Die Gartenlaube (1871)/Heft 16
[261]
No. 16. | 1871. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Mehr als sechs Wochen waren bereits seit der Ankunft der jungen Amerikanerin verstrichen, und noch immer war und blieb sie fremd im Hause ihrer Verwandten. An diesen lag die Schuld nicht, sie kamen ihr vom ersten Augenblick an mit warmer Herzlichkeit entgegen. Doctor Stephan und seine Frau gehörten zu jenen guten, harmlosen Leuten, deren einziges Bestreben darauf gerichtet ist, mit aller Welt in Frieden zu leben, und sich durch nichts in dem gewohnten behaglichen Gleichgewicht stören zu lassen, und der verstorbene Forest beurtheilte seinen Schwager ganz richtig, wenn er behauptete, dieser habe ihm die für seine damaligen Verhältnisse bedeutende Summe zur Reise nach Amerika vorgestreckt, zum Theil aus gutem Herzen, größtentheils aber in dem Bestreben, den gefährlichem Demagogen, der die ganze, sonst so loyale Familie in Argwohn und Verdacht zu bringen drohte, endlich los zu werden. Der Doctor hatte in der That seine Schwester stets aufrichtig bedauert, daß sie ihr Schicksal an diesen unseligen Mann gekettet, der in seinem Hochmuth und Starrsinn die Seinigen lieber darben ließ, ehe er von ihren Verwandten die geringste Unterstützung annahm, und war fest überzeugt, der wilde, excentrische Kopf werde in dem praktisch nüchternen Amerika vollends zu Grunde gehen. Es kam anders, und der Erfolg that, wie überall, auch hier seine Schuldigkeit. Hatten Stephan und seine Frau es früher ängstlich vermieden, den Namen Förster, als in irgend einer Beziehung zu ihnen stehend, zu erwähnen, so sprachen sie jetzt gern und oft von ihrem Schwager, „dem Millionär“ jenseits des Oceans, und der angekündigte Besuch von dessen Tochter versetzte sie in nicht geringe Aufregung. Die verwaiste Nichte hätte, selbst wenn sie arm und hülflos zu ihnen gekommen wäre, offene Arme gefunden, die junge Erbin aber empfingen sie mit dem allertiefsten Respect, und das war es ja auch hauptsächlich, was Jane beanspruchte. Sie setzte gleich anfangs jedem etwaigen Versuche zur Autorität über sie eine so absolute Selbstständigkeit entgegen, daß ihre Verwandten bald genug zu der Ueberzeugung gelangten, es sei der jungen Dame weder damit, noch überhaupt in irgend einer Weise nahe zu kommen. Sie hatten ihr, mit Rücksicht auf ihr Vermögen, gern jede Laune und jeden Fehler verziehen, was sie ihr aber nicht verzeihen konnten, das war jene fortwährende Kälte und Abgeschlossenheit, durch die nie ein Strahl von Wärme drang, und die jede Vertraulichkeit, freilich auch jede Differenz unmöglich machte. Zwar verrieth Jane niemals mit einem Worte oder Blicke die leiseste Unzufriedenheit mit dem Hause, worin sie Gast war, aber die mitleidige Verachtung, mit der die im Schooße amerikanischen Reichthums und Luxus Erzogene sich in die einfach bürgerliche Lebensweise fügte, ward doch gefühlt und verletzte darum nicht weniger; kurz, es galt dem Ehepaar schon nach den ersten Tagen des Zusammenseins für ausgemacht, daß ihre Nichte das hochmüthigste und herzloseste Geschöpf auf der Welt sei.
In einer Hinsicht thaten sie Jane damit Unrecht, zum Mindesten wurzelte ihr Hochmuth nicht in dem Bewußtsein ihres Reichthums und ihrer persönlichen Vorzüge, sondern einzig in der geistigen Ueberlegenheit, mit der sie so ziemlich Alles beherrschte, was überhaupt in ihren Gesichtskreis kam, und die sich bald genug auch in weiteren Kreisen fühlbar zu machen begann. In der großartigen Freiheit des amerikanischen Lebens aufgewachsen und durch den Vater mehr als jede Andere darin eingeweiht, an den unbeschränkten Verkehr der Stände untereinander, an zwangslose Umgangsformen gewöhnt, fand sie die Rücksichten, welche man hier auf die leitenden Persönlichkeiten nahm, sclavisch, die Abgeschlossenheit der einzelnen Kreise lächerlich, und die im Gesellschaftsverkehr unvermeidlichen Titel und Ceremonien riefen nun vollends ihren herbsten Spott hervor. Ihre Verwandten schwebten oft genug in Todesangst, wenn sie mit diesen Anschauungen in Gegenwart Fremder hervortrat, indessen sie hätten sich beruhigen können. Miß Forest war Amerikanerin und, wie das Gerücht wenigstens behauptete, Millionärin, zwei Eigenschaften, die ihr einen Freibrief für Alles, gaben, was eine Andere sich nie hätte erlauben dürfen, und dies um so mehr, als ihre Verlobung Geheimniß geblieben war. Es gab kaum eine angesehene Familie in der Stadt, die nicht für irgend einen Anverwandten Hoffnungen auf diese „immense Partie“ hegte, und so sah sich Jane gleich bei ihrem Eintritt von allen Seiten umschwärmt und gefeiert, was ihr nun allerdings nicht besonders neu war. Man war entzückt von ihrer Schönheit, die doch im schroffsten Gegensatz zu der heiteren, blühenden Frische der jungen Rheinländerinnen stand, man schmeichelte ihrem Stolz, der so oft verletzte, bewunderte ihren Geist, den sie meistens gar nicht zu zeigen für gut fand, und vollends die studirende Jugend, die ohne Ausnahme diesem so plötzlich aufleuchenden fremden Meteor zu Füßen lag, ließ keine Möglichkeit unbenutzt, sich ihm in irgend einer Weise zu nähern und Huldigungen darzubringen. Aber keiner von all diesen Bestrebungen gelang es, auch nur für einen Augenblick die eisige Gleichgültigkeit und den kalten Ernst zu durchdringen, mit denen sich die junge Dame, getreu [262] den Traditionen ihres Vaters, wie mit einem Panzer umgab, seit sie sich in Deutschland befand.
