Die Gartenlaube (1870)/Heft 13

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1870
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 13. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Aus eigener Kraft.
Von W. v. Hillern geb. Birch.
(Fortsetzung.)
14. Auf Trümmern.

O Majestät der Menschennatur! Im Höchsten wie im Niedrigsten kannst du deinen Purpur entfalten, denn er ist nicht von Sammet und Seide, dein Purpur ist die heiße Blutwelle, die ein mächtiges Gefühl, eine große That rascher nach Kopf und Herzen drängt!

Er ward nicht sichtbar, dieser Purpur auf der schwarzen Stirn des Negers, dennoch fühlten Alle die geheimnißvolle Nähe der Majestät in dem sonst so verachteten Menschen.

Und es war ihm einen Augenblick, da die erlöste Mutter zu seinen Füßen lag und die jauchzende Menge ihn umdrängte, als sei der Ehrentag für seine ganze Race angebrochen, als rauschten über ihm die Palmen seiner heißen Heimath und seine Brüder umringten ihn und sprächen: „Du bist unser König, denn Du hast uns die Freiheit erstritten mit Deinem Blute.“ Und aus seinen Augen brach ein Strahl so wunderbar, daß er sein ganzes Gesicht verklärte, und wer ihn jetzt sah, der fand ihn schön!

Am Boden bei Frau Hösli kniete ein unscheinbares stilles Wesen, das schaute aus blauen feuchten Augen zu ihm auf; es war ihm, als lächle ihn ein Stück seines heimathlichen Himmels aus diesem Blicke an, und die Brust ward ihm zu enge, es überkam ihn auf einmal wie Heimweh in all’ seiner Freude, wie ein unsägliches Heimweh, das nur der Tod stillen könne!

Jetzt regte sich Frau Hösli. Fräulein Körner nahm Frank das Kind ab und er half seine Herrin aufrichten und nach dem Hause führen. Der Traum war zerronnen, der kurze selige Traum von der Königskrönung, von den Brüdern, den Palmen und dem blauen Himmel der Heimath. Er war wieder nichts mehr als der einfache Diener, der nur seine Schuldigkeit that, wenn er das bischen Menschenrecht und Menschenglück, das ihm die Güte seiner Herrschaft gönnte, mit seinem Blut und Leben vergalt.

Das Haus war erreicht. Frau Hösli hatte immer noch nicht ihr volles Bewußtsein erlangt. Sie griff von Zeit zu Zeit nach Frank und dem Kinde, als wolle sie sich überzeugen, daß beide da seien, murmelte einige unverständliche Worte und sank, als sie ihr Lager erreicht, wie todt darauf nieder. Auch Aenny sprach wieder, aber verworren und fieberhaft. Fräulein Körner wollte sie zu Bette bringen, da schrie sie so verzweifelt nach Frank, er solle sie holen, sie halten, daß der Neger sie nehmen und in ihr Zimmer tragen mußte. Aber sie ließ ihn nicht mehr von sich weg. Kaum daß Fräulein Körner sie entkleiden konnte. Sowie sie ein paar Augenblicke lag, rief sie in Todesangst: „Ich falle, ich falle, Frank, Frank, komm, hilf mir!“

Frank fragte schüchtern Fräulein Körner und die eben erst eintretende Französin, ob er bleiben dürfe. Fräulein Duchèsne, welche stets vornehmer war als ihre Herrschaft, fand es nicht statthaft, Fräulein Körner aber erklärte energisch, sie wollte es bei Frau Hösli verantworten und Frank müsse bleiben, so lange es zur Beruhigung des Kindes nöthig sei.

Mit einem glückseligen Ausdruck setzte sich Frank an das kleine Bett und umschlang Aenny mit beiden Armen. Von dem Augenblick an ward sie ruhiger. Aber er durfte sich kaum bewegen, so fuhr sie aus ihrem Halbschlummer auf, rief erschrocken „Frank!“ und hielt seine Hand fest. Und mit einer Geduld, wie nur ein Mann von Frank’s Willenskraft sie hat, blieb der Mohr von diesem Augenblick an regungslos sitzen, wie aus Holz geschnitten. Kein Zureden half, sich wegzustehlen, als die Kleine wirklich fest schlief, sie hatte mit ihren Fingerchen immer noch Frank’s Rechte umschlossen und er wäre eher verschmachtet, als daß er sie dem Kinde entzogen hätte. Fräulein Duchèsne ging zum Abendbrod, denn nichts konnte sie dazu bringen, ihre gewohnte Eßstunde zu versäumen.

Fräulein Körner athmete auf, als sie hinaus war. Sie konnte den armen Frank nicht mehr so sitzen sehen. Noch immer triefte ihm der Schweiß seines mühevollen Werkes von der Stirn und die Wunden seiner Hände und Arme bluteten so, daß Aenny’s weißes Bettchen roth gefärbt ward. Fräulein Körner konnte nicht anders, ob schicklich oder nicht, ihr stilles Erbarmen war stärker als jedes Bedenken. Sie tauchte ein weiches Tuch in Wasser und wusch dem müden Manne, der keine Hand frei hatte, das Gesicht ab.

„Ah, wie das erquickt!“ sagte er dankbar und fast erschrocken über so viel Güte, „aber Sie werden mich nicht waschen weiß!“

„Das ist auch nicht nöthig, lieber Herr Frank! Es giebt Weiße mit schwarzen Herzen – und Schwarze mit weißen Herzen, das haben Sie uns heute gezeigt. – Bitten ziehen Sie nur einen Augenblick die Hand unter dem Kissen heraus – so!“ Sie wusch ihm das Blut aus und verband ihm die Wunden, so gut sie konnte, und machte mit liebevollem Eigensinn selbst die andere Hand aus der des Kindes los, um sie ebenfalls zu pflegen.

Frank ließ Alles mit sich geschehen, er war so verlegen und fühlte sich so unbeschreiblich geehrt, er wußte gar nicht, was er [194] sagen sollte. „Sie sind zu kindlich,“ brachte er endlich heraus, denn er meinte, „kindlich“ sei dasselbe wie kindly (gütig).

Fräulein Körner hatte ihm den Fehler schon früher corrigirt und wußte, was er meinte: „O,“ sagte sie, „ich thue nur, was Frau Hösli an meiner Statt auch thun würde, wenn sie könnte – ja, sie ließe sich’s gewiß nicht nehmen, wäre sie bei Besinnung, denn ach, lieber Herr Frank, was Sie für uns heute gethan haben, das ist etwas so Großes, so himmlisch Schönes! Aennchen ist nicht mein Kind, und doch könnte ich von nun an mein Leben für Sie lassen aus Dankbarkeit – wie muß es da erst der Mutter sein, der Sie das Kind gerettet!“

Frank hatte diesen Worten gelauscht wie im Traum, und als Fräulein Körner, von ihrer Bewegung überwältigt, schwieg – da wußte er sich gar nicht mehr zu fassen und zu lassen, er legte das Gesicht auf den Rand von Aenny’s Bettchen und fing an laut zu weinen und zu schluchzen, daß es den mächtigen Körper ordentlich auf und nieder warf.

Fräulein Körner erschrak und Aenny fuhr auf: „Frank, Frank, ich halte mich nicht mehr, Frank, wo bist Du?“

Da ward er sogleich still, schlang wieder seine Arme um das Kind und verwendete kein Auge mehr von ihm.

Es begann zu dunkeln. Fräulein Körner stahl sich leise hinaus und kam bald mit einem reichlichen Vesperbrod zurück. „Lieber Herr Frank, Sie müssen etwas essen! Sie sind ja auch nur ein Mensch und hatten nichts zu Mittag.“

Aber Frank schüttelte mit dem Kopfe und deutete auf Aennchen.

„Ei nun, da schaffe ich Rath. Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen, sagte mein seliger Vater immer.“ Und sie hielt ihm ein Glas schäumenden Bieres an die Lippen, daß er trinken mußte, ob er wollte oder nicht. Und er trank. So hat noch kein Mensch getrunken. Es fiel, was man sagt, wie Wasser auf einen heißen Stein. Seit der furchtbaren übermenschlichen Anstrengung bei der Hitze der erste Tropfen, der seinen vertrockneten Gaumen netzte. Fräulein Körner sah, wie er das kühle Naß einsog, in ihrem Leben hatte ihr nichts so wohl gethan, wie die Wohlthat, die sie dem durstenden Mann erwies. Sie neigte geschickt das Glas, daß er in vollen Zügen schlucken konnte ohne abzusetzen, bis kein Tropfen mehr drinn war.

„O thank you, thank you, Miss!“, sagte er mit einem tiefen Athemzug – „o, war das gut, Miß, war das gut!“

Fräulein Körner wischte sich die Augen – es war doch eigentlich gar kein so rührender und poetischer Moment, und doch waren sie ihr feucht geworden. „Kein Mensch auf Erden hat den Trunk, der ihn labte, besser verdient als Sie heute,“ sagte sie so recht aus ihrem vollen warmen Herzen heraus. Und dann schnitt sie Brod und Fleisch, das sie mitgebracht, steckte ihm die Bissen mit ihren schlanken Fingern in den Mund und sah vergnüglich zu, wie die glänzend weißen Zähne das knusperige Brod zermalmten.

„Dearest Miss, dearest Miss, was soll ich thun for Ihnen – for zu danken Ihnen, daß Sie sind so gut for mich?“

Fräulein Körner legte ihm die Hand auf die Schulter, während sie ihm das letzte Stück reichte, und schaute in seine schwarzen Augen, in diese wunderbar schönen traurigen, unergründlich tiefen Augen und sagte weich: „Sie lieber, guter Herr Frank, helfen Sie mir, unserer braven Herrschaft das Kind wieder aufbringen, ich fürchte, es wird von der Angst recht krank. Wir wollen’s nie verlassen, wir sind ja doch die Einzigen unter den Dienstboten, die es lieb hat. Nicht wahr?“

„Yes, o ja!“ rief Frank und diesmal zog er sogar seine Hand aus der Aenny’s, um die dargebotene Rechte des Fräulein Körner zu schütteln.

Die Beiden waren in dem Augenblick so glücklich, sie konnten sich gar nicht sagen wie sehr. Sie schüttelten und schüttelten sich immerfort die Hände und wäre Fräulein Duchèsne nicht eingetreten, sie hätten gar nicht mehr aufgehört.

„Monsieur est arrivé,“ sagte sie so ruhig, als sei Herr Hösli von einer Spazierfahrt zurückgekommen, und setzte sich an das Fenster möglichst weit von Frank weg.

„O lieber Gott, der arme, arme Herr!“ rief Fräulein Körner, „wie wird er’s tragen?“

Sie kannte die Schweizer nicht, sonst hätte sie’s gewußt!

Herr Hösli war sogleich nach Eintritt des Unglücks von demselben telegraphisch unterrichtet worden. – Der Candidat erwartete ihn mit dem Großvater an der Bahn.

„Lebt er noch?“ war das Einzige, was er schon aus dem Wagenfenster ihnen entgegen rief. Sie schwiegen – da schwieg auch er. Es war nichts weiter zu sagen. Er strauchelte, als er in die Droschke stieg, die Herren mußten ihn stützen. „Excusez,“ stammelte er nach Züricher Art, dann kam kein Wort mehr über seine Lippen. Von Aenny’s Todesgefahr und Rettung wußte er noch nichts. Sie wollten es ihm erst auf der Heimfahrt erzählen, aber sie brachten es nicht über sich. Beide fühlten gleichmäßig die heilige Unnahbarkeit solch eines stummen Schmerzes, sie wagten nicht mit einem Wort das Schweigen zu unterbrechen. Wo ein Sterbender liegt und wo ein großes Glück im Menschenherzen mit dem Tode ringt, da muß es still sein ringsumher und die theilnehmende Liebe verharrt in ehrfurchtsvoller Scheu.

So kamen sie an. Der Candidat entfernte rasch die laut weinende Dienerschaft, die sich herandrängte. Auf den Arm des Großvaters gestützt, schritt Herr Hösli durch die Hausflur. Er blieb stehen. „Wo ist meine Frau?“

„Auf ihrem Zimmer bewußtlos.“

„Und er?“

„Wir haben ihn einstweilen in seine Stube gelegt,“ sagte der Großvater. „Willst ihn sehen? Wart’ lieber noch ein wenig.“

„Ich muß zu ihm!“ sprach Hösli und der Großvater führte den Sohn zu der Leiche des Enkels. „Geh’, Großvater – geh’ lieber,“ stammelte Herr Hösli und der alte Herr ging hinaus zu dem Candidaten und beide warteten vor der Thür.

Als Herr Hösli allein war, schloß er zuvor alle Riegel zu. Dann schwankte er zu dem Bette und nahm die Hülle von der Leiche. Das schöne Antlitz war unversehrt, aber – – – Die draußen hörten einen schweren dumpfen Fall, sie wollten eintreten, doch es war geschlossen. Sie horchten, lange rührte sich nichts mehr. Es ward Nacht.

Da endlich vernahmen sie Geräusch und sahen einen Lichtstrahl durch die Spalte. Der Großvater rief hinein, ob Hösli nicht öffnen wolle, aber er antwortete wieder nicht. Der alte Mann ängstigte sich mehr und mehr, endlich ertrug er es nicht länger.

„Herr Candidat,“ sagte er, „wenn Sie auch nur wollte um’s Haus ummeschliche und am Fenster lohse, ob ihm öbbe nit guet isch!“

Der Candidat war gerne bereit, auch ihn beunruhigte das Schweigen Hösli’s. Er ging um das Haus und trat zu dem niedrigen Fenster des Erdgeschosses. Die Vorhänge waren herabgelassen, aber das Fenster geöffnet. Er konnte durch die Spalten sehen. Da saß Herr Hösli auf dem Bettrand und hatte den verstümmelten Körper des Sohnes wie ein Kind im Arm und wiegte und streichelte und küßte ihn und flüsterte zwischendurch immer dasselbe: „Mi Büebli, mi lieb’s Büebli!“

Und das klang so erstickt durch die Thränen und war so unbeschreiblich zärtlich, so herzzerreißend in der steten Wiederholung, als hoffe er, der Todte könne es doch endlich hören, wenn er nur nicht müde werde es ihm zuzurufen, und als finde der namenlose Schmerz keinen anderen Ausdruck, als den, mit welchem vor zwanzig Jahren der glückliche Vater den erstgeborenen Sohn in seinen Armen empfangen haben mochte. Alles, alles war vergessen, jeder Zwiespalt des Lebens verwischt und der hülflose Leichnam ward für das Herz des Vaters wieder jenes hülflose unschuldige Knäblein, das er einst in unnennbarer Liebe an seine Brust gedrückt. Damals hatte er das Kind zum ersten Schlummer in die trauliche Wiege gebettet, und nun sollte er’s in eine andere Wiege betten zum letzten, zum ewigen Schlaf. Ende und Anfang stießen aneinander, der Ring hatte sich geschlossen, aber ach! so früh – zu früh. Der Ring war zu eng, er schnürte das zuckende Vaterherz zusammen wie ein eiserner Reif, daß es zwischen dem Einst und Jetzt fast zermalmt ward.

„Mi Büebli, mi arm’s lieb’s Büebli,“ schluchzte der unglückliche Mann laut und lauter, und Feldheim eilte vom Fenster, das Herz wollte ihm brechen.

Am andern Morgen erst trat Herr Hösli aus dem Leichenzimmer. Er sprach nicht und weinte nicht, aber die ihn sahen, meinten, er sei über Nacht einen Kopf kleiner geworden, so gebeugt war die hohe Gestalt. Als er den Flur nach Frau Hösli’s Zimmer hinschritt, kam sie ihm, von den Großeltern geführt, entgegen und sank still an seine Brust. Sie hatte sich mit Mühe vom Bette aufgerafft, auch sie weinte und klagte nicht. Sie konnte nur nicht recht gehen, ihre Füße waren wie gelähmt und versagten ihr immer [195] noch den Dienst. Sie hielt den Gatten lange still umfangen. Die Großmutter war die Erste, die sprechen konnte und dem Sohn erzählte, wie viel unglücklicher sie noch hätten werden können, wenn der Mohr nicht gewesen wäre, und wie man Gott für das danken müsse, was er einem noch gelassen und so wunderbar gerettet habe! Die kleine alte Frau, eine Zwinglianerin von echtem Schrot und Korn, war aufrecht und stark in ihrem festen Glauben, daß „Alles wohlgethan, was der Herr thut,“ und ihre einfachen Worte waren wie eine beruhigende Arzenei. Was hat auch solch’ alte Mutter schon Alles verloren, wie hat sie sich geübt im Leiden, wie viel Schmerzen sind über ihr Herz hingegangen, bis sie ihr Kind groß gezogen! Und wie sie’s vom ersten Lallen an belehrt und in allem Guten unterwiesen, bis es über sie hinauswuchs und nichts mehr brauchte, als ihre Liebe, die der echte Mensch nie missen lernt, so bleibt auch noch für die spätesten Jahre übrig, was die Mutter und nur sie dem Kinde zu lehren vermag – die Geduld im Leiden! Es ist ein heiliger Augenblick, wo solch’ eine Mutter den eigenen Jammer um den des Kindes hinunterkämpft und ihm den letzten, den schwersten Unterricht giebt, den das Unglück zu tragen. Und Herr Hösli bückte sich zu der kleinen Mutter nieder und drückte sie an seine Brust. „Ja, Müetti,“ sagte er, „wir wollen’s aushalten.“ und die Beiden verbargen in liebender Schonung Eines vor dem Andern ihre Thränen.

