Die Gartenlaube (1870)/Heft 39

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1870
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[629]

No. 39. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Aus eigener Kraft.
Von W. v. Hillern geb. Birch.
(Fortsetzung.)

Eine lange Pause folgte den Worten Alfred’s, der so schön, so einfach und doch so beredt das Heldenthum seines ärztlichen Berufes geschildert hatte. Um so mehr trat gerade dadurch das jugendlich Ueberschwängliche hervor, das in Aenny’s Reden gelegen hatte. Diese selbst empfand den eben geschilderten Unterschied zunächst noch nicht; nur das alte Mitleid mit dem treuen Freunde ergriff sie, der aus seinem Schmerze kein Hehl zu machen dachte, und mit weicher Stimme bat sie:

„Lieber guter Alfred! Sei nicht böse, daß ich Dir das Alles so unverhohlen gestand. Ich weiß nicht, wie mir ist, seit gestern habe ich so sehr das Bedürfniß, mich auszusprechen – und gerade gegen Dich.“ Sie legte ihren Arm in den seinen und wandelte mit ihm am Ufer hin. Alfred schwoll wieder das Herz, als sie sich so an ihn hing, in dem Gefühl: „Sie muß doch mein sein.“ „Schau, lieber Alfred,“ sprach Anna weich, „ich weiß wohl, was auch Du leistest in Deiner Art und daß auch der muthig sein muß, der, wie Du sagst, den vielen Gefahren der Ansteckung trotzt. „Aber schau, dabei wird mir so eigenthümlich eng’ und so bang’ um’s Herz und – Du mußt mir das nicht übel nehmen – ich denke lieber an Einen, der auf steiler Felswand ein Adlernest ausnimmt, als an Einen, der schmutziges Erdreich nach giftigen Schlangen durchwühlt; wenn er auch in seiner Art dazu vielleicht ebenso viel Muth haben muß wie Jener.“

„Dein Gleichniß paßt nicht ganz,“ sagte Alfred ruhig, aber stolz, „denn bevor ich so weit war, im sichern Thal die giftigen Schlangen der Krankheiten ausrotten zu können, die den Menschen zerstören, mußte ich Höhen des Denkens und Wissens erklimmen, nicht weniger schroff und schwindelnd als die Felswände, von denen Du sprichst.“

Anna drückte Alfred’s Arm an sich, wie um ihn zu trösten. „Sei nicht böse, daß ich Dir, gerade Dir das sage, ich bin so daran gewöhnt, über Alles mit Dir zu reden, daß ich Dir jeden Gedanken anvertrauen könnte. Und ich glaube, wenn Du von mir fortgingst, ich könnte gar nicht mehr leben ohne Dich. Ich weiß nicht, wie das ist, es ist so seltsam.“

„Ja, das ist auch seltsam!“ sprach Alfred sinnend.

„Siehst Du Fredy, ich meine immer, der Mann müßte erst noch kommen, den ich lieben könnte, weißt Du der große Mann! – und ich müsse auf ihn warten. Aber wenn ich mir dann vorstelle, er sei da – dann thut mir’s immer so leid um Dich, daß ich ihn wieder fortschicken möchte! Siehst Du – so ist mir’s!“

„Lieb’ Aennchen!“ sagte Alfred und schlang leise seinen Arm um sie, während sie so dahin schritten.

Es war auf einmal, als glänze es feucht in Aenny’s Augen. „Ach Fredy, gelt, Du gehst nicht fort von hier?“

„Nicht eher, als bis ich gewiß weiß, daß Du mich –“ er hielt inne, denn solch ein Wort war ja wider die Abrede.

Auch Anna schwieg, aber es mußte ihr plötzlich einfallen, daß er den Arm um sie geschlungen, und sie machte sich los. „Wir haben nun genug Binsen,“ sagte sie, „und hier ist es so feucht, Du könntest Dir nasse Füße holen.“

„Ach, denk’ doch nicht immer an solche Dinge!“ sagte Alfred verstimmt. „Ich bin ja kein kleiner Junge mehr wie damals, wo wir Mutter und Kind spielten und Du immer die Mutter sein wolltest.“

„Ei, das waren doch hübsche Zeiten!“ rief Anna.

„Sie könnten wieder kommen jede Stunde, wenn Du wolltest, Aennchen. Rückert und seine Braut spielten mit zwanzig Jahren noch Mutter und Kind. Es giebt eine Kindheit, die ein poetisches Gemüth nie verliert, eine Kindheit in der Liebe. In einem großen Gefühl, das die Grenzen unseres Seins völlig ausfüllt, wie ein Meer, welches zwei Pole verbindet, schaukelt uns die hochgehende Woge auf und nieder zwischen Kind und Gott! Bald das Eine, bald das Andere – durchmessen wir unser ganzes Sein von seinem Ursprung bis zu seinem Höhepunkt, und je höher die Woge geht, desto dichter streifen wir seine Grenzen. Nimm unsern unsterblichen Rückert zur Hand; er, der die wahre, die heilige echte Liebe gesungen, er wird Dich verstehen lehren, was ich meine. Kennst Du das reizende Lied nicht:

‚Ich und meine Liebste sind im Streite,
Ob mein Kind sie sei, ob ich das ihre‘?“

Anna schüttelte den Kopf.

Alfred fuhr fort:

„‚Jedes will zu seinem Kind das andre
Darum machen, um es so zu pflegen;
Dann hinwieder will das Kind des andern
Jedes sein, sich pflegen so zu lassen.
Und die Mutter, die den Streit mit ansah,
Sprach: das End’ ist, daß ihr alle beide,
Sonst vernünft’ge Leute, nun zu Kindern
Wieder seid geworden. Nun so wartet!
Eure Mutter wird zur Ruthe greifen,
Wenn ihr nicht mit Küssen euch versöhnet.‘“

[630] Aenny erröthete, ihr gestriges Gespräch mit ihrer Mutter fiel ihr ein bei dem letzten Vers und wie sie ihn verspottet, wenn er die Mutter mit der Ruthe gegen sie zu Hülfe rufen werde. Sie erschien sich plötzlich recht unedel.

„Und wenn wir dann,“ – sprach Alfred mit Wärme weiter, „wenn wir dann neben dies muthwillige Kindergeplauder ein Gedicht halten wie jenes wunderbare tiefernste:

‚Mir ist, seit ich dich habe, als müßt’ ich sterben.
Was könnt ich, das mich labe, noch sonst erwerben?
Mir ist, nun ich dich habe, ich sei gestorben.
Mir ist zum stillen Grabe dein Herz erworben.‘

streifen diese beiden kleinen Lieder nicht an den Ausgangs- und Zielpunkt eines ganzen Seins, und sind sie nicht Ausflüsse jenes Gefühls, von dem ich sprach?“

Anna schwieg. Alfred’s Stimme hatte so schön geklungen, als er leise die Verse gesprochen. Unwillkürlich entglitt ihr das Büschel Binsen, das sie im Arme hielt, sie wollte künftig mehr von Rückert lesen.

Alfred hob die Binsen auf und reichte sie ihr. Er schaute ihr nahe und tief in die Augen und seine Hände ergriffen eine der ihren und falteten sich darüber wie flehend zusammen:

„‚Mir ist zum stillen Grabe dein Herz erworben!‘“

wiederholte er ernst bewegt.

Sie zog ihre Hand aus der seinen und sagte: „Wir müssen jetzt die Mutter abholen.“ Sie ging und Alfred blieb allein am Ufer zurück.




24. Wieder ein Gastfreund.

Zwei Tage später kam Alfred ungewöhnlich ernst zu Höslis und setzte sich schweigend auf einen Schemel neben Frau Hösli’s Rollstuhl.

„Was ist Ihnen, Alfred?“

„Mancherlei!“ erwiderte er. „Meine Mutter macht mir Sorge mit ihrem beständigen Husten, die Arbeit schlägt mir über dem Kopfe zusammen, und zum Ueberfluß schreibt mir heute auch noch Feldheim aus Saltenau, daß seit acht Tagen ununterbrochene Regengüsse niederströmen und die ganze Ernte vernichten!“

„Das ist viel auf einmal,“ sagte Herr Hösli. „Und dabei Ihr schwerer Beruf, für den Sie sich ganz und gar aufopfern. Sie müssen sich mehr schonen, Alfred! Es thut mir leid, daß Sie gerade dieses aufreibende Fach ergriffen haben. Hätten Sie sich der Industrie zugewendet und auf Ihren Gütern Fabriken errichtet, welch ein Segen wäre das für die mißlichen Verhältnisse der dortigen Gegend geworden! Die Provinz leidet gegen die russische Grenze hin offenbar unter der Einseitigkeit, mit der sie sich in Ermangelung anderer Hülfsquellen auf den Getreidebau verlegen muß.“

Alfred sah Herrn Hösli lächelnd an. „Sie sprechen aus, was längst meine Idee war. Haben Sie nur Geduld, bis ich meine Promotion hinter mir habe und wieder Herr meiner Zeit bin. Es ist mein bestimmter Vorsatz, mir bei Ihnen die Kenntnisse zu erwerben, deren ich bedarf, um mit Erfolg die Industrie meiner Heimathsprovinz zu heben. Ich studire ja auch seit einem Jahre neben meinem Fache noch Nationalökonomie. Wer reformatorisch in das Leben einer ganzen Gegend eingreifen will, der muß auf all’ diesen Gebieten zu Hause sein.“

Herr Hösli lächelte. „Nun, nun – nehmen Sie sich nicht allzu viel vor. Solchen gewaltigen Planen dürfte eine stärkere Natur als die Ihre nicht gewachsen sein.“

„Mein lieber Herr Hösli,“ sagte Alfred, „ich werde lernen, was ich brauche, um der menschlichen Gesellschaft so dienen zu können, wie es mein Herz verlangt. Mein Herz ist die Triebfeder meines Fleißes und glauben Sie mir, es ist eine starke Triebfeder.“

Herr Hösli sah seine Frau an und diese ihn.

„Sie sind ein Schwärmer, Alfred,“ sagte sie kopfschüttelnd.

„Das wird sich zeigen!“ sprach er ruhig.

Und es zeigte sich früher, als man es dachte.

Am Abend desselben Tages saßen Alfred und seine Mutter am Ufer, und ein Paar braungelbe breitmäulige Kinder spielten zu ihren Füßen mit Aenny, welche eine ganz besondere Zuneigung für die fremdartigen Geschöpfe zu haben schien und so seelenvergnügt und bewunderungsvoll jeder ihrer Bewegungen folgte, als seien es maskirte Engel, die eben vom Himmel herabgekommen. Es war ein herzgewinnender Anblick, wenn sich das blühende Mädchengesicht an die unheimlichen gelben Lärvchen schmiegte, oder wenn sie die schweren dicken Klümpchen zu gleicher Zeit auf den Armen herumschleppte. Man kann sich leicht denken, wem die kleinen Mulatten gehörten, und ebenso leicht begreift sich die Liebe Anna’s für dieselben. Es konnte wirklich für Anna nichts Lieberes, nichts Schöneres geben als diese Kinder! Ganz Zürich kannte und liebte sie mit ihr, denn sie nahm sie gar oft mit zum Conditor und auf den Jahrmarkt, und ihre Freude an ihnen war ordentlich ansteckend. Die kleinen „Möhrli“, wie man sie schlechtweg nannte, waren aber auch gar zu possierlich, wer hätte sie sehen können, ohne zu lachen und sie gern zu haben! Frank’s Kinder waren in ihrer Art Berühmtheiten und so im gewissen Sinne Gemeingut der ganzen Stadt. Jeder hatte seinen Spaß mit ihnen, Jeder schenkte ihnen was, und die Eltern waren so stolz auf ihre Nachkommenschaft, als wären sie die Urheber des auserlesensten Geschlechts. So wuchsen diese glücklichen Geschöpfe auf, sich und Anderen zur Freude, ahnungslos in sicherer Wiege die Klippen umschiffend, welche der beleidigte Schönheitssinn der Menschen gewöhnlich den Mißgestalten entgegenstellt. Alfred lehnte an der alten Balustrade des Ufers und dachte über dieses Räthsel nach, dessen einzige Lösung er in dem Wohlwollen und der Achtung fand, welche Frank sich durch seine Verdienste erworben.

Frank hatte sich seit seinem Studium auf der landwirthschaftlichen Schule zu einer allbekannten und beliebten Persönlichkeit emporgearbeitet. Er hatte etwas von dem Talent seines Vaters geerbt und dies kam erst, als er sich die nöthigen Kenntnisse erworben, zur Entwickelung. Er war in seiner Art ein Genie für die Anlage und Anordnung von Gärten. Darin entfaltete er einen Geschmack und eine Geschicklichkeit, welche die Aufmerksamkeit der Verschönerungsbehörden auf ihn lenkte, und ihn, das niedrigste Mitglied der menschlichen Gesellschaft, in wenig Jahren zu einem angesehenen und tüchtigen Bürger machte. Das waren die Gedanken, denen Alfred nachhing, während Aenny ihm den kleinen vierjährigen Hans aufdrängte, der von ihm getragen sein wollte.

Da kam der Director Zimmermann vom Hause hergeschritten. Alfred setzte das Kind zur Erde und ging dem Freunde entgegen.

„Komm an mein Herz; Junge!“ rief dieser und breitete die Arme aus. „Wenn ich in meinem Leben nichts gethan hätte, als ein solches Talent der Wissenschaft zugewendet zu haben, so wüßte ich, wozu ich auf der Welt war! Alfred, Alfred! Ich habe viel von Dir erwartet, aber Du hast Alles übertroffen!“ Er zog Alfred’s Manuscript aus der Tasche und gab es ihm. „Wer hätte das gedacht! Kein Mensch, der Dich so sieht, würde Dir so etwas zutrauen!“

Er näherte sich den Frauen. „Meine Damen, guten Abend! – sieht der Mensch da aus, wie einer, der berufen ist, eine neue Epoche in der Wissenschaft herbeizuführen? Nein! wir können uns das nicht leugnen. – Und dennoch nimmt der Duckmäuser den Kampf mit der halben medicinischen Welt auf und das Erste, was das sanfte Lamm macht, ist eine Streitschrift, die einschlagen wird wie ein Donnerwetter. Ja, ja, stille Wasser sind tief!“

„Herr Professor,“ sagte Alfred, „Sie bringen mich in Verlegenheit!“

„Da haben wir ihn wieder! Züchtig und verschämt wie ein Mädchen, das den ersten Liebesbrief bekommt! O Fräulein Anna, nehmen Sie sich vor dem in Acht, der hat’s dick hinter den Ohren!“

„Ach Gott,“ sagte Aenny fast mitleidig, „der gute Junge!“

Ueber Alfred’s Gesicht zuckte es bitter bei diesem geringschätzigen Tone.

„Ja – der gute Junge,“ parodirte Zimmermann, „der wird noch ein großer Mann werden und der Schrecken seiner Gegner, verlassen Sie sich darauf.“

„Ei, Alfred, man bekommt ja ordentlich Respect vor Dir!“ sagte Aenny und betrachtete Alfred verwundert, als wolle sie herausfinden, wo denn eigentlich in dem unscheinbaren Bürschchen alle diese merkwürdigen Eigenschaften steckten. Sie hatte so viele Jahre lang mit dem Alfred zusammengelebt und nichts Besonderes an ihm wahrgenommen, ja ihn eher für dumm gehalten – nun sollte er auf einmal ein großer Mann werden! Das war doch zu merkwürdig! Konnte man denn ein großer Mann werden, wenn man, wie Fredy neulich selbst sagte, mit Blutegeln und Kataplasmen kämpfte?

Zimmermann näherte sich Adelheid, die verklärten Blicks auf ihren Sohn schaute.

[631] „Halt!“ rief Anna. „Sie treten mir ja das Kind!“ Sie eilte zu dem zweijährigen Mädchen, welches wie ein Frosch auf der Erde lag und Zimmermann’s breite Füße mit vollster Sorglosigkeit an sich herankommen ließ.

„So, sind die Scheusälchen auch wieder da?“ lachte Zimmermann.

„O Sie abscheulicher Mann, meine Goldkinder so zu schelten! Komm, Ellachen, gieb dem Herrn ein Händchen, daß er sieht, wie artig Du bist!“

„Ja,“ sagte Zimmermann, „komm her, gieb Pfotchen!“

„Meine Kinder haben keine Pfoten, sondern Hände!“ wehrte sich Anna. „So, Ellachen, jetzt giebst Du ihm gar keine Hand – sondern eine Ohrfeige.“ Und sie hob das Kind auf, bis zu dem gewaltigen Kopfe des Freundes und es gab diesem mit seinem dicken Patschchen einen Klaps. Die Kleine strampelte und jauchzte vor Vergnügen bei der Execution.

„Hören Sie, Fräulein Anna, ich werde mit Ihrer Frau Mutter reden, sie soll ein Erziehungsinstitut anlegen, es wäre doch schade, wenn Sie das einzige Resultat ihrer vortreffliche Erziehungsmethode bleiben sollten!“

„Lieber Herr Professor,“ rief Anna vergnügt und unbedacht, „meiner Mutter Erziehung ist nicht schuld, daß ich so bin wie ich eben bin. Es kann einem Jedem was mißrathen! Aus Ihrer orthopädischen Anstalt geht auch nicht Alles gerade hervor, was krumm hineinkam. Das sehen wir an des armen Alfred Bein.“

„Hinke ich denn noch?“ fragte dieser betroffen.

„Sehr wenig, kaum merklich!“ tröstete ihn Zimmermann und streifte Anna mit einem ernsten mißbilligenden Blick, den sie sogleich verstand.

Sie ging auf Alfred zu und sagte leise und reuevoll: „Fredy?!“

„Lieb’ Aennchen!“ erwiderte er – und es war ihnen Beiden, als hätten sie ein langes freundliches Zwiegespräch gepflogen, und Alles war wieder gut.

„Er hat ein braves Herz, der Alfred,“ dachte Anna, „er trägt nichts nach und ist immer gleich freundlich! Ist das nun Schwäche – oder Größe? Weder das Eine, noch das Andere: es ist Herzensgüte. O, wäre nur, wie Schiller sagt, ‚immer die Güte auch groß – immer die Größe auch gut!‘. Wäre Alfred so groß, wie er gut ist, er wäre der vollkommenste Mensch.“

„Es ist wunderbar, Anna,“ sagte Alfred, „wie Dein Wesen oft plötzlich aus dem lautesten oberflächlichsten Scherz in stilles ernstes Sinnen übergeht, wie ein Bach, der eben über Steingeröll herabbrauste, plötzlich in ein tiefes weites Bett mündet und einen stillen Weiher bildet. Diese Eigenthümlichkeit, Anna, ist es, die mich immer wieder an Dich fesselt, wie oft mich auch Deine laute übersprudelnde Art zurückstößt. Es ist eine tiefe Stelle in Deiner Seele, von der Du selbst nichts weißt, und nehmen Deine Gefühle und Gedanken einmal ihre Richtung dahin, so bilden sie jenen friedliche stillen Weiher, von dem ich sprach und dessen Ufer mich so unwiderstehlich locken.“

„Fredy,“ sagte Anna leise und sah sich um, ob auch Zimmermann und Frau von Salten sie nicht hörten. „So schön wie Du spricht kein Mensch. Ich weiß es, Du veredelst mich wie ein gutes Buch und lehrst mich manches verstehen, was mir verschlossen war. Du guter, guter Alfred, schau’, dafür dank’ ich Dir recht von Herzen! Sie legte freiwillig ihre Hand auf die seinige, er hielt den Athem an; ihm war es, als nahe sich ihm ein holdes Trugbild, das jede Bewegung verscheuchen könne; aber aus seinen Augen brach ein Strahl der Freude und Liebe, der Anna traf bis in die Seele hinein. Doch wie es immer geht im Leben, daß der schönste Augenblick auch der kürzeste ist, als wolle der uns Alle erziehende Herr und Meister uns das wahrhaft Köstliche stets nur in den kleinsten Dosen zumessen, – so auch jetzt. Ein Diener brachte Frau von Salten einen Brief. Sie wollte ihn nicht gleich lesen; Zimmermann aber versicherte, daß von zu lange unterdrückter Neugier bei Damen oft die schlimmsten Krankheiten herkämen.