Doctor Stephan besaß ein hübsches Haus im schönsten Theile von B., dessen unteren Stock er allein bewohnte, der obere war an den Professor Fernow vermiethet, der, vor ungefähr drei Jahren an die Universität berufen, seit dieser Zeit die Wohnung inne hatte. Ein in der ganzen Gelehrtenwelt Epoche machendes wissenschaftliches Werk hatte dem noch jungen Manne den für seine Jahre bedeutenden Erfolg, die Professur in B., verschafft; er war völlig fremd, ohne Empfehlungen und Bekanntschaften, nur in Begleitung seines Dieners hierhergekommen, und hatte bereits mit seinen ersten Vorlesungen die vollste Aufmerksamkeit der Collegen und das vollste Interesse der Studirenden erregt. Bei diesem Erfolge blieb es aber auch; der Professor war nicht der Mann, der es verstand, ihn auszunützen ober sich selbst in irgend einer Weise geltend zu machen. Er vermied fast ängstlich jeden Verkehr, der ihm nicht durch seine Berufspflichten unumgänglich geboten war; er machte keine Besuche und empfing keine, entzog sich jeder Bekanntschaft, schlug jede Einladung aus und lebte in völliger Zurückgezogenheit seinen Studien. Seine sehr angegriffene Gesundheit mußte ihm dabei stets als Vorwand dienen; anfangs war man in B. wenig geneigt, dies gelten zu lassen, und versuchte dieser seltsamen Abgeschlossenheit Gott weiß welche geheimnißvollen und gefährlichen Motive unterzuschieben, bis man sich schließlich überzeugte, daß der Professor der sanftmüthigste und harmloseste Mensch von der Welt war, den nur seine Leidenschaft für das Studium, im Verein mit seinem wirklich sehr leidenden Zustande, zu dieser Lebensweise veranlaßte. Mehrere Collegen, die ihm durch amtliche Beziehungen näher getreten waren, sprachen sich mit aufrichtiger Bewunderung über dies staunenswerthe Wissen und diese staunenswerthe Bescheidenheit aus, die jede Anerkennung, jedes Hervortreten aus der Verborgenheit förmlich floh, aber sie waren von ganzem Herzen damit einverstanden, denn sie wußten am besten, wie gefährlich dieser Mann ihrer ganzen Autorität hätte werden können, hätte er mit dieser Fülle von Wissen zugleich eine hervorragende Persönlichkeit und einen energischen Charakter verbunden. So ließ man ihn denn unangefochten seinen stillen Weg gehen, seine Gelehrsamkeit ward neidlos geschätzt, seine Vorlesungen wurden zahlreich besucht; im Uebrigen aber spielte er an der Universität so wenig eine Rolle, wie in der Gesellschaft, und lebte mitten in B. wie ein völliger Einsiedler.
Auch Doctor Stephan fand keine Gelegenheit, sich über den stillen Miethsmann zu beklagen, der weder Lärm noch Unruhe in’s Haus brachte, pünktlich den Miethzins zahlte und, wenn er einmal sichtbar ward, stets sehr höflich grüßte, dabei aber jeder längeren Unterhaltung auswich. Der Doctor war fast der Einzige, der bei den leider häufigen Krankheitsfällen des Professors in seine Wohnung und dadurch in näheren Verkehr mit ihm selber kam; der Doctorin aber, die sich des Kranken gern mit mütterlicher Sorgfalt angenommen hätte, gelang dies durchaus nicht, und sie mußte sich begnügen, statt des Herrn den Diener unter ihr häusliches Commando zu nehmen.
Friedrich war nun allerdings weder mit hervorragender Intelligenz, noch mit besonderer Fassungskraft begabt; geistige Fähigkeiten waren ihm überhaupt nur in sehr beschränktem Maße zu Theil geworden; dafür hatte die Natur ihm einen Riesenkörper gegeben, und sonstige Mängel ersetzte er durch eine grenzenlose Gutmüthigkeit und eine wahrhaft rührende Anhänglichkeit an seinen Herrn. Ganz im Gegensatz zu diesem hatte er aber die entschiedenste Neigung, sich Anderen anzuschließen, und war gern bereit, die viele freie Zeit, welche sein Dienst bei dem Professor ihm übrig ließ, für all die kleinen Arbeiten und Hülfeleistungen zu verwenden, wozu ihn die Doctorin im Hause und der Doctor im Garten in Anspruch nahm. Auf diese Weise war er bei Beiden allmählich eine Art Factotum geworden, ohne dessen Hülfe nichts geschehen konnte, und er war es auch gewesen, der mit stundenlanger Mühe und seinem ganzen Aufwande von Denkkraft jene verunglückte Bewillkommnung der jungen Amerikanerin veranstaltet hatte, der er seit jener Scene stets halb scheu und halb grollend auswich.
Der Junimonat ging mit einem drückend heißen Tage zu Ende. In der Wohnung des Professor Fernow war es still wie in einer Kirche zur Wochenzeit, nichts regte sich hier, kein Laut unterbrach die tiefe Stille, welche in diesen Räumen herrschte. Ein Zimmer wie das andere, Bücherschrank an Bücherschrank und darauf die Bände in unendlicher Reihe, niedergelassene Vorhänge, mattes Dämmerlicht – der Geist und das Wissen von Jahrhunderten war hier zusammengehäuft; aber nicht ein einziger frischer Luftzug drang in diese feierliche Abgeschlossenheit. In seinem Studirzimmer, das sich von den übrigen durch nichts, als durch eine vielleicht noch größere Büchermenge unterschied, saß der Professor vor dem Schreibtische, aber er arbeitete nicht, Papier und Feder lagen unbenutzt vor ihm; den Kopf weit in die Lehne des Armsessels zurückgeworfen, die Arme übereinandergeschlagen, blickte er unbeweglich zur Decke empor. Vielleicht war es der auch hier das Fenster verhüllende grüne Vorhang, der seine Züge so seltsam bleich und krank erscheinen ließ; aber auch in der Haltung sprach sich eine unendliche Müdigkeit, eine grenzenlose Abspannung aus, und selbst das Auge verrieth nichts von jenem angestrengten Nachdenken, das vielleicht eben im Begriff ist, ein wissenschaftliches Problem zu lösen; es lag darin nur jene schwermüthige, haltlose Träumerei, die dem Dichter so oft und dem Gelehrten so selten zu nahen pflegt.
Die Thür ward geöffnet, und so leise dies auch geschah, so zuckte der Professor doch mit jener Reizbarkeit zusammen, die nur sehr nervösen Personen eigen ist; auf der Schwelle zeigte sich Doctor Stephan, hinter dem das besorgte, ängstliche Gesicht Friedrich’s sichtbar ward.