Dann wandte er sich nach Aennchens Zimmer, aber Frau Hösli stand hülflos da und streckte ängstlich die Arme aus. „Ich bitte Euch, helft mir, ich kann ja nicht gehen!“

Herr Hösli sah sie erschrocken an. „Was ist das, Frau?“

„O, es ist eben von dem Schreck, es wird schon besser werden,“ sagte sie und lächelte. Es war ein trauriges Lächeln.

Die Männer stützten sie und sie schleppte sich mühsam bis zu Aennchen. Als sie eintraten, fanden sie Frank wieder bei dem Bette des Kindes. Er stand auf. „Komm’ her, Frank,“ rief Herr Hösli, noch bevor er das Bett erreicht. Frank ging ihm entgegen und Herr Hösli schloß den Neger in seine Arme. „O, das ist zu viel für mich!“ sagte Frank verwirrt und erschüttert. Fräulein Körner, die von ferne stand, sah mit leuchtenden Blicken zu. Frau Hösli überzeugte sich sorgenvoll, daß Aenny noch immer nicht bei Besinnung war. Der Arzt hatte erklärt, sie sei bei dem Herabstürzen an dem Seil mit dem Kopf gegen die Mauer angeprallt und habe eine leichte Gehirnerschütterung erlitten.

„Man muß Geduld haben,“ tröstete der Großvater. Frau Hösli nahm Frank’s Hände in die ihren. „Mein Frank, hat man denn auch für Dich gesorgt und Dich gepflegt nach Deiner schweren That? Ich konnte mich ja um nichts kümmern!“

Frank deutete auf Fräulein Körner und es war, als ob er unter seiner dunkeln Haut erröthete. „O, sie war so gut zu mir – „o, she is an angel!“

Bei Fräulein Körner sah man es besser, daß sie erröthete, als bei dem Mohren.

„Ich dachte, ich handelte im Sinne meiner Herrschaft.“

„Sie hatten Recht, liebe Ida.“ Frau Hösli küßte sie auf die Stirne. „Ich danke Ihnen dafür!“

„Habt Ihr den Lasso nicht aufgehoben, der unser Kind retten half?“ fragte Herr Hösli.

„O, mein Gott, daran dachte wohl Niemand,“ rief Frau Hösli, „wie schade!“

„Doch, hier ist er!“ Fräulein Körner holte ihn aus einem Kasten hervor. „Ich habe ihn Aenny abgenommen und aufbewahrt.“

„Frank,“ sagte Herr Hösli „dies ist ein Band, das Dich untrennbar mit uns verbindet. So fest diese Schlinge, die Deine Eisenfinger knüpften, den Stein hielt, den nur eine Faust wie die Deine schwingen konnte, so fest wollen wir Dich halten in Liebe und Dankbarkeit, Du seltener, treuer Mensch. Wenn wir Dich bisher nur als Diener behandelten, so vergieb uns, wir wußten nicht, wer Du bist. Jetzt wissen wir’s und wollen das Versäumte nachholen.“

Die Herrschaft hatte das Zimmer verlassen. Frank stand noch immer wie verzaubert an derselben Stelle. „A dream, it is a dream!“ murmelte er vor sich hin. Da legte sich etwas weich und warm auf seine gefalteten Hände. „Kein Traum, Herr Frank!“ sprach Ida Körner. „Nicht mehr als Sie verdienen! So hat mich in meinem Leben nichts gefreut, als die Worte, die Herr Hösli an Sie richtete. O, die glücklichen Leute, sie sind reich und können Ihnen danken, wie sie nur wollen, können Ihnen Alles geben, was Sie sich nur wünschen mögen! Ich würde Ihnen so gerne auch etwas geben, aber ich habe nichts – ich bin so arm.“

Frank hätte ihr gern allerlei erwidert, aber er wußte nicht, wie er es auf Deutsch sagen solle. Er streichelte ihr nur sanft die kleine weiße Hand, die immer noch in der seinen ruhte, und sie wunderte sich, wie weich und zart die schwarze Faust des Negers war, fast so weich wie eine Frauenhand. Und sie empfand die kindlich liebkosende Berührung des gewaltigen Mannes mit einem süßen Behagen; aber dann erschrak sie über dies Gefühl, ward befangen und entzog sich ihm rasch. Da schaute er sie so verschüchtert und so traurig an mit seinen großen Augen, daß es sie in tiefster Seele rührte. Noch eben hatte sie Alles für ihn thun wollen in dem überströmenden Gefühle ihrer Bewunderung, und jetzt konnte sie ihn kränken durch die geringste Unfreundlichkeit? Nein, das war zu kleinlich!

Und sie reichte ihm schon wieder die Hände und sah ihm in die Augen, in diese „unergründlich tiefe Nacht“, wie der Dichter singt. Und es war ihr, als ob das träumerische, geheimnißvolle Dunkel all ihr Denken einschläfere, daß sie nur noch ruhen möchte in seinem Schatten. – –

So verlebten die Beiden wehmüthig glückliche Tage an dem Bette des Kindes und wurden kaum jemals gestört, denn Fräulein Duchèsne, welche nur als eigentliche Institutrice im Hause war, betheiligte sich wenig an der Krankenpflege, und Eltern und Großeltern wurden durch die Sorgen und schmerzlichen Geschäfte des Begräbnisses fern gehalten.

Der schwere Augenblick war da, wo der irdische Rest eines stolzen jungen Daseins in dem elenden hölzernen Kasten der Erde übergeben werden sollte. Und die Theilnahme der ganzen Bevölkerung Zürichs suchte und fand ihren Ausdruck in einer Feier, wie keine schönere dort erlebt war.

Es war, als sei das Grab des jungen Mannes das Maß geworden, worin die Höslis die Liebe und Achtung messen konnten, die sie genossen.

Nicht zu zählen waren die Blumen die den Sarg bedeckten, und die ganze „Enge“ war schwarz von Menschen, die Kopf an Kopf gedrängt standen, den jungen Wanderer auf dem letzten Wege zu geleiten. Zunächst dem Hause warteten die achthundert Arbeiter der Hösli’schen Fabrik, die Hüte in der Hand, gesenkten Hauptes, und wem von ihnen sich je das Herz in Bitterkeit gegen sein Schicksal und in Neid gegen den reichen Herrn gewendet haben mochte, der war versöhnt, denn der reiche Herr hatte es ja auch nicht besser gehabt und gewollt als der ärmste Tagelöhner, er hatte sein Leben eingebüßt bei seiner Arbeit. Mehr konnte Keiner thun, und sie betrauerten ihn so aufrichtig wie Einen Ihresgleichen. Lautlos harrte die Menge im Garten und auf der Straße. Die sämmtlichen Gesangsvereine Zürichs hatten sich um die Thür im Halbkreise aufgestellt. Es war ein herrlicher Tag, die ganze Natur sandte dem Todten einen freundlichen Scheidegruß.

Endlich erschien der Sarg unter der Thür und aus fünfhundert Kehlen erscholl der Chor. „Rasch tritt der Tod den Menschen an!“ Und die gewaltige Todtenklage zog über den See hin, daß die Schiffer anhielten, zu lauschen, und schwang sich in den lichten Aether hinauf, daß die Sonne zu erbleichen schien, und ein herbstlicher Luftzug strich frostig über die entblößten Häupter hin.

Und Herr Hösli der Vater – fast brach er zusammen, als er so seinen eigenen stummen Schmerz in Tönen laut werden hörte. Aber er war so schön, dieser Schmerz, wie er so in mächtigen Klanggebilden himmelan stieg, er erschien ihm plötzlich wie eine Gottheit, die ihn, den einfachen Mann, gewürdigt hatte, in seiner Brust einzukehren, und wenn sein Herz gebrochen wäre unter der göttlichen Berührung, er hätte es in diesem Augenblick als eine Wohlthat empfunden. Eine Tröstung war über ihn gekommen, die wunderbare Tröstung, die in allem Schönen liegt!

Langsam und hoch schwankte der Sarg, von zwölf Jünglingen auf den Schultern getragen, wie ein schwarzer Schwan auf der dunkeln Fluth von Menschen daher. Zunächst folgten die Geistlichen, der Vater und Großvater, die beiden Söhne an der Hand, und zwischen ihnen Frank. Dann kamen die übrigen Verwandten und alle Züricher Behörden und Freunde, darunter auch der Freiherr und Egon mit den Knaben Alfred und Victor. Endlich [196] schlossen sich die Arbeiter an. Voraus zogen die Chöre mit ihren von Trauerflor umhüllten Fahnen. Es war ein Zug von der Länge einer halben Stunde. Als sie an der Fabrik vorbeikamen, wurde einen Augenblick Halt gemacht. Die Unglücksstätte war mit grünen Reisern und schwarzen wallenden Fahnen geschmückt, seitwärts lag noch immer der geborstene Kessel wie ein Kämpfer auf dem Schlachtfeld, der zugleich mit seinem Opfer den Tod gefunden.

Unter den Tannen und Fahnen hatte sich das städtische Orchester aufgestellt. Posaunenstöße empfingen den Sarg, daß es von den Bergen wiederhallte wie ein Echo des furchtbaren Schlachtgesanges, mit dem vor drei Tagen das empörte Element seine Bande sprengte. Aber es war nicht der Donner wilder Verwüstung, es war der alte Choral „Eine feste Burg ist unser Gott!“ Es klang fast wie ein Hohn, dies Lied, auf dem Schutthaufen, der eines braven Mannes Fleiß und Hoffnung begraben. Aber es war doch kein Hohn, denn wo die Erde wankt und Menschenwerk und Glück zusammenstürzt, da baut der Glaube auf den Trümmern weiter, und keine äußere Macht erschüttert seinen Grund!

Die letzten Töne waren verhallt. Die Musiker folgten der Leiche, Alles war vorüber. Es war still und einsam auf dem Schutt. Die schwarzen Fahnen rauschten leise im Winde und verscheuchten die Vögel, und mit leeren Augenhöhlen starrten die verödeten Mauern des Unglücksortes dem Trauerzuge nach.

Da wankte still und bleich eine Frauengestalt, von zwei Männern gestützt, herbei. Es war Frau Hösli, sie konnte noch immer nicht gehen. Sie ließ sich auf einen Stein nieder und die Männer gruben zu ihren Füßen mit Hacke und Schaufel nach, wo der Verunglückte gelegen hatte. Frau Hösli’s Augen durchforschten eifrig den Schutt. Die Mutter hielt Nachlese nach der Ernte des Todes, sie suchte die Ueberbleibsel des verlorenen Sohnes zusammen. Sie hatte keine Thränen bei dem furchtbaren Geschäft. Jetzt bückte sie sich und hob etwas auf, etwas wie eine blutige verstäubte Locke. Welch ein Fund war das für das verarmte Herz! Fast eine Stunde mochte sie so gesessen und manch’ schreckliches Kleinod gefunden haben. Da schlug es Vier. Sie ließ sich von den Männern aufheben. „Kommt, Leute,“ sagte sie ruhig, fast mechanisch; „es ist nun wohl Alles, was gefehlt hat, und Ihr müßt vespern.“

Sie ging.

Und wieder war es still und einsam auf dem schaurigen Platze, und wieder rauschte ein düsteres Heldenlied vom Kampf des Geistes mit der Materie durch die Trauerfahnen.




15. Um ein Haar.

Herr Heiri Hösli war in Wahrheit gestorben als Held. Die Aussagen des Heizers, der mit ihm zugleich ausgegraben worden, bewiesen glänzend, daß Heiri sich mit ihm noch flüchten gekonnt, wenn er nicht voll Todesverachtung versucht hätte, den Kessel und das Gebäude zu retten. Dieser Pflichttreue war er zum Opfer gefallen, wie schon Mancher, dessen Todesmuth unter stummen Splittern und Trümmern begraben keinen Homer seiner Thaten fand – auf dessen blutige Wahlstatt kein Schatten eines Lorbeerzweiges fiel.

Der Heizer, welcher sich sterbend glaubte, bekannte freimüthig, daß er sich einer Versäumniß in der Speisung des Kessels schuldig gemacht. „Die Turbine hatte in Folge der andauernden Trockenheit nicht mehr Wasser genug,“ gab der Mann zu Protokoll, „wir mußten deshalb die Spannung des Dampfes von vier auf sechs Atmosphären erhöhen. Ich war bei dem früheren Betriebe gewohnt, die Speisepumpe regelmäßig alle halbe Stunden in Gang zu setzen, durch die verstärkte Feuerung und den vermehrten Dampfverbrauch sank jedoch der Wasserstand im Kessel weit rascher, als ich glaubte. So wie ich den niedrigen Stand des Wassers wahrgenommen hatte, setzte ich schleunigst die Speisepumpe in Betrieb und verminderte die Feuerung unter dem Kessel, wobei ich durch die geöffnete Feuerungsthür sah, daß die oberen vom Feuer bestrichenen Kesselwandungen rothglühend geworden waren. Während dessen war Herr Heiri Hösli eingetreten. Er erkannte sogleich die Gefahr und da er schon ohnehin in großer Aufregung war, schalt er, daß wir Deutschen nichts verstünden, und beklagte bitter, daß ihm der Engländer, den er mitgebracht, unterwegs krank geworden sei. Der Zeiger des Manometers stieg außerordentlich rasch, die Gefahr hatte ihren Höhepunkt erreicht und ich sah, daß nichts übrig blieb, als zu flüchten, so schnell wie möglich. Ich hielt mich in der Nähe der Thür und beschwor unseren Herrn, mit mir zu gehen. Er aber wollte es mit Gewalt erzwingen. Er kannte keine Furcht und wollte den Kessel retten um jeden Preis. Er sprang dem Sicherheitsventile zu, um dasselbe zu entlasten. In diesem Augenblicke erfolgte ein Knall, es war mir, als schlüge sich mir der Kessel um den Kopf, und ich verlor das Bewußtsein.“

So lautete die Aussage des Heizers.

„Also doch Einer, der auch in diesem Beruf sein Leben hingab für seine Pflicht!“ sagte Alfred zu Egon, als die Zeitung das Protokoll veröffentlichte.

In Alfred’s Wesen war eine Veränderung vorgegangen. Seine schüchterne Sanftmuth war einer ernsten verschlossenen Haltung gewichen. Ein eigenthümliches trotziges Mißtrauen lag in seinem Wesen Egon gegenüber.

„Onkel Egon,“ sagte er, „Du hast Deine Mitmenschen verleumdet. Der Mohr, den Du ein Thier nanntest, hat Dich beschämt, Dich, den stolzen Johanniter, und der selige Herr Hösli hat uns bewiesen, daß die Industrie Raum genug für hochherzige ritterliche Gesinnung läßt! Was, Onkel Egon – was soll ich Dir nun noch glauben?“

„Es scheint fast, als wäre das Unglück nur geschehen,“ lächelte Egon, „um mich und meine Grundsätze bei meinem philosophischen Herrn Neffen zu discreditiren. Das wird sich Alles machen, wenn Du einmal, wie doch früher oder später geschehen muß, in eine große Stadt kommst und den Kreis Deiner Anschauungen erweiterst.“

„Onkel,“ rief Alfred und schüttelte seine blonden Locken, „wenn Du den Vater überredest, Mich hier fortzubringen, dann ist es ganz dasselbe, als ob Du mich in den See würfest. Mich ekelt es an, dahin zu gehen, wo alle Menschen so denken wie Du!“

„Alfred!“ rief seine Mutter, aber er hörte nicht, er hatte bereits das Zimmer verlassen. Adelheid war sprachlos vor Staunen. „Wie wird der Knabe?“ sagte sie.

„Wie Du ihn erzogen hast, meine Theure,“ lachte Wika und ging Alfred nach.

Adelheid und Egon waren allein.