Adelheid lächelte und las. „Alfred!“ rief sie etwas ängstlich. „Victor ist Oberlieutenant geworden und will uns wieder einmal besuchen – Du wirst wohl nichts dagegen haben – nach sechs Jahren zum ersten Male – !“

„Wenn es Dir Freude macht, Mutter, so ist er auch mir angenehm,“ sagte Alfred ernst.

„Ist das Dein Vetter, der wilde Victor?“ frug Aenny.

„Ja.“

Das Mädchen schlug die Hände zusammen vor Vergnügen. „O, das ist hübsch; das wird wieder ein Leben geben, wie mir’s gefällt!“

Alfred streifte Anna mit einem flüchtigen Blick. „Es wird indessen gut sein, Mutter, wenn Victor erst nach meiner Promovirung kommt, denn vorher habe ich keine Minute frei für ihn.“ Es lag etwas Strenges, fast Gereiztes in seinem Tone.

Die Mutter sah ihn befremdet an und sagte: „Wie Du willst, mein Sohn.“

„Dauert es denn noch lange, bis Du Doctor bist?“ fragte Anna.

Er streifte sie wieder mit dem flüchtig mißtrauischen Blicke. „Frägst Du das aus Theilnahme für mich – oder weil Victor’s Ankunft davon abhängt?“

Anna ward sehr verlegen und zögerte mit der Antwort, lügen mochte sie nicht und die Wahrheit hätte Alfred kränken müssen. Da befreite sie Frank und seine Frau aus ihrer Noth. „Darf ich meine Kinder holen?“ frug der Mohr bescheiden wie immer und mit großem Anstand seine kleine dicke Frau am Arme führend.

Deine Kinder, Frank? Was!“ rief Anna schmollend.

Unsere Kinder,“ verbesserte Frank und schüttelte Aenny die Hand, während seine Frau sich zu Frau von Salten setzen mußte.

„Nun denn, wenn Du schön bittest, so will ich sie Euch leihweise für die Nacht überlassen. Morgen früh um Acht müssen sie wieder bei mir sein!“ Sie übergab dem glücklichen Vater die Kleine, nicht ohne sie ihm noch verschiedene Male halb vom Arme zu reißen und zu küssen.

„Bester Herr Frank,“ neckte Zimmermann wieder, „thun Sie mir den einzigen Gefallen und überlassen Sie Fräulein Anna Ihre Kinder nicht ohne Aufsicht, denn sie lernen bei ihr nur Unarten! Lassen Sie sich warnen, ich mein’s gut mit Ihnen!“

„O, Miß kann anfangen mit meinen Kindern, was sie will!“ lachte Frank. „Meine Frau wird schon wieder gut machen, was sie verdirbt. Meine Kinder sind auch die Kinder von Miß, denn wenn sie nicht wäre, ich würde nicht haben meine Frau und meine Kinder, – so ich habe Alles von Miß und sie hat darauf so viel Recht wie ich.“

„Sehen Sie, Professor,“ triumphirte Anna, „bei dem sind Sie abgefahren, der läßt nichts auf mich kommen.“

„Seien Sie ruhig, Fräulein Anna; Sie wären doch die einzige Frau, die ich nähme, wenn ich nicht die Unvorsichtigkeit begangen hätte, zu heirathen, bevor Sie auf der Welt waren.“

„Und Sie wären der einzige Mann, den ich möchte, wenn Sie zwanzig Jahre jünger und kein Doctor wären,“ scherzte Anna, und es gab Alfred wieder einen Stich in’s Herz. Sie war, wenn sie spaßte, wie ein Dornbusch, an dem er sich beständig wund ritzte.

„Alfred, jetzt komm mit mir, ich muß über die Dissertation mit Dir reden,“ sagte Zimmermann, „und bei diesen Liebeserklärungen wird mir ganz schwül. Sie, gnädige Frau, ziehen sich nun wohl in’s Haus zurück, der Abendwind thut Ihnen nicht gut, und Sie, Fräulein Anna, gehen hübsch nach Hause und denken über meinen Vorschlag mit dem Erziehungsinstitut nach. Somit Gott befohlen, meine sämmtlichen schwarzen und weißen Herrschaften. Komm, Alfred!“

„Sehen wir uns noch, Anna?“ fragte Alfred.

„Wenn Du doch nur rudern könntest, da führen wir noch ein Stündchen auf dem See herum. Aber seit Frank verheirathet und meine Brüder fort sind, komme ich nicht mehr dazu, im Mondschein zu fahren; die Mutter leidet ja nicht, daß ich Nachts allein rudere. Nun, das wird Alles anders, wenn Victor kommt; der ruderte schon damals hübsch.“

„Gute Nacht!“ rief Alfred kurz und ging mit Zimmermann.

Die kleine Gesellschaft zerstreute sich. Frau Ida schaute auf dem Heimwege ihren schwarzen Mann lächelnd an. „Frank,“ sagte sie, „ich mag hinkommen, wo ich will, so lieb, wie wir uns haben, so lieb hat sich doch wohl Niemand weiter auf der Welt!“

„Mein Weib!“ sagte Frank und sah auf sie nieder so liebesselig und so liebesstolz, – er hätte mit keinem Gott getauscht. „Weißt Du was ich meine?“

„Nun?“

„Ich meine immer, unserer Miß Herz hängt wie sie einst selber, noch irgendwo oben, wo’s nicht hingehört und wo’s herunterfallen [632] könnte, und ich möchte wieder hinaufsteigen wie damals und es herunterholen, wo es hingehört! Nicht wahr, das ist ein närrischer Einfall?“

„Du möchtest es für den armen Herrn Alfred holen!“

„Ja, das möcht’ ich, wenn ich’s könnte!“ – – –

Wenige Wochen später war Alfred Doctor und Hülfsarzt an der großen Züricher Klinik. Und ohne zu rasten, warf er sich nun noch mit besonderem Fleiße auf das Studium der Volkswirthschaft und des Handelsfaches.

Er war einer der seltenen Menschen, die, wie man zu sagen pflegt, zu Allem Zeit haben, weil sie zu jeder Zeit Alles thun mögen. So vollbrachte er das Unglaublichste, und die Prophezeiung Zimmermann’s ging vollkommen in Erfüllung. Die Dissertation machte Epoche. Streitschriften für und wider kreuzten sich, neue Untersuchungen über den Gegenstand wurden vorgenommen; kurz, sein Name war, ehe er sich’s versah, über ihn hinausgewachsen; er fragte sich oft selbst, ob er denn wirklich derselbe Salten sei, der jetzt die wissenschaftliche Welt in Bewegung, in Aufruhr brachte. Und der ganze Stolz eines selbstgeschaffenen Namens regte sich in ihm.

In dieser Stimmung willigte er auch endlich in die Ankunft seines Vetters, an den sich für ihn so viele bittere Erinnerungen und Empfindungen knüpften. Er sah, daß seiner Mutter Herz an dem Sohne der Schwester hing, und er hatte durch Feldheim erfahren, daß Victor sich für seine Tante geschlagen und in Folge einer Verwundung die Erholungsreise nach Zürich wirklich bedurfte. So lud er selbst den Vetter freundlich ein und erwartete ihn mit aufrichtiger Herzlichkeit, denn wer für seine Mutter so ritterlich eingestanden, der hatte ein unveräußerliches Recht auf seine Dankbarkeit und Zuneigung. Ein bitterer Tropfen war und blieb jedoch in dem Kelch: Anna’s unverhehlte Freude über den Besuch des „wilden Vetters“. Die ganze Pein, die er als Knabe empfunden, tauchte wieder in ihm auf, nur in einer anderen, ernsteren Form! Doch dafür konnte ja Victor nichts – er wollte es ihn nicht entgelten lassen. Wer weiß auch, wie er geworden und ob die Beiden als Erwachsene noch so gut zusammenstimmten wie als Kinder. So kam der Tag von Victor’s Ankunft. Wieder nahm das Haus Salten einen Schorn gastlich auf. –

„Victor, wie schön bist Du!“ rief Alfred, als er den Gast abholte, und „Victor, wie schön bist Du geworden!“ rief Adelheid, als der Erwartete in’s Zimmer trat. Und sie hatten Recht, er war von jenem blendenden Aeußern, welches für Schönheit empfängliche Menschen geradezu verstummen läßt, daß sie sich erst sammeln und sich gewissermaßen an den seltenen Anblick gewöhnen müssen, ehe sie weiter sprechen können.

„Meine theuerste Tante,“ sagte Victor. „Verzeih’ mir, daß ich den Frieden Deiner herrlichen Einsamkeit störe und Dir Klänge aus einer Welt herüberbringe, die Du so lange gemieden. Wie Du auch alle Bande zerrissen hast, die Dich mit ihr verknüpften, das Band konntest Du nicht zerreißen, welches mein Herz an die geliebte Schwester meiner Mutter fesselt!“

Schön und liebenswürdig war er geworden, der einst so unbedeutende Cadett – ein junger Weltmann von den gewähltesten Formen und eine durch und durch ritterliche Natur, das sah man „auf den ersten Blick“. Auch Herz hatte er, denn der Anblick der einst so blühenden, jetzt so verfallenen Gestalt seiner Tante schien ihn wahrhaft zu erschüttern.

Adelheid legte ihre Hand auf sein Haupt und sprach: „Wenn Deine Mutter nicht meine Schwester wäre, Victor, ich würde Dich ihr nicht gönnen!“ Dann nahm sie die Hände der jungen Männer und fügte sie ineinander. „Liebt Euch wie Brüder, denn in meinem Herzen seid Ihr Brüder!“ Ein Hustenanfall schnitt ihr die weitere Rede ab, sie winkte den Beiden zu gehen.

„Victor,“ sagte Alfred, „wir wollen meiner Mutter Gebot heilig halten. Ich habe den besten Willen, Dir ein treuer Verwandter zu sein – Du bist mit Deinem Blut für die Ehre meiner Mutter eingestanden, das will ich Dir lohnen, so gut ich kann.“

„O, ich bitte Dich, das verstand sich ja ganz von selbst und ist nicht der Rede werth,“ sagte Victor; „wer verrieth Dir denn überhaupt das Geheimniß? Von solchen Dingen spricht man doch nicht!“

„Feldheim! Woher er es erfahren, weiß ich nicht, vermuthlich durch Deinen älteren Vetter Schorn, dessen Güter in der Nähe der meinen liegen.“

„Der gute Vetter Fritz! Er hat mich eingeladen, einige Zeit bei ihm zu meiner Erholung zuzubringen, aber der Arzt meinte, es wäre besser, wenn ich in die Schweiz ginge, wohin mich ja ohnehin meine Anhänglichkeit für Dich und Deine Mama zog. Vetter Egon ist jetzt oft bei seinem Bruder zu Besuch, und ich gestehe Dir offen, daß mich die Aussicht, ihn dort zu treffen, von nun an von den Schorn’schen Besitzungen fern hält. Seit er aus dem Johanniterorden ausgestoßen wurde, weiß kein Mensch, wie und wovon er eigentlich lebt. Er treibt sich immer drüben jenseits der russischen Grenze herum, und das Landvolk murmelt etwas von Spionage in russischem Sold. Vetter Fritz schämt sich des Bruders auch, und seine Besuche sind ihm höchst unangenehm aber er hat doch nicht den Muth, ihm das Haus zu verbieten, er war immer schwach gegen Egon.“

„Er liebte ihn mehr, als es der Schurke verdiente,“ sagte Alfred. „Hätte er nicht sein kleines Vermögen lediglich in seinem Grundbesitz stecken, er hätte auch besser für den Bruder gesorgt.“

„So, ist Vetter Fritz nicht reich?“ fragte Victor erstaunt.

„Nein, ich kenne die Verhältnisse meiner Gutsnachbarn durch Feldheim ganz genau. Graf Friedrich Schorn hat nur seine Güter, die ihm zwar eine anständige Rente abwerfen, aber ein paar Mißernten, eine Ueberschwemmung oder ein Raupenfraß können ihn für lange zum armen Manne machen.“

(Fortsetzung folgt.)




Ein Füsilier vom Regiment Nr. 64.[1]


  1.
Die Schlacht ist endlich ausgeschlagen,
Die heiße Schlacht von Vionville.
Den Sieg hat Preußen heimgetragen,
Und nach dem Lärm ist’s todtenstill.
So müde nun bis zum Ermatten,
Wo alle Sehnen angespannt,
Trägt man im kühlen Abendschatten
Die Wunden zu des Arztes Hand.

  2.
Da lehnt an einem Pappelstamme,
Dicht hinter’m Dorfe Vionville,
Beleuchtet von der Häuser Flamme,
Ein Füsilier, so bleich und still.
Die Kugel hat auch ihn gefunden,
Wie er als Tirailleur hier stand.
Nun hat der Brave überwunden,
Der eisern stand für’s Vaterland.

[633]

  3.
Doch ob das Haupt vom Blut umflossen
Obgleich er wußt’: Nun ist’s genug –
Die Rechte hält noch fest umschlossen
Ein Blatt aus seinem Taschenbuch.
D’rauf schrieb bei seinem wehen Scheiden
Die Liebste ihm ein altes Lied …
Das nun versüßt des Sterbens Leiden,
Mit dem die Seele ihm entflieht.

  4.
„Wenn Zauberbande Dich umstricken,
Denk’ an Mariens Thränenblick;
Wenn Schönere Dir Blumen pflücken,
Denk’ an die Dulderin zurück!
Nicht theilen sollst Du ihre Leiden,
Nicht fühlen, was das Herz ihr bricht –
Sei Du umringt von tausend Freuden
Nur, Glücklicher: Vergiß mein nicht!“

Ein Blatt aus seinem Taschenbuch.“
Nach einer Skizze von Fritz Schulz.

Er hat Dich wahrlich nicht vergessen.
Maria, mit dem Thränenblick.
Wie er mit Deinem Lied gesessen
Vergaß er Tod und Mißgeschick.
Ich nahm im leisen Abendwehen
Das Liebesblatt aus seiner Hand,
Und dachte still im Weitergehen
An’s eigne Lieb im Vaterland.

Hauptquartier Doncourt, 26. August 1870. Wilhelm Petsch, Unterofficier.




Unter dem rothen Kreuze.

Ich habe Ihnen schon mitgetheilt, daß ich, nachdem es mir nicht vergönnt war, die Waffen in dem gegenwärtigen heiligen Kriege zu tragen, mich entschloß, dem Sanitätscorps der Mainzer Schützengesellschaft beizutreten, um so wenigstens als Nothhelfer mein Scherflein zum Gelingen der großen Sache beizutragen. Ich schreibe Ihnen diese Zeilen von Courcelles sur Nied zwei Tage nach der großen Schlacht, die bei Pange fast unmittelbar unter den Mauern von Metz geschlagen worden ist. Ich habe [634] mich hier mit zwei Freunden in einem Zimmer des ersten Stockes des Stationsgebäudes installirt. Einige Bund Stroh und ein alter Schrank bilden das Mobiliar unserer jetzt in den Abendstunden nur höchst kümmerlich beleuchteten Wohnung, um welche wir noch von dem Etappencommandanten, der parterre mit dem ehemaligen Wartesaal vorlieb nehmen mußte, beneidet werden. Eine Uniformsmütze der Chemins de fer de l’Est, ein Damenmuff und eine Crinoline, welche in der dunkeln, vom Kerzenschein nicht mehr erreichten Ecke liegen, erinnern noch lebhaft an die ehemaligen Bewohner, welche der Krieg aus ihrer Häuslichkeit vertrieben. Im Zimmer neben uns ist der Feldtelegraph. Die Beamten haben schnell mit uns Freundschaft geschlossen, da wir noch glückliche Besitzer seltener Delicatessen, wie von Cigarren, einigen Flaschen Rothwein und einigen Eiern sind.

Wir befinden uns mitten im Kriegsleben. Rechts von der Chaussee, welche nach Metz führt, bivouakirt in finsterer Nacht ein Wagenpark von mehreren Hundert Proviantfuhrwerken; auf den Feldern links von der Heerstraße kochen bei lodernden Feuern eben die Truppen ab, Gruppen von gefangenen Franzosen bewegen sich in der Dunkelheit und zwischen den Feuern hin und her. Auf der großen Chaussee kommen unablässig Wagen mit Verwundeten an; gleichzeitig ziehen unablässig schwarze Proviantcolonnen, Artillerie und Cavallerie nach Pont à Mousson vorüber. Ueberall, so weit das Auge reicht, Bivouacfeuer. Um das Stationsgebäude herum liegen unter freiem Himmel Hunderte von Verwundeten auf dürftigem Strohlager gebettet, sehnsüchtig des Augenblickes harrend, wo der Eisenbahnzug sie den deutschen Spitälern zuführen wird. Dazwischen bewegen sich bei flackerndem Fackelscheine Aerzte und Mitglieder der Sanitätscorps, den armen Leidenden, welche nur nothdürftig verbunden sind, die erste Hülfe zu bringen. Es ist ein düsteres Bild, das sich vor unserem Auge entrollt, und doch zugleich erhebend für ein deutsches Herz.

Alles aber ist mir noch wie ein Traum: unser Aufbruch von Mainz, unsere fünfundfünfzigstündige Fahrt nach Saarbrücken, unser Zusammentreffen dort mit den ersten Verwundeten, Preußen und Franzosen, unser erster Besuch eines Schlachtfeldes – es war das von Speicheren. Als wir dasselbe betraten, war man eben damit beschäftigt, die letzten Todten zu bestatten. Zahlreiche mit Laubwerk bedeckte Stellen bezeichneten die Gräber, auf welchen mit Bleistift auf kleinen improvisirten Kreuzen die Namen der Gefallenen verzeichnet waren. Das ganze Feld war, so weit das Auge reichte, mit Waffen und Kleidungsstücken bedeckt. Unter den zahlreichen herumliegenden Briefen fanden wir mancherlei interessante Andenken, so unter Anderm das Bruchstück eines Briefes des Generals Frossard, in welchem dieser einem anderen Generale mittheilt, der Kaiser habe befohlen, daß die Truppen ihre Käppis ablegen und an die betreffenden Magazine zurückliefern und während des Feldzugs nur ihre „Bonnets de police“ (Feldmützen) tragen sollten.