„Guten Abend!“ sagte der Doctor vollends eintretend. „Da bin ich, um Ihnen wieder einmal in’s Gewissen zu reden! Es geht schlecht heute, nicht?“
Der Professor blickte ihn befremdet an. „Durchaus nicht, Doctor! Ich befinde mich völlig wohl. Es muß ein Mißverständniß sein; ich habe nicht um Ihren Besuch bitten lassen.“
„Das weiß ich,“ sagte der Arzt ruhig. „Sie bitten überhaupt nicht darum, wenn es nicht gerade auf Tod und Leben geht; aber hier der Friedrich behauptet, daß es mit Ihnen nicht richtig sei.“
„Das ist es auch nicht!“ erklärte Friedrich, der sich vor dem unmuthigen Blicke seines Herrn hinter den Doctor geflüchtet hatte und unter dessen Schutze muthiger ward. „Schon seit lange nicht, und ich weiß auch, wann es anfing; es war der Tag, wo der Herr Professor im Regen ohne Schirm ausging und ohne Plaid mit der amerikanischen Miß zurückkam –“
„Friedrich, Du schweigst!“ unterbrach ihn der Professor plötzlich mit einer solchen Heftigkeit, daß Friedrich erschreckt von dem ganz ungewohnten Tone zurückprallte. „Du thätest überhaupt besser,“ fuhr der Professor fort, „Dich um Deine Obliegenheiten zu kümmern, als Dich in Dinge zu mischen, die Du nicht beurtheilen kannst. Geh jetzt und laß uns allein!“
Der Gescholtene, bestürzt durch diese ungewöhnliche Strenge seines sonst so gütigen Herrn, gehorchte zögernd; der Doctor aber, ohne sich um den Blick des Professors zu kümmern, der deutlich genug auch den Wunsch nach seiner Entfernung verrieth, zog einen Stuhl heran und ließ sich darauf nieder.
„Sie haben wieder gearbeitet? Natürlich! An diesem herrlichen Sommertage, wo alle Welt in’s Freie eilt, sitzen Sie vom Morgen bis zum Abend, ober vielmehr bis in die Nacht hinein, am Schreibtische. Sagen Sie mir um Gottes willen, wie lange glauben Sie denn, daß das so fortgehen kann, und daß Sie es überhaupt aushalten?“
Der Professor hatte sich, wenn auch mit augenscheinlichem Widerstreben, auf seinen früheren Sitz niedergelassen; er schien noch immer nicht der Erregung Herr geworden zu sein. „Ich werde mich erkältet haben,“ sagte er ausweichend.
„Was da Erkältung!“ unterbrach ihn der Doctor eifrig „Es handelt sich durchaus nicht darum, sondern um das Studium, das bei Ihnen nachgerade zur Manie geworden ist und Sie noch in’s Grab bringen wird, wenn Sie sich keine Erholung gönnen. Wie oft habe ich Ihnen das nun schon vorgepredigt! Aber was soll man mit einem Patienten anfangen, der immer sanftmüthig und geduldig zuhört, immer Ja sagt und dabei stets das Gegentheil von dem thut, was ihm befohlen wird!“
Der Professor hatte in der That mit großer Geduld zugehört. „Ich habe Ihren Anordnungen noch immer Folge geleistet,“ vertheidigte er sich mit leiser Stimme.
„O ja! Buchstäblich! Wenn ich Sie zum Beispiel zu Bett schicke, so legen Sie sich gehorsam nieder, lassen sich eiligst Lampe und Bücher an’s Bett bringen und studiren zur Abwechslung statt [263] bis zwei Uhr Morgens einmal bis vier Uhr. Sie müssen bei alledem eine gute Natur besitzen, um das überhaupt noch zu können; bis jetzt sind es nur Ihre Nerven, die Sie gründlich ruinirt haben; treiben Sie es aber nur ein einziges Jahr noch so fort, so haben Sie die Schwindsucht; darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort!“
Der Professor stützte den Kopf in die Hand und blickte vor sich hin. „Desto besser!“ sagte er resignirt.
Ungeduldig sprang der Arzt auf und schob polternd den Stuhl zur Seite. „Da haben wir’s! Auch noch gar Todessehnsucht! Geht mir mit Eurer Gelehrsamkeit, es ist nichts Gesundes darin, Siechthum an Geist und Körper, das kommt schließlich dabei heraus!“
Fernow war gleichfalls aufgestanden, er lächelte trübe. „Geben Sie mich auf, Doctor; ich lohne Ihre Mühe doch nur mit Undank! Meine Gesundheit ist völlig untergraben, das fühl’ ich selbst am besten, und Sie können mir mit all Ihrem guten Willen und all Ihren Arzneien nicht mehr helfen.“
„Mit Arzneien – nein,“ sagte der Doctor ernst. „Ihnen ist nur mit einer Radicalcur zu helfen; aber ich fürchte, es wird ganz unnütz sein, sie Ihnen anzurathen.“
„Und die wäre?“ fragte der Professor zerstreut, während sein Blick schon wieder auf den Büchern haftete.
„Sie dürfen ein Jahr – aber ein volles Jahr lang keine Feder anrühren, kein Buch auch nur ansehen und vor Allem mit keiner Silbe an die Wissenschaft denken. Statt dessen müßten Sie einmal den Körper tüchtig anstrengen, wenn es nicht anders geht, mit Hacke und Spaten im Garten arbeiten und dabei ordentlich schwitzen, zur Abwechslung einmal auch hungern und dursten, jedem Einflusse der Witterung trotzen. – Sehen Sie mich nicht so erstaunt an, als ob ich Ihnen den directen Weg in’s Jenseits verschriebe; bei einem so völlig zerrütteten Nervensystem wie dem Ihrigen wirken nur noch Gewaltmittel. Es ist meine feste Ueberzeugung, daß eine solche Cur, energisch begonnen und unnachsichtlich durchgeführt, Sie trotz aller Todesahnungen noch retten kann.“
Der Professor schüttelte befremdet den Kopf. „Dann werde ich wohl auf die Rettung verzichten müssen, denn das können Sie sich wohl selbst sagen, Doctor, daß ein solches Tagelöhnerleben ist meiner Stellung unmöglich durchzuführen ist.“
„Leider weiß ich das! Und Sie sind der Letzte, der sich zu solchem Entschlusse aufraffen würde. Nun denn, so studiren Sie in Gottes Namen weiter und bereiten Sie sich auf die Schwindsucht vor. Ich habe genug gepredigt und gewarnt! Adieu!“
Mit diesen im vollsten Aerger gesprochenen Worten nahm der gutmüthige, aber etwas heftige Doctor Stephan seinen Hut und ging zur Thür hinaus; im Vorzimmer aber pflanzte sich die riesige Gestalt Friedrich’s mit einer stummen Frage auf dem ängstlichen Gesicht dicht vor ihm auf. Der Arzt schüttelte den Kopf.