„Der Bursche haßt mich aus Eifersucht,“ sagte Egon und drückte Adelheid’s Hand an die Lippen. „Er war es bisher gewöhnt, daß Du Dich um Niemand kümmertest als um ihn – nun kann er es nicht vertragen, Nebenperson zu sein. So machen es alle verwöhnten Kinder.“

Adelheid entzog Egon die Hand. „Sag’ mir das nicht immer; Du weißt, es thut mir weh; hättest Du wie ich seit fünfzehn Jahren Tag und Nacht um dies zarte Leben gebangt, liebtest Du ihn wie ich – Du würdest mir keinen Vorwurf aus meiner Schwäche für den Knaben machen, wenn überhaupt eine Schwäche genannt werden darf, was doch nur Liebe ist!“

„Adelheid!“ sagte Egon mit einem Ton, der ihr das Herz tief bewegte, „kannst Du mir zürnen, wenn ich ebenso, wie Dein Sohn auf mich, wiederum auf ihn eifersüchtig bin, wie überhaupt auf Alles, was Du liebst? Ich habe ja nichts als das Bewußtsein, daß ich in Deinem Herzen herrsche. Alle Anderen haben ein Recht auf Dich, erfreuen sich Deiner Nähe, ich allein, der Dich liebt wie Keiner, stehe ausgeschlossen und rechtlos da und geize nach jedem unbestimmten Zeichen einer Liebe, die Du so voll über Andere ausströmst. O meine – meine Adelheid!“

Er sah sie an so übermächtig, so unwiderstehlich, die sanften schwermüthigen Augen drangen ihr tief in die Seele, ein süßes Mitleid ergriff sie, ein Mitleid, das es ihr zur Pflicht machte, den treuen Mann zu entschädigen für so viele Entbehrungen! Und sie neigte ihm das anmuthige Haupt zu und begrub seine Wange in einem Bette weicher Locken. Ein leises „O!“ des Entzückens entrang sich seinen Lippen. Er drückte den reizenden Kopf fest an sich, seine Finger verstrickten sich in dem wirren dichten Goldgespinnst, das so fein wie Sommerfäden überall hängen blieb. Dies verrätherische Haar, es verwickelte sich, wie einst in dem Diadem, nun in Egon’s Ringen, ohne daß er es wußte. Da hörten sie Schritte und schraken auseinander, Egon konnte nur schwer seine Hand aus Adelheid’s Locken befreien, sie stieß einen leisen Schmerzenston aus. Die Thür ging auf, aber die Eintretenden konnten nichts gesehen haben, es war der Candidat und Alfred.

(Fortsetzung folgt.)


[197]
Aus den vier Wänden der römischen Frauenwelt.

Im Toilettenzimmer einer Pompejanerin.
Nach seinem Oelgemälde auf Holz gezeichnet von H. Philippi in Düsseldorf.

Die Alterthumsstudien haben in unserem Jahrhundert mehr als in früheren das Ziel angestrebt, anschauliche Bilder der antiken Cultur zu gewinnen, und darum auch die monumentalen Ueberreste des Alterthums mit größerem Eifer hierzu verwerthet. Wie man sich mit Erfolg bemüht hat, aus den zahllosen Bildern, die die Wände der ägyptischen Gräber, Tempel und sonstiger Bauten bedecken, ein bis in die kleinsten Einzelheiten vollständiges Bild des so höchst eigenthümlichen Lebens zu gewinnen, das vor Jahrtausenden das Nilthal erfüllte; wie man aus den Sculpturen der Paläste von Ninive ähnliche, wenn auch weit mehr fragmentarische Anschauungen der altassyrischen Zustände gewonnen hat: so hat man auch die über einen großen Theil der alten Welt verstreuten römischen Denkmäler, als Ruinen, Bildwerke, Gemälde, Münzen, Geräthe aller Art sorgfältig benutzt, um die aus den literarischen [198] Quellen gewonnene Kenntniß der Cultur und des Privatlebens der Römer zu ergänzen und zu beleben. Es ist selbstverständlich, welchen Vorschub diesen Bemühungen die wunderbare Entdeckung der durch den ersten bekannten Ausbruch des Vesuv verschütteten Städte Herculanum und Pompeji geleistet hat und noch leistet; denn die Ausgrabungen, die sich bald auf Pompeji beschränkten (da Herculanum unter einer mächtigen steinharten Lavaschicht, zum Theil auch unter der Stadt Portici liegt, Pompeji aber nur von lockerer Asche bedeckt ist), sind erst zum geringsten Theil vollendet, höchstens etwa der dritte Theil von Pompeji bloßgelegt.

Hier allein sind zahlreiche römische Privathäuser in relativ guter Erhaltung, zum großen Theil noch mit Hausrath und Mobilien ausgestattet, vielfach so wie sie vor achtzehnhundert Jahren von den flüchtenden Bewohnern verlassen worden, der Neu- und Wißbegier einer spätern Nachwelt aufbewahrt worden, da von den an allen andern Orten freistehenden Ruinen nur die solidesten, also nur die öffentlichen Gebäude, den zerstörenden Einflüssen aller Art trotzen konnten. Hier, wo wir uns so unmittelbar wie nirgend sonst in das tägliche Leben des Alterthums versetzt fühlen, liegt auch ein mächtiger Reiz für den Künstler, aus den leeren Trümmern das freundliche Bild jener Vergangenheit neu erstehen zu lassen und mit den zahlreichen kleinen Zügen zu beleben, deren Wahrheit die vorhandenen Ueberreste verbürgen. Das Gemälde von H. Philippi in Düsseldorf, das unser Holzschnitt wiedergiebt, beruht auf gewissenhaften, an Ort und Stelle gemachten Studien und ist eine bis in’s kleinste Detail treue Reproduction einer altrömischen Toilettenscene von anspruchsloser Anmuth und Natürlichkeit, ohne jene Pedanterie, die uns in so manchen modernen Darstellungen, auch in einigen des Niederländers Alma Tadema, unangenehm berührt.

Der Maler läßt uns in das Innere eines Pompejanischen Hauses von jener dem südlichen Klima so höchst angemessenen Bauart sehen, die jetzt, mit Ausnahme von Südspanien, nirgends in Europa, dagegen durchgängig im Orient sich erhalten hat. Das Leben des modernen Hauses ist nach außen, das des antiken war nach innen gekehrt, jenes wendet seine Fensterreihen der Straße zu, dieses war gegen die Straße mit einer im Erdgeschoß fensterlosen Mauer abgeschlossen, so daß man in den Straßen einer antiken Stadt wie zwischen Gartenmauern ging; nur die oberen Stockwerke hatten einzelne, aber je nach Bedürfniß, also unregelmäßig angebrachte Fenster an der Straßenseite. Das Centrum, um das sich das Leben des antiken Hauses bewegte, waren ein oder mehrere hofartige Räume, auf die die Wohnzimmer mündeten, und von denen sie das Licht empfingen. Diese in reicheren Häusern von bedeckten Säulengängen umgebenen Räume, ein Mittelding zwischen Saal und Hofplatz, machten es möglich, die Annehmlichkeiten des Aufenthalts im Freien auch im Innern des Hauses zu genießen. Schutz vor Sonne und Regen gewährte das über den Säulen auf allen vier Seiten hinlaufende Dach, überdies konnte über die Oeffnung in der Mitte noch eine Decke gespannt werden. Diese Räume schmückte das Grün frei oder in Kübeln wachsender Bäume und Sträucher, oder um die Säulen rankte sich, wie auf unserm Bilde, die Rebe; ein Bassin in der Mitte diente als Cisterne, und dieser fehlte in wohlhabenden Häusern selten der mit einer zierlichen Marmor- oder Bronzefigur geschmückte Springbrunnen, dessen Strahlen man gerne über kleine Treppenstufen herabplätschern ließ. Die Thüröffnungen, durch welche diese Räume in Verbindung standen, waren in der Regel nicht durch Thüren, sondern durch Vorhänge verschlossen; die Ringe, in denen die zum Hin- und Herziehen erforderlichen Schnüre liefen, haben sich noch an einigen Stellen in Pompeji erhalten. Eigentliche Fenster hatten die nach innen sich öffnenden Räume der Erdgeschosse nicht, da die Thüröffnungen zugleich das Licht einließen. So sehr diese Bauart der Natur und den Lebensgewohnheiten des Südens entspricht, so ist doch das antike Haus im heutigen Italien ganz durch das moderne verdrängt worden; nur in den von Säulengängen umgebenen, oft gartenartig bepflanzten Klosterhöfen, auf welche die Zellen münden, hat sich ein Rest der römischen Wohnungsarchitectur erhalten. Der Andalusier aber richtet auch heute noch den Hof seines Hauses, das sogenannte Patio, zur Wohnung ein und ißt und schläft im Duft der Pflanzen, im Geräusche des Springbrunnens, im Schatten des Säulenganges oder der über den freien Raum ausgespannten Decke.

Die behagliche Wohnlichkeit also, die wir so sehr auf den Aufenthalt in Zimmern angewiesenen Nordländer als deren Hauptvorzug erstreben und schätzen, fehlte den römischen Häusern, aber das Klima machte sie auch nicht zum Bedürfniß, und die Alten vermißten sie um so weniger, als sie den größten Theil des Tages außerhalb des Hauses verbrachten. Daher erklärt sich auch die namentlich in Pompeji auffallende Kleinheit der Zimmer, die in der Regel nichts bieten sollten als eine hinreichende Unterkunft für die Nacht und die Mahlzeiten. Und ebenso war auch die Decoration und die ganze Ausstattung und Einrichtung der Wohnräume durch die Natur und die Lebensgewohnheiten des Südens bedingt. Die Farbenpracht der Natur, die dem Nordländer anfangs bunt verwirrend und blendend erscheint, wollte man auch im Innern des Hauses nicht ganz entbehren, und das hochentwickelte, wenn auch unbewußte Schönheitsgefühl duldete, auch der Zweckmäßigkeit zu Liebe, keine häßlichen Formen.

Es ist bekannt, daß in Pompeji sich Haus für Haus dieselbe Zimmerdecoration wiederholt, nur natürlich nach den Mitteln der Bewohner reicher oder einfacher, so daß es den Anschein hat, als wenn ein und dieselbe Künstlergesellschaft für die ganze Stadt gearbeitet habe, die achtzehn Jahre vor ihrer Verschüttung durch ein Erdbeben schwer gelitten hatte, so daß also die Häuser durchweg einer Restauration und eines neuen Aufputzes bedurften. Durchweg sind die Estrichfußböden mit Mosaik ausgelegt, mindestens doch, wie auf unserm Bilde, mit mäanderartigen Mustern eingefaßt. Durchweg sind die Wände mit einer lebhaften Grundfarbe angestrichen, gewöhnlich dem bekannten „Pompejanischen Roth“; dieser Grund war durch Arabesken und architektonische Ornamente in Felder getheilt, die Felder mit kleineren und größeren Bildern geschmückt, unter denen namentlich die frei schwebenden Figuren durch ihre graziöse Leichtigkeit und Eleganz mit Recht berühmt geworden sind. Selbst die Säulen sind oft bemalt oder sogar mit Mosaik ausgelegt, was freilich einem reinen Geschmacke ebenso wenig zusagen kann, als wenn, wie auf unserm Bilde, nur die zwei oberen Drittheile cannelirt sind, das unterste nicht. Ueberhaupt verträgt die architektonische und malerische Häuserdecoration von Pompeji eine sehr strenge Prüfung nicht, doch im Ganzen macht sie den Eindruck der Heiterkeit und Zierlichkeit, und auch ihre Buntheit wirkt in der Umgebung einer so überaus farbenreichen und farbenprächtigen Natur nicht unharmonisch. Es ist ein Beweis für die enorme Ausbildung des Kunsthandwerks in jener Zeit, daß auch eine gewiß nicht reiche Mittelstadt wie Pompeji (das etwa die Größe von Bonn hatte) im Stande war, zum Schmucke ihrer Privatwohnungen Architekten, Maler, Bildhauer und Mosaicisten in solchem Umfange zu beschäftigen.

So anspruchsvoll aber die Alten in Bezug auf die künstlerische Decoration ihrer Zimmer waren, so genügsam waren sie in Bezug auf deren Ausstattung mit Möbeln und Hausgeräth; auch in dieser Beziehung standen ihre Gewohnheiten und Einrichtungen denen des Orients weit näher als denen des heutigen Europa. Die Wohnräume der Orientalen sind, abgesehen von einer an den Wänden entlang laufenden Einfassung von niedrigen Divans, von Matten und Teppichen, in der Regel leer; die altrömischen enthielten außer etwa einem Bett oder Sopha und einigen Sesseln in der Regel nur Prunkgeräthe wie Dreifüße, Kandelaber, runde Tischchen von seltenem Holze auf elfenbeinernen Füßen, kostbare Gefäße und Geschirre und dergleichen, mehr zur Zierde als zum Gebrauch bestimmte Dinge. Aber auch der einfache Hausrath der Mittelclassen war durch künstlerische Formen veredelt, und die zahlreichen zierlichen und geschmackvollen Henkelgefäße jeder Art, welche die Ausgrabungen jeder Art in einer kaum übersehbaren Fülle zu Tage gefördert haben und von denen auch unser Bild einige glücklich gewählte Exemplare zeigt, dienen mit Recht noch der heutigen Kunstindustrie als Modelle.

Die Pompejanerin auf unserm Bilde prüft die Wirkung ihres von einer ägyptischen Sclavin geordneten Haarschmuckes in einem jener (noch jetzt zahlreich vorhandenen) Handspiegel, die mit ihrer glattgeschliffenen Fläche aus Bronze oder Silber nur ein sehr unvollkommenes Surrogat unserer dem Alterthum unbekannten Glasspiegel waren. Der Künstler hat unter den fast unzähligen Frisuren, die wir aus Bildern und Büsten jener Zeit kennen, und unter denen auch hohe Toupés vorkommen, eine der einfachsten gewählt. Der noch unvollendete Anzug zeigt die beiden Haupttheile der römischen wie griechischen Frauentracht, ein langes, gegürtetes Untergewand, und einen weiten kleid- oder shawlartigen Ueberwurf. Es [199] gereicht dem Geschmack der damaligen Römerinnen zur Ehre, daß sie diese ebenso naturgemäße und einfache als künstlerisch schöne Tracht der früheren Zeit im Wesentlichen beibehielten, die sich den Formen der Gestalt überall anschmiegt, statt sie, wie so manche mittelalterliche und moderne, zu entstellen und unkenntlich zu machen. Namentlich der Schnürleib ist eine dem Alterthum völlig unbekannte Erfindung, was doch wohl den Schluß auf eine damals größere Häufigkeit tadelloser Gestalten als nicht zu kühn erscheinen läßt. In Bezug auf Farben und Muster der Kleiderstoffe war die Mannigfaltigkeit sehr groß: es gab gestreifte, carirte, schillernde etc.; der Künstler hat auch hier, wie bei dem Brust- und Kopfschmuck (mit welchem die Römerinnen in Perlen, Edelsteinen und feiner Goldarbeit großen Luxus trieben), dem einfach geschmackvollen vor dem prächtigen und bunten den Vorzug gegeben.

Zahllos, wie schon gesagt, waren die verschiedenen Haartrachten jener Zeit, besonders da der Hut als Frauentracht niemals im Gebrauch war und nur ein Kopftuch oder lang den Rücken herabwallender Schleier zum Schutze der schon geordneten Haare diente. In einer Menge von Portraitbüsten, durch alle Sammlungen Europas zerstreut, sind uns die Beispiele der verschiedensten Haartrachten erhalten, von der einfacheren Weise der älteren Zeit, da die welligen Haare nach hinten, gescheitelt oder ungescheitelt, zusammengenommen und im Knoten geschlungen durch Spangen oder Binden über dem Nacken zusammen gehalten wurden, bis zu jenem Lockenbau, von dem Juvenal sagt: „Sie bebauet Stockwerk auf Stockwerk sich den Kopf und erhöht ihn durch Stützen zum Thurme.“

Ovid, der vollendete Elegant, giebt sogar eine vollständige Theorie für die Frisur; „ein längliches Antlitz,“ sagt dieser feine Kenner der Schönheit und der Frauen, „heischt auf bloßem Scheitel getheiltes Haar, wie Laodamia es trug; dem runden Antlitz steht es wohl, wenn auf der Stirne sich das Haar in Locken windet, die Ohren aber frei und offen läßt.“

Daß es bei dieser complicirten Toilette für die Dienerin gewöhnlich nicht glimpflich herging, versteht sich fast von selbst und wirklich erinnert uns die auf dem Bilde das Haar der Herrin ordnende Sclavin, mit einem jener typischen Gesichter, wie sie auf den Monumenten Aegyptens zu Tausenden vorkommen, an den größten Krebsschaden des Alterthums, die Sclaverei, die eine ganze Hälfte der Menschheit zu einem nichts weniger als menschenwürdigen Dasein verurtheilte.

Juvenal hat in seiner Satire gegen die Frauen nicht unterlassen zu schildern, wie die mißgelaunte Gebieterin ihre Sclavinnen unmenschlich peitschen läßt, ohne sich in ihren Beschäftigungen zu unterbrechen, bis die Prügelknechte ermüden und das gräßliche „Hinaus!“ ertönt; aber auch Ovid ermahnt die Frauen, den Dienerinnen, die sie schmücken, nicht das Gesicht zu zerkratzen, sie nicht mit den Nadeln in die bloßen Arme und den Busen zu stechen. Keine Frau, sagt dieser graziöse, frivole Spötter, möge sich in Gegenwart ihrer Verehrer zu derartiger Leidenschaftlichkeit hinreißen lassen, weil dadurch Besorgniß über den sanften Charakter der Zürnenden entstehen könnte.

Wir werden aber durch die Anwesenheit einer Aegypterin oder Nubierin in dem Frauengemach einer italienischen Mittelstadt auch an jene beispiellose Durcheinandermischung der Nationen erinnert, wie sie sich eben nur in dem römischen Weltreich vollziehen konnte. Daß man namentlich Eingeborenen des Nillandes damals oft genug in den Straßen Pompeji’s begegnete, ist so gut wie sicher. Nur wenige Meilen war der Hafen von Puteoli (jetzt das ganz verödete Pozzuoli) entfernt, der hauptsächlich den Verkehr mit Aegypten und dem Orient vermittelte, und wo Morgenländer verschiedener Nationen, Syrer, Juden, Phönicier, Aegypter zahlreich wohnten, als Kaufleute, Agenten, Rheder etc., die natürlich auch ihre einheimischen Gottesdienste dort fortsetzten und von dort in’s Innere verbreiteten. So befindet sich auch in Pompeji einer der interessantesten Tempel, der der Isis, und zahlreiche Inschriften machen uns mit dem Bestehen einer dortigen Isisbrüderschaft bekannt.

