine Vorsichtsmaßregel vorzüglich gegen die Engländer, die alle einen Zug von Lord Elgin, dem Plünderer der hiesigen Kunstdenkmäler, zu haben scheinen und die, unbeobachtet, in nicht langer Zeit Parthenon und Erechtheion, Propyläen und Niketempel mit Meißel und Hammer zu Briefbeschwerern verarbeitet haben würden. Durch einen dritten Thorweg treten wir auf die halbe Höhe der großen Freitreppe hinaus, deren untere Hälfte Stufen zeigt, welche über die ganze Breite zwischen den Umfassungsmauern hinlaufen, wogegen die obere in der Mitte einen stufenlosen Raum für Wagen freiläßt und so sich in zwei Treppen theilt.

Von der Treppe zur Rechten steigen wir auf fünf kleinen Stufen nach einem bastionsartigen Vorsprung empor, auf dem der Niketempel steht. Derselbe sieht neben dem mächtigen Bau der Propyläen wie ein Kind neben der Mutter aus, ist aber älter als jene, da er kurz nach den Perserkriegen von Kimon erbaut wurde. Bei einer der Belagerungen, welche die Akropolis in den Kriegen Venedigs mit den Türken auszuhalten hatte, wurde er von einer Bombe zerstört, aber anderthalb Jahrhundert später setzten ihn kunstverständige Hände nach Beschreibungen von Reisenden, die ihn unzertrümmert gesehen, aus den umhergestreuten Bruchstücken wieder zusammen. Das Tempelchen, welches gegen Osten und gegen Westen eine Vorhalle von je vier schlanken ionischen Säulen hat und unter dessen Dach ein Fries mit stark verstümmelten Relieffiguren hinläuft, ist ein Muster von Ebenmaß und Zierlichkeit.

Die Propyläen, die wir, vom Niketempel wieder auf die große Treppe herabgestiegen, in nächster Nähe vor uns haben, gliederten sich einst in drei Theile: in der Mitte befand sich eine doppelte Eingangshalle, rechts und links sprangen Flügel nach Westen vor. Von diesen Flügeln ist nur der zur Linken, im Norden, noch sichtbar. Der andere ist in den Thurm verbaut, mit dem die Geschmacklosigkeit fränkischer Herzöge, die im Mittelalter hier hausten, den antiken Prachtbau verunstaltete. Die Eingangshalle zerfällt in eine vordere und eine hintere, der Himmelsgegend nach in eine westliche und eine östliche Hälfte, die durch eine Quermauer geschieden sind. Den Giebel der Westhalle tragen sechs dorische Säulen von siebenundzwanzig Fuß Höhe, von denen die beiden mittelsten, durch welche der Fahrweg eingefaßt wird, weiter auseinanderstehen als die nächsten. Von jenen Mittelsäulen führten als weitere Einfassung des Fahrwegs im Alterthum zwei Reihen schlanker ionischer Säulen zu dem großen Portal in der Quermauer, durch welches wir in die östliche Halle gelangen, die weniger tief und ohne die ionischen Säulen am Fahrwege ist. Der ziemlich gut erhaltene Nordflügel besteht aus einer Vorhalle von drei Säulen dorischer Ordnung, aus welcher wir in einen viereckigen Raum, die einst mit Gemälden von Polygnot und andern Meistern geschmückte Pinakothek, treten. In dieser sowie in der Mittelhalle ist gegenwärtig eine Anzahl von Sculpturresten, Rümpfen, Händen, Füßen von Statuen, Steinen mit Inschriften und dergleichen aufgestellt, unter denen sich einzelne gute Arbeiten befinden.

Treten wir aus der Osthalle der Propyläen, die als Ganzes trotz ihrer Zerstörung im Einzelnen immer noch einen großartigen Eindruck machen, in den innern Raum der Akropolis, so erblicken wir vor uns eine weite, zum Theil mit Gras und Gestrüpp bewachsene Trümmerstätte, auf der sich Ruinen aus dem Alterthum mit Resten moderner Gebäude mischen. Hier Spuren von Vorrathsgewölben einer neueren Festung, Cisternen, Grundmauern von [127] Casernen, eingeschossene Wände, zwischen denen Bombensplitter herumliegen, dort Haufen von Säulentrommeln, von Nesseln überwuchert, Deckensteine, Marmorgebälk, Basen mit Inschriften, Ornamente aus byzantinischer Zeit und die Fortsetzung des kleinen Museums von Sculpturen, welches in den Propyläen angelegt ist. Rechts und links vor uns aber erheben sich unter dem tiefblauen Himmel und übergossen mit dem Licht der südlichen Sonne die herrlichen Reste der beiden schönsten Tempel des perikleischen Athen: hier der Parthenon mit seiner majestätischen Einfachheit, dort das vielgegliederte, aus verschiedenen Stilen gemischte und doch anmuthsvolle Erechtheion. Als Staffage des Bildes mögen sich die Leser, die mir bis hieher folgten, die Ziegenheerde denken, welche bei meinem Besuch zwischen den Trümmern umherkletternd nach Kräutern suchte.