„Mit Deinem Herrn ist wieder einmal nichts anzufangen, Friedrich! Gieb ihm die gewöhnliche Arznei; es ist sein altes Uebel, das wieder –“
„O nein, das ist es nicht!“ unterbrach ihn Friedrich mit großer Bestimmtheit. „Es ist diesmal etwas ganz Neues, und seit dem Tage, wo die amerikanische Miß –“
Der Doctor lachte laut auf. „Nun, Du wirst doch hoffentlich die Ankunft meiner Nichte nicht für die Krankheit Deines Professors verantwortlich machen?“ sagte er, höchlich belustigt von dieser Zusammenstellung.
Friedrich schwieg verwirrt; das war ihm nun allerdings nicht eingefallen; er wußte nur, daß diese beiden Zeitpunkte genau zusammenfielen.
„Nun, und wie ist es denn eigentlich diesmal mit Deinem Herrn?“ examinirte der Doctor.
Verlegen drehte Friedrich die Mütze in den Händen; einer ausführlichen Beschreibung des Zustandes, der ihn so beunruhigte, war seine Rednergabe nicht gewachsen. „Ich weiß nicht – aber es ist ganz anders als sonst,“ beharrte er hartnäckig.
„Unsinn!“ sagte der Doctor kurz. „Das muß ich besser wissen. Du giebst ihm die gewöhnliche Arznei, und dann sieh zu, daß Du ihn heute wenigstens vom Schreibtische weg in’s Freie bringst; aber gieb Acht, daß er sich dabei nicht zur besonderen Erholung einige Folianten einpackt. Hörst Du?“
Damit stieg der Arzt die Treppe hinunter und fragte unten in der Wohnung angekommen nach seiner Nichte.
„Sie ist ausgegangen!“ berichtete die Frau Doctorin ihm in völlig übler Laune. „Bereits seit vier Uhr und wie gewöhnlich wieder ganz allein. Ich bitte Dich, Stephan, sprich Du doch einmal mit ihr und stelle ihr das Unpassende und Abenteuerliche dieser stundenlangen einsamen Spaziergänge vor Augen.“
„Ich?“ sagte der Doctor, durchaus nicht erbaut von dieser Zumuthung. „Nein, liebes Kind, das ist Deine Sache, das mußt Du mit ihr besprechen.“
„Besprechen!“ rief die alte Dame gereizt, „als ob man überhaupt bei Jane dazu gelangen könnte! Sobald ich mit einer leisen Hindeutung darauf oder auf irgend eine der anderen Freiheiten anfange, die sie sich nimmt, bekomme ich sofort das unvermeidliche ‚Liebe Tante, bitte, Sie überlassen das wohl meiner Beurtheilung‘, zu hören und damit ist jedes fernere Wort abgeschnitten.“
Der Doctor zuckte die Achseln. „Glaubst Du etwa, daß es mir besser geht?“
„Aber die halbe Stadt spricht bereits über die Freiheiten des Mädchens!“ eiferte die Doctorin. „Man macht uns verantwortlich dafür und begreift nicht, wie wir so etwas dulden können.“
„Wirklich?“ sagte Doctor Stephan mit philosophischer Ruhe. „Nun, dann wünsche ich Allen, die darüber sprechen, daß sie Jane nur eine einzige Woche im Hause hätten, um ihre Autorität zu probiren; es würde ihnen bald die Lust dazu vergehen. Jane mit ihrer Schroffheit und der Professor da oben mit seiner Sanftmuth, das sind zwei Starrköpfe, gegen die ganz B. nichts ausrichtet; dazu giebt es bei denen nur eine Möglichkeit – ihnen den Willen zu thun!“
Der Doctor hatte Recht, Miß Forest kümmerte sich in der That sehr wenig darum, ob man ihre einsamen Ausflüge ist B. passend fand oder nicht, es gefiel ihr eben so. Nicht, daß sie eine besondere Neigung für einsames, träumerisches Umherstreifen hegte, dergleichen lag ihr fern, aber sie wünschte die Umgebung der Stadt kennen zu lernen, und da sie nach Atkins’ Entfernung Niemand fand, den sie ihrer Begleitung für würdig hielt, so ging sie einfach allein.
So hatte sie auch wieder, nachdem ein längerer Spaziergang sie stundenweit von B. entfernt, den Ruinenberg erstiegen, von dessen Gipfel die Trümmer einer uralten Burg weit in’s Land hineinblickten. Ermüdet von dem weiten Gange ließ sie sich auf einem Ueberrest der alten Ringmauer nieder und sah, an das Gestein gelehnt, hinaus in die Landschaft. Jetzt war der Nebelschleier weggezogen, der sie am Tage ihrer Ankunft so dicht und düster eingehüllt, und was er damals ihren Augen verbarg, lag jetzt, vom reichsten Sonnengold umflossen, zu Jane’s Füßen ausgebreitet.