Nachdem wir noch die von unseren braven Truppen mit einer an’s Wunderbare grenzenden Bravour erstürmte Höhe mühsam erklettert und den Wald nach einem etwa noch Vergessenen durchsucht hatten, passirten wir Speicheren und das daselbst befindliche sehr regelmäßig gebaute französische Laubzeltenlager. Der Humor der deutschen Truppen, welche nach den Franzosen hier bivouakirten, hatte den verschiedenen Zeltstraßen Namen gegeben; so lasen wir verschiedene Inschriften, wie „Kleine Lulustraße“, „Japanesenstraße“, „Zum blutigen Knochen“ etc.

In Saarbrücken war es auch, wo wir zum ersten Male reichliche Arbeit fanden. Es galt die Verwundeten in den Privathäusern, wo sie theilweise noch ohne ärztliche Pflege lagen, aufzusuchen und sie in den Lazarethen unterzubringen. Namentlich machten sich unsere mittlerweile nachgekommenen Aerzte, die Herren Dr. Kupferberg und Dr. Brellinger, durch ihren unermüdlichen Eifer außerordentlich verdient. Es ist wahrlich keine leichte Aufgabe, die sich die Sanitätscorps gestellt haben. Wie manchmal schreckte ich anfangs zurück beim Anblick der entsetzlichen eiternden Wunden, doch wie sehr lohnt nicht ein dankbarer Blick, ein warmer Händedruck der armen Leidenden! Der fortwährende Anblick des gräßlichen Elends, des unsäglichen Jammers stumpft schließlich auch das weichste Gemüth ab, – ich begriff, daß man im Kriege überhaupt lernen müsse, sich das Grübeln und Fühlen abzugewöhnen.

Endlich kam der erwünschte Befehl zum Vorgehen nach Frankreich. Es wurde soeben vor Metz bei Pange geschlagen. Auf dem Bahnhofe trafen wir noch zwei von unseren Mainzer Freunden, welche mit sieben Waggons voll Verbandzeug und Mundvorräthen eben angekommen waren und gleich uns per Bahn sofort nach dem Schlachtfelde, zunächst nach Courcelles, vorrücken sollten.

Gegen fünf Uhr Abends trafen wir in Courcelles ein. Rasch wurden die Vorräthe auf die Bahren geladen und nun ging es vorwärts. Unsere Expedition bestand aus circa sechszig Personen (ein Theil des Bonner Studentencorps unter Führung des Professor Held hatte sich uns angeschlossen) und wurde von den Johannitern von Stülpnagel und von Kottwitz, beide beritten, geführt.

Wir marschirten auf der Chaussee nach Metz vor. Links und rechts lagerten Truppen bei den Bivouacfeuern. Die Nacht brach herein, eine Nacht so finster, daß man kaum die Hand vor den Augen sehen konnte. Immer seltener wurden die Lagerfeuer immer undurchdringlicher die Finsterniß. Endlich, es war gegen zehn Uhr, machten wir bei einem der letzten Bivouacs Halt, um uns nach der Lage des Schlachtfeldes zu erkundigen. Der betreffende Officier sagte uns, daß dasselbe rechts vor uns läge, machte uns aber zugleich darauf aufmerksam, daß wir jetzt die Vorpostenlinie verließen, und uns daher in Acht nehmen sollten, in der Dunkelheit beschossen zu werden. Die Vorsicht gebot, daß wir die Neutralitätsflagge entfalteten, deren weißes Feld auch in der Nacht weithin sichtbar ist, und mir wurde der Auftrag, dieselbe dem Corps vorauszutragen. Einer der Bonner Herren, der mit mir dem Zuge voranschritt, erzählte mir, daß er von England gekommen sei, um als Freiwilliger in die Armee einzutreten; da er aber als englischer Bürger nicht habe angenommen werden können, sei er nun dem Bonner Corps beigetreten. Es war der junge Wolfgang Freiligrath, der Sohn unseres Dichters.

Plötzlich wurde unser Marsch gehemmt. Von rechts her kamen singend, querfeldein über die Chaussee, drei Cavallerieregimenter gezogen, welche das Schlachtfeld abpatrouillirt hatten und nun in ihre Nachtquartiere rückten. Es war ein eigenthümlicher Anblick, wie diese kräftigen Reitergestalten durch die Nacht dahinzogen. Zuerst Uhlanen mit ihren flatternden Fähnchen, dann Kürassiere, welche in ihren weißen Uniformen und ehernen Harnischen gespenstisch genug aussahen, dann wieder Uhlanen – ein endloser Zug. Und nun ging es wieder vorwärts, in die Nacht hinein und immer wieder vorwärts. Keiner wußte, wo wir uns befanden.

Endlich tauchte links am Wege aus der Dunkelheit eine unförmliche Masse auf. „Laternen vor!“ tönte das Commando. Schnell war Licht geschafft. Ein einsames düsteres Gebäude stand vor uns; es trug die Inschrift: „Chagny la Horgne“. Wir traten in den Hof – Alles öd’ und still. An der Thür des Wohnhauses lehnten friedlich ein Chassepot und ein Zündnadelgewehr; auf dem Flur und in dem ersten Zimmer lagen blutige Flecken Leinwand, ein Zeichen, daß hier ein Verbandplatz gewesen; wir mußten also dem Schlachtfelde nahe sein. Das ganze Gehöft war verlassen, nirgends eine Seele zu finden.

„Gehen wir vorwärts,“ hieß es, und vorwärts ging es, lautlos vorwärts. Nach einer weiteren Viertelstunde kamen wir in ein Dorf, es war Ars Laquenexy. Ein Hund bellte, – dort müssen Menschen sein. Man klopft, vergebens – Niemand antwortet. Man sprengt die Thür – Alles ist verlassen, Niemand zu finden. Und so ist es im ganzen Dorfe – kein Laut regt sich, alle Einwohner sind geflohen. Wir standen mitten unter den Zeichen des Lebens in einer schrecklichen Einöde.

Da erscheint wie ein rettender Engel eine Ordonnanz, es ist ein Unterofficier vom fünfzehnten Regiment, der uns sagt, daß wir weiter rechts ein Feldlazareth treffen würden; Näheres weiß auch er nicht anzugeben.

Wir wanderten also wiederum dahin, in lautloser Stille, querfeldein über pfadlose Wiesen und Felder, die im Grauen der Nacht fast endlos gebreitet vor uns lagen. Im Osten stieg jetzt der Mond empor, riesengroß, blutigroth, als spiegle er sich im Blute, das hier geflossen.

Parkähnliche Anlagen, sorgfältig mit Sand bestreute Alleen, in welche wir nunmehr kamen, deuteten uns die Nähe eines Schlosses, und bald sahen wir dasselbe mondbeschienen vor uns liegen. Es war das Schloß von Aubigny; die Fahne der Johanniter wehte vom Giebel.

[635] Es war um Mitternacht, als wir den Schloßhof betraten. Niemals in meinem Leben werde ich das Schauspiel vergessen, das unser hier wartete. Das ganze Schloß mit seinen weiten Räumen und hallenden Corridoren war überfüllt mit Verwundeten. In den Zimmern, auf den Gängen und Treppen, in den Scheunen und Ställen, überall schwer Verwundete, überall Stöhnen und Schmerzensschreie.

In der Küche an dem prasselnden Feuer des Kamins saß in einem großen Lehnstuhle der greise Schloßherr von Aubigny. Er allein hatte ausgehalten in der allgemeinen wilden Flucht an dem Orte des Schreckens. Stumm saß der ehrwürdige Greis und starrte in die knisternden Flammen, und Thräne auf Thräne rollte über seine bleichen Wangen. – Wir hatten alle Hände voll zu thun, den Verwundeten die erste Hülfe zu bringen; denn es fehlte hier am Allernothwendigsten.

Bei dem schwachen Scheine unserer Laternen gingen wir in die Scheune, wo die Verwundeten auf den noch ungedroschenen Garben gebettet waren. Da lag ein armer Kerl vom dreiundvierzigsten Regimente; er hatte einen Schuß im Kopfe, und das dunkle Blut quoll über seine Schläfe. Seine Hände griffen convulsivisch in der Luft umher, er war bewußtlos. Wir wollten seine Wunde kühlen, da streckte er sich, ein krampfhaftes Stöhnen, und er war unter unseren Händen verendet. Nebenan lag halb aufgerichtet ein Franzose. Ein Granatsplitter hatte ihm den Leib aufgerissen. Er litt entsetzlich, doch war er völlig bei Sinnen. „De l’eau,“ ächzte er, die Hand nach uns ausstreckend. Als er getrunken und wir ihn verbinden wollten, sagte er beim Anblick seiner gräßlichen Wunde: „Ne vaut plus la peine, Messieurs,“ dann ließ er den Kopf auf die Brust sinken und murmelte: „oh, ma pauvre mère!“ – Weiter oben lag ein preußischer Soldat mit einem Schusse durch die Brust. Derselbe war durch den Magen eingedrungen und hatte das Rückgrat verletzt; er lag im Todeskampfe. Dicht neben diesem lag, laut jammernd, ein blutjunger Einjähriger, eine Granate hatte ihm beide Beine weggerissen. „Wird denn diese entsetzliche Nacht nimmer enden?“ stöhnte er. Er wird die Sonne nicht mehr sehen, – armer, junger Mensch!

Wahrlich, Ihr zu Hause, die Ihr aufjubelt, wenn der elektrische Funke Euch die Siegesbotschaft bringt, die Ihr aufjauchzt, wenn die Kanonen ihr Victoria donnern, und tausend bunte Flaggen wehen, Ihr ahnt nicht, um welchen Preis der Sieg erkauft wurde; Ihr ahnt nicht, welche Qualen, welche Martern, welche Schmerzen und Foltern, unbeschreiblich und unsagbar, der Lohn derjenigen sind, welche Euch diese Siege bereiteten. Aber für uns, die wir diese Wunden bluten und diese Augen brechen sahen, die wir das Geächze, das letzte Stöhnen der Sterbenden vernahmen, und die wir vor den letzten Zuckungen dieser schmerzgekrümmten Leiber entsetzt zurückbebten, für uns ist es Pflicht, alle diese Schauder Euch zu erzählen, wieder und wieder davon zu reden, damit Ihr mitten in Eurem gerechten Siegesjubel ihrer eingedenk seid und bleibet. Schmach, Deutschland, Dir und tausendfache Schmach, wenn Du je vergißt, wie Deine Kinder für Dich und Deine Ehre gestritten und wie sie für Dich gelitten haben!

Unsere Laternen waren erloschen, wir waren ohne Licht und mußten es daher aufgeben, in der Nacht noch zu verbinden. Auch die Müdigkeit fing an, Herr über uns zu werden, und Jeder suchte, so gut es eben gehen wollte, ein Plätzchen zur Ruhe. – In dem vorderen großen Hofe sah ich eine frische Strohschicht; froh des Fundes, warf ich mich darauf, aber nur, um mich sofort davon zu überzeugen, daß sie um vieles dünner sei, als ich geglaubt hatte, daß sie irgend etwas Ungehöriges bedecke und daß die Bequemlichkeit, die sie biete, ihrem viel verheißenden Aussehen nicht entspreche. Verdrossen wandte ich mich, in das Stroh zu greifen nach der mir so sehr unwillkommenen Unterlage. Ich faßte einen seltsam kalten Gegenstand; entsetzt sprang ich in die Höhe, ein Schauder ergriff mich – kein Zweifel: es war die starre Hand eines Todten, die ich gedrückt hatte, und acht Leichen ruhten unter dem Stroh, das von mir zur Lagerstätte ausersehen worden war. Sie waren im Laufe des Abends im Lazareth verschieden und man hatte sie bis zu ihrer morgigen Beerdigung einstweilen hier untergebracht. Ein kalter Schauer schüttelte mich und ich floh aus dieser unheimlichen Nachbarschaft. In einem der Nachbarhöfe hatten verschiedene Herren sich unter freiem Himmel eine dünne Strohdecke bereitet. Ein katholischer Geistlicher aus Bonn, ein ganz vortrefflicher Mann, der unterwegs schon tüchtig an den Bahren mitgeschleppt und unermüdlich den Verwundeten durch Wort und That Trost gespendet hatte, war so freundlich, mir ein Plätzchen an seiner Seite einzuräumen.

Unsere Ruhe sollte nicht lange währen, denn die Nacht war bitter kalt und der Frost trieb uns auf. Gegen vier Uhr früh setzten wir unsern Weitermarsch fort, nachdem wir einen Theil unserer Vorräthe auf dem Schlosse zurückgelassen hatten.

Wir passirten ein kleines Wäldchen, dann einen Bach, und hier fanden wir schon die ersten Spuren des Kampfes. Patronenhülsen, Gewehre, Kleidungsstücke lagen zerstreut umher; unter einer Baumgruppe lag ein todter Soldat des dreiundvierzigsten Regiments. Der Hohlweg, welchen wir zu passiren hatten, war von Granaten gehörig bearbeitet worden, die Bäume waren wie abrasirt und der Hohlweg durch Aeste gesperrt. In der nun folgenden Allee bot sich uns ein Anblick, so großartig grauenhaft, daß wir Alle einen Augenblick, wie an den Boden gefesselt, das gräßliche Bild anstarrten. In dem von schweren Fichtenbäumen gebildeten düsteren Laubgange, in welchen die eben aufgehende Sonne grelle Streiflichter warf, hatten die preußischen Jäger eine blutige Ernte gehalten. Hier lag Franzose an Franzose (es mochten wohl dreihundert sein), größtenteils in den Kopf geschossen, zum Theil in der seltsamsten Stellung. Gleich vornan kniete ein Franzose aufrecht, das Gewehr im Anschlag auf den Erdwall aufgelegt; der Kopf war auf das Gewehr gesunken – er hatte den Tod nicht gefühlt. Dicht hinter ihm lag ein anderer Franzose mit schmerzverzerrtem Antlitz, die linke Hand fest auf seine Wunde gepreßt, während die rechte ein deutsches Gebetbuch hielt – er hatte noch Zeit gefunden zu beten. Ein Anderer lag halb aufrecht an einen Baum gelehnt, die Hände wie zum Schutze vor das Gesicht haltend. Hier war nur der Untertheil eines menschlichen Körpers, während zwanzig Schritte weiter der Kopf mit dem entsetzlich zerrissenen Rumpfe zu finden war. So ging es fort in dieser Allee von Leichen. Wir machten hier auch einen uns sehr erwünschten Fund. In der Mitte des Weges lag ein Pulverwagen mit erschossenem Pferde. Das todte Pferd aus-, eines der unseren einspannen und unsere Bahren und Vorräthe, welche uns den Marsch sehr erschwerten, aufladen, war das Werk eines Augenblicks. Und nun ging es wieder vorwärts, immer durch Leichen.

Bei einer Biegung des Weges standen wir ganz urplötzlich auf zehn Schritte vor einer französischen Patrouille und hier auf der Höhe, von wo aus wir Metz vor uns sehen konnten, merkten wir erst, daß wir auf kaum ein Kilometer an die Außenforts herangekommen waren. Unser rothes Kreuz schützte uns. Wir passirten dann Lauvallières, wo ein einzeln stehendes Wirthshaus als Feldlazareth benutzt wurde. Bis an die Mauer des Hauses heran lagen die Todten. In dem kleinen Gärtchen lag wieder eine Reihe von Leichen, dürftig mit Stroh bedeckt, Opfer der letzten Nacht. Da es auch hier am Nöthigsten fehlte, wurde einer unserer Herren nach Courcelles zurückgeschickt, um Vorräthe hierher zu schaffen. Das gleiche Loos traf leider auch mich bald darauf von Nouilly aus, wo wir das dritte Feldlazareth fanden.

Aus einem mit Chassepots beladenen Wagen fuhr ich zurück über das ganze Schlachtfeld. Nie werden sich mir die Eindrücke verwischen, die ich hier empfangen. – Man begann gerade die Todten zu begraben. Hart an dem Wege war eine große Grube. „Eins, zwei, drei,“ zählte der Unterofficier bis vierzig. „Nun zugescharrt!“

Wenn irgendwo ein dunkler Ehrenmann ruhig in seinem Bette verschieden, erhebt sich ein unsägliches Lamento, der Pastor hält eine rührende Grabrede und das Wochenblättchen fühlt sich veranlaßt, in einem Nekrologe zu schildern, was der Verblichene als Staatsbürger, Gatte und Vater gewesen – und hier, die, welche für das Vaterland den Heldentod gestorben, wie kollern sie hinab in die gähnende Grube, Leiche an Leiche, schmutzig und blutig! – Erde drauf – Requiescant in pace!

Franz Bittong.



[636]
Bei den Kanonen.
Aus dem Tagebuch eines Artilleristen.[2]

Unsere Batterie, die dritte leichte des brandenburgischen Feldartillerie-Regiments, war am sechsten August Mittags eilf Uhr in Dudweiler eingetroffen und in diesem Orte einquartiert worden. Die Einwohner nahmen uns freundlich auf, und wir freuten uns bereits der guten Quartiere, Ställe und auf die Betten, als plötzlich der Befehl kam: „Um ein Uhr steht die Batterie zum Weitermarsche bereit.“ Zugleich durchlief ein dunkles Gerücht unsere Reihen, vorne wären unsere Truppen schon auf den Feind gestoßen.

Präcise um die befohlene Zeit standen die in Dudweiler liegenden Truppen auf den Alarmplätzen, wo auch der Brigadestab sich einfand. Die Batterie erhielt Befehl, der vormarschirenden Dragonerschwadron des zwölften Regiments zu folgen, und abwechselnd ging es nun im Schritt und im scharfen Trabe die Chaussee nach Saarbrücken zu. Dicht vor St. Johann hörten wir, wenn auch weit entfernt, einzelne Kanonenschüsse. Alles drängte vorwärts, jeder Mann war gespannt auf die nächsten Stunden.

Wir marschirten durch St. Johann, passirten die große steinerne Saarbrücke, und in Saarbrücken erhielten wir Befehl, auf der Straße zu halten. Um die Passage nicht zu versperren, wurde scharf rechts hingefahren und Alles saß ab. Die liebenswürdigen Einwohner Saarbrückens brachten uns sowohl während des Durchmarsches, als auch während jenes Haltes Erfrischungen jeder Art, die uns nach dem bei ziemlicher Hitze rasch zurückgelegten Marsche sehr wohl thaten. Satteltasche und Brodbeutel wurden gefüllt, und dieses kostbare Material fand erst seine volle Geltung am Abend nach dem Gefechte. – Die Zeitungsnachricht, daß Saarbrücken, die offene Stadt, von den Franzosen in Brand geschossen worden sei, ist bereits berichtigt. Außer dem von den Geschützen beschädigten Bahnhof und dessen nächster Umgebung haben auch wir keinerlei Verwüstungen irgend welcher Art bemerkt.

Wohl eine kleine Stunde mochte die Batterie hier gehalten haben, als sie Befehl erhielt, durch einen Feldweg auf die jenseits Saarbrücken liegenden Höhen vorzugehen. Hier angekommen, nahm die Batterie Rendezvous-Stellung in einer Terrainmulde und blieb zur Disposition höherer Führer. Vor uns hatte das Gefecht begonnen. Wir konnten das ganze Gefechtsfeld übersehen, doch war leider die Entfernung zu groß, als daß wir die einzelnen Regimenter ihrer Nummer nach erkennen konnten. Es war ein wahrhaft erhebender Anblick, zu sehen, wie unsere brave Infanterie mit einer bewundernswürdigen Todesverachtung vorging. Bald zeichneten einzelne Verwundete den Weg, den die Regimenter genommen, sehr bald wurden es ganze Reihen, welche die vorstürmenden Cameraden hinter sich ließen. Schmerzlich war es für uns, dies vor Augen, müßige Zuschauer sein zu müssen. Wie beneideten wir die im Feuer rechts vorwärts vor uns stehenden Batterien!