Das Erechtheion bedeckte nach attischer Sage die Stelle, wo Athene, als sie sich zugleich mit dem Meerbeherrscher Poseidon um das Patronat über die Stadt bewarb, die Athener mit Erschaffung des Oelbaums beschenkte, wogegen ihr Nebenbuhler mit seinem Dreizack ihnen eine Salzquelle öffnete. Die Göttin siegte, aber ihr Mitbewerber erhielt neben ihr gleichfalls einen Altar. Ein anderer Theil des Tempels war Kekrops, dem Stammvater und ersten König der Athener, und seiner Tochter Pandrosos geweiht. Ferner hatte Zeus hier eine Opferstätte. Endlich hat auch das Christenthum, indem es in das altgriechische Heiligthum eine byzantinische Kirche hineinschob, auf die jetzige Gestalt des Tempels eingewirkt. Die Türken wußten aus der Kirche nichts Besseres zu machen, als einen Harem. Auch die Griechen benutzten das Gebäude während der Belagerung der Akropolis durch Reschid Pascha als Frauenwohnung. In dieser Eigenschaft zerstörte es 1827 eine türkische Bombe, wobei eine Anzahl vornehmer Griechinnen den Tod fand. 1838 hat man dann den Bau nach Möglichkeit wiederhergestellt.

Das Erechtheion ist in der Hauptsache ein längliches Viereck, dessen Langseiten im Westen einen größeren nach Norden, und einen kleineren nach Süden gerichteten Vorbau haben. Im Osten beginnt das Tempelviereck mit einer Vorhalle, zu der drei Stufen hinaufführen und von deren sechs ionischen Säulen gegenwärtig noch fünf stehen. Im Innern führt längs der nördlichen Mauer ein Gang nach einem unterirdischen Raume, in dessen Steinboden wir vier Löcher bemerken – die Spuren jenes Dreizacks Poseidon’s, an denen die Alten bei Südwind den Schall der Meereswogen vernahmen. Ueber dieser Vertiefung erhebt sich der genannte nördliche Vorbau. Vier ionische Säulen treten nach Norden vor, je eine trägt das Dach auf der Ost- und der Westseite. Das Ganze ist mit seiner graziösen Leichtigkeit und seinen geschmackvollen Verzierungen ein Meisterwerk alter Baukunst.

Aus diesem halb über, halb unter der Erde befindlichen Haus des Erechtheus-Poseidon trat man im Alterthum durch die noch jetzt vorhandene Prachtthür, die aus der Nordhalle in das Innere des Gebäudes führt, in das Heiligthum der Athene Polias, in deren Westwand wir eine zweite Thür gewahrten, durch die man in den heiligen Bezirk des Tempels hinaustrat. Endlich ist die Südmauer dem großen Prachtportal gegenüber von einem Pförtchen durchbrocheu, von dem einige Stufen in den erwähnten südlichen Anbau, die sogenannte Halle der Karyatiden, hinabgehen. Das Dach desselben wird von sechs Marmorstatuen, attische Mädchen darstellend, statt der Säulen getragen, eine Composition, die ebenso reizend erfunden, als vortrefflich ausgeführt und infolge dessen von modernen Baukünstlern häufig nachgeahmt worden ist. Vier der Jungfrauen stehen an der Front gegen Süden, eine hinter der ersten und eine letzte hinter der vierten. Ihr Gesichtsausdruck vereint Ernst mit Lieblichkeit, ihre Gewänder zeigen den reichsten Faltenwurf. Während im Tempel der Polias das alte Holzbild der Stadtgöttin Athen’s aufbewahrt wurde, war hier in der Halle der Karyatiden vermuthlich das Heiligthum der Pandrosos und das Grab des Kekrops. Vermuthlich, sage ich; denn das Erechtheion ist das schönste, aber zugleich das noch am wenigsten gelöste der vielen Räthsel, welche die Akropolis den Alterthumsforschern aufgiebt.