Sie lehnte sich tiefer in den Schatten der Mauer zurück. Es ging ihr seltsam mit diesen deutschen Landschaften, es wehte sie daraus etwas an, was sie beim Anblick der großartigste Naturscenen nie empfunden, ein Hauch von Wehmuth, von Sehnsucht, von Heimweh. Heimweh! Sie hatte das Wort nie verstanden, nicht als sie die Mutter daran sterben sah, nicht als es dem Vater in seinen letzten Lebensstunden so überwältigend nahte; erst seit sie den Boden betreten, dem sie, fremd in allem Anderen, doch durch das heilige Recht der Geburt angehörte, regte es sich bisweilen in ihr dunkel und mächtig, wie eine ferne, halb verklungene Erinnerung an die erste Jugendzeit, als der Vater ihre Erziehung noch nicht so energisch überwachte und sie noch gänzlich der Mutter überlassen war, die mit den Märchen und Liedern der alten Heimath auch in dem Kinde jenes Sehnen wach rief, welches das Eingreifen des Vaters später so völlig vernichtet und in Bitterkeit verwandelt hatte. Es war ein seltsames, ein für Jane beinahe unheimliches Gefühl, und sie wußte genau den Moment, wo es begonnen. Nicht bei einem großartigen Rundblick, wie dem jetzigen, war es gewesen, nicht bei den reichen Landschaftsbildern der Rheintour, die sie erst kürzlich mit ihrem Oheim und Atkins unternommen; im Nebelgeriesel der Landstraße, am Rande jener Fliederhecke, aus deren Knospen das erste Grün hervorbrach, als die grauen Schleier ringsum Alles enthüllten und nur das Rauschen des Stromes zu ihr herüberdrang – da war es zum ersten Mal [264] aufgewacht, und es haftete sonderbarer Weise immer an der Gestalt des Mannes, der damals neben ihr gestanden. Jane dachte nur selten und überhaupt nur mit einem gewissen Widerwillen an jene Begegnung, es lag darin, trotz der Lächerlichkeit des Helden, etwas von jener Romantik, die die verstandesklare Tochter Forest’s so sehr verabscheute, und auch jetzt war sie im Begriff, die zudringliche, immer wiederkehrende Erinnerung in ihre Schranken zurückzuweisen, als ihr dies unmöglich gemacht wurde – ein Tritt ließ sich in unmittelbarer Nähe vernehmen und Professor Fernow selbst bog um die Mauerecke.
Einen Moment lang kam Jane beinahe aus der Fassung über die plötzliche Erscheinung, die so eigenthümlich mit ihren Gedanken zusammenfiel, der Professor aber schien förmlich erschreckt von ihrem unvermutheten Anblick. Er wich zurück und machte eine Wendung zur Umkehr, plötzlich aber schien ihm das Auffallende einer solchen Flucht klar zu werden, nach einem Moment des Zögerns verneigte er sich stumm und schritt nach der andern Seite der Mauer, wo er seinen Standpunkt möglichst entfernt von der jungen Dame, und doch, bei der Enge des Raumes, nicht eben allzu weit einnahm.
Es war das erste Mal, daß die Beiden sich nach jenem Zusammentreffen auf der Landstraße wieder miteinander allein fanden. Die gelegentlichen unvermeidlichen Begegnungen im Hause und Garten waren von Seiten des Professors stets mit einem scheuen Gruße, von Seiten Jane’s mit einer kühlen Erwiderung abgemacht worden, ein längeres Gespräch hatten Beide mit gleicher Consequenz vermieden und es schien, als wollten sie dies auch heute fortsetzen. Der Professor war erschöpft und athemlos angekommen; weder die Erhitzung des stundenlangen Weges, noch die Anstrengung des Steigens, womit er dem Befehle des Arztes zu einer mäßigen Bewegung im Freien so gewissenhaft nachkam, hatten es vermocht, sein Antlitz zu röthen, auf dem noch immer jene fahle Blässe lag, wie am Nachmittage, und dazu die tiefen Linien auf der Stirn des noch jungen Mannes, die dunkeln Ringe um die Augen – das Alles bestätigte nur zu sehr, was Jane oft genug von ihrem Oheim gehört, daß der Professor sich zu Tode arbeite, und seine Tage gezählt seien.
Und dennoch – sie mußte immer wieder an jenen Moment denken, wo er mit ihr vor dem überschwemmten Wege gestanden. Das waren nicht die Arme eines Schwindsüchtigen gewesen, die sie so kraftvoll emporgehoben, so leicht und sicher getragen hatten, und selbst das jähe Aufflammen bei ihrem Zweifel an seiner Kraft hatte nichts Krankhaftes gehabt. Sie vermochte es nicht, den Widerspruch zu enträthseln, der zwischen jenem Augenblick und der gewöhnlichen Erscheinung dieses Mannes lag, und der ihr gerade heute schärfer als je vor Augen trat.
„Ersteigen auch Sie öfter den Ruinenberg, Mr. Fernow?“ begann die junge Dame endlich die Unterhaltung, da ihr das hartnäckige Schweigen des Professors keine andere Wahl ließ, und sie nachgerade genug von dem Sonderlinge gehört hatte, um zu wissen, daß in diesem Schweigen nichts Beleidigendes lag.
Er wandte sich beim Klange ihrer Stimme hastig um, und es schien, als raffte er sich mit Anstrengung zusammen, um ihr gegegenüber seiner sonstigen Träumerei und Zerstreutheit Herr zu bleiben.
„Es ist der schönste Punkt in der Umgebung von B. Ich besuche ihn, so oft meine Zeit es erlaubt.“
„Und das ist wohl selten der Fall?“
„Allerdings, zumal in diesem Sommer, wo ich alle meine Kräfte einer größeren Arbeit widmen muß.“
„Sie schreiben wieder ein gelehrtes Werk?“ fragte Jane mit leisem Spott.
„Ein wissenschaftliches!“ berichtigte der Professor mit einigem Nachdruck, den Spott parirend.
Jane warf höhnisch die Lippen auf.
„Sie finden wohl, Miß Forest, daß dies eine ebenso undankbare als unfruchtbare Mühe ist?“ fragte er mit einiger Bitterkeit.
Sie zuckte die Achseln. „Ich muß bekennen, daß ich keine allzu große Ehrfurcht vor der Bücherweisheit hege und daß ich überhaupt nicht begreife, wie man sein ganzes Leben freiwillig einer Wissenschaft zum Opfer bringen kann, die, wie die Ihrige, Mr. Fernow, nur für die Gelehrten von Interesse ist und der übrigen Menschheit stets ein todter, unfruchtbarer Bücherstaub bleiben wird.“
Das war wieder Jane’s entsetzliche Aufrichtigkeit, die den Oheim so oft schon zur Verzweiflung gebracht, der Professor aber schien weder überrascht noch beleidigt dadurch. Er heftete langsam seine großen schwermüthigen Augen auf das Antlitz der jungen Dame, die es schon halb bereute, die Unterredung begonnen zu haben, denn wenn sie auch jetzt diesen Augen besser Stand hielt als das erste Mal, sie riefen doch sofort jene quälende, beängstigende Empfindung wach, deren sie nicht Herr werden konnte.
„Und wer sagt Ihnen denn, Miß Forest, daß es freiwillig geschah?“ fragte er in einem eigenthümlich gepreßten Tone.