Lange schwankte der Kampf. Der Feind hatte eine sehr feste Stellung, den ganzen Speicherer Höhenzug, inne. Sein rechter Flügel hatte einen Wald besetzt, der die Abhänge bekleidet und sich oben auf dem Bergrücken weiter ausdehnt. Das Centrum bildete der nur mit einzelnen Bäumchen bewachsene Speicherer Berg, auf den ein steiler Hohlweg hinaufführt, dessen Pflaster aufgerissen war und der selbst im feindlichen Gewehr- und Artilleriefeuer lag. Schützengräben waren etagenförmig übereinander ausgehoben, und überhaupt der Berg mit großer Sorgfalt benutzt und besetzt. Der französische linke Flügel hatte den Höhenzug vom Speicherer Berge bis zum Speicherer Walde inne. Sämmtliche Abhänge des Höhenzuges sind so steil, daß man kaum hinaufreiten kann. An passenden Punkten waren Kanonen- und Mitrailleusen-Batterieen aufgefahren, welche das offene, freie Angriffsfeld vollkommen bestrichen, jedoch nicht mit der Wirkung, wie es wohl unsere Geschütze gethan haben würden. Die französischen Granaten crepirten, Dank ihren Zeitzündern[3], meist zu früh oder zu spät, selten rechtzeitig.

Der französische rechte Flügel und das Centrum waren es, gegen welche unsere wackeren Regimenter vorstürmten. Endlich gelang es, die Abhänge zu erklimmen, den französischen rechten Flügel zu werfen und den Speicherer Berg zu nehmen. – Wir standen noch immer seit drei Uhr in unserer Rendezvous-Stellung. Gegen vier Uhr wurden wir erlöst und schlossen uns den anderen Batterieen an, die schon im Gefecht waren. Unser Ziel waren feindliche Infsanteriecolonnen auf dem linken französischen Flügel, die wir mit sichtlichem Erfolge beschossen. Hier pfiffen die ersten Kugeln – Infanteriefeuer – um uns her, aber bei der angestrengten Thätigkeit achtete Niemand darauf; auch war die Entfernung eine so bedeutende, daß wir keine Verluste erlitten.

Da, gegen vier ein Viertel Uhr, erhielt unsere Batterie den Befehl, auf dem Speicherer Berge Position zu nehmen. Der Batteriechef ritt voran, um zu recognosciren, und die Batterie trabte, vom Premierlieutenant geführt, nach. Als wir an dem vorher erwähnten Hohlwege, der den Berg hinaufführt, ankamen, fanden wir ihn vom braunschweigischen Husarenregiment besetzt, und unser Vormarsch stockte. Hier pfiffen die Kugeln schon anders, denn oben auf dem Plateau des Berges schossen sich die beiderseitigen Tirailleurs noch gehörig mit einander herum. In diesem Moment sprengte ein Officier des Divisionsstabes mit dem Befehle heran, den Vormarsch der Batterie zu beschleunigen. Die Husaren räumten jetzt den Weg, und hinauf ging es den steilen mit losen Steine besäeten und aufgerissenen Berg – ein schweres Stück Arbeit. Als wir mit der Tête oben waren, sahen wir, daß nur das erste Geschütz gefolgt war. Das zweite Geschütz konnte nicht folgen, da mehrere verwundete Pferde nicht anzogen, und mußte das Geschütz erst wieder heruntergeschoben werden, ehe die anderen vier Geschütze weiter konnten. Während dieser Pause stand das erste Geschütz oben in einem hageldichten Kugelregen; zu sehen war aber vom Feinde nichts. Da ritt ein Brigadecommandeur zum Chef heran. „Schießen Sie doch! Wenn Sie auch nichts sehen können, so thun Sie es des moralischen Eindruckes wegen.“

Und in der That wurden wir schon in den nächsten Minuten überzeugt, welch’ frischer Muth unsere im Feuer stehenden Cameraden

[637]

„Unser Fritz.“
Commandeur der dritten Armee.
Originalzeichnung von Professor W. Camphausen in Düsseldorf.

[638] erfüllte, als sie ihre Artillerie in der Nähe wußten. Vorwärts ging es im Galopp mit dem Geschütz! Ein donnerndes Hurrah der Infanteristen begrüßte uns, vorwärts bis vor die eigene Tirailleurkette! Im Nu war der erste Schuß heraus, ein zweiter folgte, und jetzt avancirte unsere Infanterie von Neuem gegen die französische Uebermacht. Leider hatten wir schon, ehe wir überhaupt geschossen hatten, von den fünf Mann Bedienung einen Kanonier und von den Pferden drei, worunter das des Batteriechefs, verwundet.

Während dieser kurzen Affaire hatten die übrigen Geschütze oben auf dem Speicherer Berge Position genommen, und ihnen schloß sich jetzt das erste Geschütz an. Die Batterie feuerte mit Granaten gegen feindliche Bataillone und unterstützte so den Angriff der Unsrigen. Es war ein heißer, ein blutiger Kampf. Granaten, Mitrailleusen- und Infanteriekugeln schlugen in, vor und hinter die Batterie ein; die Verluste mehrten sich, fast die Hälfte unserer Bedienungsmannschaft war todt oder verwundet. Aber wir standen, und unser Feuer stockte nicht. Bewundert habe ich unsere Leute; mit welcher Ruhe und Accuratesse bedienten sie die Geschütze! Jeder paßte auf, ob und wo das Geschoß eingeschlagen hatte. Keinen Laut, keinen Schrei habe ich von unseren verwundeten Kanonieren gehört; ein Kanonier meldete sich verwundet, bat sich verbinden lassen zu dürfen, und nachdem das geschehen, meldete er sich wieder zum Dienst!

Bis an einen nach Forbach zu gelegenen Wald waren die Franzosen zurückgedrängt; hier sammelten sie ihre Bataillone zu einem Offensivstoße. Wir sahen die dichten Massen an der Lisière und beschossen dieselben auf das Heftigste, wie wir nachher hörten, mit brillantem Erfolge, so daß dort das Hervorbrechen der Franzosen unmöglich wurde. Zwischen halb acht und acht Uhr trat ein Moment ein, in dem das Gefecht schwankte. Die Unsrigen wurden zurückgedrängt von der feindlichen Uebermacht, und brennenden Auges schauten wir nach frischen Truppen aus. Unwillkürlich drängte sich uns der Gedanke auf: was wird aus der Batterie, wenn wir zurück müssen? herauf sind wir den Berg glücklich gekommen, aber wie wieder herunter? Die Franzosen unterhielten ein wirklich furchtbares Artilleriefeuer. Nur ein Moment war es, daß die Unsrigen zurückgedrängt wurden; aber in solchen Lagen werden die Secunden zu Stunden. Gleich ging es wieder vor; wir hörten das Hurrah unserer Cameraden und athmeten erleichtert auf.

Da plötzlich schwieg das Feuer uns gegenüber; aber von Forbach her hörten wir Kanonendonner und Mitrailleusenfeuer. Es galt unserer fünfzehnten Division, welche die linke Flanke des Feindes angriff und das brennende, in dem Abenddunkel weit leuchtende Forbach erstürmte. Das kurz vorhergehende rasende Artilleriefeuer hatte den Rückzug der Franzosen gedeckt, es war ihr Abschiedsgruß gewesen. Fast wie abgeschnitten schwieg der Kanonendonner. Unser war der Sieg – ein erhebendes Gefühl, für welches es keine Worte giebt, welches alles Andere vergessen läßt.

So groß wie vorher die körperliche und geistige Aufregung gewesen war, so groß war jetzt auch die Abspannung. Den brennenden Durst und Hunger konnten wir jetzt nur nothdürftig mit dem Wein aus Saarbrücken stillen. Ich kann nicht umhin, einen schönen Zug unserer Leute zu erwähnen. Rings um die Batterie lagen verwundete Preußen und Franzosen, die nach Wasser und Brod jammerten. Trotz des eigenen Durstes gaben unsere Kanoniere den Verwundeten, gleich ob Feind oder Freund, den letzten Tropfen Wein, und als später (zwischen elf und zwölf Uhr) Wasser in Feldkesseln gebracht wurde, wurde zuerst den Verwundeten gereicht. Erinnerlich ist mir noch ein Franzose, welcher, am Fuße verwundet, zwanzig Schritte von der Batterie lag. Wir nahmen ihm zuerst sein noch geladenes Gewehr ab und trugen ihn dann in die Batterie. Hier nahm er mit großem Danke eine Cigarre an und schien sich trotz seiner Wunde sehr wohl zu fühlen. Andere schwerer verwundete Franzosen wimmerten herzzerreißend, Töne, welche man nur einmal zu hören braucht, um sie nie wieder zu vergessen. Wie gern hätten wir den Armen geholfen, aber wir waren selbst von Allem entblößt. Einige Vorräthe an Brod, sowie einen Sack mit Hafer fanden wir auf einem französischen vollständig ausgerüsteten Munitionswagen, welcher neben der Batterie stand und dessen Bespannung – vier Schimmel – von einer Granate getroffen, todt vor dem Wagen lag.

Um neun Uhr war das Gefecht beendet gewesen, und gleich darauf hatten wir das traurige Geschäft, unsere Verluste festzustellen. Ueber die Hälfte unserer Leute hatten wir verloren und fast die Hälfte unserer Bespannung. Verfeuert waren hundertvierundsechszig Granaten; diese Munition war theilweise schon gegen Ende des Gefechtes ersetzt, teilweise geschah es jetzt. Dem Feldwebel war es gelungen, während des Gefechtes Munitionswagen den Berg hinaufzuschaffen und so der naheliegenden Gefahr des Verschießens vorzubeugen.

Wir Alle waren von der schweren, heißen Tagesarbeit auf’s Aeußerste erschöpft, und doch floh der Schlaf uns, als wir versuchten, neben den eingespannten Geschützen zu ruhen. Das Gewimmer und Gestöhne der Verwundeten, der Geruch, den die am Morgen gefallenen Pferde schon ausströmten, jagte uns von der Erde auf. Dieses Bivouac auf dem Schlachtfelde in der Nacht war in der That das Gräßlichste, was ich je erlebt. Dicht neben der Batterie war eine Verbandstelle etablirt; überall das Jammern der Verwundeten, das Flehen um Wasser. Bei Fackelschein erfüllten hier die Aerzte ihre schwere Pflicht die ganze Nacht mit einer seltenen Aufopferung. Einwohner Saarbrückens trugen seit dem Vormittage Verwundete aus dem Feuer; selbst Frauen und Jungfrauen wagten sich bis an die Tirailleurlinien, um Verwundete zu erquicken! –

Es war ein düsteres und doch belebtes Bild, diese Nacht! Auf dem Schlachtfelde vor uns irrten Fackeln umher; es waren barmherzige Samariter, welche Verwundete suchten, und Armee-Gensd’armen, welche auf die Hyänen der Schlachtfelder fahndeten. Ueber die Frechheit dieses Auswurfs der Menschheit mag folgendes Beispiel Zeugniß geben. Ein Infanterie-Officier war gefallen und seine Leute wurden momentan zurückgedrängt. Als letztere wieder schnell avanciren, überraschen sie mitten im Gefecht einen halberwachsenen Jungen, der dem gefallenen Officier den Rock aufgeknöpft hat und eben dessen Uhr rauben will. Einige Kolbenstöße machten dem Dasein dieses Elenden ein rasches Ende.

Leider lagerte sich gegen Morgen ein dichter Nebel über das Feld, der das Auffinden der Verwundeten erschwerte und jenem Auswurf der Menschheit sein gräßliches Handwerk erleichterte. – Noch jetzt stehen mir die Scenen jener Nacht und der Anblick des Schlachtfeldes mit grellen Farben vor Augen und werden mir unvergänglich sein, so lange ich athme. Reihenweise lagen die Cameraden todt und stumm da, in vollem Siegeslauf von der feindlichen Kugel niedergestreckt, in der Hand noch das Gewehr. Zelte, Decken, Tornister, welche aufgerissen waren, hatten die Franzosen zurückgelassen. Ein Franzose hatte seinen Tornister geöffnet, um sich frische Patronen herauszuholen; schon hatte er selbige in der Hand, da traf ihn das tödtliche Blei und entseelt sank er neben dem Tornister hin. So fanden wir ihn. – Gut ausgerüstet waren die Franzosen; fast Alle hatten ein Paar ganz neue Schuhe und ein neues Hemd, sowie ein halbes Brod in ihren Tornistern, welch’ letzteres nun unseren Leuten mehr als willkommen war.

Am andern Morgen, den 7., verließen wir endlich das Schlachtfeld mit seinen Schrecken und bezogen ein Bivouac an der Chaussee von Saarbrücken nach Forbach, und zwar hart an der Grenze auf Frankreichs Boden. Den Mittag ging ich mit einem Cameraden nach Saarbrücken hinein in der Absicht, wieder einmal an einem gedeckten Tische zu essen. Nur mit Mühe gelang es uns, an einer Table d’hôte Plätze und einige Stücke kalten Braten nebst einer Flasche Wein vom Kellner unter Zusicherung eines Trinkgeldes zu erobern. Mein Tischnachbar war ein englischer Officier, der zugleich Berichterstatter für eine größere Zeitung sein sollte. Dieser Herr war mir schon während des Gefechts am Tage vorher aufgefallen. Er stand nämlich während des heftigsten Feuers in der Batterie, bewaffnet mit einem Spazierstöckchen, und beobachtete höchst aufmerksam unsere Schüsse, und das Alles mit einer Kaltblütigkeit, die uns imponirte.

Im Lager fielen uns drei Franzosen auf, die ein Maulthier mitführten. Bei näherer Betrachtung ergab es sich, daß dasselbe an jeder Seite einen Sitz mit Rücken- und Seitenlehnen und Fußbank hatte, um so Leichtverwundeten zur Transportirung zu dienen. Gewiß eine zweckmäßige Einrichtung, besonders in dem oft coupirten Terrain.

Am 9. marschirten wir weiter, nachdem die Nacht uns mit einem Alles durchweichenden Regen beglückt hatte. – Die Dörfer, welche wir in der Nähe des Schlachtfeldes passirten, trugen die [639] Spuren des heftigsten Kampfes, die Wände waren mit Kugeln gepflastert, theilweise eingestürzt, die Fenster zerbrochen, die Hausthüren standen auf; kein Einwohner war zu erblicken. Hier lagen fortgeworfene Gewehre und Tornister der Franzosen, dort Zeltstücke, Mützen, kurz der Boden war bedeckt mit Ausrüstungsstücken jeder Art. Zu Seiten der Chaussee lagen todte Pferde. Die Pappeln am Wege trugen Kugelspuren und herabgeschossene Zweige bedeckten den Boden. Ueberall, wohin man blickte, Verwüstung und Zerstörung. Besonders viel Sachen lagen in den verlassenen französischen Lagern, welche sich von unseren Plätzen auf den ersten Blick unterschieden. So bauen die Franzosen z. B. ihre Kochlöcher ganz anders. Sie nehmen nämlich einfach sechs bis acht Steine, legen diese in zwei Reihen neben einander auf die hohe Kante, so daß sich zwei Wände, jede zu drei bis vier Steinen, bilden. Nach zwei Seiten sind diese Kochlöcher offen, so daß der Zug durchstreichen kann und ein leichteres Hantiren an denselben möglich ist.

In recht schlechtem Wetter – Regen und Wind – marschirten wir zwei Tagemärsche in la belle France hinein. Die nächsten Ortschaften, in denen wir einquartiert wurden und auch je einen Ruhetag hatten, waren wohlhabende Bauerndörfer mit einer nicht deutsch sprechenden und auch nicht entgegenkommenden Bevölkerung. Die Verpflegung wurde durch Requisitionen beschafft; um zwölf Uhr wurde ein Ochse geschlachtet, und in wenig Stunden war er verspeist.

Am 18. kamen wir nach St. Epore, einem kleinen Dorfe von hundertsechszig Einwohnern, wo vier Batterien untergebracht wurden. Hier treibt man augenscheinlich viel Pferde- und Rindviehzucht. Anfangs konnten sich die Leute gar nicht darein finden, daß ihre Pferde und Kühe die Nacht im Freien zubringen und unsere Pferde in den Ställen bleiben sollten. Als ich aber aus einem großen Stalle einige vierzig Pferde hatte auf den Hof führen lassen, wo die Thiere ihre Freiheit benutzten und umherjagten, leerten die Bauern auf das Schnellste ihre Ställe selbst. Hier war es auch, wo in einem großen alten Gebäude, in welchem die Officiere der vier Batterien sich einquartiert hatten, ein überraschender Weinfund geschah. Nachdem man die Anwesenheit der lieben Gottesgabe lange verleugnet, entdeckten wir im leeren Keller eine schwere eichene mit Eisen beschlagene Thür. Der Batterieschlosser öffnete sie, und wir waren im Privatkeller des Herrn Marquis von Epore. Champagner, Burgunder mit den Jahreszahlen 1828 und 1857, Rothwein in Flaschen und Fässern blickten uns gar einladend an. Sofort wurden Kanoniere mit Eimern zum Weinempfang für die Batterie beordert.

Unser Diner, welches auch zugleich Souper war, wurde in dem Eßsaale servirt. Die schönsten geschnitzten Möbel stauben hier, alle von der kunstfertigen Hand des Herrn dieses Stammschlosses geschnitzt. Daß uns unser Mittag mit dem köstlichen Weine mundete, und daß wir am anderen Morgen unsere Feldflaschen sehr sorgfältig füllten, kann man sich wohl denken.

In dem Schlosse waren in einem Saale zwölf Betten – vielleicht zu Lazarethzwecken – aufgeschlagen. Unsere Leute ließen es sich in denselben Betten wohl sein, und ich denke, das wird auch deren ursprünglicher Bestimmung keinen Eintrag gethan haben.

Unsere Marscherlebnisse waren nun die längst vielfach geschilderten, wie sie eben ein vom Kriege verwüstetes Land bietet, und mit deren Wiederholung ich Niemanden behelligen will. Für mich bleibt natürlich jedes einzelne Erlebniß ein Schatz für das ganze Leben, aber in diesem Augenblick hat Niemand Zeit, sich ruhig an der Theilung und Mittheilung solcher Schätze zu erfreuen.




Im Lager unserer Heere.
Von A. v. Corvin.
Vierter Brief. Als Spion.[4]

Frankfurt a. M., 13. September 1870.

Es ist keineswegs erfreulich, wenn Einen jeder Begegnende anranzt: „Mein Gott, was thun Sie denn hier?“ Da ich solch Ausrufungszeichen auch auf Ihrem Gesicht in Keilschrift sehe, so will ich Sie schnell mit der Versicherung beruhigen, daß ich morgen wieder fortgehe, nämlich nach einer Schwenkung durch das Elsaß nach Paris, oder so weit ich kommen kann. Uebrigens war mir, wie Sie aus dem Verlauf dieses Briefes sehen werden, ein Tag Ruhe zur Stärkung meiner Nerven durchaus nöthig. Es ist kein Spaß, unter die Obotriten zu gerathen. Außerdem mußte ich mich auch wieder neu equipiren – in sechs Wochen zum dritten Male, und mir die Johanniterei und die Lazarethe in Frankfurt ansehen, von denen mir viel Gutes und auch Wunderbares berichtet war.