Dem Künstler aber ist es gelungen, das bunte und glänzende Leben, das einst Pompeji erfüllte, mit den bescheidensten Darstellungsmitteln in der einfachsten Scene und dennoch nach verschiedenen Seiten hin der Phantasie des Betrachtenden gegenwärtig zu machen.




Aus den letzten Tagen zwei Verurtheilter.
Nr. 1. Ist das Strafe?

Auf dem Gebiete der Criminal-Rechtspflege haben sich zwei Parteien gebildet. Die eine will wesentliche Reformen, die andere beharrliches Festhalten am Althergebrachten. Am meisten Interesse gewährt jetzt der Streit über Abschaffung oder Beibehaltung der Todesstrafe. Man kämpft auf beiden Seiten mit denselben Waffen; man entnimmt die Gründe für seine Behauptungen gleichmäßig aus der Criminalpolitik, der Rechtsphilosophie, der Religion und der Ethik. Meine in einer langen Dienstzeit gesammelten Erfahrungen haben mich aber noch mit einer andern Quelle bekannt gemacht. Diese Quelle entspringt im Gefängniß. Hier lassen sich Beweisstücke von unwiderleglicher Stärke sammeln.

Ich habe eine große Zahl Verbrecher zu beaufsichtigen gehabt, welche nach dem Ausspruche des Gerichts die Todesstrafe erleiden sollten, und auch solche beaufsichtigt, denen der Lebensfaden durch das Beil des Henkers zerrissen wurde. Ich bin bemüht gewesen, die Wirkungen der Strafe bis zu dem Augenblicke der Vollstreckung kennen zu lernen, ich habe in der Seele dieser Verbrecher gelesen, bin hinabgestiegen in die Tiefe der Brust und habe von hier Empfindungen an das Tageslicht gefördert, welche Trotz und Scham eng und fest umschlossen hielten. Meine Wahrnehmungen standen in jedem einzelnen Falle mit dem Strafgesetze in Widerspruch. Das Gesetz erachtet die Todesstrafe als die härteste Züchtigung, denn die schwersten Verbrechen sollen damit gesühnt werden. Allein empfindlicher und deshalb auch weit härter als der Tod ist für den schweren Verbrecher das Leben. Das lernt sich allerdings nur begreifen, wenn man Gelegenheit hat, täglich in die Zelle einzutreten, welche den schweren Verbrecher umschließt. Ich habe oft gewünscht, daß dies gestattet sein möchte. Es würde dies die Heilighaltung der Verbotsgesetze weit wirksamer herbeiführen, als dies die Strafen thun, welche für die Uebertretungen dieser Gesetze auszusprechen und zu erdulden sind.

In meiner Erinnerung sind zwei Fälle besonders lebhaft, die ein allgemeines Interesse bieten dürften.

Es war bereits neun Uhr Abends, als mir der Untersuchungsrichter mittels Transports von einem entfernten Dorfe noch einen Gefangenen zuführen ließ. Demselben waren die Hände auf dem Rücken zusammengebunden, weil er versucht hatte, davon zu laufen. In dem Verhaftsbefehle war als Grund der Verhaftung angegeben: wegen Mordes.

Der Fluchtversuch und die Schwere der Beschuldigung machten auch mir bestimmte Vorsichtsmaßregeln zur Pflicht. Ich brachte den Gefangenen in die festeste Zelle, ließ ihn mit dem linken Fuße an die Kette legen und außerdem von ihm alles entfernen, wodurch die Flucht nur irgend möglich gemacht werden konnte.

Der Gefangene erregte kein besonderes Interesse. Es war eine kurze gedrungene Gestalt, kaum fünf Fuß groß. Sein unverhältnißmäßig großer Kopf saß auf einem kurzen, aber starken Halse. Das bartlose Gesicht war ohne geistige Belebung, stumpf und finster. Nur wenn der Blick aus den großen Augen sich hochrichtete und blitzartig im Zimmer umherirrte, da war zu erkennen, daß der Mensch dachte und fühlte, und auch, daß er fürchtete.

Der Gefangene versicherte hoch und theuer, unschuldig zu sein.

Die erste Nacht im Gefängniß ist für jeden Gefangenen schauerlich. Selbst ergraute Verbrecher, wenn sie nach einer überstandenen Strafe neuerdings wieder zur Haft gebracht werden, können die erste Nacht nicht ohne Grauen überstehen. Ein alter Dieb gab mir hierfür einmal eine treffende Erklärung. „Wenn ich,“ so sagte er, „wieder in diesen Käfig gehen muß, losgerissen von allen Menschen, und hier allein sitze und dann die Nacht hereinbricht und um mich herum nichts sich regt: da ist es mir, als ob der Teufel in irgend einer Ecke lauere, als ob er jeden [200] Augenblick auf mich losspringen, mich packen und den Hals mir umdrehen müsse,“ Diese Erklärung ist allerdings kernig, sie bezeichnet aber wahr den innern Zustand eines Menschen, der durch strafbare Verirrungen die Aufnahme in das Gefängniß verschuldet hat.

In gleicher Weise mußte mein Gefangener gefühlt und gefürchtet haben. Als ich am andern Morgen in seine Zelle trat, fand ich ihn bereits auf der Bank sitzend. Er schien das Lager gar nicht aufgesucht oder dasselbe schon am frühen Morgen wieder verlassen zu haben. Sein Oberkörper war in Form eines Sprenkels gebogen, der Kopf auf beide Hände gestützt. Die Füße, welche, weil sie kurz waren, auf dem Fußboden keinen Stützpunkt fanden, zeigten sich in ununterbrochener zitternder Bewegung. Er verblieb auch in dieser Stellung, obwohl er mein Eintreten bemerkt haben mußte. Erst als ich ihn fragte, wie er geschlafen habe, richtete er den Kopf langsam hoch. Sein Blick war matt und müde, das Gesicht entsetzlich bleich, jede Muskel schlaff. Die erste Nacht hatte ihm arg mitgespielt.

„Geschlafen?“ erwiderte er leise, „ich habe kein Auge zuthun können.“

„Aber weshalb denn nicht?“ fragte ich theilnehmend.

Ich bekam keine Antwort. Dies Schweigen ließ mich erkennen, daß ich keinen verstockten Sünder vor mir hatte und daß es nicht schwer halten werde, ein Bekenntniß der Schuld zu erhalten. Ich setzte mich auf die Bank dicht neben den Gefangenen und erfaßte seine Hände, die kalt waren wie Eis.

„Soll ich Ihnen sagen, weshalb Sie kein Auge haben zuthun können?“

Ich sagte dies leise und weich, hielt die Hände fest und suchte diese durch Reiben zu erwärmen. Der Gefangene erwiderte nichts, aber seine Brust hob und senkte sich lebhafter.

„Ich will es Ihnen sagen,“ fuhr ich fort. „Wenn Sie die Augen schlossen, so sahen Sie Blut. Und das nicht allein. Sie sahen auch die Wunden, die Sie geschlagen haben. Ach, und noch weit Entsetzlicheres sahen Sie. Soll ich Ihnen auch das sagen?“

Der Gefangene blieb still. Allein sein Athem wurde immer kürzer und der Körper erzitterte.

„Das Schrecklichste, was Sie sahen, das waren die Todeszuckungen der Erschlagenen. Nicht wahr?“

Ich hatte mich zu dem Ohr des Gefangenen herabgebeugt und die letzten Worte in dasselbe hineingeflüstert. Er ließ das ruhig geschehen, er machte nicht einmal eine abwehrende Bewegung, er verharrte nur in seinem dumpfen Hinstarren. Und doch mußte ich eine Antwort haben, ich durfte nicht aufhören, die Schrecknisse der ersten Nacht dem Gefangenen in das Gedächtniß zurückzurufen, wenn er geheilt werden und Ruhe finden sollte.

„Aber,“ sagte ich, indem ich die eine Hand leicht löste und mit dem freigewordenen Arm den Gefangenen umfaßte, „Sie sahen nicht nur, Sie hörten auch. Und das Ohr ist noch weit empfindlicher als das Auge. Das Gehörte vergißt sich nicht, es preßt sich tief, unauslöschlich tief in das Gedächtniß. Wenn Sie auch nichts mehr sehen sollten, in Ihren Ohren werden fort und fort die Laute wiederhallen, die Sie in der letzten Nacht gehört haben, die mit grauenvoller Gewalt Ihr Innerstes erschütterten.“

Der Gefangene riß mit einer hastigen Bewegung seine Hände von mir los. Er legte sie flach vor die Ohren und keuchte:

„Ja, ja, Sie haben Recht. Das Gehörte vergißt sich nicht. Wenn ich auch die Ohren zuhalte, fest, daß kein Laut von außen hindurch kann, ich höre doch –“

Die Folge dieser Unterredung war ein unumwundenes Geständniß. Der Gefangene bekannte nicht nur, sondern er erkannte auch seine Schuld und fühlte aufrichtige und tiefe Reue.

Die That selbst in ihren Einzelnheiten will ich nicht wiedergeben, die Veranlassung zu derselben aber muß ich kurz erwähnen, weil sie den Verbrecher charakterisirt.

Der Gefangene war ein junger, strebsamer und in seinem Fache äußerst geschickter Handwerker. In der Schule und in und außer dem Hause war seine Führung tadellos gewesen, und in dem gesellschaftlichen Verkehr war er sogar ein gern gesehener und beliebter Gast. Er hatte nicht verabsäumt, die Kirche regelmäßig zu besuchen und durch Lesen guter Bücher sein Wissen nach Möglichkeit zu bereichern. So hatte er bereits sein einundzwanzigstes Lebensjahr zurückgelegt, als in ihm der Wunsch nach Selbstständigkeit rege wurde. Geweckt wurde derselbe dadurch, daß er seinen Ansichten von dem Betriebe seines Gewerbes keine Geltung verschaffen konnte, daß sein Streben nach Ausbreitung und Vervollkommnung des Geschäfts zurückgewiesen wurde, und daß er, wie er sich ausdrückte, in dem alten Schlendrian fortarbeiten mußte. Der Zwang machte ihn zuerst nur unlustig, bald aber widerwillig und zuletzt wurde er für ihn unerträglich. Er suchte lange Zeit nach einem Mittel zur Abhülfe, fand aber keinen Weg, der zum vorgesteckten Ziele führte. Da endlich in einer schlaflos verbrachten Nacht kam ihm ein Gedanke in den Kopf. Dieser Gedanke, so entsetzlich er auch war, faßte Wurzel, er trieb mit riesenhafter Schnelligkeit zu Entschlüssen und nach einer kurzen Inbetrachtnahme zweckdienlicher Mittel ungesäumt zur Ausführung des in größter Eile entworfenen Planes.

Man wird zugeben daß der Gefangene, so schreiendes Unrecht er auch verübt hatte, bedauernswerth erscheinen muß, und daß seine gesellschaftliche und religiöse Bildung ihn befähigte, über seine That und deren nothwendige Folgen zu urtheilen.

Der Gefangene wurde wegen Mordes zur Todesstrafe verurtheilt. Er war darauf vorbereitet und wurde durch die Verkündung des Urtheils nicht überrascht und auch nicht erschreckt.

Am Morgen nach seiner Verurtheilung hatte der Mörder sorgfältig Toilette gemacht. Mir fiel dies sofort auf, da ich ihm in Bezug auf Reinhaltung des Körpers und der Kleidung regelmäßig hatte Verweise ertheilen müssen. Noch mehr aber überraschte es mich, als er sich rasch von seiner Bank erhob, mir einige Schritte entgegenkam, dicht vor mir stehen blieb; die Hände faltete und mir ernst, aber nicht finster, in das Gesicht sah.

„Was haben Sie denn vor?“ fragte ich freundlich.

„Ich bin fertig,“ erwiderte er ruhig und fest. „Ich habe mit dem Leben abgeschlossen. Lassen Sie uns gehen.“

„Wohin denn?“

„Sie fragen das? Ich habe ja nur noch einen Weg zu gehen, und das ist der zur Richtstätte.“

„Damit hat es noch Zeit, lieber Freund, wenn es überhaupt noch dazu kommt.“

„Wie meinen Sie? Ich bin doch verurtheilt, und habe erklärt, daß ich mich dem Urtheile unterwerfe. “

„Das ist richtig. Aber erst muß das Urtheil rechtskräftig werden. Darüber vergehen zehn Tage –“

„Auch wenn ich erkläre, daß ich dem Urtheile mich unterwerfe?“

„Auch dann –“

„Also erst in zehn Tagen! –“ rief er, mich unterbrechend, enttäuscht.

„Nein, dann immer noch nicht. Nach Ablauf dieser zehn Tage wird die Bestätigung des Urtheils nachgesucht.“

„Was ist denn das?“ fragte der Mörder erschreckt.

„Jedes Urtheil bedarf zur vollen Gültigkeit der landesherrlichen Bestätigung. Zu diesem Zwecke erstattet das Schwurgericht Bericht an das vorgesetzte Appellations-Gericht. Von dieser Behörde werden die Acten geprüft und demnächst, mittelst eines besonderen Berichts, dem Justiz-Minister vorgelegt. Hier erfolgt nochmals eine Prüfung der Acten und dann wiederum ein Bericht an des Königs Majestät; und erst auf diesen letzten[WS 1] Bericht Allerhöchste Entscheidung, die dann auf demselben Wege uns zugeht.“

„Und wie lange habe ich darauf zu warten?“

„Das läßt sich genau nicht bestimmen. Besonders schnell geht das nicht. Es mögen acht bis zehn Monate darüber hingehen, wir haben aber auch schon ein Jahr und noch länger warten müssen.“

„Ach, das ist entsetzlich!“ rief der Mörder mit allen Zeichen großer Erregung. „So lange in Ungewißheit zu sein, und unausgesetzt Todesangst ausstehen zu müssen, das ist ja viel schlimmer als den Tod erleiden. Das ist eine fortdauernde Folter des Gastes! Herr Inspector,“ schrie er laut und seine Stimme zitterte vor Erregung, „ich mag nicht leben. Der qualvollste Tod ist mir leichter als das Leben. Ich kann meine Schuld nicht ungeschehen machen. Könnte ich’s, ich wollte es thun und darüber mich selbst zu Grunde richten. Aber weil ich’s nicht kann, so will ich sterben. Wer kann das hindern?“

„Das kann der König. Er hat das Recht zu begnadigen.“

„Ich mag keine Gnade; ich würde diese anrufen, wenn ich zu Zuchthausstrafe verurtheilt wäre.“

Durch gütliches Zureden gelang es mir, die Erregung des [201] Mörders zu beschwichtigen und ihn zu bestimmen, sich in das Unvermeidliche zu fügen.

Es vergingen Tage, Wochen, Monate. Der Mörder berührte in dieser Zeit mit keiner Sylbe die Vollstreckung seines Urtheils. Er sprach überhaupt nur, wenn er gefragt wurde, und dann auch kurz, mit den Worten förmlich geizend. Wenn ich am Morgen in seine Zelle trat, so richtete sich jedesmal sein Blick rasch auf mich. Er sagte kein Wort. Ich wußte aber, daß dieser Blick ihm über seine Zukunft Gewißheit geben, daß er mir von dem Gesicht ablesen wollte, ob die erwartete Entscheidung eingegangen sei. Wenn ich nichts sagte, wie dies regelmäßig geschah, so fielen die Lider langsam über die Augen hinweg, der Kopf beugte sich vorn über, und still wurde dann die kaum auf Augenblicke unterbrochene Beschäftigung wieder aufgenommen. Mit jedem Tage aber mehrte sich die Niedergeschlagenheit des Gefangenen, die bald auch das körperliche Befinden desselben beeinflußte. Es trat nach und nach Appetitlosigkeit und eine vollständige Abmagerung ein. Und dennoch kam kein Laut der Klage uber seine Lippen.