„Nun, erzwingen läßt sich eine solche Richtung doch nicht!“
„Aber gewöhnen! Zumal wenn man, heimath- und elternlos in das Leben hinausgeworfen, in die Hände eines Gelehrten fällt, der nichts kennt und liebt auf der weiten Welt als seine Wissenschaft. – Ich ward schon als Knabe an den Büchertisch gekettet, als Jüngling rastlos immer vorwärts getrieben, meine Fähigkeiten aufs Aeußerste angestrengt, bis endlich das Ziel erreicht war. Was ich an Jugend, an Gesundheit und Poesie besaß, ist freilich darüber zu Grunde gegangen, wem aber der ‚Bücherstaub‘ solche Opfer gekostet, den hält er damit unauflöslich fest für den Rest des Lebens. Mir ist darin jede andere Sehnsucht und jede – Hoffnung untergegangen.“
Es lag eine düstere Resignation in diesem Geständniß, und es war ein seltsam schmerzlicher Blick, der bei den letzten Worten Jane’s Antlitz streifte und eine Art von Zorn gegen ihn und gegen sich selbst in ihr wachrief. Warum konnte sie nicht ruhig bleiben unter diesem Blick? Ueberhaupt, wenn irgend etwas den Professor in ihren Augen herabsetzte, so war es dies Geständniß. Also nicht einmal mit Ueberzeugung und Begeisterung, sondern aus Gewohnheit, aus einfachem Pflichtgefühl arbeitete er sich zu Tode! Ihrer energischen Natur erschien dies passive Ausharren bei dem, wie es schien, halb erzwungenen Berufe unendlich erbärmlich. Freilich, wer nicht Kraft und Muth besaß, den Aufschwung in’s Leben zu wagen, der konnte immerhin im „Bücherstaub“ zu Grunde gehen.
Der Professor hatte sich plötzlich mit einer raschen Bewegung von ihr ab der Aussicht zugewendet, und auch Jane blickte jetzt hinaus in die Landschaft, die soeben aufglühte in den letzten Strahlen der sinkenden Sonne. Die rothe Gluth überstrahlte in flammender Pracht den Abendhimmel, auf dessen purpurnem Grunde sich das blaue Gebirge drüben in klaren, duftigen Linien emporhob, sie umfloß alle die Städte und Dörfer, die am Fuße der Berge hingelagert erschienen, mit leuchtendem Glanz, sie funkelte und blitzte in den grüngoldigen Wogen des Stromes, der ruhig und majestätisch dahinzog, weit hinaus in die schimmernde Ebene, wo am Horizont, fern und undeutlich, wie ein riesiges Nebelbild, der mächtige Dom aufragte, der Stolz und die Krone des alten Rheinstromes.
Und der Wiederschein jener Gluth lag auf dem grauen verwitterten Gestein der alten Burg, auf dem dunkeln Epheu, der sie mit seinen dichten grünen Netzen umspann, während die üppig wirren Ranken, weit über den Abgrund hinaushängend, im Abendwinde auf und nieder flatterten, und auf dem Antlitz der Beiden dort oben.
Jane war einige Minuten lang so versunken in den Anblick dieser wundervollen Beleuchtung, daß sie es gar nicht bemerkte, wie der Professor auf einmal dicht neben ihr stand, und jetzt war sie es, die fast zusammenschreckte bei dem Klange seiner Stimme.
„Kann unser Rhein auch Ihnen einen Moment lang Bewunderung abgewinnen?“ fragte er im Tone eigenthümlicher Genugthuung.
„Mir?“ In Jane tauchte plötzlich der Gedanke auf, er könne etwas von der „Schwäche“ errathen haben, der sie sich schon öfter in dieser Hinsicht schuldig gemacht; zwar behauptete sie stets eine unbedingte Herrschaft über ihre Züge, es konnte eben nur eine Voraussetzung sein, aber selbst diese Voraussetzung ärgerte sie.
„Mir?“ wiederholte sie eiskalt. „Sie mögen theilweise Recht haben, Mr. Fernow, ich finde Einzelnes in dieser Landschaft ganz hübsch, wenn sie mir auch im Ganzen etwas beschränkt und dürftig erscheint.“
„Beschränkt! Dürftig!“ wiederholte der Professor, als habe er nicht recht vernommen, während sein Blick ungläubig und zweifelnd auf ihrem Gesichte ruhte.
[265]
[266] „Ja, wenigstens ich nenne sie so!“ erklärte Jane, noch mehr gereizt durch diesen Blick, mit hochmüthiger Ueberlegenheit. „Wer, wie ich, an den Ufern des Riesenstromes gelebt hat, wer die Großartigkeit eines Niagara, die Majestät eines Urwaldes kennt, dem können diese deutschen Landschaften doch nur kleinlich erscheinen.“
In dem Gesicht des Professors stieg eine leise Röthe auf, ein Zeichen, daß auch er begann, gereizt zu werden.
„Wenn Sie es nach den großen Räumen messen – ja, Miß Forest. Wir pflegen einen anderen Maßstab anzulegen, der Ihnen vielleicht auch kleinlich vorkommt; ich versichere Ihnen aber, daß uns danach Ihre Landschaften unendlich leer und öde, daß sie uns völlig todt erscheinen würden.“
„Wirklich? Wissen Sie das so genau?“
„Allerdings!“
„Ich bewundere Sie aufrichtig, Mr. Fernow,“ sagte Jane mit beißender Ironie, „daß Sie ohne eigene Anschauung ein so begründetes Urtheil zu geben vermögen. Sie scheinen unsern Mississippi für eine Wüste zu halten und sollten doch mindestens aus Ihren Büchern wissen, daß das Leben, das sich dort regt, unendlich zahlreicher und großartiger ist, als hier an Ihrem Rheinstrom.“
„Ein Alltagsleben!“ rief der Professor immer erregter werdend, „ein Ameisenarbeiten, im rastlosen Ringen immer nur auf den Erwerb, auf den Augenblick gerichtet! Ihr Riesenstrom, Miß Forest, mit allen seinen tausend Dampfern und Booten, mit seinen volkreichen Städten und üppigen Ufern kann Ihnen doch niemals geben, was die kleinste Welle des Rheines uns entgegenrauscht, den Zauber der Vergangenheit, die Geschichte von Völkern, die Poesie von Jahrhunderten. Uns,“ hier fiel Fernow urplötzlich und unbewußt aus dem Englisch, in dem er bisher mit ihr gesprochen, in’s Deutsche, „uns weht und klingt das in tausend Sagen und Liedern aus jedem Waldesrauschen, aus jedem Felsgestein, uns schweben und steigen die mächtigen Gestalten der Vergangenheit nieder von den Burgen, erstehen in den Städten die alten Geschlechter mit ihrer versunkenen Macht und Herrlichkeit, ragen in den Domen die Denkmale unvergänglicher Pracht und Größe zum Himmel empor, uns winkt und lockt die Loreley hinab in die grünen Wogen, uns funkelt und glänzt tief unten in ihrem Grunde der Nibelungenhort – das Alles lebt und rauscht uns in den Wellen unseres Rheines, Miß Forest, und das freilich – kann er einer Fremden nicht sagen.“
Jane hatte anfangs mit Verwunderung, dann mit Staunen, zuletzt in förmlicher Bestürzung zugehört. Was war denn auf einmal mit diesem Manne vorgegangen? Er stand vor ihr, hoch aufgerichtet, das Antlitz überstrahlt von einer leidenschaftlichen Gluth, das Auge flammend in hinreißender Begeisterung, und dazu der machtvolle Klang dieser Stimme, das Feuer dieser Rede, wo sich Wort an Wort, Bild an Bild drängte – es war ihr, als sei auch hier ein Nebelschleier zerrissen, und sie thue einen Blick hinaus in die goldumstrahlte lichte Ferne. Die Hülle sank plötzlich von der bleichen Leidensgestalt, und ein lang Gebanntes trat heraus in seinem wahren Lichte. – Aber Jane Forest war nicht Weib genug, diesem seltsamen Zauber mehr als minutenlang zu unterliegen, und sich nicht sofort mit aller Kraft dagegen zu erheben; es wallte bereits in ihr auf, heiß und feindselig, der ganze Stolz und Trotz ihrer Natur empörte sich gegen diese Macht, der sie sich einige Secunden lang willenlos gebeugt, gegen diesen Bann, der sie so beängstigend umstrickt hielt. Sie mußte ihn zerreißen, koste es, was es wolle, und rasch entschlossen griff sie nach der ersten Waffe, die ihr zu Gebote stand, griff sie zum herbsten Spott.