Als ich meinen letzten Brief an Sie in Briey der Feldpost anvertraut hatte, kam die Nachricht, daß das zweite Armeecorps nach der Umgegend von Metz abmarschiren solle. Da das Hôtel de la croix blanche kein zureichender Grund für mein Bleiben in Briey war, so sah ich mich in der Frühe eines Morgens nach einem Fortbewegungsmittel um. Ein dicker Franzose, der eigentlich ein Luxemburger war, deutsch maltraitirte und hinkte, hatte von siebenzehn Pferden und vielen Wagen noch ein einziges und ein offenes zweirädriges Wägelchen übrig, wofür er dreißig Franken täglich verlangte. Da das Wetter sehr hübsch war, so schlug ich ein, und der Herr, der selbst mich fahren wollte, versprach um acht Uhr fertig zu sein und hielt Wort. Wir fuhren über das Schlachtfeld bei St. Marie aux Chênes und sahen noch überall Spuren der Schlacht, besonders in den Gräben, wo der Wind und der Regen Haufen von Uniformlappen, Hosen etc. zusammengefegt und geschwemmt hatte, bei denen hin und wieder ein gespensterhaftes Helmskelet Wache stand.

Mir gruselte es, als ich nach Gravelotte kam, weniger im Andenken an die dort stattgehabte Metzelei als in der Erinnerung an die Hungersnoth, die da rings umher herrscht, und aus Mitleid mit unseren braven Soldaten, die aus dem blutgetränkten und von Regen durchweichten Boden nun schon so lange unter freiem Himmel campirten.

Auf unergründlichen Wegen fuhren wir nach Ars sur Moselle. Ueberall grinsten uns an der Straße todte Pferde an, die sich in ihrem letzten Augenblicke darüber gefreut zu haben schienen, daß sie all dem Elend durch den Tod entgingen.

In friedlichen Zeiten muß die Gegend da sehr hübsch sein; allein überall gen Himmel gestreckte Pferdebeine, die von Körpern ausgehen, die zu Elephantendicke angeschwollen sind und die Luft ringsum verpesten, – sind eben nicht geeignet, die zum „Naturkneipen“ durchaus erforderliche Behaglichkeit zu erzeugen.

Bei Ars sur Moselle sind Eisenwerke, in denen Eisenbahnschienen und dergleichen gemacht werden. Jetzt sieht Alles öde und todt aus. Wovon werden die armen Leute im Winter hier leben? – Die Schlachten sind schrecklich, allein noch schrecklicher ihre Folgen, wenn auch der stille Jammer verhungernder Familien nicht solchen Lärm macht. Menschenfreunde – gleichviel ob Deutsche oder Franzosen oder Engländer oder Amerikaner – sollten schon jetzt daran denken, diesem entsetzlichen Elend vorzubeugen. Der Privatwohlthätigkeit ist hier ein sehr weites und sehr segensreiches Feld geöffnet, und Hülfe ist möglich, da die Bezirke, welche besonders gelitten haben, nicht so sehr ausgedehnt sind. Besondere Berücksichtigung verdienten wohl die um Metz herumliegenden Dörfer, deren Bewohner fast gänzlich ruinirt sind. Es thut Einem das Herz weh, wenn man in den schmutzigen Straßen arme alte kranke Männer und Frauen umherkriechen sieht, aus deren abgenagten Zügen der Hunger schreit.

Es war zwei Uhr, als wir nach einem erträglichen Mittagessen über die Moselbrücke fuhren. An der Seite rechts und links

[640] sah man stattliche Ruinen eines römischen Viaducts, der einst über das Moselthal führte.

Die Wegkunde meines Kutschers erstreckte sich nicht auf das andere Moselufer; allein gegebenen Weisungen folgend, schlugen wir den Weg nach Augny ein, als uns ein Wetter überfiel, so schauderhaft, wie es glücklicher Weise nicht oft vorkommt. Es regnete wie bei der Sündfluth, und das hielt mit sehr kurzen Pausen bis zum Abend an. Jeder Schutz gegen solches Wetter war nutzlos. Ich war sehr bald nicht nur bis auf die Haut durchnäßt, sondern hatte außerdem noch das Nebenvergnügen, ein stundenlanges Sitzbad zu genießen. Es war das eine gräßliche Fahrt. Mein Franzose zankte mit seinem Heiligen, daß ihm derselbe nicht eine Offenbarung habe zu Theil werden lassen. Von Augny, hieß es, müßten wir nach Marly fahren, um Courcelles zu erreichen, die erste Station, von welcher Züge nach Saarbrücken gehen. Das schlechte Wetter und die Unzufriedenheit mit seinem Heiligen hatten meinen Franzosen noch confuser gemacht, als er schon von Natur war, und trotz meiner stark ausgedrückten Zweifel fuhr er einen falschen Weg, der, wenn wir ihn fortgesetzt hätten, uns sehr bald zu Marschall Bazaine gebracht haben würde, nach dessen Bekanntschaft ich selbst unter den trockensten Verhältnissen nicht im Geringsten begierig bin.

In der Kirche von Speichern.
Nach der Natur aufgenommen von Chr. Sell.

Als wir in die Nähe einer großen Farm kamen, rief uns ein Posten Halt! zu und verlangte, daß wir in den Hof fahren und uns bei dem commandirenden Officier legitimiren sollten. Es war dies ein preußischer Major, der meine Papiere sah und über dessen ganzes Benehmen ich mich so recht freute, weil er militärische Bestimmtheit und Kürze auf die angenehmste Weise mit liebenswürdiger Höflichkeit zu verbinden wußte. Trotz des heftigen Regens begleitete uns der Adjutant bis an den nächsten Posten, und wir trabten weiter auf einem falschen Wege. Mein dicker Franzose hatte gänzlich den Kopf verloren. Nach einiger Zeit hielt uns abermals eine Wache an. Ich sagte ihr, daß der Major uns bereits gesehen habe, allein der Mann erwiderte: „Ja, wo wollen Sie denn hin? Da stehen ja unsere äußersten Vorposten, und es wird alle Augenblicke gefeuert.“

Die Posten standen allerdings dicht vor uns und es wurden auch hin und wieder Schüsse gewechselt, auf die ich bei dem scheußlichen Wetter wenig geachtet hatte. Als mein Franzose gewahr wurde, welcher Gefahr er sich aussetzte, verzweifelte er beinahe; er überwarf sich vollständig mit seinem rücksichtslosen Schutzpatron, phantasirte von seinen vier Kindern, versicherte, daß ihn der Krieg gar nichts angehe etc., und war herzlich froh, als ich ihn eine Bewegung nach rückwärts ausführen ließ.

[641]

Am Bahnhof St. Johann-Saarbrücken nach der Schlacht von Speichern.
Nach der Natur aufgenommen von Chr. Sell.

[642] Endlich kamen wir gegen Abend nach dem ersehnten Courcelles, bei dessen Anblick unsere Hoffnungen aber auf Null sanken. Ringsum in den triefenden Feldern bivouacirten Truppen, und jeder Winkel des gottverlassenen Nestes schien besetzt. Der Posten am Eingange zwang uns, über eine nasse Wiese um das Dorf herumzufahren und nach vieler Mühe gelangten wir endlich in die Straße. An ein Unterkommen für ein Pferd schien gar nicht zu denken, denn es befand sich in Courcelles das Hauptquartier des Großherzogs von Mecklenburg-Schwerin mit vielen Pferden und außerdem eine Menge von Gensd’armen. Ich verzweifelte indessen nicht sogleich, ließ meinen Franzosen in der Straße halten und ging aus zu recognosciren. An einer Scheune sah ich mecklenburgische Jäger stehen. Ich gab einem von ihnen einen Thaler und bat ihn, mir behülflich zu sein ein Obdach für ein Pferd zu finden. Der Mann war sehr bereitwillig. In der Scheune lag die Wache, zu der er gehörte, und es fand sich Platz für das Pferd.

Als die freundlichen Leute sahen, daß ich so durchaus naß war, schlugen sie mir vor, mich an ihrem Ofen im Quartier nebenan zu wärmen. Sie hätten eben ihr Essen fertig gekocht und das Feuer brenne noch. Man kann sich wohl denken, wie gerne ich das Anerbieten annahm.

Das Haus, in welches ich geführt wurde, war durch eine gräuliche That berüchtigt. Eine achtzigjährige Frau in demselben hatte einem darin verwundet liegenden Officier die Augen ausgestochen und war dafür von den Soldaten gelyncht worden. Im Hause selbst hatte man Alles vernichtet und nichts als die leeren Räume gelassen, in denen nun eine Menge Soldaten Schutz vor dem Regen fanden. In dem Zimmer, in welches ich geführt wurde, lagen einige zwanzig Jäger, brave Leute, die sich sehr anständig und gastfreundlich betrugen. Da sie selbst naß und kalt waren, so ließ ich vom Marketender einige Flaschen Rum und Zucker holen, wovon genug Grog gebraut wurde, so daß jeder ein Glas bekam. Mein dicker Kutscher fand auch einen Platz am Ofen.

Bald darauf traten zwei Officiere ein. Der eine fragte mich in sehr knapper Weise nach meinem Namen und „Gewerbe“. Ich zeigte ihm meine mir vom Commandanten von Saarlouis ausgestellte Legitimation, in welcher „der Vorzeiger Oberst von Corvin-Wiersbitzki allen Militär- und Civilbehörden empfohlen wird etc.“ Am Schlusse war bemerkt, daß ich außerdem durch einen amerikanischen Paß legitimirt sei. Der Officier gab mir die Papiere zurück und verließ mit seinem Cameraden das Zimmer ohne Gruß und ohne ein einziges Wort. Ich war etwas erstaunt darüber, denn ich hatte einige Wochen nur mit preußischen Officieren gelebt, deren Höflichkeit mich verwöhnt hatte. Die Herren Mecklenburger scheinen noch auf dem Standpunkt zu stehen, auf welchem die preußischen Officiere vor einem halben Jahrhundert standen.

Da in einer an das Haus stoßenden Scheune Stroh genug war, so beschloß ich, die Nacht in derselben zuzubringen. Am Morgen wollte ich zum Etappencommandeur gehen und ihn um Weiterbeförderung bitten. Es war in der Scheune stockdunkel, und ich war eben im Begriff mein Lager zu arrangiren, so gut es gehen wollte, als ich plötzlich die Stimme des einen der Officiere vernahm, die mich eben erst mit ihrem Besuche beehrt hatten. Der Officier befahl mir, aufzustehen und ihm zu folgen. Als ich in der Finsterniß meinen Hut nicht finden konnte, rief er barsch, ich solle das Suchen bleiben lassen und ohne Hut kommen. Ich besann mich nicht lange und gehorchte.

Die ganze Art und Weise amüsirte mich mehr, als sie mich ärgerte, denn ich hatte schon so viel von der Bildung mancher mecklenburgischen Edelleute gehört – der Officier war ein Graf oder Herr von Rantzau – daß ich mich nur freuen konnte, diese obotritische Abart blauen Blutes endlich aus eigener Anschauung kennen zu lernen. Ernstliche Besorgnisse konnte ich nicht haben, da etwaige Mißverständnisse leicht aufgeklärt werden mußten, wenn mir auch vielleicht momentan einige Unannehmlichkeiten bereitet werden konnten.

Das Bureau des Etappencommandos war an der Eisenbahn und etwa zehn Minuten von der Scheune entfernt. Es regnete, obwohl nicht stark, aber da ich barhäuptig hinschritt, wurde mein Haar vom Winde zerzaust. Als ich zögerte in eine tiefe Pfütze zu treten und dadurch etwa drei Schritt von dem Vollblutlieutenant abkam, packte mich der ihn begleitende Gensd’armerie Wachtmeister mit ungezogenen Worten rauh am Arm und stieß mich vorwärts. In die Nähe des Etappenbureaus gekommen, verlangte der Officier meine Papiere, welche ich in meiner Geldtasche hatte. Noch hatte es kaum eine Minute gedauert, bis ich dieselbe aufschließen konnte, als sie mir der Wachtmeister auch schon mit rohen Worten von der Schulter riß. Ich bitte nur zu bemerken, daß dies Alles geschah, nachdem der Officier meine Papiere gesehen hatte, in denen ich bei meinem vollen Namen genannt und als alter Officier legitimirt war. Außerdem ist Courcelles nicht in den Vorposten, sondern eine Eisenbahnstation. Nach einigen Minuten wurde ich in das Bureau gerufen. Ich traf hier außer einigen Schreibern einen preußischen Major, dessen Namen ich leider nicht vernahm.

Die Armee ist reich an Obersten und Oberstlieutenants, die nicht im Stande sind, im Felde Bataillone oder Regimenter zu befehligen, die man aber doch wegen ihres im Dienst ruinirten Gesundheitszustandes nicht gerade durch Entlassung kränken will. Für diese alten Officiere sucht man weniger beschwerliche Stellen aus und macht sie unter anderm gern zu Etappencommandanten. Die Pflichten eines solchen sind indessen nicht nur sehr wichtig, sondern erfordern auch ganz besondere Umsicht, Ruhe, Geschäftskenntniß, Thätigkeit und savoir faire . – Um den Obersten etc. diese Pflichten zu erleichtern, giebt man ihnen gewöhnlich einen Major oder Capitain als Assistenten, und ich habe mehrmals Gelegenheit gehabt, das richtige Auge der Vorgesetzten bei Besetzung dieser wichtigen Stellen zu bewundern. Die Assistenten in Bingerbrück, Pont à Mousson, Remilly etc. waren äußerst gewandte Officiere. –

Der Major sah meine Papiere. Er fragte, ob ich der aus Baden (48–49) her bekannte Corvin sei, was ich natürlich bejahte, worauf er mir höflich sagte, daß nichts gegen mich vorliege und ich frei passiren könne.

Die beiden wackern Mecklenburger Officiere waren verschwunden, und ich ging nach meiner Scheune zurück. Unterwegs fiel ich abermals einem Gensd’arm auf, der seine Stammesverwandtschaft mit den beiden Officieren, die mich schon in so einfältiger Weise chicanirt hatten, nicht verleugnen sollte. Er hielt mich fest und befragte mich, wie es komme, daß ich im Regen ohne Hut umherlaufe. Ich setzte ihm den Grund meiner Hutlosigkeit auseinander, bedeutete ihm, daß ich eben vom Etappencommandanten komme, und gab ihm die Versicherung, daß er, wenn er sonst etwas wünsche, mich in der Scheune bei der Wache finden könne. Er blieb indessen dabei, mich für höchst verdächtig anzusehen und verpflichtete einen erstaunten Jäger, mich scharf im Auge zu behalten, bis er zurückkomme.

Nach dem Ausspruche des Etappencommandanten glaubte ich über alle Schwierigkeit hinaus zu sein und bereitete mich nun ernstlich zum Schlafen vor. Ich hatte eben meine nassen Stiefel ausgezogen und mich in meine wollene Decke gehüllt, als abermals ein Officier erschien – diesmal ein anderer, glaub’ ich; man nannte einen Herrn von Weltzien – der von dem ungehobelten Wachtmeister begleitet war und mir befahl aufzustehen und alle meine Sachen nebst Schlüssel abzuliefern.

Etwas verwundert folgte ich dieser Weisung und wurde in einen Stall geführt, in welchem eine Reihe von Gensd’armen an der Erde lagen. Einer derselben mußte aufstehen, und mir wurde sein Platz als Schlafstelle angewiesen. Ich ersuchte, da ich ganz naß war, um meine Decke, allein man meinte, ich müßte – mich ohne dieselbe behelfen. Glücklicherweise hatte man mir meinen Gummimantel gelassen; in diesen gehüllt, schlief ich – höchlich amüsirt – ein.

Es dauerte das aber nur einige Minuten. Ich ward abermals aufgefordert aufzustehen und in das Wachtzimmer der Gensd’armerie geführt. Hier untersuchte man meine Taschen, nahm deren Inhalt in Beschlag, befühlte mich sehr sorgfältig, und als ich die Hosen abziehen mußte, glaubte ich wirklich, daß eine specifisch mecklenburgische Operation mit mir vorgenommen werden sollte, welche meine sonst nicht so leicht zu erschütternde heitere Laune doch wohl auf eine gefährliche Probe gestellt haben würde. - „Es ist wunderbar!“ hörte ich jetzt einen der neugierig Umstehenden sagen, und auf Befragen wurde mir die Lüge aufgetischt, daß ich jemand außerordentlich ähnlich sehe, der wiederholt signalisirt worden sei. Ein Anderer gab mir indessen die Schlüssel zu der mir zu Theil gewordenen Behandlung, indem er [643] mir andeutete, daß mein Name ein sehr bekannter und gewissen Herren in dem glücklichen Mecklenburg noch immer höchst widerwärtig sei. Gewisse Traditionen von 1849 seien noch nicht verschollen, und unter diesen sei besonders diejenige hartnäckig, welche von der Schlappe handle, welche ein Bataillon der von mir befehligten Mannheimer Volkswehr den Mecklenburgern bei Ladenburg versetzte!

Wie kleinlich! – Es scheint, der Ochsenkopf (der ist ja doch wohl das Wappen Mecklenburgs) hat ein nachhaltigeres Gedächtniß als der Adler. In der preußischen Armee gehört 1849 zur alten Geschichte. Ich habe mit preußischen Officieren hoher Grade gesprochen, die mir in Ludwigshafen und Rastatt gegenüberstanden, und wir haben uns freundschaftlich über diese Ereignisse unterhalten. Man war objectiv genug, mich militärisch zu loben, und ich kann versichern, daß diese Anerkennung von Seiten braver ehemaliger Feinde mich für manches Bittere entschädigt hat, was ich gerade von der Seite her erfuhr, von der ich Anerkennung zu erwarten vollkommen berechtigt war.

Doch zurück zu den Angehörigen des Ochsenkopfes. Ich ward in meinen Stall zurückgeführt, und nachdem man meinen Stock sorgfältig entfernt hatte, ließ man mich zufrieden.

Ich schlief ganz sanft, erwachte in ziemlich guter Laune und beobachtete mit Interesse das Benehmen der verschiedenen Leute, die jeder nach seiner Art ihre Toilette machten. Unter den Leuten war ein prächtiger Oberwachtmeister, der mir außerordentlich wohlgefiel. Der Mann bemerkte, daß ich seit gestern gar nichts genossen hatte, und bot mir seine Feldflasche an, die ganz vortrefflichen Portwein enthielt, wie ihn gewiß der Großherzog nicht besser trinkt. Ich nahm den Schluck dankbar an und unterhielt mich mit dem Oberwachtmeister. Er war mehrere Jahre in Amerika in Diensten der Hudson-Bay-Pelzcompagnie gewesen und erzählte mehrere recht interessante Indianerabenteuer. Von ihm erfuhr ich, daß man nach Saarlouis telegraphirt, aber noch keine Antwort erhalten habe. Ich vermuthe, man wollte sich erkundigen, ob der Commandant mir wirklich einen Paß gegeben habe, obwohl dies keinem Zweifel unterliegen konnte, da der Major und Auditeur die Unterschrift genau kannten.