Ich hatte mich an das still leidende Wesen des Gefangenen gewöhnt, und war daher nicht wenig überrascht, als er mir eines Morgens entgegentrat und in großer Erregung ausrief:

„Ich ertrage das nicht länger, es muß ein Ende nehmen. Die Herren wissen nicht, wie mir zu Muthe ist, ich will es ihnen sagen. Das Schwurgericht hat mich zur Todesstrafe verurtheilt. Weshalb wird dieses Urtheil nicht vollzogen? Soll das Urtheil nichts gelten? Dann wäre die Verhandlung vor den Geschworenen nur Komödie! Und wenn sie das nicht sein soll, weshalb noch die Menge Berichte? Und wenn auch diese nothwendig sein sollten, weshalb die Sache nicht beschleunigen, weshalb die Entscheidung so unendlich lange hinhalten? Jeder Tag, den man mich leben läßt, steigert meine Leiden. Am Tage sind diese noch erträglich, aber während der Nacht! Ach, das ist haarsträubend, das ist grauenhaft! Jede Nacht dasselbe sehen und hören müssen, und nichts, auch gar nichts thun können, das zu hindern! O ja, ich könnte es hindern, ich könnte der Sache mit einem Male ein Ende machen. Aber ich will das nicht, ich will der alten nicht eine neue, größere Schuld hinzufügen. Und weshalb auch das thun? Ich habe ja das Recht zu fordern, daß man mir giebt, was ich mir geben könnte, den Tod. Der Tod ist mir Wohlthat, das Leben – Qual. Mit dem Augenblicke, wo ich aufhöre zu leben, haben ja auch alle Schrecknisse ein Ende. Dort oben hoffe ich Gnade zu finden, denn ich habe hier schwer getragen und noch schwerer gebüßt. Heute sind es gerade zehn Monate, daß ich verurtheilt wurde –“

„Woher wissen Sie das so genau?“ fragte ich ihn unterbrechend, um ihn abzulenken.

„Sie glauben nicht? Sehen Sie hierher, das ist mein Kalender. So viel Striche Sie hier wahrnehmen, so viele Nächte habe ich nach meiner Verurtheilung Todesangst ausgestanden, und viele tausend Mal mehr habe ich gewünscht, daß die überstandene Nacht die letzte für mich gewesen sein möchte.“

Der Mörder führte mich an den kleinen, am Fußboden mit starken eisernen Bändern festgemachten Tisch, und zeigte mir an dem Rande desselben kaum bemerkbare Risse, die er mit dem Nagel seines Fingers gemacht haben wollte. Seine Stimme wurde weich und sein Auge naß, als er hierauf fortfuhr:

„Ich weiß es wohl, daß ich das Gesetz mit Füßen getreten habe, daß ich ein Verbrecher bin, wie es selten giebt. Allein ich weiß auch, daß ich nach dem Gesetz bestraft werden muß, und daß mir dies nicht länger vorenthalten werden darf. Ich bitte Sie, melden Sie dem Untersuchungsrichter, daß ich ihn sprechen und noch heute verhört werden müsse.“

Das Verhör fand noch an demselben Tage statt. Der Untersuchungsrichter gab sich die größte Mühe, den Mörder zu belehren, daß es für ihn gerathener sei, ruhig und geduldig zu warten. Seine Worte fanden indeß keinen Eingang. Er mußte niederschreiben lassen, daß der Verbrecher keine Gnade annehmen wolle, daß derselbe die Vollstreckung des Urtheils mit Entschiedenheit fordere und um Beschleunigung der Entscheidung bitte.

Nach der Unterschrift des Protokolls wurde der Mörder wieder ruhiger.

„Ich hätte das schon früher thun sollen,“ sagte er auf dem Wege nach dem Gefängnisse, „dann hätte ich weniger zu leiden gehabt. Jetzt kann die Entscheidung nicht lange mehr ausbleiben.“

Es vergingen aber doch noch mehr als vier Wochen. Der Verbrecher wurde, wie vorauszusehen war, nicht begnadigt; der Gerechtigkeit sollte freier Lauf gelassen werden. Bei der Verkündigung dieser Entscheidung blieb der Verbrecher vollkommen ruhig; er unterschrieb das Protokoll, in welchem ihm zugleich die Stunde der Hinrichtung bekannt gemacht wurde, ohne zu zittern, mit fester Hand.

Am Abende vor der Vollstreckung des Urtheils blieb ich bis nach elf Uhr in der Zelle des Mörders. Ich hatte mir einen Stuhl in die entlegenste Ecke des kleinen Raumes setzen lassen und beobachtete von hier aus still das Thun und Treiben des Delinquenten. Ich sah, daß derselbe sein Abendessen, dem ausnahmsweise eine halbe Flasche leichter Wein beigegeben war, ohne alle Hast und mit wahrem Appetit verzehrte, daß er vor und nach dem Essen die Hände faltete und still vor sich betete, daß er dann das Gesangbuch nahm, wiederum die Hände faltete und aufmerksam und andächtig in diesem Buche las. Ich wurde nicht müde zuzusehen, obwohl das Lesen eine Stunde Zeit hinwegnahm. Der Delinquent blieb hierbei vollkommen ruhig, ich konnte kein Zeichen innerer Bewegung wahrnehmen. Als er das Buch geschlossen hatte, sagte er mehr vor sich hin:

„So, nun soll es genug sein. Ich fühle mich, was ich lange nicht war, müde; ich will versuchen, einige Stunden zu schlafen. Vielleicht schlafe ich heute noch einmal ruhig, wie ich als unschuldiges Kind geschlafen habe; es ist ja die letzte Nacht.“

Er legte sich alsdann auf den Strohsack, schlug die Decke um sich herum, und nicht lange darauf hörte ich Laute, die zweifellos andeuteten, daß er fest eingeschlafen war.

Am andern Morgen war ich schon vor vier Uhr wieder in der Zelle. Der Delinquent lag noch ebenso, wie ich ihn am Abend vorher verlassen hatte, und schlief noch so fest, daß er meinen Zuruf nicht hörte und erst durch Rütteln ermuntert werden mußte.

„Ach, habe ich schön geschlafen!“ sagte er, als er auf den Füßen stand. „So wohl wie heute ist mir lange Zeit nicht gewesen. Solcher Schlaf ist süß. Ich werde nun immer, bis in alle Ewigkeit so schlafen.“

Dies waren seine letzten Worte im Gefängnisse. Er sagte sie ruhig, würdevoll, als ob er bete.

Gegen sechs Uhr führte ich ihn aus dem Gefängnisse. Er lehnte jede Unterstützung ab und schritt fest und sicher die Treppen hinab bis auf den Hof. Es war ein wundervoller Frühlingsmorgen, der wohl die Lust am Leben hätte erwecken können. Bei dem Betreten des Hofes fiel der erste Sonnenstrahl über die hohe Mauer, durch welche der Hof von der Außenwelt abgeschlossen wurde. Der Delinquent wendete sein Gesicht der aufsteigenden Sonne zu und blieb in dieser Stellung bei der Verlesung des Urtheils und der Bestätigungsordre; er änderte sie erst, als der Scharfrichter durch Vorlegen einer Binde ihm das Sehen unmöglich machte. Nur einige Secunden später hatte das Beil seinen Lebensfaden zerrissen. Für diesen Verbrecher war der Tod keine Strafe.

Der zweite Fall, den ich den Lesern der Gartenlaube später erzählen werde, wird allerdings das Gegentheil des heutigen beweisen.




Die Sicherheitsapparate der Eisenbahnen.
Uebereinstimmung der Geleise. – Die hohen Masten und ihre Arme. – Der Semaphor. – Das elektrische Läutewerk. – Elektrische Distancesignale. – Quittungszeichen. – Haltesignale. – Die Weichenapparate in London. – Der Verkehr innerhalb eines Zuges. – Luftpumpen in den Wagen. – Der Sicherheits-Schreibapparat.

Nicht nur in Amerika, dessen großartiges Verkehrswesen uns immer als Muster gepriesen wird, auch in Deutschland erfreut man sich auf den Eisenbahnen großer directer Linien, welche vermittelst der auf ihnen laufenden Eilzüge rasch, ohne Aufenthalt, ohne Wagenwechsel, den Reisenden Hunderte von Meilen weit befördern.

Daß aber der Mensch so leicht, schnell und ungestört wie in Oberon’s Wagen über solch weite trennende Strecken triumphirend dahinziehen kann, dies verdankt er einem kleinen unbedeutend scheinenden Umstand: der Uebereinstimmung der Geleise. Alle europäischen Eisenbahnen, mit Ausnahme der russischen und einiger irischen Bahnen, haben eine gleiche Spurbreite, das heißt, [202] die Entfernung zwischen je zwei im Geleis sich gegenüberliegenden Schienen ist überall gleich weit, sie beträgt vier Fuß achteinhalb Zoll englisch, so daß also die spanischen Wagen bis nach Ostpreußen, die schlesischen nach Calabrien und die französischen ungehindert bis nach Siebenbürgen laufen können.

Diese außerordentlich werthvolle kosmopolitische Eigenschaft der Eisenbahnen kann man leicht an jedem Güterzuge, besonders aber an den bunten Wagenparks bemerken, die sich ohne Aufhören auf den Nebengeleisen unserer großen Bahnhöfe anhäufen. Außer den sehr verschieden gebauten Wagen der achtundsiebenzig Bahnen des deutschen Eisenbahnverbandes, zu denen die sämmtlichen österreichischen, die meisten holländischen Linien und die Warschau-Wiener Bahn gehören und die fast alle Farben des Malkastens aufweisen, trifft man hier stets Franzosen, Belgier, Schweizer und auch wohl einen grau angestrichenen Italiener an.

Doch verwendet jede Eisenbahnverwaltung auf ihren Linien soviel wie möglich nur die eigenen Wagen zum Gütertransport, weil für Benutzung fremder Wagen Miethe gezahlt werden muß, eine durchaus nicht unbedeutende Ausgabe, die z. B. bei den deutschen Bahnen im vergangenen Jahre die Summe von ungefähr acht Millionen Thalern betragen hat.

Die gepriesene nothwendige Uebereinstimmung der Geleise beansprucht eine große, zum Theil kostspielige Ueberwachung und eine peinlich schwierige Controle, die aber den daraus entspringenden Vortheilen gegenüber nicht in Betracht kommen kann.

Die außerordentliche Schnelligkeit des Verkehrs, die wir zunächst immer nur auf Rechnung des Dampfes setzen, ist dabei auch noch von einem andern Etwas abhängig – von den Signalen, die wir gewöhnlich ganz übersehen.

Ohne eine gute Signalisirung würde sich die Schnelligkeit der Eisenbahnzüge nicht über diejenige der gewöhnlichen Fuhrwerke erhoben haben, ihre Schnelligkeit würde dann kaum die gemüthlich dahinhumpelnde Postkutsche übertreffen.

Sowie aber im Leben des Menschen erst die Gedanken die That begründen, einleiten und ihr fördernd voraneilen, so eilen auch die Signale gedankenreich und gedankenschnell den Zügen voraus, ebnen den Weg, rufen alle Vorbereitungen wach, die der herannahende Zug zu seiner Sicherheit sowohl, wie zu seiner ungehinderten Weiterfahrt bedarf, und gestatten nur dadurch der Locomotive eine den Umständen entsprechende Entwickelung ihrer nachhaltigen Riesenkraft.

Die den Lesern wohlbekannten hohen Masten mit ihren oben angebrachten Armen oder Flügeln waren die ersten und sind jetzt noch die verbreitetsten Signalapparate[1]. Sie haben sich so eingelebt, daß sie auf allen Bahnen, wo sie in Gebrauch, eine liebgewordene Erscheinung sind. Obgleich sie bei Nebel den Dienst versagen, und die Bahnwärter dann zu Signalhörnern greifen müssen, um sich gegenseitig zu verständigen, und obgleich sie nicht immer mit der gewünschten Schnelligkeit zu arbeiten vermögen, so daß sie zuweilen der Schnellzug fast einholt, so sind sie doch bei einer leichten Handhabung sehr einfach, eine schwerwiegende Tugend, da das Einfache, nicht leicht zu Mißverständnissen Führende bei den Eisenbahnen mehr als anderswo vom höchsten Werthe ist.

Des Nachts geschieht das Signalisiren mit diesem sogenannten optischen Telegraphen bekanntlich durch daran emporgezogene bunte Lichter, die überall je nach ihrer Bedeutung die Farben weiß, roth oder grün haben. Später traten zu diesen sichtbaren Signalen die elektromagnetischen Telegraphen und dann auch noch die elektrischen Läutewerke oder Lärmsignale; jene kleinen längs der Strecke aufgestellten Häuschen, die mit Glocken und Schlagapparaten versehen und mit Drähten untereinander verbunden sind und auf elektrischem Wege die Glocken zum Tönen bringen, wobei die Zeichen durch die Anzahl und Gruppirung der Klänge gebildet werden.

Guteingerichtete Bahnen mit starkem Verkehr wenden alle drei angeführten Signale zugleich an, und dabei ist der alte optische Telegraph in veredelter Form als ein Tag und Nacht thätiger und verläßlicher „Semaphor“ in sehr geschätztem Gebrauch und unterscheidet sich von dem früheren Telegraphen dadurch, daß seine Arme mit sehr durchsichtigen rothen und grünen Glasscheiben in der Art verbunden sind, daß zum Beispiel bei dem Zeichen „Halt“, wenn der Semaphoren-Arm rechtwinkelig auf das Geleis zeigt, zugleich am hinteren Ende des Armes die rothe Scheibe sichtbar ist, die bei dem Zeichen „Langsamfahren“, wo der Arm schräg nach unten zeigt, durch die grüne Scheibe ersetzt wird, während bei dem Zeichen „Strecke frei“, wo der Arm schräg emporgerichtet steht, keine Scheibe zu sehen ist. Des Nachts wird dann eine Laterne am Semaphor befestigt und zwar so, daß die rothen und grünen Gläser bei dem Geben der beiden ersten Zeichen unmittelbar vor dieselbe zu stehen kommen und dadurch rothes und grünes Licht verursachen, also auch bei Nacht die Stellung des Armes bezeichnen, während bei dem Signal „Strecke frei“ nur das weiße Licht der Laterne zu sehen ist.

Bevor ein Zug auf einer dieser also ausgerüsteten Bahnen seine Fahrt beginnt, wird sein Kommen der nächsten Station zuerst durch den elektrischen Telegraphen angekündigt und alsdann als „Achtungssignal“ das elektrische Läutewerk auf der ganzen Strecke bis auf die nächste Station hin in Thätigkeit gesetzt und damit überall zu gleicher Zeit die vorgeschriebene Anzahl Glockenschläge gegeben, wodurch die Aufmerksamkeit der Bahnwärter auf der ganzen Linie sofort auf den damit angekündigten Zug gelenkt wird. Jeder Bahnwärter giebt hierauf, nachdem er sich vorher überzeugt, daß sein Revier in Ordnung, mit dem Semaphor, der, wenn kein Zug angezeigt ist, stets auf Halt zeigt, so lange das Zeichen „Strecke frei“, bis der angekündigte Zug vorüber ist, und ändert dann wieder das Zeichen in „Halt“ um; hat daher ein Bahnwärter geschlafen, das Glockensignal nicht gehört und also auch sein Signal nicht auf „Strecke frei“ gestellt, so hemmt er den Verkehr, was wohl schon ein oder der andere Leser zu seinem Verdruß erfahren haben mag.

Außer diesen Signalen auf den Strecken hat jeder Zug und jede Maschine, die von Hauptbahnen auf Nebenbahnen übergeht, am Tage sowohl wie in der Nacht bestimmte leicht erkennbare Zeichen an sich zu tragen und eine gewisse Anzahl Töne mit der Dampfpfeife zu geben, durch welche sie ihre Richtung anzeigt; außerdem muß bei Nacht jeder Zug vorn und hinten gut erleuchtet sein, und endlich darf kein Extrazug abgehen, ohne vorher durch einen vorausgegangenen Zug angezeigt worden zu sein, was durch am Ende des Zuges angebrachte aus Weidenruthen geflochtene roth angestrichene Scheiben geschieht, die des Nachts Laternen mit roth gefärbten Gläsern vertreten, wie denn auch jeder Extrazug wieder besondere Zeichen an sich hat, die ebenfalls am Tage in grünen Scheiben und des Nachts in grünen Lichtern bestehen, die auf dem letzten Wagen aufgesteckt sind, wodurch er den Bahnwärtern ankündigt, daß er noch denselben Tag, oder ist es Abend, daß er noch in derselben Nacht zurückkehren wird.

Eine wichtige Rolle spielen auch die der neuern Zeit angehörenden „elektrischen Distancesignale“, die an solchen Punkten aufgestellt werden, wo ein ganz besonders starker Verkehr oder wichtige Kreuzungspunkte ein vorsichtigeres Fahren nothwendig machen. Sie bestehen aus hohlen Holzsäulen, in deren Innerem sich ein elektrischer Apparat befindet, während von der Spitze der Säule ein zwei Fuß langer rother Arm herunterhängt, der in dieser Lage „Bahn frei“ bedeutet; sobald aber auf dem elektrischen Apparat das Zeichen „Linie besetzt“ gegeben wird, hebt sich der rothe Arm rechtwinkelig empor und macht diese Stellung bei Nacht durch ein daran hängendes rothes Licht erkennbar. Diese Apparate sind dabei unter sich durch Leitungsdrähte verbunden und so construirt, daß jeder damit betraute Wärter Signale geben, dieselben aber nicht selbst wieder beseitigen kann, sondern dabei ganz von seinem Nachbar abhängig ist. Hat zum Beispiel der erste Signalwärter, welchem der von Station A abgegangene Zug 2 begegnet, mit dem Distancesignalapparat das Zeichen „Vorsicht“ oder „Linie besetzt“ gegeben, und damit dem Zug 2 angezeigt, daß sich auf der Strecke von diesem bis zum nächsten Signalapparat noch der Zug 1 befindet, so kann nur der Posten am letzteren Apparat das bei dem ersten Posten gegebene Signal „Linie besetzt“ dadurch wieder beseitigen, daß er, nachdem der Zug 1 an ihm vorüber ist, nun ebenfalls zur Mahnung für den darauffolgenden Zug 2 das Signal „Linie besetzt“ giebt, denn in demselben Augenblicke, wo er dieses Signal mittels eines Drückers sichtbar werden läßt, bewirkt er zugleich auf elektrischem Wege das Verschwinden desselben Signals am vorhergehenden Posten.