„Ich wußte nicht, daß Sie Dichter sind, Mr. Fernow!“
Der Professor zuckte zusammen, als habe ein schneidender Mißton ihn berührt; der Schimmer in seinem Antlitz erlosch, sein Auge sank zu Boden.
„Ein Dichter! Ich?“ sagte er leise mit halberstickter Stimme.
„Nun, was Sie eben sprachen, klang doch nicht wie Prosa.“
Fernow athmete tief auf und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
„Ich bitte um Verzeihung, Miß Forest, Sie mit dieser Poesie gelangweilt zu haben. Schreiben Sie es meiner Unbekanntschaft mit den Gesellschaftsregeln zu, deren erste ja wohl ist, daß man mit einer Dame nicht von etwas sprechen darf, wofür sie nicht empfänglich ist.“
Jane biß sich auf die Lippen. Dieser „gelehrte Pedant“, wie sie ihn noch heute Morgen genannt, entwickelte sich immer seltsamer: in einem Augenblick poetisch, konnte er im nächsten schon beißend sein; aber gleichviel, diesem Tone war sie besser gewachsen, da konnte sie ihm gleich auf gleich begegnen! Die junge Dame übersah in ihrem Aerger völlig die tiefe und qualvolle Erregung, die den Professor allein zu dieser ihm sonst ganz fremden Bitterkeit aufstachelte, und sie ließ es an dem Stachel nicht fehlen. Jane konnte bereits nicht mehr auf das, wie sie doch wußte, gefährliche Vergnügen verzichten, aus der ruhig träumenden Oberfläche dieses Mannes jene blitzartigen Erregungen hervorzurufen, die eine ihm vielleicht selbst unbewußte leidenschaftliche Tiefe verriethen. Sie fühlte, daß er nur in Augenblicken höchster Begeisterung oder höchster Gereiztheit dessen fähig war, und da es nicht in ihrer Macht stand, ihn zu begeistern, nun, so reizte sie ihn dafür.
„Ich bewundere um so mehr, Mr. Fernow, daß Sie sich diese Empfänglichkeit so außerordentlich bewahrt haben, aber freilich, im Träumen und Dichten waren uns die Deutschen stets voraus!“
„In zwei Dingen, die unendlich tief in Ihrer Achtung stehen.“
„Wenigstens bin ich der Meinung, daß der Mann zu Thaten und nicht zum Träumen geschaffen ist! Das Dichten ist ja nur thatenloses Träumen!“
„Und folglich verachten Sie es?“
„Ja!“ Jane war sich vollkommen der Härte bewußt, mit der sie dies schroffe Ja aussprach, aber sie war herausgefordert worden, sie wollte jetzt verletzen, und es schien in der That, als gelänge ihr das. Auf der Stirn Fernow’s brannte eine dunkle Röthe; seltsam – er hatte es so ruhig hingenommen, als sie versuchte, seine Wissenschaft herabzusetzen, ihren Angriff auf das Dichten ertrug er nicht.
Der Frühling lacht von grünen Höh’n,
Es steht vor ihm die Welt so schön,
Als seien eines Dichters Träume
Getreten sichtbar in die Räume.
Wann schöpferisch aus Morgenduft
Der Sonne Strahl die Wesen ruft,
Kehrt jedes Herz sich, jede Blume
Empor zum lichten Heiligthume.
Der Frühling giebt im Walde Tanz,
Und alle Blumen nah’n im Glanz,
Wo Mädchen vorzustellen haben
Die Rosen, und Jasmine Knaben.
Des Paradieses Pforten sind
Nun aufgethan im Morgenwind,
Und auf die Erde strömt vom Osten
Der Duft, den sonst die Sel’gen kosten.
Nun lebt, berührt vom Liebeshauch,
Das Leben neu, und Todtes auch;
Der starre Fels vor Sehnsucht bebet,
Bis auch ein Epheu ihn umwebet.
O Frühlingsodem, Liebeslust,
O Glück der felsentreuen Brust,
Die ein Geliebtes an sich drücket,
Das dankbar sie mit Kränzen schmücket!
[267]
Wirthschaftliches Freimaurerthum.
„Eigner Herd ist Goldes werth“ und noch viel mehr. Schuldenfreier Grund- und Hausbesitz ist zugleich der gesundheitliche, sittliche und ästhetische Boden wahren Wohlstandes, der Volks- und Culturkraft. Die behagliche Wohnung mit erb- und eigenthümlichem schuldenfreien Besitz wird zur Heimstätte für Selbstachtung, und die darin lebende Bevölkerung erhebt und veredelt sich aus einem unruhigen, bald im augenblicklichen Rausche der Verschwendung, bald im Jammer der Entbehrung und Noth zitternden Leben zu einer selbstbewußt schaffenden; nur eine solche im heimischen Boden festgewurzelte Bevölkerung hilft die Sicherheit und die rechtliche Natur des Staates, das Gedeihen der Gesellschaft, das Wohl der Einzelnen fördern, während eine aus der Wohnungsnoth und dem Miethcasernenthum nicht herauskommende zu einer Hauptquelle aller möglichen Ge- und Verbrechen wird.