Als ich eben überlegte, ob ich nicht am besten thue, an den Großherzog zu appelliren, den mir einer der naiven Gensd’armen noch als den Vernünftigsten bezeichnete, kam ein preußischer Armeegensd’arm mit einer geschriebenen Ordre des Etappencommandanten, den Arrestanten (mich) augenblicklich an ihn abzuliefern. „Die mecklenburgische Gensd’armerie wird einen schönen Wischer bekommen, weil sie den Herrn festgehalten hat, nachdem ihn der Commandant gesprochen hatte und passiren ließ.“ – Meine Sachen mussten mir sofort ausgeliefert werden. Man hatte dem Auditeur des Corps sogleich alle meine Papiere ausgehändigt, und derselbe sah aus den an mich gerichteten freundschaftlichen Briefen hoher Personen, wie aus Dokumenten einer gewissen Gesellschaft, daß auch keine Spur eines Verdachtes gegen mich gerechtfertigt war.

Es gab – wie ich durch die Glasthür sehen konnte – eine lebhafte Discussion zwischen dem mecklenburgischen Officier und dem preußischen Major, an der auch ein kleiner nervöser, leberkranker Oberstlieutenant theilnahm, welcher der eigentliche Etappencommandant war. Als ich in das Bureau berufen wurde, entschuldigte der Oberstlieutenant das Versehen in höflicher Weise, äußerte jedoch, daß ich mir die Sache selbst zuzuschreiben habe, „indem ich mit einem französischen Kutscher angekommen sei und mich in nicht für mich passende Gesellschaft gemischt habe.“ Das war nämlich die Entschuldigung der Getreuen des Ochsenkopfes; und man sah ihr auf der Stelle ihren Ursprung an. Ich fand die Gesellschaft braver deutscher Soldaten keineswegs unpassend für mich und ziehe sie auf alle Fälle der solcher mecklenburgischer Officiere vor, wie ich sie an jenem Abend kennen lernte, doch weiß ich sehr wohl, daß sie glücklicherweise zu den Ausnahmen gehören.

Wir hatten nach solchem glücklich überstandenen Abenteuer von zehn Uhr Morgens bis drei Uhr Nachmittags im Eisenbahncoupé zu sitzen und auf die Abfahrt nach Saarbrücken zu warten, wo wir spät Abends ankamen und wo ich meinen werthen Gastfreund Banquier Simon – der des Druckfehlers in der Gartenlaube wegen nun überall Snude genannt wird – beim Abendessen fand. Im besten Scherzberger aber that ich ihm auf den Toast Bescheid, „daß der isolirte Mecklenburgische Ochsenkopf bald der allgemeinen deutschen Bouillon einverleibt werden möge.“

Nach langem Hin- und Herüberlegen beschloß ich meine Operationsbasis zu ändern. Ich kam zu der Ueberzeugung, daß die Opfer, die ich zu bringen, und die Strapazen, die ich auszuhalten habe, mit dem, was ich wirklich vom Kriege sehe und erlebe, nicht in Verhältniß stehen und daß ich auf andere Weise verfahren müsse. Belagerungen pflegen sehr langweilig und selten interessant zu sein, und das Ende der Belagerung von Metz abzuwarten, schien mir daher unthunlich. Ich beschloß daher, zur Erholung meiner Gesundheit für ein, zwei Tage nach Frankfurt am Main zu gehen, hauptsächlich, um mich auf’s Neue auszurüsten. Heute denke ich von hier abzureisen und nach einer Inspicirung von Bitsch und Straßburg nach Paris zu gehen. Um doch meine Zeit hier einigermaßen nützlich anzuwenden, beschloß ich die Lazarethe zu besuchen und ging zunächst in die Klinik des Herrn Dr. Bockenheimer in Sachsenhausen, die mir von dessen Schwester auf das Bereitwilligste gezeigt wurde. Ich kam mit meiner Frau dorthin, die selbst gelernte Krankenpflegerin ist und mich auf diese Anstalt aufmerksam machte, als eben die Frau Kronprinzessin von Preußen dieselbe verließ; es ist wirklich eine Musteranstalt. Der Eingang zu den einfachen aber geschmackvollen Hause ist durch Zierpflanzen und Blumen in gefälliger Weise geschmückt und man empfängt so von vornherein einen angenehmen Eindruck.

Man zeigte mir das Haus vom Keller bis zum obersten Stock, und wohl haben die Damen Ursache, es bereitwillig zu zeigen; denn das Ganze ist ebenso zweckmäßig eingerichtet, als ordentlich gehalten.

Ich war überall, in Küche, Keller, Speisekammer, Eiskeller, Badezimmer und Secirzimmer: die Empfangzimmer sind geräumig, luftig und anständig; und die Krankenzimmer sind ganz vortrefflich. Ich freute mich über die überall herrschende Ordnung, die reine Luft, die Weiße der Bettwäsche und das zufriedene Aussehen der Verwundeten. Es lagen in der Anstalt einige zwanzig mehr oder weniger schwer verwundete Officiere, und alle, mit denen ich redete, waren ganz außerordentlich zufrieden, und haben auch wirklich Ursache dazu. Glücklicherweise waren hier weder Johanniterherren noch Johanniterdamen, die durch ihr unpraktisches Wesen, durch ihr Vornehmthun und ihre Ostentation gar häufig Verwirrung und andere Mißstände verursachen.

Im obern Stock befand sich das Magazin mit Binden etc.; die auf Frankfurter Weise hübsch geordnete Wäschekammer; die Wohnungen der barmherzigen Schwestern und deren kleines, einfach eingerichtetes Betzimmer. – Ich nahm aus dieser sehr verdienstlichen Anstalt einen sehr angenehmen Eindruck mit und empfehle sie allen Leuten, die irgendwo Geld übrig haben, welches sie zu einem wohlthätigen Zweck anwenden wollen. Die Verwundeten bezahlen dem Doctor nichts und die Anstalt besteht (zum kleinsten Theil) durch freiwillige Gaben; einstweilen hat wohl der Doctor selbst noch das Meiste zuzulegen.

Ich wollte noch ein königliches Lazareth auf der Pfingstweide besuchen; allein ich erfuhr aus sicherer Quelle, daß dergleichen Besuche, besonders von Personen, die der Presse angehören, nichts weniger als gern gesehen würden. Ueber die Gründe dieser zarten Verschämtheit in meinem nächsten Briefe.




Ein sächsisches Bivouac auf dem Schlachtfeld von St. Marie aux Chênes.
Von unserem Specialberichterstatter J. Z - r.

Mit klingendem Spiel kamen die Regimenter des zwölften Armeecorps (Königreich Sachsen) am Tage nach der Schlacht von Gravelotte von einer großen Recognoscirung, die sie nach Metz hin unternommen hatten, zurück. Um St. Privat, welches sie mit den preußischen Garden am Abend vorher erstürmten; hatten sie im Bivouac gelegen. Die Sonne neigte sich eben zum Untergange und beleuchtete das vor uns liegende und von der Höhe weithin übersehbare Schlachtfeld. Regiment auf Regiment, frisch und stolz, [644] zog vorüber, und seine Reiter und Fahnen hoben sich dunkel von dem glühenden Abendhimmel ab.

Vor dem Dorfe an einem Kreuzwege hielt die Feldpost – so viel Briefe und Correspondenzkarten wie an diesem Abende hat sie wohl selten aufzunehmen gehabt. Aus jedem Gliede fast sprang ein Mann hervor, der rasch im Vorbeigehen seine Grüße in die Heimath hier abgab, und „daß er gesund geblieben“. Officiere, Soldaten, Marketender standen am Wege, unter den Vorüberziehenden nach Freunden und Bekannten suchend, manch heitern Zuruf, manche traurige Nachricht empfangend.

Seitwärts und auf den Feldern hinter uns breitete sich ein endloser Wagenpark aus, der sich mit Lebhaftigkeit zum Aufbruch rüstete.

An der nach St. Marie sich hinziehenden Abdachung lagerten die preußischen Garden, die Kampfgenossen vom vergangenen Tage; so weit das Auge sehen konnte, deutsche Soldaten, deren Helme und Waffen in der roth untergehenden Sonne blitzten – ein Bild, malerischer und erhebender nicht zu denken.

Der Weg nach Paris wurde wieder aufgenommen; –die Sachsen sollten bei Hatriz Bivouac beziehen.

Als wir St. Marie aux Chênes uns näherten, änderte die Scene ihren Charakter. Die Sonne war untergegangen, ein klarer Himmel geblieben. Auf der weiten Fläche aber, die sich muldenartig senkte und hob, flammte Feuer auf Feuer empor, erst vereinzelt und durch große Zwischenräume unterbrochen, allmählich aber in regelmäßiger Abwechselung den Vordergrund erfüllend. Und immer weiter dem Horizonte zu blitzten neue Lichter auf, wie die vorangezogenen Regimenter ihre Halteplätze erreicht hatten. Als wir nahe genug kamen, hörten wir schon den Gruß „Guten Abend, Sachsen!“ welcher mit „Guten Abend, Garden!“ erwidert wurde. Und die ganze Linie entlang wiederholte sich das Grüßen.

Die Preußen waren bereits in voller Vorbereitung, „die Maschine wieder zu heizen“, welche Frankreich „den Standpunkt klar machen soll“. Schon von Weitem hatte ich ein ganz eigenthümliches Geräusch vernommen das das ganze Lager erfüllte; je mehr wir uns näherten, um so lauter wurde es, ein tausendfaches Geklapper ohne Tact und Rhythmus, aber mit ungemeiner Beflissenheit ausgeführt, von dem ich nicht wegkriegen konnte, was es bedeuten sollte, bis ich endlich am ersten Feuer jeden Mann eifrig beschäftigt sah, mit dem Seitengewehr auf einem Brettchen ein Stück Rindfleisch zu bearbeiten – „Beefsteak“ wurde gemacht.

Es leuchtete mir sofort ein, daß diese scharfe Ansprache auch das zäheste Gemüth erweichen müsse, und ich sprach mich demgemäß anerkennend aus.

„Ja, ’t is schon richtig,“ sagte der Angeredete, indem er einen Augenblick still hielt und lächelnd in die Höhe sah. „Wir müssen nur ’n Bischen viel Holz mit ’rein fressen. Na, dat schadt och nischt – et reinigt den Magen ’mal wieder von die vielen Leckereien.“ Damit hämmerte er weiter.

Da die Straße durch das Dorf St. Macie aux Chênes einen beträchtlichen Bogen machte, schlug ich, um auf unsern Lagerplatz zu kommen, den kürzern Weg über das Schlachtfeld und durch das Bivouac der Garden ein. Welch emsiges Leben! Ueberall schon flammten die Feuer, jedes von einer lustig hantirenden Gesellschaft umgeben. Der Eine hatte für Brennmaterial zu sorgen, das er nahm, wo er es fand; Andere schafften Stroh für die Lagerstätten, Wasser, um den Reis, Kartoffeln oder Kaffee zu kochen, herbei. Die Beaufsichtigung der an dem Feuer stehenden Feldkessel ist wieder ein Amt, das eine Kraft für sich verlangt. Die Arbeitstheilung ist auf das Höchste entwickelt, und man soll nicht sagen, daß sie den Menschen zur Maschine macht.

Welche Umsicht ist nicht nothwendig bei der Aufsuchung der Vorräthe, die in den verlassenen Dörfern allenfalls noch angetroffen werden könnten! Wie oft wird sie getäuscht! – bisweilen auch in unerwarteter Weise belohnt! Da rollt Einer jubelnd ein Faß Wein vor sich her, das in einer Scheune vergessen worden war - er war aber auf der Strohjagd. Zwei Andere, die nach Eiern oder irgend sonstigen Delicatessen ausgegangen waren, kommen mit einigen fünfzig französischen Garden zurück, die sie in einem Versteck aufgegriffen haben – erbarmungswürdige Gestalten, durch vierundzwanzigstündige Angst und Entbehrung verschlottert. Sie werden „zu den Uebrigen gelegt“; – ein Huhn, und wenn auch noch so alt, wäre dem Finder lieber gewesen. Das Unglaublichste wird zusammengeschleppt, was sich nicht essen läßt, läßt sich wenigstens verbrennen.

Plötzlich tönt ein Signal durch das Lager, und das noch so lebhafte Getreibe beruhigt sich. Allgemeines Gebet – gewiß in wenig Kirchen mit gleicher Weise gebetet. Und dann beginnt die volle Regimentsmusik den Choral „Nun danket Alle Gott!“ Alle Kehlen und alle Herzen singen mit in die stille Nacht, und weithin ziehen die deutschen Klänge über die fremde Erde.

Es giebt gewisse Eindrücke, denen so leicht sich wahrscheinlich kein Gemüth entziehen kann – der erste Anblick des Meeres, die Stille über den lebensleeren Gletschern der Hochalpen, die Wüste Sahara, die Fälle des Niagara – ergreifender aber kann keiner gedacht werden, als das Gebet von Tausenden, die, einem vielfachen Tode entgangen, leidenschaftslos sich in dem Ausdruck eines einzigen Dankgefühles sammeln, von Tausenden, die man in der Nacht nicht sieht, deren vereinigte Stimmen aber die Luft mächtiger zur Empfindung bringt, als der Tag die Menge zeigen könnte. Und wie der Gesang verhallte, war manches Auge feucht – die Handgriffe, welche gedankenlos in der kleinen Feldwirthschaft noch zu leisten waren, wurden still verrichtet, es mußte aus dieser ernsten Stimmung sich erst wieder ein Uebergang finden.

Der ließ auch nicht lange warten. –

„Die Wacht am Rhein“! – kaum klang die Melodie aus den ersten Tönen der Musik, die von nun an „Freiconcert“ gab, als Alles einfiel und mit freudigster Kraftanstrengung dem Vaterlande versicherte, was überdies in den letzten vier Wochen mit einer an Einstimmigkeit grenzenden Majorität allerorten schon behauptet worden war, daß es nämlich ganz ruhig sein könne.

Ich fand dagegen auch nicht das Geringste einzuwenden, denn die Leute, die dies in allen Stimmlagen aussprachen waren die preußischen Garden, und die hatten Tags vorher bewiesen, daß die nächstliegenden Geschäfte des Vaterlandes keine promptere Erledigung finden könnten, als durch sie. Aber ich freute mich doch darüber, und herzhaft mitsingend – wenn ich das singen nennen darf – zog ich mit meinen Leuten, die ich hinter dem Dorfe wieder traf, weiter.

„Gute Nacht, Garden!“

„Gute Nacht, Sachsen – auf Wiedersehen – wie gestern!“

Ein herrlicher Marsch. Das ganze Gelände vor uns strahlte von tausend und abertausend Feuern wieder. Von allen Seiten Musik und Gesang, hier von dem Lagerfeuer am Wege ein übermüthiger Gassenhauer, dazwischen durch von fernher abgerissen der Choral eines Regimentes, das eben erst die Gewehre zusammengestellt hatte.

Als wir an unsern Lagerplatz kamen und unsere Wirthschaft einrichten konnten, war es ziemlich spät geworden. Von dem mitgetriebenen Vieh wurde geschlachtet, was nöthig war, die Ochsen zerlegt und compagnieweise vertheilt und immer weiter zergliedert, bis jeder Einzelne sein Stück, warm, wie’s von der Kuh kommt, unter den Säbel nehmen konnte, um ihm die Gare zu erleichtern. Den Erfolg dieser Bemühungen konnte ich nun selbst probiren – ich will gerade kein großes Rühmen davon machen. Es war gut, daß wir mit den Kinnladen den Tag über wenig zu thun gehabt hatten, denn es hieß die Zähne verzweifelt hoch heben. Aber es ging und gute Laune war ein vortreffliches Gewürz. Der Sergeant hatte mit Hülfe einiger zusammengelesenen Franzosensättel einen kunstreichen Divan bauen lassen, der mir auf das Freundlichste angeboten wurde. Und so lagen wir fröhlich und guter Dinge um das Feuer, und ließen uns schmecken, was es gab. Für Alle dasselbe Gericht der Speisekarte; nur Zweien hatte das Schicksal den Griff in eine glückbringendere Urne gestattet: sie hatten auf dem Wege des Wildfrevels ein Kaninchen erbeutet, das der Eine – der Rothe genannt – an den Hinterläufen in die Höhe hielt, während der Andere sich bemühte, das Fell herunterzuschälen.

„Wie seid Ihr denn dazu gekommen?“ frug die ganze Gesellschaft wie aus einem Munde.

„Ja, das war zum Todtlachen – der Hase da –“ er nannte das Thier seinem Magen zu Gefallen immer einen Hasen, – „den hat der Rothe heute gefangen, weil er gestern keinen Franzosen kriegen konnte. Er hatte sich partout in den Kopf gesetzt, einen lebendigen Franzosen zu greifen – Wackele nicht so – sonst schneid’ ich mich in die Finger.“

„Lieb’ Vaterland, kannst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein!“

klang es aus der Nachbarschaft herüber.

[645]

Die Einbringung des ersten erbeuteten Adlers und der Mitrailleusen in Berlin.
Nach der Natur aufgenommen von Prof. Döpler.

[646] „Na also, da hörst Du’s!“ sagte der Operateur und dabei trennte er den Kopf so kunstgerecht von dem Rumpfe, daß ihm Niemand die Anerkennung würde schuldig geblieben sein, wenn er darum gefragt hätte.

„Man muß sich nur zu helfen wissen,“ fuhr er fort. „Rother, gieb’s Casserol her!“

Der Rothe, der Alles that, was der Andere sagte, selbst aber kein Wort sprach, reichte ihm einen alten Kesseldeckel den sie jedenfalls überein gekommen waren, Casserol zu nennen, der aber damit gar nichts weiter gemein hatte als den Namen, und nun wurde das Wildpret auf Speck gebettet über das Feuer gesetzt.

„Man muß sich nur zu helfen wissen, sag’ ich. – Als wir heute Nachmittag über die Höhen marschiren, gehen wir Beide durch ein Kartoffelstück – wir hatten noch kein Gemüse im Brodsack – schreit Euch auf einmal der Rothe, der sonst nie das Maul aufthut: ‚Ein Franzose, ein Franzose!‘ und Brodbeutel und Flinte fliegen in die Luft. Ich denke, der Schlag rührt mich, als ich das höre. ‚Wo denn?‘ – ‚Da!‘ und plauz! schmeißt sich der Kerl, so lang, wie er ist, auf den Boden. – ‚Bist Du verrückt?‘ rufe ich. – ‚Ne, ne – mach nur fix, daß wir’n kriegen!‘. Da sprang das Ding da heraus, und nun ging die Hetzjagd an.“

„Am Rhein, am Rhein, am deutschen Rhein,“

sangen sie drüben.

„Nu freilich – und ooch weiter noch,“ rief der Erzähler beistimmend hinüber und legte seinen Braten auf die andere Seite. „Aber wir hätten lange laufen können, wenn nicht vorn aus dem Bataillon ein Paar zugesprungen wären. Da macht der Hase einen Haken und kommt im Chausseegraben wieder auf uns zu, hastu nicht gesehn! Auf einmal ist er fort und unter den Weg in eine Wasserröhre. Wir gleich ’nauf auf die Straße; wer aber auf der anderen Seite nicht herauskam, war hier Lampe. – Wie wir ihn aus der Röhre herausgejagt haben? ‚Rother,‘ sage ich, ‚Du gehst auf die Seite und hältst den Brodbeutel vor’s Loch. Ich werde von der anderen Seite eine blinde Patrone hineinschießen. Das müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir den Burschen nicht herausbringen sollten.‘ – Gut – ich schieße. Der Brodbeutel macht einen fürchterlichen Satz auf den Acker und kollert wie besessen hin und her. Ein Glück, daß die Leinwand keine Augen hatte, sonst wären Brodsack und Lampe zum Geier. So aber hatte der Rothe Recht, er fing seinen Franzosen lebendig, denn er war richtig in den Sack hineingefahren. Und nun, Bruder, soll er uns gut schmecken.“

Damit stieß er dem Opfer sein Seitengewehr durch das Rückgrat, machte zwei christliche Hälften – mir eine – dir eine – und sah seinen Jagdgenossen, der einen gewaltigen Biß in seinen Antheil that, triumphirend und fragweise an.