Zu den Distancesignalen gehören auch die nützlichen elektrischen Signalapparate, welche auf starkbefahrenen Bahnen in Zwischenräumen [203] von dreitausend zu dreitausend Ellen aufgestellt sind und durch einen schwarzen Zeiger angeben, ob sich in dem Zwischenraume von einem bis zum anderen Apparate ein Zug aufhält. Ist also ein Zug von der Station A. nach Station B. abgegangen, so signalisirt A. den Zug zunächst nach dem nächsten dreitausend Ellen entfernten Signalposten und läßt einen anderen Zug nicht eher folgen, bevor nicht von diesem Posten durch den Apparat das Zeichen, daß der abgegangene Zug dort angekommen, zurückgelangt ist; so lange dieses nicht der Fall, deutet der schwarze Zeiger des Apparats der Station A. auf „Linie besetzt“, während ein zweiter, darunter befindlicher rother Zeiger als Quittungszeichen dient, denn er giebt durch seine Stellung an, ob das fortgegebene Zeichen auf dem nächsten Signalapparat auch zum Vorschein gekommen ist. Ein elektrisches Läutewerk steht damit in Verbindung, es dient dazu, die einzelnen Posten vorher auf den Apparat aufmerksam zu machen.

Zu den wichtigsten Signalen gehören ferner auch die Haltezeichen. An allen wichtigen Punkten, wozu besonders die Bahnhofseinfahrten gehören, stehen jene auf weite Strecken hin sichtbaren, des Nachts mit reflectirenden grünen oder rothen Lichtern behangenen Sperrscheiben, das heißt meist kreisrunde auf einem verschiebbaren Gestell befestigte Blechscheiben, die durch Drahtzüge von dem nächsten Wärter gewendet werden und „Halt“ bedeuten, sobald sie dem Zuge die volle Fläche entgegenhalten, um an den betreffenden Stellen Zusammenstöße abzuwenden. In England, besonders aber in Frankreich, sind da, wo mehrere Schienenwege zusammentreffen, auch die Weichen mit solchen, oft sehr weit davon entfernten Sperr- oder Haltescheiben durch Drähte in der Art verbunden, daß der Weichensteller, wenn er einem nahenden Zuge die Weichen öffnet, zugleich diese Scheiben auf „Halt“ stellt, andere Züge damit absperrt und dadurch dem von einem auf das andere Geleis übergehenden Zuge nach allen Seiten hin Sicherheit verschafft. In Frankreich hat man auch an mehreren besonders stark befahrenen Kreuzungspunkten Zusammenstöße dadurch unmöglich gemacht, daß die sich kreuzenden Linien durch Brücken über- und untereinander hinweggeführt worden sind.

Ohne die oben erwähnten elektrischen Distanz- oder Raumsignale, welche dem Locomotivführer fortwährend anzeigen, welches Tempo er einzuhalten hat, wäre der Eisenbahnverkehr in der englischen Hauptstadt gar nicht mehr zu regeln und stets den ernstesten Gefahren ausgesetzt, denn dieses Häusermeer durchkreuzen täglich viertausend Züge, wovon allein dreitausendsechshundert den localen Verkehr in der Stadt selbst vermitteln, während nur die übrigen vierhundert von auswärts kommen. Dreimalhunderttausend Passagiere benutzen diese Züge täglich zu ihrem Fortkommen. Mehrere der großen Bahnhöfe sehen in Folge dessen Tag für Tag gegen vierzigtausend Menschen in ihren Riesenhallen aus- und einsteigen, eine Frequenz, gegen die der Zuzug zur Leipziger Messe an den Meßsonntagen nicht sehr in Betracht kommt.

Um dieses rastlose Treiben und Jagen zu beherrschen, dazu gehört eben nur die hohe Vollendung des englischen Signalwesens und die Kaltblütigkeit der englischen Race. Menschenhände reichen nicht aus, die zahllosen Weichen rechtzeitig zu bedienen. Ein großer vollendeter Mechanismus bewirkt an allen großen Knotenpunkten des Verkehrs das Oeffnen und Schließen vieler Weichen zugleich. An Kreuzungen und Bahnhofseinfahrten arbeitet der Signalgeber in einem zwischen den Geleisen stehenden kleinen Hause und stellt darin mittels Hebel alle umliegenden Weichen zu gleicher Zeit und läßt auch einfach mittels Drucks auf Metallknöpfe oder anderer kleinerer Hebel eines elektromagnetischen Signalapparats an mehreren Stellen zugleich alle die verschiedenen Zeichen sichtbar oder hörbar werden, welche die Sicherheit der ankommenden und abgehenden Züge nach Menschenvermögen garantiren. Diese Apparate, sowie die zum Stellen der Weichen angebrachten Hebel sind dabei so sinnreich mit einander verbunden, daß der sie bedienende Beamte alle Griffe nur in einer ganz bestimmten, dem zu gebenden Signal entsprechenden Reihenfolge vornehmen kann, weil sie sonst versagen. Der Signalgeber oder Wärter kann zum Beispiel keinen Hebel bewegen, welcher die damit verbundenen Weichen einem nahenden Zuge öffnet, bevor er nicht den dazu gehörenden Signalhebel gestellt hat, welcher zuvor die entsprechenden Sicherheitssignale giebt, und der Signalhebel kann dann nicht früher wieder zurückgestellt und die damit zusammenhängenden Sicherheitszeichen beseitigt werden, bevor nicht erst der dazu gehörige Weichenhebel zurückgestellt und die damit verbundenen Weichen wieder in Ordnung gebracht, das heißt geschlossen worden sind.

Diese angeführten großen Signalsysteme, die mit kleinen Abweichungen theilweise auch auf unseren deutschen Bahnen mehr oder weniger Anwendung gefunden und sich überall bewährt haben, werden nun noch durch die ebenfalls in ein bestimmtes System gefaßten Signale ergänzt, welche das Personal der Züge, der Bahnhöfe und die Bahnwärter mit den Händen, mit kleinen Flaggen, Laternen und Pfeifen zu geben haben, sowie durch die Signale mit der Dampfpfeife und die jetzt sehr in Aufnahme gekommenen Knallsignale, welche in Form kleiner mit Sprengmasse gefüllter Blechkapseln, bei Nacht, Nebel, Sturm und Schneegestöber, wo die Zeichen eines einzelnen Mannes leicht unbemerkt bleiben können, vor und hinter einem festgefahrenen oder entgleisten Zug auf die Schienen befestigt werden, beim Ueberfahren explodiren und dadurch einem nahenden Zug das Zeichen zum Halten geben.

Mit diesen einer fortwährenden Vervollkommnung unterliegenden Signalen schien das Maß menschlicher Fürsorge für Leben und Gut nahezu erschöpft zu sein, als vor drei Jahren der von einem deutschen Schneider in dem Coupé einer Londoner Bahn während der Fahrt verübte Mord (damals der zweite Eisenbahnmord) die volle Aufmerksamkeit des Publicums auf die bis dahin noch sehr wenig beachtete Hülflosigkeit richtete, in die der einzelne Passagier so häufig während der Fahrt geräth. Ganz England fuhr dabei erschrocken auf und verlangte von seinen Eisenbahnverwaltungen eine leichte und zweckmäßige Verbindung der Passagiere mit dem Zugspersonal während der Fahrt. Es war dies aber eine schwierige Aufgabe, da der Engländer mit Zähigkeit an dem auch in Deutschland gebräuchlichen sogenannten englischen Wagensystem mit seinen von einander getrennten Coupés festhielt und doch auch in den Stand gesetzt sein wollte, zu jeder Zeit den Schaffner herbeirufen zu können, der, da die englischen Wagen keine Laufbretter haben, während der Fahrt vollständig von den Passagieren getrennt ist.

Die Bahnen wurden bald mit darauf abzielenden Projecten und Erfindungen überschwemmt und mußten unter dem unwiderstehlichen Drucke der öffentlichen Meinung sich wohl oder übel zu einer Menge Versuche über die geeigneten Mittel zum ungehinderten Verkehr innerhalb eines Zuges bequemen, die sich fast durchgehend als unpraktisch herausstellten. Die absolute Nothwendigkeit einer leichteren Verbindung zwischen den Passagieren und den Beamten des Zuges auch während der Fahrt blieb aber aufrecht und beschäftigt bis auf den heutigen Tag in England und Frankreich, weit weniger in Deutschland, die Köpfe der hervorragendsten Fachleute. Aus ihren bisherigen Experimenten haben sich besonders zwei Signalsysteme herausgeschält, die Anspruch auf einige Zweckmäßigkeit haben und deshalb in Frankreich und England eingeführt worden sind. Bei dem einen Systeme befindet sich in der Zwischenwand eines jeden Coupés der Klingelzug zu einem im Dienstcoupé des Zugspersonals aufgestellten elektrischen Läutewerke. Wird an dem Klingelzuge gezogen, so ertönen nicht blos im Dienstcoupé die Glocken des Läutewerks, sondern es wird auch zugleich zur leichteren Auffindung des betreffenden Coupés über demselben eine Scheibe sichtbar; bei einer englischen Bahn wird diese Scheibe des Nachts durch eine aufsteigende Rakete ersetzt. (? Die Red.)

Was die zweite Art des Verkehrs von Wagen zu Wagen betrifft, die besonders in Frankreich eine größere Verbreitung gefunden hat, so sind hier ebenfalls in den Zwischenwänden der Coupés Knöpfe angebracht, welche die Handhaben kleiner Luftpumpen bilden, die wieder mit einer Reihe unter den Personenwagen hängender eiserner Röhren in Verbindung stehen, welche unter sich durch Kautschukschläuche verbunden sind und in ein im Zugsführercoupé aufgestelltes Läutewerk münden. Ein zwei- bis dreimaliges Ziehen an einem der Knöpfe verdünnt die Luft in den Röhren und setzt auch das Läutewerk in Gang, während gleichfalls über dem betreffenden Coupé sich eine Scheibe emporrichtet und den Ort bezeichnet, von wo aus das Signal gegeben worden ist.

Bei beiden Zugssignalen sind die Griffe und die Knöpfe in den Coupéwänden durch Glastafeln vor einem zu leichten Gebrauche geschützt, und müssen dieselben erst zerbrochen werden, um zu den Griffen zu gelangen, deren Gebrauch durch Anschläge erklärt wird, auf welchen auch auf die Strafen aufmerksam gemacht ist, die ein leichtsinniger Gebrauch nach sich zieht.

[204] Leider haben derartige Signale den großen Fehler, daß sie, besonders die elektrischen, zu künstlich und empfindlich und deshalb fortwährend Beschädigungen ausgesetzt sind.

Aus diesen und andern Gründen haben dergleichen Signale auch in Deutschland noch keinen Anklang gefunden, dagegen hat man bei uns eine alte praktische Vorrichtung wieder hervorgesucht und wieder angefangen, von der Dampfpfeife der Maschine aus eine Leine über den Zug zu legen. Da nun in Deutschland auch während der Fahrt eine leichtere Zugscontrole durch die an jedem Wagen befindlichen Laufbretter ausgeübt werden kann, als in England, so ist der Schaffner, wenn er eine Gefahr etc. bemerkt, zu jeder Zeit bei Sturm und Nebel von seinem Sitze aus im Stande, durch einen Ruck an der Leine mit der Dampfpfeife das Haltezeichen zu geben.

Das amerikanische Personenwagen-System, wobei man durch die Giebelseiten der Wagen durch den ganzen Zug gehen kann, macht dergleichen Signale, das letztere vielleicht ausgenommen, natürlich überflüssig; wir werden jedoch später darauf sowie auf den Personenverkehr und seine Einrichtungen zu sprechen kommen und wollen hier nur noch einer Erfindung gedenken, die gleichfalls in die Reihe der Sicherheitsvorrichtungen gehört, unter dem Namen eines Indicators versuchsweise auf der Köln-Berliner Bahn eingeführt worden ist und aus einem in oder unter dem Wagen angebrachten Apparat besteht, der durch eine Schnur mit einer der Achsbüchsen desselben Wagens in Verbindung steht. Alle Schwankungen während der Fahrt, denen der Wagen in Folge seiner Construction und, was das Wichtigste, durch die mehr oder weniger gute Beschaffenheit des Schienenstrangs unterworfen ist, werden von der Achsbüchse der Schnur mitgetheilt, die dadurch wie ein kleiner Treibriemen wirkt, Räder und durch diese wiederum einen Schreibstift in Bewegung setzt, der jede empfangene Schwankung auf einen durch die Wagenbewegung sich abwickelnden Papierstreifen in Form kleiner Zickzacklinien verzeichnet, die natürlich um so größer ausfallen müssen, je stärker die Schwankungen des Wagens waren. Da der eigentliche Schreibapparat auch in einem Coupé aufgestellt werden kann, so ist ein ihn überwachender Beamter im Stande, alle Wärterhäuser, Brücken, Tunnel, sogar die Meilensteine, welche der Zug passirt, mit einem Bleistift auf dem sich abrollenden Papierstreifen zu markiren. Mit Hülfe dieser Merkzeichen kann dann später jeder beliebige Punkt der Bahn, sogar jede einzelne Schiene aufgefunden werden. Ein zweiter durch ein Uhrwerk bewegter Schreibstift markirt außerdem die Zeit auf den Streifen, so daß auf demselben auch noch die Geschwindigkeit des Zuges auf jedem Theile der Bahn ersichtlich ist. Dem ähnliche Apparate sind auf der preußischen Ostbahn schon länger in Gebrauch und weisen nicht blos die auf jedem Theile der Bahn angewendete Zugskraft nach, sondern außer der Geschwindigkeit der Fahrt geben sie auch noch die Länge des Aufenthalts auf den Stationen an; sie controliren mithin die ganze Linie, während der erstere Apparat vorzugsweise die Beschaffenheit der Strecke controlirt und über jede schlechte Stelle derselben seine stumme Meldung macht.

Obwohl endlich alle Signale an den Eisenbahnen nur einen Hauptzweck erstreben sollen und in jedem Lande sehr leicht in ein System gebracht werden könnten, so trifft man doch auf keinem Felde menschlicher Thätigkeit mehr Abwechselung und schroffere Abweichungen an als gerade im Signalwesen.

Wir haben in Vorstehendem nur die hauptsächlichsten und wichtigsten in den drei großen Culturstaaten Deutschland, England und Frankreich angewendeten Sicherheitsvorrichtungen berührt, zum Theil uns aber auch an die in Sachsen gebräuchlichen gehalten, weil hier ein ungewöhnlich starker Verkehr die umfassendsten Sicherheitsmaßregeln bedingt, und haben damit dem freundlichen Leser einen Einblick in dieses Gewebe interessanter Erfindungen verschafft, welches sich, wenn er den Fuß in den Waggon setzt, sichernd um ihn her ausspannt und fast auf jeder Bahn sich ändert, weil beinahe jede Bahn ein anderes System hat. Deutschland mit seinen vielen Gesellschafts- und Staatsbahnen steht darin weder hinter dem dreieinigen England, noch hinter dem centralistischen Frankreich mit seinen einer eingehenden staatlichen Controle unterworfenen sechs großen Eisenbahngesellschaften zurück.

Nur wenige Signale haben eine allgemeine Geltung; so die Haltescheiben, deren volle Flächen ebenso wie die wagerecht vorgehaltenen Arme der Distancesignale und Semaphoren beinahe überall Halt gebieten, während die rothen, grünen und weißen Farben und die Signale der optischen Telegraphen die abweichendste Bedeutung haben. Dort erglänzen die richtig gestellten Weichen in rothem, da in grünem und hier in weißem Lichte; nur das blaue Licht hat man überall ausgeschlossen, weil es leicht mit dem grünen zu verwechseln ist und nicht weit gesehen werden kann. In Frankreich hat die Orleansbahn dieses und die Nordbahn jenes Signalsystem adoptirt, und letztere selbst wendet wiederum auf den einzelnen Bahnhöfen versuchsweise hier dieses und da jenes Untersystem an. Der große amerikanische Freistaat bewegt sich darin ebenfalls in buntem Wechsel. Es ist eben noch überall ein Suchen und Tasten nach dem Verläßlichen und Guten, ein ununterbrochener Wettstreit, der aber späteren Geschlechtern zu Gute kommt, denn es werden noch viele Jahre vergehen, ehe sich aus diesen tausendfachen Versuchen ein System Geltung erringt, das die besten Proben seines Werthes gegeben hat.




Kraft und Anmuth in der Mädchenschule.