Staunen wir vor dem Erechtheion über die heitere Zierlichkeit und jugendliche Schlankheit des ionischen Stils, so tritt uns im Parthenon der mehr auf den Ausdruck von Würde und Kraft gerichtete Sinn einer Kunst entgegen, die sich der dorischen nähert. Auch der Parthenon ist durch venetianische Bomben sehr zerstört, nachdem byzantinische Kaiser ihn in eine Kirche der Sophia verwandelt. In seiner ursprünglichen Gestalt war er ein rings mit Säulen umgebenes zweihundertundzehn Fuß langes, dreiundneunzig Fuß breites und sechszig Fuß hohes Gebäude in Quadratform. Drei Stufen führten zu den Säulen empor, von denen an jeder Langseite siebenzehn, an jeder Querseite acht sich erhoben. Die Höhe dieser mächtigen Säulen, von denen noch zweiunddreißig stehen, beträgt fünfunddreißig, ihr Durchmesser unten sechs und einhalb Fuß. Sie erscheinen schlanker und stehen etwas ferner von einander als die des eigentlichen dorischen Stils, auch ist die Ausladung ihres Capitäls nicht so wulstig wie bei jenen. Ohne den Charakter der Kraft und Würde zu verlieren, der jene Kunstrichtung kennzeichnet, tragen sie frei und leicht ihr wuchtiges, reichgeschmücktes Steingebälk.

Diese Säulen bildeten einen rings um die Cella, den eigentlichen Tempel, laufenden Gang, dessen innere Seite an den Langseiten hin die Quaderwände der Cella, an den Querseiten je sechs innere Säulen einfaßten, die etwas kleiner als die äußeren waren und mit diesen eine östliche und eine westliche Vorhalle bildeten. Ueber dieser wie über jener befanden sich in den Giebelflächen des Daches Bildwerke des Phidias in Marmor, von denen das im Osten die Geburt der Athene, das im Westen den Kampf der Göttin mit Poseidon um die Herrschaft über Attika zeigte. Zwischen den etwas hervortretenden Köpfen der Querbalken des Dachstuhls (Triglyphen) befanden sich mit Sculpturen geschmückte Platten (Metopen), welche, jede für sich ein abgeschlossenes Bild, die Hauptereignisse der attischen Sage, Thaten und Segnungen der Göttin des Tempels, Kämpfe des Theseus und seines Begleiters Herakles mit Kentauren und Amazonen darstellten. Endlich war innerhalb des Säulenumgangs, oben an der Mauer der Cella, ein großer Basrelief-Fries angebracht, dessen Gruppen den feierlichen Aufzug der Athener beim Feste der Panathenäen zeigten.

Der innere Raum des Parthenon war durch eine Quermauer in eine größere östliche und eine kleinere westliche Hälfte geschieden. Jene, deren Decke von sechszehn Säulen getragen wurde, war die Wohnung der Göttin, diese, die Westhälfte, hatte nur vier Säulen und diente zur Aufbewahrung des Staatsschatzes der Athener. Der Haupteingang des Tempels im Osten ist bei der Umgestaltung desselben in eine christliche Kirche vermauert worden. Trat man einst durch dieses östliche Portal ein, so gelangte man in einen Raum, der gerade hundert Fuß lang war und deshalb das Hekatompedon hieß. In der Mitte desselbeu war durch zwanzig Säulen ein längliches Viereck abgegrenzt, welches der Parthenon im engsten Sinne war, indem sich hier die große von Phidias aus Gold und Elfenbein gefertigte Bildsäule der Athene Parthenos erhob. Ueber den zuletzt erwähnten Säulen endlich befanden sich noch Galerien, auf denen das in der Mitte zur Erhellung des Heiligtums offen gelassene Dach ruhte.