„Zu wenig Zwiefeln dran,“ das war das erste Wort, was der zu der ganzen Affaire sagte – es war auch das letzte, was ich von ihm hörte; indessen vermuthe ich, daß er Recht gehabt hat.

Die Anderen aber welche die Geschichte höchlich amüsirte, waren weniger schweigsam, und als wir nach Aufhebung unserer Tafel ein paar Feldkessel mit Wasser gefüllt nochmals an’s Feuer gestellt, und den gesammten Rum- und Cognacvorrath, über den wir verfügen konnten, zusammengelegt hatten, war die Aussicht auf einen steifen Grog in der kühlen Nacht höchst behaglich. Es handelte sich nur noch um den Zucker, der vom Marketender geholt werden sollte.

„Der Marketender! Ach du lieber Gott!“ hieß es, denn da der Marketender in solchen Fällen das einzige Auskunftsmittel ist, so steht man der Zukunft mit einer gewissen Bangigkeit entgegen. Denn obwohl der Marketender im Bivouac die Höhe seiner Werthschätzung erklimmen kann, wenn er nur einigermaßen im Stande ist, den mäßigen Ansprüchen seiner Truppe zu genügen, so ist dies in der Regel nur sehr beschränkt der Fall. Einmal verstehen die Leute von ihrem Geschäft selten mehr, als das Geldnehmen; dann aber ist es in einem Landstriche, der schon ausgesogen und von seinen Bewohnern zum größten Theile verlassen ist, auch für denjenigen schwierig, das Erforderliche und Gewünschte zu beschaffen, der sonst die Bezugsquellen kennt und sich mit der Bevölkerung verständigen kann; um wie viel mehr für Menschen, die von der fremden Sprache nicht einmal so viel Begriffe haben, um die Ortsnamen verständlich aussprechen zu können.

Ich hatte auf meinem Wege wenige Tage vorher selbst einen solchen Cumpan getroffen, der – es dämmerte bereits – den ganzen Nachmittag in der Irre umhergefahren, und anstatt Pont à Mousson zuzufahren, wo er Lebensmittel kaufen wollte, direct wieder auf seine Compagnie zusegelte. In seinen Augen war ich ein Engel, als ich ihn deutsch anredete.

„Thun Sie mir den einzigen Gefallen und fahren Sie mit mir,“ sagte er. „Sie wissen gar nicht, wie die Menschen hier sind; es ist immer besser, man ist da zu Zweien,“ und das sprach er so weichmüthig aus, daß ich – zwar mich nicht in den mit Gerümpel aller Art angefüllten und nicht sehr appetitlichen Karren setzte, aber doch die Gesellschaft duldete. Er hatte ein ganz gutes Pferd vor dem Wagen, das er gewiß nicht von Hause aus mitgebracht hatte, und manche Aeußerungen, die er über seine Collegen machte, bestätigten mir die längst gehegte Vermuthung, daß der alte Steinmetz, wenn er, wie erzählt wurde, alle Marketender aus seinem Corps verbannt hat, sich mit dieser Maßregel nicht sehr an der wahren Tugend versündigt haben wird.

„Man darf übrigens nicht glauben,“ sagte der, der das Feuer unterhielt, als gelegentlich der Zuckerfrage die Mängel und Vorzüge der Marketender zur Sprache kamen, „daß unter den Marketendern keine wissenschaftliche Bildung steckt. Die fünfte Compagnie hat einen ausgezeichneten Chemiker zum Marketender, der seinen Rothwein nur aus Essig und Heidelbeeren macht, und Mathematik haben sie Alle studirt.“

„Wenn sie nur Cigarren hätten,“ klagte ein Anderer, und Butter und Brod.“

Das sind allerdings die begehrtesten, weil fast nicht aufzutreibenden Artikel.

Als ich mit dem vorhin schon erwähnten Marketender nach Pont à Mousson kam, beschwor er mich, ihm bei seinen Einkäufen behülflich zu sein. Er wußte sich auf der Gotteserde durchaus keinen Rath. Da es schließlich doch den Soldaten zu Gute kam, ließ ich mich bewegen, mit ihm die Gewölbe der Epiciers, Bäcker- und Fleischerläden, die Brauereien und Weinhandlungen abzusuchen und den Dolmetscher zu machen. Kaum daß wir immer am zehnten Orte etwas zu kaufen bekamen. Cigarren gab es gar keine, Butter, Käse, Wurst und dergleichen ebensowenig, Zucker und Schnaps fanden wir ganz zufällig.

In einem Bäckerladen bestellte uns die sehr hübsche Frau für eine Stunde später wieder, es werde eben gebacken. Als wir wieder kamen, standen vor dem Hause eine Menge Wagen, deren Besitzer, fast lauter Marketender, auf die arme Frau einstürmten. Jeder wollte seine Ladung so groß wie möglich, und doch war nicht genug da. „Für die Privatperson ein Brod, für die Marketender je drei, weiter langt es nicht.“ Das wiederholte die übrigens sehr resolute Dame immer und immer wieder, aber Niemand verstand sie. Alle hielten ihr Geld entgegen, – so viel sie wollte, hätte die Frau nehmen können, – man drängte, schrie, ereiferte sich; erst als ich den Leuten auseinandersetzte, daß für heute der ganze Vorrath eben zur Vertheilung käme, besänftigten sich die Gemüther und ergaben sich in das Unvermeidliche. Für meine Intervention erhielt ich acht große Brode, ein Erfolg, der meinen Begleiter fast zur Kniebeugung veranlaßt hätte.

„Daran hat er netto zwanzig Thaler verdient,“ rechnete die Gesellschaft nach, der ich die Geschichte erzählte. „Wir werden für unsern Zucker auch wieder ein Heidengeld geben müssen.“

„Schadet nichts, wenn er nur überhaupt welchen bringt.“

Das geschah denn, und als das duftende heiße Getränk Jedem zurecht gemacht war, hatte man sich bereits mit allen Marketendern der Welt wieder versöhnt.

Die allgemeinste Unterhaltung war bald in Fluß. Jeder erzählte, dazwischen sang man einmal wieder mit in die Musik hinein, die noch eine Zeitlang in edler Selbstverleugnung spielte. Geschichten aus der Schulzeit, aus dem Garnisonsleben, aus der Heimath, – heitere Erinnerungen, die nur vorübergehend durch Rückblicke auf die letztvergangenen Tage wehmüthig angehaucht wurden, wenn der Name eines abwesenden Cameraden, der sich hineinverflocht, Fragen nach seinem Schicksal oder Worte trauernden Nachrufes hervorrief. Es war so viel von Schlacht und Tod erlebt worden, daß Jeder mit Lust nach den friedlichen Bildern griff, die das Gedächtniß früherer Zeiten gab. Ewigkeiten schienen zwischen damals und heute zu liegen.

„In Chemnitz hatte ich einmal, als ich einberufen war, den Zug verpaßt –“ fing Einer seine Geschichte an.

[647] „Das war vor drei Wochen, und da spricht der von ‚hatte ich einmal‘“ – unterbrach ihn der Feldwebel.

Vor drei Wochen noch mitten in Deutschland, hundert Meilen von hier – heute im Herzen Frankreichs, seine Armee, die sich rühmte, die erste der Welt zu sein, unaufhörlich zurückgedrängt und geschlagen in Zeiträumen, die für das bloße Marschiren zu kurz erschienen! Ein stolzes Gefühl, das Alle durchzog! „Deutschland soll leben!“ Darauf wurde mit französischen Gläsern angestoßen, die sich zufällig irgendwo gefunden hatten.

Das Feuer wurde frisch angeschürt, ein paar alte Radspeichen, die letzten von dem Karren, den wir mit unseren Nachbarn getheilt, darauf geworfen und mitgesungen in den vollen Chorus.

Nach und nach aber wurde es stiller. Einer nach dem Andern machte sich sein Lager. Wir hüllten uns in unsere Decken und Mäntel und streckten uns lang aus. Die Gespräche zwischen Zweien wurden leiser geführt. Von fernher konnte man noch den Gesang einzelner Gruppen unterscheiden, die länger munter blieben. Das Feuer brannte langsam in sich zusammen, und Ruhe und Schweigen senkten sich herab vom Himmel, an dem einzelne Wolken nach der Heimath zogen.




Blätter und Blüthen.

Aus den Tagen von Speicheren und Saarbrücken. (Mit zwei Abbildungen.) Es war schon tief in der Nacht, als ich durch das Dorf Speicheren wanderte, todtmüde und bis in’s Innerste erschüttert durch alle die gräßlichen Eindrücke, die ich im Anblick des Kampfes um die Speicherer Höhen, im Anblick all’ der blutigen Todesgräuel empfangen hatte. Trotzdem schien mir das Schlimmste noch vorbehalten. Ich näherte mich durch die nachterfüllten Straßen des Dorfes der Kirche; kein Choral tönte aus der offenen Pforte, kein Orgelklang durchzitterte das Schweigen der Nacht, und doch waren die hohen Bogenfenster hell erleuchtet und warfen ihren schmalen Widerschein heraus in das Dunkel; wenn auch kein Geistlicher am Altare zu so ungewohnter Stunde seine priesterlichen Functionen verrichtete, so war doch Leben in der Kirche oder – eben trug man drei Leichen an mir vorbei die paar Steinstufen herunter – der Tod!

Ich überschritt die Steinstufen; sie waren rot gefärbt; sie waren mit einem Purpurteppich bedeckt, kostbarer als der ist, über welchen der Geistliche am Fronleichnamstage zur Procession hinwegschreitet; es war das Blut von Tapferen, von Helden, von Unglücklichen; ich beachtete es dennoch nicht weiter; ich hatte so viel Blut heute schon gesehen, man gewöhnt sich auch an diesen Anblick.

Ich trat ein; die großen eisenbeschlagenen Thore waren geöffnet, ich übersah den ganzen Raum, dessen Luft mich kalt und frostig anwehte. Die Kirche war in eine Stätte des Jammers und der Schmerzen umgewandelt, in ein Lazareth, und zwar in ein solches für Schwerverwundete. Da lagen sie in den schwach erleuchteten Gängen und in den Kirchenstühlen umher, die Tapferen mit ihren Todeswunden, Einer neben dem Anderen, auf dem blutbedeckten Stroh, sich krümmend in ihren unendlichen Schmerzen mit ihren zerschossenen und zerfetzten Leibern, im letzten Kampfe, der ihnen für dieses Leben noch übrig blieb, nickend, stöhnend, schweigend, verendend. Wer hierher gebracht worden war, dessen Haupt umschwebten die Boten des Todes und der Vernichtung. Aerzte waren ringsum bemüht, diese Würgengel zu vertreiben; ihre Kräfte waren bei der Menge der Verwundeten nicht ausreichend. Verbindend, helfend, tröstend eilten sie von Einem zum Andern, von jedem ersehnt, von jedem gerufen, mit still stehendem Auge oder mit Flüchen und Verwünschungen. Sanitätssoldaten beleuchteten mit ärmlichen Talgkerzen die unheimliche Scene; bald da, bald dort mit ihren düster brennenden Lichtern erhellten sie bald den, bald jenen Raum der Unglücksstätte, und in stetem Wechsel stiegen schwarze, immer bewegliche Schatten an den weiß getünchten Wänden der Kirche empor bis hinauf zur gewölbten Kuppel, die trotz der Lichter unten in undurchdringlicher Nacht lag.

Auf dem Altar fehlte die Monstranz; der Geistliche des Ortes mochte sie hinweg gerettet haben. An ihrer Stelle brannte eine Kerze und warf ihr Licht auf die Stöhnenden und Aechzenden, welche hier rings an den Simsen des Altars niedergelegt worden waren. Das Licht dieser Kerze reichte kaum bis hinüber zu den Bildsäulen der Heiligen, die, von langen, weißen Laken verhüllt, gleich drohenden, dem Grabe entstiegenen Gespenstern in den finsteren Nischen standen. Auch hier war die besorgte Hand des Ortspfarrers zu erkennen; er war es gewesen, der beim Herannahen der preußischen Colonnen in kluger Voraussicht dessen, was kommen konnte, die Statuen der Heiligen mit dem bergenden Linnen umhüllt und so verhütet hatte, daß ein ketzerisches Auge mit neugierigem oder spottendem Blick den Gegenstand frommer Anbetung entweihe.

Und überall, bis aus den entferntesten Ecken, vernahm man nur Winseln und Jammern, in den Räumen, die bis jetzt nur von Weihrauch erfüllt gewesen waren und wohl seit ihrem Aufbau Jahr um Jahr nur Lob und Danklieder vernommen hatten, wurden heute nur Klagen laut, die bis in’s Herz schnitten, Seufzer, die ein ganzes Menschenleben von Elend in einen einzigen Augenblick zusammenzufassen schienen.

Es waren lauter Franzosen, die hier lagen, Gefangene, am Eingange der Kirche standen, das Bajonnet aufgepflanzt, preußische Posten. Verwundet und gefangen! Wohl Manchem mochte zu jener Stunde der Tod doppelt als der Erlöser erscheinen, welcher zur ewigen Freiheit führt.

Wenige Tage nachher kam ich zurück nach dem Bahnhofe von St. Johann-Saarbrücken. Auch hier Verwundete, auch hier Gefangene. Aber doch schon mitten in Licht, Luft und Bewegung! Schon wieder ein dämmernder Schein der Hoffnung, der auf Gefangenschaft und Krankheit fällt, der auf ein Ende hoffen läßt und das Schlimmste schon als vollendet und überstanden gern hinter sich sieht!

Das Gewühl, das auf dem Bahnhofe herrschte, war unbeschreiblich – Kommende, Gehende, Fragende, Auskunftgebende, Alles drängte sich durch einander. Daß Saarbrücken nicht von den abziehenden Franzosen zusammengeschossen worden ist, wissen Sie bereits; aber auch der Bahnhof, obwohl ziemlich stark mit Granaten beworfen, hat viel weniger gelitten, als die ersten Zeitungsberichte, die freilich heute noch immer verbreitet und geglaubt werden, meldeten. Am stärksten sind die beiden Thürme beschädigt worden, die zur Stunde noch die leicht erkenntlichen Spuren der Verwüstung tragen, und außerdem gerieth der Flügel in Brand, welcher die sogenannten Damensalons enthält und gegenwärtig mit einem Nothdach versehen ist.

Ich vermochte kaum mitten in dem Gewühl Richtung zu behalten; schon oben auf dem hoch ausgemauerten Perron, hinter dem sich der Bahnhof wie ein stolzes Schloß, mit der norddeutschen und preußischen Flagge geschmückt, erhebt, war nicht durchzukommen: noch schlimmer fand ich es aber auf der Straße unten, auf welcher der eben angekommene Transport von Verwundeten und Gefangenen den Lazarethen und provisorischen Gefängnißräumen zugebracht wurde auf Wagen mit dem rothen Kreuz, auf breiten Tragbahren, gefolgt von den schon zur Hülfe bereiten „soldats du bon dieu“, den barmherzigen Schwestern, deren frommes, stilles, anspruchsloses und aufopferndes Wirken gar nicht genug erkannt werden kann. Zur Seite der Straße lagerten Proviantcolonnen, gegenüber Abtheilungen Dragoner, die im Abmarsch nach dem Kriegsschauplatz begriffen waren. Kräftige, handfeste Gestalten, kriegslustig und voll guten Willens, ebenso brav ihre Schuldigkeit zu thun, als diejenigen sie gethan haben, die mit Wunden bedeckt eben von treuen Cameraden an ihren Augen vorübergetragen wurden.




Die ersten Mitrailleusen in Berlin. Der Tag, an welchem die ersten „Demoiselles“ der französischen Armee ihren Einzug in Berlin hielten, fiel für einen großen Theil des Residenzpublicums gerade so schwer in’s Gewicht, als gar mancher jener anderen Jubeltage, die uns der Krieg schon so zahlreiche gebracht hat. Und begreiflich. Nicht allein der richtige „Berliner Junge“, auch sonst interessirte sich wohl jedermann dafür, ein Geschütz zu Gesicht zu bekommen, das so lange vom Schleier des Geheimnisses umgeben war und nun – Dank der Tapferkeit unserer Truppen – auch deutschen Augen fortan schonungslos preisgegeben werden sollte. Ueberdies verdiente es die Mitrailleuse, mit allem Respect betrachtet zu werden; denn sie war, das können wir uns heute gestehen, vor dem Kriege offenbar unterschätzt worden.

Zugleich mit den vier Mitrailleusen waren dreiundzwanzig andere erbeutete französische Geschütze auf dem Anhalter Bahnhof in Berlin angekommen. Zu ihrer feierlichen Einholung – es war Mittags um zwölf Uhr – haben die Ersatzbataillone von drei Regimentern die erforderlichen Begleitcommandos gestellt, die zu einer Compagnie formirt und mit der Musik des Cadettencorps nach dem Anhalter Bahnhofe marschirt waren. Das Garde-Feldartillerieregiment hatte die erforderlichen Artilleriemannschaften bei jedem Geschütz, sowie die Bespannung, und zwar für jedes Geschütz vier Pferde, gestellt. Früher noch war der einige Tage vorher in Berlin eingebrachte eroberte französische Adler des sechsunddreißigsten französischen Infanterieregiments auf dem Zeughause durch eine Fahnensection abgeholt und nach dem Anhalter Bahnhof überbracht worden. Dieser Adler war noch überdies darum bemerkenswert, weil er das Kreuz der Ehrenlegion trug. Diese Decoration aber erhalten bekanntlich nur die Adler und Standarten solcher Truppentheile der französischen Armee, welche durch hervorragende Auszeichnung vor dem Feinde, durch Eroberung von Fahnen etc. sich besonders ausgezeichnet haben. In der ganzen feindlichen Armee sind sieben Adler bei der Infanterie und nur eine Standarte bei der Cavallerie derartig decorirt.

Die Geschütze wurden unter dem Commando des Major von Notz, Vorstands des Artilleriedepots, und umjauchzt von einer zahlreichen begeisterten Menge zur Schloßbrücke gebracht, von welcher links auf dem am Wasser gelegenen Theil des Lustgartens zwischen den dort befindlichen Bäumen sie ausgestellt wurden.

Der Zug wurde überall mit enthusiastischen Hurrahs begrüßt. Als er sich dem königlichen Palais näherte, stimmte die Musik „die Wacht am Rhein“ an. Die Königin erschien auf dem Balcon des königlichen Palais, von dem Publicum mit jubelndem Zuruf empfangen, und verweilte daselbst so lange, bis der Zug vorüber war.