Unter den Völkern christlicher Cultur sind es vor allen andern die Völker germanischen Ursprungs, welche dem Weibe in Haus und Familie eine freie und würdige Stellung eingeräumt haben. Diese Würdigung und Hochachtung der Familienmutter hat in der deutschen Erziehung die edelsten Früchte gereift, und in der That hat noch heute in aller Welt das Prädicat einer „echten deutschen Frau“ hohen und geweihten Klang. Dieselben Völker sind es auch, welche fort und fort mit großer Opferwilligkeit für eine allgemeine Volksbildung in die Schranken getreten sind.

Volksbildung ist Volksbefreiung und Volksbeglückung, so heißt die Parole unserer Tage, und ein intelligentes Volk ist auch ein starkes Volk. Regierungen und Gemeinden haben die tiefe Wahrheit dieser Aussprüche erkannt und deshalb für eine tüchtige Bildung der Jugend beiderlei Geschlechtes durch obligatorischen Unterricht gesorgt. Die Schule soll aber nicht mehr nur in einseitiger Weise den Geist herausreißen und darüber den Körper vernachlässigen, sondern Geistes- und Körperbildung sollen Hand in Hand gehen. Beiderlei Kräfte, geistige und körperliche, sind in harmonischem Einklange zu entwickeln und zu fördern. Der Geist des heranwachsenden Jünglings, bereichert mit nützlichen und schönen Kenntnissen, soll auch über einen frischen und gewandten Körper nach Willkür verfügen können. Dadurch werden dem Staate Bürger erzogen, die in den Zeiten des Friedens als ganze Männer ihre Stellung im beruflichen Leben ausfüllen und die in den Zeiten der Noth mit Freuden herbeieilen, um dem Vaterlande ein unverzagtes Herz und einen rüstigen Arm zur Verfügung zu stellen.

Die Wohlthat harmonischer Erziehung nach Leib und Geist ist aber nicht nur ein Privilegium des männlichen Geschlechtes, im Gegentheil, sie muß auch der weiblichen Jugend und zwar in noch höherem Maße zu Theil werden. Oder sollten unsere Mädchen, besonders die Bewohnerinnen von Städten, nicht auch unter dem Einflusse einseitiger Geistesbildung zu leiden haben? Gewiß! Wer kennt nicht die gesteigerten Anforderungen, welche, hervorgerufen durch den höheren Culturzustand der gesammten Nation, heutzutage an die Ausbildung der Mädchen gemacht werden? Bald sind es Sprachen, bald schöne Künste, welche neben den gesetzlichen Schulfächern die geistigen Kräfte der Mädchen in nicht geringer Weise in Anspruch nehmen. Zu all’ dem kommt noch die irrige Ansicht, als ob ein frisches, frohes Herumtummeln und Spielen der weiblichen Jugend den Begriffen von Sittsamkeit und Anstand diametral entgegengesetzt wäre. – –

Was muß also für die physische Ausbildung unserer Mädchen geschehen? Sollen sie denn auch turnen? Freilich! Turnen thut ihnen wahrlich noch mehr noth, als dem männlichen Geschlechte. Manche unserer verehrten Leserinnen werden zwar bedenklich den Kopf schütteln, weil sie beim Anhören des Wortes „Turnen“ in ihrer Vorstellung keine anderen Bilder finden, als Purzelbäume, Sprünge an Bock und Pferd, Schwünge an Reck und Barren und

[205]

Castagnetten-Reigen der Mädchen-Turnanstalt in Düsseldorf.
Nach der Natur aufgenommen von W. Simmler.

[206] dergleichen mehr. Ihnen zur Beruhigung theilen wir gleich von vornherein mit, daß das Turnen, wie es jetzt an vielen Orten von kleinen und großen Mädchen getrieben wird, von solchen Dingen himmelweit verschieden ist.

Adolf Spieß (geboren 1810, gestorben 1858), der geistreiche Schöpfer des neuen Schulturnens, war es, der zuerst mit allem Nachdruck darauf hinwies, daß das Turnen an Knaben- und Mädchenschulen obligatorisch und gleichgestellt den übrigen Unterrichtsfächern einzuführen sei. In einer Turnlehre, welche vier Bände umfaßt, bearbeitete er den Turnstoff systematisch; in seinen beiden Turnbüchern behandelte er das Schulturnen für beide Geschlechter methodisch und didaktisch. Mit feinem pädagogischem Tacte bezeichnete er in denselben die für die weibliche Jugend nicht tauglichen Uebungen. Dagegen schuf er in seinen Ordnungsübungen, Gang- und Hüpfarten und den aus denselben zusammengestellten Reigen eine reiche Fülle wohldurchdachter Uebungen, wie sie sich in vorzüglicher Weise für das weibliche Geschlecht eignen. In Burgdorf, Basel und Darmstadt wirkte er an Knaben- und Mädchenschulen mit ausgezeichnetem Erfolge. Im Großherzogthum Hessen übernahm er als Oberstudienassessor die Leitung des Schulturnens und gründete in dessen Hauptstadt eine Musteranstalt für dasselbe. Aus verschiedenen Ländern wurden Lehrer und Schulvorstände abgeordnet, in Darmstadt seinem Unterrichte beizuwohnen, und alle stimmten in ihrem Urtheile überein und hoben mit großem Lobe hervor, daß Spießens Art und Weise des Schulturnbetriebes eine den Ansprüchen ernster Pädagogik vollständig entsprechende sei.

Mit besonderer Aufmerksamkeit wurde auch seine Behandlungsweise des Mädchenturnunterrichtes verfolgt; denn sein schöpferischer Geist zeigte sich gerade auf diesem Gebiete außerordentlich fruchtbar. Musik und Gesang wurden mit den reigenartigen Uebungen auf sinnige Weise verbunden, so daß Uebende und Zuschauer stets einen wahren Hochgenuß dabei hatten. Leider wurde. A. Spieß zu frühe aus seinem so segensreichen Wirkungskreise abgerufen. Aber dem Mädchenturnen war nun die Bahn geöffnet: der entsprechende Stoff und die richtige Art und Weise des Betriebs waren gegeben: Aerzte und Pädagogen von Bedeutung sprachen es mit Freuden aus, daß dem weiblichen Geschlechte der Segen der Leibesübungen nicht länger mehr dürfe vorenthalten werden. Vom sanitarischen Standpunkte aus wurde die körperliche Ausbildung der Mädchen geradezu als unumgängliche Nothwendigkeit gefordert. Denn nachdem es sich erwiesen hatte, daß eine dem Wesen der Weiblichkeit entsprechende Turnweise existire, die auf gute Haltung, körperliche Entwickelung und Förderung des ästhetischen Gefühles von segensreichem Einflusse sei, durfte mit Einführung derselben nicht mehr gezaudert werden. In der That wurden auch in vielen Städten Turnsäle für Mädchen errichtet und in denselben nach Spieß’schen Grundsätzen unterrichtet. Die Erkenntniß, daß der Leibesunterricht für die weibliche Jugend wenigstens ebenso nothwendig, wenn nicht nothwendiger sei, als für die männliche, nahm, besonders auch in den maßgebenden Kreisen, fort und fort zu. Natürlicherweise, man konnte sich ja nicht verhehlen, daß eigentlich der physische Stand der zukünftigen Generation noch viel mehr von dem weiblichen Geschlecht abhänge, als vom männlichen. Ein Gefühl der Schuld beschlich die Brust; man erkannte, daß man lange, lange Zeit eine Unterlassungssünde begangen hatte. Mit Beschämung mußte man sich eingestehen, daß ja gerade die Mädchen für ihre zukünftige Bestimmung als Gattin und Mutter einer Fülle von Kraft und Gesundheit bedürfen. Denn wer hätte nicht schon die aufopfernde Hingabe einer deutschen Familienmutter bewundert!? Eine Aufopferung, die am Krankenbette von Gatte und Kind keine Grenzen kennt. Wer will die Summe von Kraft bemessen, welche eine treue Mutter in unzähligen Nachtwachen und in unausgesetzter Krankenpflege für die Ihrigen in stiller Duldung dahingiebt? –

Und solcher Aufopferung und Treue gegenüber hätte das deutsche Volk vergessen sollen, was es seiner weiblichen Jugend schuldet? Nie und nimmermehr! Wir dürfen es auch mit Freuden bekennen: Wackere Männer haben das verdienstliche Werk Spießens weiter geführt und für die leibliche Erziehung der Mädchen mit Wort und That in guten Treuen gearbeitet. In Darmstadt, Leipzig, Basel, Frankfurt, Berlin, Dresden, Düsseldorf und noch an vielen anderen Orten turnen Hunderte und aber Hunderte von Mädchen. Lehrer der verschiedensten Länder besuchen diese Musterturnstätten öfter, um sich für den Turnlehrerberuf durch eigene Anschauung des Betriebes recht tüchtig zu machen. Alljährlich finden an den genannten Orten auch Turnprüfungen statt, bei welchen den Eltern die Gelegenheit geboten ist, die Resultate der turnerischen Uebungen in kurzen Umrissen zu überschauen. Eine solche Prüfung stellt das nebenan gegebene Bild dar. Da sehen wir die Mädchen in wohlgeordneten Reihen die Grenzen des Saales entlang ziehen, bald zu Paaren oder zu größeren Reihen sich ordnen, bald in kunstvoll verschlungenen Linien mit anmuthigen Gang- und Hüpfarten und mit zugeordneten Armthätigkeiten sich bewegen, Alles leicht und graciös, als ob sich das so ganz von selbst verstünde; wir ahnen kaum, welch’ systematischer Unterricht, welche Geduld und Mühe des Lehrers erforderlich war, um wie auf ein Zauberwort alle diese Bewegungsformen hervorzurufen. Liebliche Musik oder ein frischer Gesang der Jugend begleitet den fröhlichen Reigen. Stellungen, Märsche in wechselvollen Tempos, Reihenbildungen, Hang- und Schwebeübungen lösen einander ab und jede neue läßt nicht nur die Sicherheit, sondern, was mehr gilt, den errungenen Vortheil erkennen, der deutlich in Kraft und mädchenhafter Anmuth hervortritt. Am überraschendsten zeigt sich dies bei der Darstellung des Reigens, zu dem die Mädchen selbst mit ihren Castagnetten den Tact schlagen.

„Wahrhaftig,“ rief uns bei Anschauung einer solchen Prüfung ein Schulmann zu, „das ist die Poesie des Schullebens!“

Wie lieblich gestalten sich da ferner die Hüpfübungen im großen und kleinen Schwungseile! Kaum sehen wir die Fußspitzen in künstlicher Hüpfweise den Boden berühren, so schwingt das Seil schon wieder ein-, zweimal durch, und wir merken der jugendlichen Tänzerin kaum eine Anstrengung an. Eine andere Abtheilung der Mädchen übt eine Gruppe von Stabübungen durch, welche bald durch schmucke Verbindungen, bald durch gewandte Führung des Stabes unser Entzücken erweckt. Doch wir wollen nicht weiter beschreiben; wir wünschen schließlich nur, es möchte recht vielen unserer verehrten Leser und Leserinnen vergönnt sein, solche mustergültige Turnprüfungen mit anzuschauen. Denn das sind Stunden, in welchen man sich so gerne zurückträumt in die selige, goldene Zeit der Jugend.

D.




Unter den Tropen.[2]
I.

Eine wie schreckliche Geißel für die Bewohner des nordafrikanischen Littorals und Ostindiens die Nachbarschaft des Löwen öder Königstigers auch sei, das Krokodil reiht sich ihnen jedenfalls als ebenbürtiges Glied eines Trio an, welches sich durch Größe und Wildheit auszeichnet.

Es giebt einzelne Fälle, sei es auch unter hunderten kaum einer, wo es ausnahmsweise dem Menschen gelingt, im Kampfe mit dem Löwen oder Königstiger sein Leben zu retten. Das Krokodil läßt seine Beute niemals los. Was es erhascht mit seinen furchtbaren Fangzähnen, hält es fest und schleppt es in die Tiefe; das von ihm Ergriffene ist unrettbar verloren, sei es Mensch oder Thier.

Die Krokodile kommen im indischen Archipel sehr häufig vor. Man findet sie in allen größeren Flüssen, vorzüglich nahe der Mündung. Nur vereinzelt treten sie auf in einigen kleineren Binnenseen. Wahrscheinlich wurden sie dorthin aus muthwilligem [207] Leichtsinn versetzt als Ei oder ausgebrütet im ersten Stadium der Entwickelung. Irgend eine fromme Legende liefert dann den Schlüssel zu jener räthselhaften Erscheinung.

In einigen Landstrichen, z. B. in der Provinz Palembang, an der Ostküste Sumatras, werden sie zu einer wahren Landplage, was die niederländische Regierung schon längst veranlaßt hat, dort Prämien auszuschreiben für jedes getödtete Krokodil, wie das auf Java mit dem Königstiger stattfindet. Selbst auf das Einsammeln der Eier und Abfangen der jungen Brut ist eine Belohnung gestellt. Die Eier haben die Größe eines Gänseeies und eine weiche, undurchsichtige Schale; man findet sie in einer Anzahl von sechs bis zehn Stück an trockenen Uferstellen im Sande verscharrt, wo dann die reichlich Wärme spendenden Sonnenstrahlen das Geschäft des Ausbrütens übernehmen. Die junge Brut, ungefähr sechs Zoll lang, begiebt sich beim Eintritt in die Welt sofort zu Wasser. Vollkommen ausgewachsen erreicht das indische Krokodil die erstaunliche Länge von sechszehn bis zwanzig Fuß rheinisch.

Ebenso wie der Königstiger wohl nur im Falle der äußersten Noth, wenn der hungrige Magen kein anderes Gebot kennt, den Anfall auf Menschen wagt, ebenso respectirt auch das Krokodil den Herrn der Schöpfung, so lange die Speisekammer noch anderen Vorrath darbietet. Diese Speisekammer ist ein Versteck im tiefen Schlamme auf dem Boden des Flusses. Alle Beute wird dorthin geschleppt. Sie besteht größtentheils aus den Cadavern getödteter oder ertrunkener Thiere, vorzüglich von Hunden, welche der Strom mit sich führt. In gewisser Hinsicht verrichten also die Krokodile den Dienst der Gesundheitspolizei. Jeder heftige Regen im Gebirge führt in den stark angeschwollenen Strömen einen neuen Cadavervorrath der Flußmündung entgegen. In den größeren Ortschaften an der Küste, wie z. B. Batavia, kommen sie dann oft zu Dutzenden angetrieben, ein ziemlich widerlicher Anblick, wo, wie durchgängig an den Flußmündungen, die Stromschnelligkeit auf Null reducirt ist.

In Folge einer bei so einfachen Naturkindern wie die indischen Archipelbewohner leicht erklärlichen Begriffsverwirrung zwischen Ursache und Folge, begegnet man unter ihnen einem weit und breit verbreiteten Aberglauben, welcher sie in den Krokodilen Stammesgenossen, ja Blutsverwandte erblicken läßt. Hunderte, Männer, Frauen und Kinder, nehmen täglich wenigstens zwei Mal ihr erfrischendes Flußbad, unbekümmert ob in der Nähe ein Krokodil gesehen wird oder nicht. Dasselbe zählt ja im Dorfe, im Stadtviertel einen Vater, Großvater, oder zum wenigsten Geschwister, und wird ihnen gewiß kein Leid zufügen. Nur ein Fremder hüte sich, dort ein Bad zu nehmen. Gastfreundschaft respectirt der grimmige Bruder nicht. Dagegen versäume man auch nicht, todte Hunde, thierische Abfälle aller Art in den Fluß zu werfen, dem Sudara (Bruder) zur Speise! Erstens ist das bequem und zweitens wird das freundnachbarliche Verhältniß mit Bruder Krokodil dann am wenigsten der Gefahr einer Störung ausgesetzt sein. Aber wehe dem Ungethüm, wenn es in übler Laune sich einfallen läßt, einen lebenden Dorfbruder oder Schwester für einen todten Hund anzusehen! Da wird ihm sogleich der Krieg erklärt und nicht geruht, bis das tödtende Blei den Weg zur Augenhöhle gefunden oder bis es im Schlafe überfallen und seine Bewegungskraft lahm gelegt ist durch das An- oder Durchhauen eines der vielen Schwanzwirbel.

Eines Morgens, es war im Jahre 1866, wurde unsere Aufmerksamkeit rege gemacht durch ein ganz ungewöhnliches Toben und Leben auf der sonst so stillen Straße, welche, beschattet von einer Allee uralter Tamarindenbäume, vom Residenzhause zu Tangkil nach der Stadt Cheribon, Hauptort der allen Kaffeetrinkern wohlbekannten Provinz gleichen Namens, führt. Ein großer Haufe Volks, Alt und Jung, Alle wild durcheinander schreiend, hatte am Eingange des Parks vor der Residenz Posto gefaßt. Einige Polizeisoldaten, deren ich, wie jeder Resident, eine gewisse Anzahl Tag und Nacht zu meiner Verfügung hatte, eilten sofort hinaus und kehrten alsbald mit der Kunde zurück, man habe ein großes Krokodil lebend eingefangen. Dieses, ein Thier von außergewöhnlicher Länge und Umfang, lag auf dem Untergestelle zweier aneinander gebundener zweirädriger Frachtkarren. Eine tiefe, handbreite klaffende Wunde hatte die ungeheure Kraft, welche das Thier mittels des Schwanzes auszuüben fähig ist, gelähmt.