Jetzt ist von allem dem nur noch ein Theil zu sehen. Die Nord- und die Südseite der Cella ist vollständig verschwunden und ebenso die Bedachung. Die Giebel sind allerdings erhalten, ihre Bildwerke aber sind bis auf geringe Reste fort, zum Theil vernichtet, zum Theil von Lord Elgin nach London gebracht. Von den sechsundvierzig Metopen wurde durch die Explosion, welche den Dachstuhl zertrümmerte, die größere Hälfte zerstört, und die, welche damals erhalten blieben, wanderten bis auf einige sehr verwüstete ebenfalls mit Lord Elgin nach England. Mehr ist von den Sculpturen des großen Basrelief-Frieses übrig geblieben, mit dem Phidias die Außenwand der Cella geschmückt hatte. Indeß befinden sich gegenwärtig nur die Platten der Westfront noch alle an ihrer Stelle, andere stehen im Innern des Tempels auf dem Boden, eine besitzt das Louvre, die meisten aber gingen in das Britische Museum. Die Bilder der Westfront, welche den Festzug der Panathenäen zeigen, wie er sich an seinem Ausgangspunkt ordnet und richtet, sind von besonderer Schönheit. Reiter schwingen sich auf ihre Pferde, einzelne tummeln sich schon, andere mühen sich ab, die feurigen Thiere zu bändigen, noch andere besänftigen sie mit schmeichelnder Geberde, einige sind noch mit Schuhanziehen und Mantelanlegen beschäftigt. Das Ganze zeichnet sich ebensowohl durch Leichtigkeit und Lebendigkeit als durch Ruhe und Einfachheit in der Composition aus.

In den Ruinen ist Alles still und einsam. Wie ganz anders als einst, wenn jener Panathenäenzug das Volk Athens hier oben zur Festfeier versammelte! Auf dem Kerameikosplatz drunten im [128] Nordwesten des heutigen Athen trat die Procession zusammen. Priester eröffneten sie, hinter ihnen wurden die bekränzten Opferthiere hergeführt. Dann folgten die Metöken, die in Athen ansässigen Fremden, welche die zum Opfer nöthigen Geräthe und Gefäße trugen. Ihnen zunächst schreiten im Zuge ausgewählte Jungfrauen von edlem Geschlecht, die wir uns den Mädchenbildern dort am Erechtheion ähnlich denken mögen, Körbe auf den Häuptern, welche heilige Gerste, Honig und Opferkuchen enthalten. Neben ihnen gehen Metökentöchter her, die sie mit Schirmen gegen die Sonnenstrahlen schützen. Aus der Mitte des Zugs der Jungfrauen ragt ihr Werk, das Prachtgewand, empor, mit dem das Holzbild Athene’s im Erechtheion bei diesem Feste neu bekleidet wurde. Es war ein Gewebe aus Scharlachtuch und Goldfäden, dessen Stickerei Thaten Athene’s darstellte, und beim Zuge war es segelartig am Maste eines Schiffes aufgespannt, welches auf Rädern fortbewegt wurde. Unter dem Vortritt von Musikchören folgen dann mit Myrthen bekränzte Jünglinge, die einen Choral zu Ehren der Göttin ertönen lassen. Dem Zuge der Jünglinge schließt sich der Zug der zum Dienst in schwerer Rüstung verpflichteten Männer an. Sie sind ebenfalls mit Myrthen geschmückt, aber auch mit Schild und Lanze bewaffnet. Ihnen folgt eine Schaar auserlesener Greise, Oelzweige in den Händen zu Ehren der göttlichen Spenderin des Oelbaums. Hinter ihnen wieder werden die Preise für die Sieger in den Wettspielen, welche das Fest begleiten, getragen, Olivenkränze und Krüge gefüllt mit Oel von den heiligen Olivenbäumen Athene’s. Den Schluß der Procession bilden die Gespanne und die Reitpferde, welche um jene Preise laufen sollen, und hinter diesen die gesammte vornehme Jugend Attika’s zu Rosse.

Mit Gesang und Musik bewegt sich der Zug, der die ganze Macht und Herrlichkeit des attischen Staates entfaltet, durch die schönsten Straßen der Stadt, die von den Freigelassenen mit Eichenlaub geschmückt sind, nach der Akropolis herauf. Die Opferthiere brüllen, die Rosse wiehern, Massen von Landleuten sind herbeigeströmt, Niemand darf sich sehen lassen, der nicht ein weißes Gewand trägt. Oben angekommen, theilt sich der Zug an der Westseite des Erechtheion, um am Eingang desselben auf der Ostseite wieder zusammenzutreffen. Die Bewaffneten legen Schild und Lanze nieder. Ein Herold spricht mit lauter Stimme das Gebet für das Heil aller Athener. Das Opferfeuer auf dem Altar vor dem Tempel wird angezündet, die Thiere werden geschlachtet, und während die Fettstücke brennen, ertönt rauschend der Päan zu Ehren Athene’s.