„Unser Fritz“, der Führer der dritten Armee. In dieser Zeit eines so furchtbar waltenden Schicksals, daß im kämpfenden Deutschland kein Rang und kein Stand, nicht Reichthum und nicht Armuth, nicht Glanz und nicht Elend vor dem herzbrechendsten Jammer schützt, den die „Verlustlisten“ so einfach mit „T.“ verkünden, in einer solchen Zeit betrachtet man mit doppelter Theilnahme ein Menschenbild, dessen Bedeutung Millionen vor Augen steht und dessen Wohl und Wehe auf das einer ganzen Generation des Vaterlandes bestimmend einwirken kann.

Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen ist ein solches Menschenbild, und seine Bedeutung gewinnt noch in ungewöhnlichem Maße dadurch, daß sein persönlicher Werth, sowie sein schönes häusliches und sein glänzendes äußeres Glück die allgemeine Theilnahme an ihm fesseln.

Es ist keine Frage, daß König Wilhelm einen der glücklichsten Griffe [648] that, als er seinen Sohn mit der Ehre betraute, die Schwaben und Baiern, Franken und Pfälzer gegen des Reiches Erbfeind in das Feld zu führen. Nichts konnte dem häßlichen Striche der Mainlinie so zum gründlichen Verwischtwerden verhelfen, als dieser Sieg über die uralten Eifersüchteleien der deutschen Stämme: der Schirmherr des norddeutschen Bundes sendet seinen eigenen einzigen Sohn, damit er die zersplitterten Süddeutschen unter einen Schirm vereinige, und ihm fügen sich Alle ohne Neid und Eifersucht, weil sie in dem Hohen zugleich den mit dem Schwert Erprobten anerkennen müssen.

Und das Glück war mit ihm und seinen süddeutschen Schaaren, welche den bedeutendsten Theil der dritten deutschen Armee dieses Krieges ausmachen. Nicht die Siege von Weißenburg und Wörth allein, sondern gerade daß diese Siege von den süddeutschen Waffenbrüdern und solcher norddeutscher Führung errungen worden sind, das war der Jubel im ganzen deutschen Vaterland und der Kitt, der Nord und Süd wie nie vorher in der ganzen deutschen Geschichte zusammenschweißte. Diese Siege waren das Beispiel, das Muster für alle übrigen Kämpfe, und die norddeutschen Waffenbrüder folgten ihm würdig nach. Die letzte große Waffenthat der dritten Armee war ihr Antheil am Entscheidungstage von Sedan. Seitdem haben sie wieder ihre ursprüngliche Richtung nach Paris eingeschlagen, wo sie jetzt stehen.

Möge Kronprinz „Fritz“ den Kampf beenden, wie er ihn begonnen hat, und möge ihm einst dasselbe Glück treu bleiben, wenn er das Schwert bei Seite legt, um sich auch den Segnungen des Friedens zu widmen.

Unsere Abbildung, von Camphausen’s Meisterhand, giebt uns eine der gelungensten Portraits des gefeierten Helden; leider hat die Aehnlichkeit seines Begleiters, des Generalstabschefs Blumenthal, unter der Hand des Holzschneiders gelitten.



Für die Verwundeten und die Frauen und Kinder unserer unbemittelten Wehrleute

gingen wieder ein: E. und J. Sp. 5 Thlr.; ein Helgoländer in der Moldau 5 Thlr.; Emilie, Adele und Joseph D. in Germersheim 6 Thlr.; eine junge Patriotin in Erfurt 1 Thlr. und ein goldenes Herzchen; aus Cluize 1 Thlr.; J. C. Lbe. 3 Thlr.; A. S. in Meerane 5 Thlr.; von 8 Damen eines Theekränzchens in Leipzig durch eine 2½-Ngr.-Lotterie 40 Thlr.; einige Deutsche in Gothenburg (Schweden) 11 Thlr.; Alexander Wiede, erster Monatsbeitrag, 20 Thlr.; A. Wiede’s Geschäftspersonal 11 Thlr.; siebenter Wochenbeitrag des Geschäftspersonals von Schelter u. Giesecke 27 Thlr. 10 Ngr.; gesammelt beim Singen der „Wacht am Rhein“ durch Kahle, Mitglied des Leipziger Stadttheaters, 10 Thlr.; mehrere Gymnasiasten in Marienberg, Betrag ihrer Strafcasse 1 Thlr. 15 Ngr.; ein Freund der Gartenlaube in Chemnitz 5 Thlr.; gesammelt in einer fröhlichen Gesellschaft von Francusca und Albertine auf W. 3 Thlr. 2½ Ngr.; sechste Sammlung der Drugulin’schen Buchdruckerei 2 Thlr. 10 Ngr.; Betrag der Lotterie der Lehranstalt für erwachsene Töchter in Leipzig 30 Thlr.; Professor von Gohren in Liebword durch K. in Möckern 2 Thlr.; das Singkränzchen der herz. Realschule in Meiningen 25 fl. rh.; fünfte Sammlung der Klinkhardt’schen Buchdruckerei 5 Thlr. 16 Ngr.; gesammelt im Gambrinus zu Morgenröthe (Voigtland) durch Grützmann 20 Thlr.; Kegelclub „Hau ihn Lucas“ in Meiningen 10 fl.; L. W. in Leipzig 25 Thlr.; E. W. H. in Leipzig „an meinem 71. Tauftage“ 2 Thlr.; aus Ried 5 Ngr.; L. Riepel in Carlsruhe 1 Thlr.; die Schützengilde in Zwönitz 3 Thlr.; Cäcilie in Bbr. 5 Thlr.; der Männergesangverein in Borna am Tage des Sieges vom 1. September 12 Thlr.; 5 Ngr. mit den Worten: „Bitte, verachten Sie nicht die geringe Gabe eines armen Mädchens, das mit Ihnen ruft: ‚Deutschland über Alles!‘“ Nein, wir verachten das Scherflein des Schlesisch-Reichenbacher armen Mädchens nicht und bitten Sie nur um die Erlaubniß, 1 Thlr. aus unseren Mitteln beizufügen; gesammelt in der deutschen Gemeinde in Archangel (Rußland) durch den Consul des Norddeutschen Bundes 45 Silberrubel; eine Baierin in Woronesch gesammelt unter Freunden 30 Silberrubel; von einigen deutschen Musikern und Handwerkern in Helsingfors 100 Thlr.; Sammlung in Fokschan (Moldau) durch Apotheker Fr. Römer und zwar: Friedrich Römer 2 Napoleonsd’or, Dr. Weiner 1 Napoleonsd’or, Louise Milbacher 1 Napoleonsd’or, D. F. Almada 1 türkische Lira, Georges Crestici 2 Ducaten, Henriette Stenner 2 Ducaten, Gedeon Sigmund 1 Ducaten, Joseph Leitinger 1 Ducaten, Friedrich Paul 1 Ducaten, J. K. 1 Ducaten, P. Stoianovitsch 1 Ducaten, G. Nicolitsch 1 Ducaten, Alex. Hamel 1 Ducaten, Spiro Ath. Kalloy 1 Ducaten, Traugott Honigberger 1 Ducaten; Thekla T., eine Deutsche in Schweden, 10 Riksdaler; L. A., eine Deutsche in Christiania, 5 Thlr.; Ertrag eines vom Sängerkränzchen in Sebnitz abgehaltenen patriotischen Liederabends 22 Thlr. 5 Ngr.; Robert und Oskar Levin in Berlin 1 Thlr.; O. u. A. in Bautzen 5 Thlr.; G. Hl. in L. 20 Thlr.; Honorar für einen in der Gartenlaube abgedruckten Brief 9 Thlr.; erster Beitrag der Deutschen in Venedig, durch Fischer u. Rechsteiner 110 Thlr.


Aus Oesterreich liefen in erfreulichster Weise abermals an reichen Gaben ein von: Gesellschaft Germania in Asch „für deutsche Ehr’ und deutsches Recht“ 52 fl. und 1 Thlr.; Männergesangverein in Roßbach 55 fl. und Frau M. daselbst 20 fl.; eine deutsche Frau aus Hermannstadt 10 fl.; gesammelt beim Hochzeitsfeste des Fräulein Bertha Ruß in Prag 106 fl.; Sammlung durch Rudolph Gürtler in Wien 70 fl.; Ertrag eines für die Verwundeten gegebenen Concerts des Schützencorps in Asch 105 fl.; fünf Deutsch-Oesterreicher durch Joseph Posselt in Reichenberg 18 fl.; von fünf Mitgliedern der Menagerie in Prag 2 Thlr. und 5 fl.; Ergebniß eines zu Gunsten der Verwundeten veranstalteten Glückshafens in Mürzzuschlag (Steiermark) durch J. M. Engel 100 fl.; erste Sammlung einer kleinen Abendgesellschaft in Pilsen 5 fl.; zweite Sendung der Stadt Mediasch (Siebenbürgen) 100 fl. durch Gymnasiallehrer Theil „mit der Bitte, unserm Mutterlande sagen zu wollen, daß der siebenbürgische deutsche Ast, so fern er auch von der ernährenden Wurzel ist, trotz der großen Entfernung und der schon vor mehr als siebenhundert Jahren erfolgten Trennung, doch noch immer kräftig genug ist, echt deutsch zu leben und zu streben. Möchten diese wenigen Kreuzer, die wir gern schicken, wenigstens etwas den Schmerz in irgend einer stillen Hütte lindern: wir werden reichlich belohnt sein!“ Von einigen deutschen Frauen Groß- und Kleinschenks (Siebenbürgen) mit dem Motto: „Es giebt das deutsche Herz und Blut sich zu erkennen“ 22 fl.; Andreas Gottschling in Großschenk 10 fl.; einige Siebenbürger Sachsen in Klausenburg 30 fl.; einige Turner in Carlsbad 7 fl.; Fischer 2, Hassenbauer 5 und Bechert in Michelup und Saaz 2, zusammen 9 fl.; Liedertafel in Ried (Oberösterreich) 75 fl.; ein aus Sachsen und Deutschösterreichern bestehender Freundeskreis in Wien 65 fl.; Dr. A. Kölbl in Preßburg 5 fl.; Turnverein in Böhmisch-Leipa 51 fl.; Turnverein in Schönlinde 25 fl.; Th. Dobler in Waidhofen 3 fl.; von einigen Freunden Deutschlands in Alpen und Loschkirch (Siebenbürgen) 15 fl.; von einem Theile der Malergehülfen Wiens durch Schaber, Klose und Hintze 100 fl.; eine Gesellschaft im „Hopfenstock“ in Carlsbad durch E. Pohlenz 41 fl.; Männergesangverein in Roßbach, nachträgliche Sammlung, 38 fl. 40 kr. und Frau M. daselbst 25 fl., ein sächsischer Student in Hermannstadt 5 fl. mit den Worten:

„Zu Metz des Grafen von Lothringen Burg
Hält offen Thor und Brück’,
Sonst ritten die Geister der Mitternacht durch,
Heut kehret der Herr zurück.“

Von zwei sächsischen Vätern in Hermannstadt 1 Ducaten; S. Schwinger und A. Künzel in Schönlinde 10 fl.; aus Emiliens und Toldi’s Sparbüchse

(Znaim) 2 fl.; Math. Pfaffen in Temesvar 5 fl.; E. J. Fournier in Znaim 30 fl.; gesammelt von Karl Koratscheck in Warnsdorf 62 fl. u. 1 Ducaten (Antwort in den „Deutschen Blättern“); A. W. in Wien 10 Thlr.; Student W. in Eger 3 Thlr.; die deutschen Eisenbahn-Ingenieure in Kremnitz (Ungarn) 220 fl. (Bravo!)
Die Redaction.

Nicht zu übersehen!
Mit dieser Nummer schließt das dritte Quartal unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.
Die Verlagshandlung.

Wir eröffnen das nächste Quartal mit einer ebenso spannenden wie interessanten Novelle:

„Ein Damen-Duell“.
Von Sacher-Masoch.

während gleichzeitig die zweite Erzählung: „Aus eigener Kraft“ von Frau v. Hillern zu Ende geführt wird. Die nächste Nummer schon soll unseren Lesern beweisen, daß wir die friedliche Aufgabe der Gartenlaube nicht vernachlässigen, wenn auch den Anforderungen, die eine so große und kriegerische Zeit an ein Journal stellt, Rechnung getragen werden muß. Wie aber nach dieser Seite hin die Gartenlaube durch sachlichen Inhalt, Illustrationen und wöchentliche Extrabeilagen die berechtigten Erwartungen der Leser erfüllt hat, beweist die überraschend schnelle Erweiterung des Abonnentenkreises, die in der Geschichte unserer Zeitschrift nur noch einmal in dieser Weise vorgekommen ist: im Jahrc 1866 nach der Wiederzulassung der Gartenlaube in Preußen. Das Publicum hat es herausgefühlt und dankend anerkannt, daß unsere Berichterstatter und Zeichner wirklich im Heerlager und nicht im Redactionsbureau oder im heimischen Atelier saßen, und daß die Redaction keine Opfer gescheut hat, um den Lesern ein möglichst anschauliches Bild des Krieges zu liefern.

Für das neue Quartal liegen außer guten Friedensartikeln die interessantesten Beiträge unserer Berichterstatter auf dem Kriegsschauplatz vor, darunter Schilderungen von O. v. Corvin, Dr. G. Horn, im Hauptquartier des Prinzen Friedrich Karl, L. Pietsch, in Begleitung des Kronprinzen, u. A. m.

Artistische Beiträge, der Wirklichkeit entnommen, liefern: Chr. Sell aus Düsseldorf, R. Heck aus Stuttgart, Prof. Thumann, F. W. Heine aus Weimar und Fr. Schulz, welche sich sämmtlich auf dem Kriegsschauplatze befinden. Prof. Camphausen und Prof. Döpler erfreuen uns auch fernerhin mit ihren werthvollen Beiträgen.
Die Redaction.

Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wir erhalten zugleich mit dem obenstehenden, in seiner Einfachheit und Empfindung rührend schönen und tief ergreifenden Gedicht folgende Zeilen: „Unweit des Dorfes Vionville fand ich diesen Füsilier vom achten brandenburgischen Infanterieregiment Nr. 64 (Prinz Friedrich Karl von Preußen); an dem Baume, an welchem er Deckung gesucht, hatte ihn die Kugel getroffen, er lag noch in derselben Stellung, wie er gefallen. Seine Hand hielt ein kleines Notizbuch umfaßt, und darin stand von Mädchenhand mit Blei das Gedicht geschrieben, das ich Ihnen in der Beilage schicke und dessen schönster Theil mit vielem Geschick als vierte Strophe in das obige Gedicht aufgenommen worden ist. Dieses letztere allein ist es eigentlich auch, das mich veranlaßt, Ihnen die sonst unbedeutende Skizze zu schicken. Es rührt von meinem Freund, dem Lehrer und Unterofficier des zwanzigstem Landwehrregiments, Wilhelm Petsch, her, zur Zeit im Hauptquartier des Prinzen Friedrich Karl, und läßt Ihre Leser einen Blick thun auf die rührenden Scenen, die auf dem Schlachtfelde mit jedem Schritte sich immer herzbewegend darbieten. Wie heftig übrigens an jener Stelle, auf der wir den gefallenen Füsilier fanden, das Gefecht gewüthet hatte, können Sie aus meiner sehr treu gehaltenen Skizze erkennen. Der Boden war durchwühlt von feindlichen Granaten, auch von mehreren Geschossen aus Mitrailleusen. Auf der Chaussee brannte ein französischer Regimentskarren, nach dem Helm zu urtheilen, der eines französischen Kürassierregiments.
    Fritz Schulz, 
    Maler im Hauptquartier der zweiten Armee (Prinz Friedrich Karl.)“
  2. Die nachstehende Erzählung der Erlebnisse eines Mitkämpfers erregt unsere Theilnahme durch die Unmittelbarkeit ihrer Mittheilung. Wie Jeder gern aus dem Munde des Einzelnen erfährt, in welcher Art sich ihm das Bild einer Schlacht gezeigt, so hören wir auch unserem Erzähler zu und um so aufmerksamer, als wir einen Artilleristen vor uns haben, dessen Waffe in diesem Kriege von so großer Bedeutung ist, und der selbst so Tüchtiges geleistet hat, daß ihm, der noch an seinen Wunden darniederliegt, die herrlichste Auszeichnung dieses Kriegs, das eiserne Kreuz, verliehen worden ist.
    Die Redaction.
  3. Unsere Granaten haben Percussions-, die französischen Zeit-Zünder. Eine preußische Granate crepirt, sobald ihre Geschoßgeschwindigkeit eine plötzliche Verringerung oder gar Hemmung erleidet. Die lose Nadel behält die Geschwindigkeit, welche das Geschoß hatte, bei und sticht in die Zündpille, welche sich dann entzündet und einen Feuerstrahl zu der Sprengladung des Geschosses sendet. Die entzündete Sprengladung zerreißt das Geschoß, und die Granate zerplatzt in Sprengstücke.
    Der französische Zeitzünder ist folgendermaßen eingerichtet: An der Spitze des Geschosses befindet sich ein Sechskant, welches äußerlich sechs Brandlöcher zeigt und inwendig einen kreisrunden, langsam brennenden Satz hat. Außerdem führt eine Oeffnung inwendig zur Sprengladung der Granate. Fängt der Satz durch das letzterer Oeffnung zunächst liegende Loch an zu brennen, so hat das Feuer bald die nach der Sprengladung führende Oeffnung erreicht, und die Granate crepirt. Fängt der Satz durch das am weitesten entfernte Brandloch an zu brennen, so hat das Feuer erst den ganzen Satz zu verzehren, ehe es an die Sprengladung kommen kann. Nun zeigen die Platten, mit denen die Brandlöcher verklebt sind, Zahlen, welche der Entfernung entsprechen, auf welche geschossen werden soll, und die Schnelligkeit des Zusammenbrennens des Satzes ist so gut regulirt, daß sie so viel Secunden beträgt, als das Geschoß bis zum Ziele fliegt. Die entsprechende Platte wird abgerissen, und die Granate wird in das Rohr gebracht. Bei den französischen Vorderladern schlägt nun das Feuer der Geschützladung um die Granate herum und entzündet durch das geöffnete Brandloch den freigelegten Satz.
    Da Alles auf die richtige Brennzeit des Satzes ankommt; muß der Satz sehr sorgfältig gearbeitet sein; er soll das eine Mal so brennen wie das andere Mal. In dieser Schwierigkeit und in den Einflüssen der Temperatur, denen solche Zeitzünder trotz aller Vorsichtsmaßregeln unterworfen sind, liegt der Grund, daß so viele französische Granaten entweder zu früh oder zu spät crepirten, die Zünder brannten also entweder zu schnell oder zu langsam.
  4. Die „Kölnische Zeitung“ enthält folgende Notiz: „Alzei, 6. September. Seit etwa drei Wochen wird der bekannte Schriftsteller und Berichterstatter Herr von Corvin vermißt. Man vermuthet, daß derselbe in der Gegend von Hagenau entweder feindlichen Marodeurs oder, was noch schlimmer wäre, fanatisirten Bauern in die Hände gefallen sei und in letzterem Falle wohl kaum mehr unter die Lebenden gezählt werden dürfte. Etwaige Nachrichten über das Verbleiben des Vermißten wolle man doch schleunigst der Oeffentlichkeit übergeben.“ Obiger Brief des Herrn von Corvin ist wohl die beste Antwort auf vorstehende Anfrage.