Wir traten Alle näher heran. Sogleich verstummte der Lärm und der ganze Haufe setzte sich in ehrerbietiger Haltung mit untergeschlagenen Beinen auf die Erde, während ein ältlicher Mann das Wort ergriff und mir Folgendes mittheilte:

Der Gefangene wäre sein, des Sprechers, Großvater. Viele Jahre hätte Großvater mit ihnen Allen im besten Einverständniß gelebt. Gestern jedoch beim Baden wäre er plötzlich unter die Frauen geschossen und noch ehe diese sich dessen versehen, hätte er ein vierjähriges Mädchen, seine Enkelin, erfaßt und mitgeschleppt. Daraufhin habe man ihn zum Tode verurtheilt. Es wäre gelungen seiner lebend habhaft zu werden. Jetzt wären sie gekommen und bäten mich um die Erlaubniß, den Missethäter, ehe sie ihn tödteten, in der Stadt umherführen zu dürfen, „um ihm das Schamgefühl über das Schändliche seiner That recht fühlbar zu machen“.

Diese lange Rede schien dem Thiere nicht recht zu gefallen. Vielleicht war es auch, wie die Sieger meinten, aus Scham, genug, mit einem gewaltigen Ruck hatte das Krokodil schon einige der Bambusstricke, womit es auf den Karren festgebunden lag, gesprengt und erschrocken eilten die Damen dem Gartenthor zu; jedoch ein erneuter Hieb mit dem Klewang machte es Großvater alsbald begreiflich, daß ein Entwischen doch seine Schwierigkeiten habe.

Gern ertheilte ich die erbetene Erlaubniß. Unter Anführung einiger Polizeisoldaten setzte der Zug sich nun jubelnd wieder in Bewegung.

In der guten Stadt Cheribon ging es an jenem Tage lustig her. Die ganze liebe Jugend war selbstverständlich auf den Beinen, und das will etwas sagen in einem Lande, wo es für sie noch keine Schulen giebt. Ueber so viel Schande und Schimpf grämte und schämte der unnatürliche Großvater sich fast zu Tode. Das bemerkte man deutlich an der Abnahme seiner Kräfte. Endlich, in der vierten Nachmittagsstunde wurde das Todesurtheil, unter einem ungeheuren Volkszulauf, an ihm vollzogen. Dem Thiere wurde vorsichtig der stark geschwollene Bauch aufgeschlitzt, und wirklich, die arme verunglückte Kleine wurde als Leiche, beinah unversehrt, ihrem unnatürlichen Grabe im Magen des Ungeheuers entrissen. Noch hielt das eine Händchen krampfhaft zwischen den kleinen Fingern eine Schnur aufgereihter Genitrikerne, womit sie im Augenblick des Todes, im Flusse neben ihrer Mutter stehend, gespielt hatte.

Sehr zahlreich findet man die Krokodile in der Tjitandovi. Am Ufer dieses Flusses hat die niederländische Regierung ein Central-Kaffeedepôt errichtet für die Kaffee-Ernten aus den südlichen Districten der Provinz Preanger. Vor fünfzehn Jahren war jener Punkt noch eine Wildniß, wo mehr Tiger, Rhinocerosse und wilde Stiere hausten als Menschen. Jetzt empfängt das Centraldepôt in Bandjar jährlich im Durchschnitt gegen sechszigtausend Centner Kaffee, welcher von hier aus zu Wasser weiter befördert wird nach dem hundertzwanzig englische Meilen entfernten Seehafen Tjilatjap. Die Entfernung nach Sumadang beträgt achtzig Meilen, konnte aber glücklicher Weise ganz zu Wagen zurückgelegt werden. Dienstliche Angelegenheiten riefen mich oft nach Bandjar und von dort weiter den Fluß hinab nach Kali Poertjang, an der Mündung der Tjitandovi, der äußersten Grenze meines Jurisdictionsgebietes, hundertvierzig englische oder circa dreiunddreißig deutsche Meilen von Sumadang entfernt. In Kali-Poertjang befanden sich einige Salzmagazine der Regierung.

Die Fahrt auf dem Flusse abwärts nahm zwei volle Tage in Anspruch und wurde in Canoes, aus ausgehöhlten Baumstämmen verfertigt, zurückgelegt. Das Nachtquartier wurde in Sapu-angin genommen, einem aus einigen wenigen armseligen Indianerhütten bestehenden Dorfe, dem einzigen auf der ganzen Fahrt. Ununterbrochener Urwald zieht sich an beiden Ufern hin, meist niedriges sumpfiges Land. Wahre Todesstille herrscht im Walde. Rings umher düsteres unheimliches Schweigen, noch unheimlicher, wenn die gedämpften Schläge unserer Ruderer plötzlich gänzlich verstummen und die Canoeflotille lautlos, vom Strome geführt, dahingleitet. Dies Einziehen der Ruder ist ein sicheres Zeichen von der Nähe einer jener verrufenen Stellen, wo, wie die Sage geht, böse Geister ihr böses Spiel treiben. Manche kostbare Kaffeeladung ist da schon zu Grunde gegangen!

Wieder halten die Ruderer ein. Ihr scharfes Gesichtsorgan hat einige Krokodile erspäht, welche, keine Gefahr ahnend, am Ufer ihr Mittagsschläfchen halten. Ihr langer, brauner Körper ist kaum zu unterscheiden von den umgefallenen Stämmen der dem Zahne der Zeit erlegenen Waldriesen. Langsam gleitet das Canoe [208] dahin. Der Hahn der Büchse ist gespannt. Da – eine leise Drehung des Körpers verräth es – wir sind bemerkt! In demselben Augenblick knallt der Schuß. Harmlos prallt die Spitzkugel ab vom harten Panzer des Kopfes. Mit einem gewaltigen Satze stürzen die Thiere hinein in die schützende Fluth und sind unsern Blicken entschwunden.

An einem Tage wiederholte sich dasselbe Schauspiel wohl drei- bis viermal. Obwohl keine eigentliche Jagd, war es die einzige Abwechselung auf der monotonen langweiligen Flußfahrt. Nur ganz ausnahmsweise glückt es, sich dem Krokodile unbemerkt so weit zu nähern, um mit der Kugel sicher die kleine Augenöffnung zu treffen. Die Eingeborenen bedienen sich beim Fange einer Leine mit Haken, woran ein Köder befestigt ist.

In der Provinz Pasuruan, im Osten Javas, liegt lieblich am Fuße des Gebirges ein kleiner See, der See von Grati genannt. Mit dem Meere oder einem Flusse steht der See in keiner ersichtlichen Verbindung. Demungeachtet ist er der Aufenthalt einer zahlreichen Krokodilencolonie. Wie die Legende lautet, hat der See sein Entstehen einem Strafacte der Götter zu danken. Hier stand vor Zeiten ein blühendes Dorf. Reichthum und Völlerei führten zur Sünde und erregten den Zorn der Götter. Das Dorf versank in die Tiefe. Die grüne Fluth verschlang Haus und Hof, nebst allem was lebte. Es entstand der See. Die sündhaften Bewohner wurden zu Krokodilen.

Das nahe Dorf Grati hatte unter den Versunkenen viele Verwandte gehabt, was eine gewisse Anhänglichkeit der die Fluth bewohnenden Amphibien zu den Menschen in Grati erklärt. Speciell umschließt ein inniges Freundschaftsband die beiden ältesten Repräsentanten des Vorgeschlechts. Sobald der Ruf ertönt des Alten aus Grati, kommt Krokodil-Patriarch angeschwommen. Fremde, welche Pasuruan besuchen, versäumen nicht die kleine Excursion zum See zu machen. Der Alte ist sofort bei der Hand, mit einem kleinen Floß zusammengebundener Baumstämme. Auf dem Floß befindet sich ein Hühnchen oder eine Ente mit gebundenen Füßen. Der Alte besteigt ein ganz leichtes Canoe und rudert mit dem Floß hinein in den See. Auf seinen Ruf: Kjahi! Kjahi! (Großväterchen) kommt Großvater alsbald aus der Tiefe emporgetaucht, nähert sich dem Flosse und schnappt dankbar die dargebotene Gabe herunter. Es passirt jedoch manchmal, daß trotz alles Bitten und Rufens seines alten Freundes der Gerufene nicht erscheint. Dann heißt es: Kjahi schläft, oder: Kjahi ist unpäßlich, oder wohl gar: der fremde Besuch ist ihm nicht genehm; was jedoch den Alten durchaus nicht abhält, die Bitte an den fremden Besucher zu richten um ein kleines Almosen, im Interesse der gemeinschaftlichen zwei- wie vierbeinigen Menage.

Man sieht, schöne Seelen finden sich – im Grindelwaldthal, wie am Gratisee.




Blätter und Blüthen.


Noch einmal Bakunin. (S. Nr. 4 dieses Jahrgangs.) Einsender dieses war zur Zeit von Bakunin’s Flucht in Sibirien und wundert sich heute nicht zum ersten Male über das abenteuerliche Gewand, in das diese Flucht wiederholt eingekleidet worden ist. Bakunin hat in Sibirien, in Irkutzk (er führte dort den Spitznamen König von Sachsen) und Tschita, sehr gemächlich gelebt und ist schließlich ganz offen als Agent der Amurhandelscompagnie und als Tourist den Amur hinab gefahren nach Nikolajewsk, hat daselbst wiederum mit der dortigen Gesellschaft im freundlichsten Verkehr gestanden und sich schließlich in der Bai de Castries von einem russischen Kriegsschiff, auf dem er Gast war, auf ein amerikanisches Handelsschiff übersetzen lassen, auf dem er noch den russischen Posten in der Bai Olga besucht hat, um dann weiter auf demselben Schiffe nach Japan und Californien zu fahren. Die Behörden hatten keinen besondern Auftrag, auf ihn aufmerksam zu sein, und so hat man ihn in Folge einer gewissen Gemüthlichkeit entkommen lassen. Die Gouverneure der betreffenden Provinzen sind freilich später, da er zur Zeit des polnischen Aufstandes wiederum als Agitator auftrat, zur Verantwortung gezogen worden. Die Geschichte von der einsamen Flucht durch die Einöden Sibiriens ist wohl nur erfunden, um den Personen, die sein Entkommen befördert haben, keine Unannehmlichkeiten zu bereiten. Jetzt ist man allerdings vorsichtiger und den politischen Verbannten ist es nicht erlaubt, sich im Amurlande aufzuhalten.
F. S. 


Emancipation. Während in Deutschland noch vor fünfzehn Jahren, sobald in Frankreich ein leidlich interessantes Buch auftauchte, eine Schaar von Uebersetzern sich beeilte, dem gläubigen deutschen Publicum die angepriesene ausländische Kost in allerlei Formen vorzusetzen, ist heute das Verhältniß fast ein umgekehrtes geworden, wenigstens ist die Zahl der Uebertragungen aus dem Englischen und Französischen seit einigen Jahren bereits auf Null herabgesunken. Dagegen mehren sich die Uebersetzungen deutscher, namentlich wissenschaftlicher Bücher in sehr bedeutendem Maße, ein schlagender Beweis für die Zunahme der Werthschätzung deutscher Geistesarbeit im Auslande. Als ein Beispiel dafür nennen wir nur das neue, noch gar nicht complet erschienene Buch von Louis Büchner: „Die Stellung des Menschen in der Natur“, das gleichzeitig in deutscher, französischer, italienischer und englischer Ausgabe erscheint. Daß Bock’s „Buch vom gesunden und kranken Menschen“ ebenfalls in’s Englische, Französische, Holländische und Russische, Marlitt’s Romane aber in alle lebende Sprachen der civilisirten Welt übersetzt wurden, theilten wir unsern Lesern bereits früher mit. – Das ist eine Emancipation, der in Deutschland wohl Jeder das Wort reden wird.




Fr. Hecker. Noch immer spukt in deutschen Zeitungen die Nachricht, den alten Agitator von Achtundvierzig plage das Heimweh nach Deutschland, er wolle Alles in Amerika verkaufen und mit seinen Söhnen in’s geliebte Vaterland zurückkehren. Von alledem ist kein Wort wahr. Hecker selbst schreibt dem Herausgeber dieses Blattes darüber scherzend:

„Ich begreife nicht, wie schon wieder die Nachricht aufgetischt werden mag: ‚ich beabsichtigte nach Deutschland zu übersiedeln‘. Was soll ich dorten thun? Etwa Unterthan werden, während ich hier Einer der zwei Millionen Souveraine von Illinois bin? Mit bald sechszig Jahren auf dem Rücken ist man zu steif geworden, um sich zur ‚Unterthanschaft‘ zu bücken und solches Glück als Solches zu würdigen.




Vermißte Landsleute jenseits des Oceans.
(Fortsetzung.)

7) Hermann Köllner, Uhrmacher, aus Meyenburg in der Ostpriegnitz, jetzt sechsundzwanzig Jahre alt, ließ sich 1865 in Luxemburg für die Mexicanische Expedition anwerben, segelte mit einem Regiment (angeblich „Etranger, Nr. 2477“) am 12. November 1865 von Marseille ab. Seine Eltern (der Vater ist Sattlermeister in Meyenburg) drückt schwer die Ungewißheit seines Schicksals.

8) Fritz August Coblenz, aus Leipzig, ließ sich 1856 in Harderwyk, damals einundzwanzig Jahre alt, auf sechs Jahre unter die holländisch-ostindische Fremdenlegion anwerben, trotzdem ihm ein Finger der linken Hand fehlt, und kam so nach Batavia. Obwohl er seiner bekümmerten Mutter mit Hand und Mund versprochen, Nachricht von sich zu geben, ist seit dreizehn Jahren keine Zeile von ihm angekommen, und der Familie ist es unmöglich, bei den holländischen Behörden kostspielige Nachforschungen zu veranlassen.

9) Lebrecht Steyer, aus Erbisdorf hinter Brand bei Freiberg in Sachsen, wanderte im October 1859 nach Comal County, Neu-Braunfels, in Texas aus, schrieb zuletzt am 4. Juli 1864, daß er krank sei; seitdem hat seine in Angst und Sorge um ihn lebende Mutter keine weitere Nachricht erlangen können.

10) Julius Herrmann, Kaufmann aus Dresden, gab seiner Mutter, der Wittwe Frau Caroline Herrmann in Dresden, zum letzten Male im Januar 1868 Nachricht von sich; seitdem blieben alle Briefe unbeantwortet. Vielleicht wird die Nachforschung nach ihm erleichtert durch seine Geschäftskarte: „Pfeifer & Herrmann, Dealers in all kinds of Tobaccos, pipes etc. and Manufacturers of Segars. No. 299. third St. Milwaukee, Wis.“

11) Emil Steger, aus Luckau i. L., segelte im November 1862 mit dem holländischen Schiff „Van Nam“ von Marseille nach Newyork ab, um, versehen mit einem preußischen Officierpatent, in die Unionsarmee einzutreten. Das Schiff kam, ohne Menschenverlust, dort an, aber kein Lebenszeichen Steger’s an seine Verwandten; auch ein Aufruf in der „Newyorker Staatszeitung“ blieb ohne Erfolg.

(Fortsetzung folgt.)



Inhalt: Aus eigener Kraft. Von W. v. Hillern. (Fortsetzung.) – Aus den vier Wänden der römischen Frauenwelt. Mit Abbildung. – Aus den letzten Tagen zwei Verurtheilter. Nr. 1. Ist das Strafe? – Die Sicherheitsapparate der Eisenbahnen. – Kraft und Anmuth in der Mädchenschule. Mit Abbildung. – Unter den Tropen. I. – Blätter und Blüthen: Noch einmal Bakunin. – Emancipation. – Fr. Hecker. – Vermißte Landsleute jenseits des Oceans. (Fortsetzung.)


Nicht zu übersehen!
Mit dieser Nummer schließt das erste Quartal unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das zweite Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.
Die Verlagshandlung.

Im zweiten Quartale kommen, außer vielen anderen interessanten neuen Beiträgen und Fortsetzungen, zum Abdruck:
Der Fels der Ehrenlegion. Novelle von Berthold Auerbach. – Erinnerungen an Spontini. Von Eduard Devrient. – Sieben Jahre bei den Jesuiten. Aus dem Tagebuche eines Geretteten. Von Detmar. – Kraft und Stoff in der Geschichte. Von Louis Büchner. etc. etc.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Eingeführt, und zwar im Großen, wurden sie zuerst von Napoleon dem Ersten, als er vom Lager von Boulogne aus England bedrohte und Telegraphenlinien nach Paris und Toulon errichtete, um von letzterem Platze die Mittelmeerflotte schnell herbeirufen zu können.
  2. Wir beginnen mit obiger Skizze eine Reihe von Mittheilungen, die uns von einem Freunde der Gartenlaube, einem Herrn K. de C. in Holland, der dreißig Jahre in Java lebte, verehrt wurden. Der Verfasser war Gouverneur verschiedener Provinzen und hatte als solcher Gelegenheit einen Blick in die inneren Zustände des Landes zu werfen, die fremden Reisenden zum größten Theil ein verschlossenes Buch bleiben. Die heutige kleine Skizze möge man nur als einen Vorläufer ansehen.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: letzen