Wir haben von der Vergangenheit geträumt. Noch scheint die alte Sonne auf Athen und die Akropolis, noch glänzen die Berge wie einst, und noch ist über die Ebene die Heiterkeit von ehedem ausgegossen. Aber der Zug der Panathenäen erscheint nicht mehr vor der Burg Athene’s. Er ist zerronnen, verschwunden, zurückgekehrt nach dem Kerameikos und dort in die Gräber gestiegen, die sich in dieser Gegend des alten Athen befanden.




Blätter und Blüthen.

Das Geheimniß der alten Mamsell. Das nachfolgende Actenstück, welches wir einer freundlichen Einsendung aus Thüringen verdanken, wird sicherlich allen den zahlreichen Lesern von E. Marlitt’sDas Geheimniß der alten Mamsell“, welches, beiläufig, eben in seiner dritten Auflage versandt wird, von hohem Interesse sein, da es den authentischen Bericht der Fürstlichen Behörde über den merkwürdigen Vorfall giebt, der die erwähnte Novelle einleitet.

Arnstadt. 
Untersuchungs-Acten
wegen der hier zu Tode gekommenen Emilie von Linsky bei Gelegenheit der von ihrem Ehemann Louis von Linsky auf hiesigem Rathhaussaale dahier gezeigten mechanischen und physikalischen Kunstfertigkeiten.
Ergangen 
beim Fürstlichen Justiz-Amte Arnstadt 1829.     



Actum Arnstadt, den 9. November 1829,
Nachmittags ½3 Uhr. 

Als ich, der unterzeichnete hiesige Beamte, im Begriff stand, mich zur gehorsamsten Befolgung des vorliegenden hochverehrlichen Fürstlichen Regierungs-Rescripts zur vorzunehmenden Section des Leichnams der Frau von Linsky (zur Erläuterung des Nachstehenden bemerken wir, daß die Behörde eine gerichtliche Section der Erschossenen angeordnet hatte. Die Redaction) in dem hiesigen Gasthof zum goldenen Greif, in welchem die von Linsky’sche Familie bei ihrem jetzigen Hiersein logirt, abzugehen, wurde ich zu Seiner Excellenz dem Herrn Geheimen Rath von Kaufberg gerufen, und traf daselbst einen fremden Herrn an, welcher sich den Vater des angeblichen Ehemanns der erwähnten Frau von Linsky nannte und sich den Namen Ludwig von Linsky aus Warschau, 65 Jahre alt, beilegte.

Seine Excellenz der Herr Geheime Rath von Kaufberg eröffnete mir hierauf, daß dieser Herr die angeordnete Section seiner verstorbenen Frau Schwiegertochter soeben aus dem Grunde dringend verbeten habe, weil er befürchte, daß, wenn diese Section vor sich gehe, sein Herr Sohn, welcher gleich anfänglich derselben zuwider gewesen sei, in seiner bisherigen, durch das traurige Ereigniß herbeigeführten großen Schwermuth und Verzweiflung auf’s Aeußerste werde gebracht werden und hieraus die schlimmsten Folgen entstehen möchten, und daß daher – und weil überdies, dem Vernehmen nach, die Verstorbene kurz vor ihrem Ende gegen den Herrn Dr. Hunnius dahier geäußert haben solle, daß sie nicht möge secirt werden – um nicht das Leben einer zweiten Person auf’s Spiel zu setzen, in Voraussetzung der Richtigkeit dieser Aeußerung, die angeordnete Section unterbleiben möge.

Ich ging hierauf in den hiesigen Gasthof zum goldenen Greif, um in Betreff der von der Verstorbenen angeblich verbetenen Section mit dem Herrn Dr. Hunnius, welchen ich dieser Section wegen hier anzutreffen glaubte, nähere Rücksprache zu nehmen, und hörte von selbigem, den ich auch hier antraf, Folgendes: Die verstorbene Frau von Linsky äußerte gegen mich während ihrer Krankheit und kurz vor ihrem Ende, daß sie wünsche, es möchten die Kosten ihrer Beerdigung durch milde Beiträge bestritten werden, und es möge mit ihr weiter nichts vorgenommen werden; des Ausdrucks aber: sie möge nicht secirt werden, hat sie sich gegen mich nicht bedient.

Ich übertrug hierauf dem ebenfalls hier anwesenden und hieher bestellten Herrn Regierungs-Advocat und Amts-Actuarius Winter, diese Vernehmlassung des Herrn Dr. Hunnius Seiner Excellenz dem Herrn Geheimen Rath von Kaufberg zu hinterbringen und auf deren Grund sich weiteren hohen Befehl zu erbitten, welchen derselbe auch kurz darauf dahin überbrachte, daß der gebrauchte Ausdruck der Verstorbenen wohl nicht füglich anders als auf eine verbetene Section zu beziehen sei, und daher die vorgewesene Section unterbleiben möge.

Diese hohe Anordnung wurde hierauf von mir den ebenfalls zum Behuf der fraglichen Section anwesenden Herren Hofrath und Dr. Ortlepp, Rath und Dr. Rauch, Doctoren Wilhelmi, Nicolai und Hunnius, sowie dem Herrn Amts-Chirurgus Naumburg eröffnet, und wir alle schieden dann wieder von hier. Nachrichtlich wie oben. J. W. B. Franke.     
Das vorstehende Protokoll habe ich heute durchgelesen und ich bestätige die Richtigkeit desselben in Betreff meiner durch meine Namens-Unterschrift.
Arnstadt, den 10. November 1829. Ludwig v. Linsky.     




Geschehen 

Arnstadt, den 10. November 1829,     

Nachmittags 2½ Uhr. 

Begab sich der Herr Beamte, der Gerichts-Rath und Justiz-Amtmann Franke, nebst Unterzeichnetem Actuario in den hiesigen Gasthof zum goldenen Greif zu dem Herrn von Linsky in der unteren Gaststube. Der Herr Beamte eröffnete hierauf jenem, von der Fürstlichen Regierung dahin beauftragt worden zu sein, von ihm zu vernehmen: ob und in wiefern er in Hinsicht des vor einigen Tagen sich mit seiner nunmehr verstorbenen Ehegattin zugetragen habenden traurigen Ereignissen Jemand eine Schuld beimesse.

Derselbe ließ sich darauf also vernehmen: Ich heiße Louis v. Linsky, bin 28 Jahre alt, aus Warschau, katholischer Religion. Jener Unglücksfall hat sich blos dadurch ereignet, daß der Soldat, der meine verstorbene Frau erschossen hat, die ihm zugestellte Patrone an demjenigen Ende abgebissen hat, an welchem sich das Pulver, nicht aber die Kugel befand, welche letztere er, meiner Instruction gemäß, abbeißen sollte. Uebrigens kann aber auch die Schuld zum Theil an dem Unterofficier liegen, welcher die Patrone nicht mit der Kugel vorweg unter den Patrontaschenriemen gesteckt hat, sondern mit dem Pulver vorneweg, so daß der Soldat das heraussehende obere Ende mit der Kugel in die Hand bekam. Ob nun dieses der Fall ist, oder ob der Soldat die Patrone, die richtig unter dem Patrontaschenriemen mit der Kugel vorneweg stak, in der Hand vor dem Aufbeißen umgedreht hat, das kann ich nicht sagen. Vor der Vorstellung habe ich auch die Soldaten hinlänglich instruirt, dem Unterofficier habe ich vier Patronen gegeben, und dieser hat einem jeden der vier Soldaten eine mit der Kugel vorweg unter den Patrontaschenriemen gesteckt, und auf das erforderliche Commando hat auch jeder seine Kugel von der Patrone abgebissen und mir zugestellt. Nach diesem unglücklichen Ereigniß habe ich auch von drei Soldaten die Kugel wieder zurückerhalten, von dem vierten nur ein Stück leeres Papier. Uebrigens wünsche ich, daß weder der Unterofficier noch der Soldat zur Rechenschaft möge gezogen werden.

Vorgelesen und genehmigt und unterzeichnet

L. von Linsky.
 Nachrichtlich wie oben

M. Winter, Actuarius.     

 Zu gedenken,
daß, nachdem am 10. d. Mts. die vorliegenden Acten an die Fürstliche Regierung allhier brevi manu abgegeben worden, selbige von Hochderselben heute wieder anhier zurückgegeben worden sind.

Arnstadt, den 12. November 1829. J. W. B. Franke.     


Inhalt:


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Die Thugs sind bekanntlich eine seit jahrhunderten in Ostindien verbreitete furchtbare Secte, deren Cultus der Raubmord ist, den sie durch Erdrosselung ihres erkorenen Opfers zu vollziehen pflegen. Sie weihen ihrem Gotte Menschen, etwa wie der Priester der Gottheit ein Thier zum Opfer schlachtet.