Die unzähligen Leser und Leserinnen der Gartenlaube sind bereits vor fünf Jahren durch ein Arbeiterparadies mit eigenen Herden und Häusern geführt worden und können dieses Eldorado im Jahrgange 1865 Seite 300, 328 und 552 mit Vortheil wieder besuchen, weil sie damit Stoff gewinnen, die wirtschaftlichere, großartiger angelegte und baulich schönere, für ganz Deutschland berechnete, in rascher Verwirklichung begriffene Freimaurerei des deutschen Central-Bauvereins besser würdigen zu lernen.
Dort in Mühlhausen sind die sonst herrlichen, durch Abzahlung allmähliches Eigenthum werdenden Arbeiterwohnungen noch eine Art Wohlthat, die zu besonderem Danke verpflichtet, außerdem blos Arbeiterwohnungen, welche durch ihre Küche gleich im Eingange immer noch zu sehr an Beschränkung erinnern. Der deutsche Central-Bauverein bietet allen sparfähigen Classen von unten auf, wo wöchentlich höchstens ein Thaler erübrigt werden kann, bis empor zu den gebildetsten Ansprüchen alle Arten von schuldenfrei zu erwerbenden eigenen Heimstätten, ohne damit das Selbstgefühl der Genossen durch Anspruch auf Dank zu verletzen. Der Verein ist eben ein rein geschäftliches, wirthschaftliches Unternehmen und eine Frucht sorgfältiger Prüfung aller ähnlichen Unternehmungen in Deutschland, England und Amerika. Ja selbst die baugenossenschaftliche neue Stadt Breslau, welche mit großartigen Mitteln auf der New-York-Insel emporgezaubert wird, bietet, so weit wir es bis jetzt verstehen, bei Weitem nicht die Vortheile, welche sich bereits unter Leitung unseres Vereins für jedes Auge und Herz erfreulich herausstellen.
Die Gartenlaube, welche die erste realisirte Idee der Arbeiterwohnungen in Wort und Bild zuerst empfahl, verdient sich jetzt durch Veranschaulichung der neuesten und weitesten Verwirklichung derselben gewiß einen noch weiter und tiefer reichenden Dank. Wofür ich selbst seit zehn Jahren durch Wort und Werk gekämpft habe, jetzt endlich tritt es in’s Leben, und eine Besprechung in einem weitverbreiteten Blatte ist jetzt mehr werth als alle meine und Anderer Vorarbeiten. Auch mußte die Noth erst am größten werden, um die Hülfe am nächsten zu bringen. Und es gehörte noch ein im Auslande jenseits des Meeres durch Märtyrer- und Heldenthum geschulter tüchtiger Deutscher mit seiner reichen Erfahrung gerade auch auf diesem Gebiete und ein durch Leben und Streben in England in seinem Ideenkreise erweiterter deutscher Geist dazu, um den deutschen Central-Bauverein wirklich in’s Leben zu rufen.
Dr. E. Wiß, der 1848 aus seiner Berliner Wirksamkeit nach Amerika flüchtete und sich dort mit unbeschränkter Selbstregierung und freier Genossenschaft, endlich mit Lincoln, dem Freiheitskriege und dem amerikanischen Staatsdienste (zuletzt als amerikanischer Consul in Holland) gründlich vertraut machte, gründete neuerdings mit dem Herrn H. Quistorp in Charlottenburg, Inhaber der Vereinsbank und Bruder des als Kaufmann und Mensch hochgeachteten Commercienraths in Stettin, den Mittelpunkt genossenschaftlicher Erbauungskunst für Deutschland, zunächst für Berlin und die Umgegend.
Wenn man den beiden Männern in die Augen und dann noch in ihr Geschäft, in die Paragraphen dieses Vereins blickt, hat man sofort Zutrauen in diese ganze wirthschaftlich befreiende und sich aller Welt offenbarende Freimaurerei. Die zu Grunde liegenden Hauptideen sind folgende. Um allen gesellschaftlichen Classen die Wohlthat eigenen Hauses zu bieten, werden Heimstätten verschiedener Größe für leichteste Art der Erwerbung gebaut, jede mit Vor- und Hintergarten und Hof, in der Regel nur für je eine Familie, für die ärmsten noch sparfähigen Classen so, daß nur zwei oder drei Hausstände sich darin bequem und gesondert einrichten können. Aber auch bei diesen Häusern wird streng darauf gehalten, daß zu Gunsten eines gesunden und sittlichen Familienlebens immer gesonderte Räume zum Wohnen und Essen, Schlafen für Eltern und Kinder, eine besondere Küche und mindestens noch ein abgesonderter Raum für einen Kostgänger oder Gast vorhanden sei. Jedes Zimmer hat vom Corridor her einen besonderen Eingang, welcher weislich so angebracht ist, daß alle vier Wände fast vollständig für Stellung der Möbels verfügbar bleiben.
Machen wir uns ein Bild von einem solchen einfachsten und billigsten Hause für tausend Thaler, welches durch wöchentliche Zahlung von einem Thaler als schuldenfreies Eigenthum erworben werden kann. Unsere Abbildungen machen es schon so deutlich, daß nur noch wenige Worte zum genaueren Verständniß derselben und der Art ihrer Erwerbung gehören. Schon aus der Ferne sieht es einladend und gemüthlich aus. Hinter dem eingezäunten Vorgärtchen erhebt es sich nur zu einer Etage mit einem architektonisch verschönernden Vorsprung zu einem einfenstrigen Zimmer über der Hausthür. Der Eingang führt in einen Corridor bis zur Mitte, von wo aus vier Thüren in den Ecken angebracht, nach den drei Zimmern und der Küche dahinter, und eine Treppe geradezu in das eine obere Zimmer führen. Hinter der Treppe ist die Thür nach dem geräumigen Hofe, der mit Schuppen und [268] Stallraum etwa für ein Schwein, eine Ziege, Hühner oder sonstiges Gethier versehen ist und so zur Gemüthlichkeit und zum Nutzen des Haushaltes, besonders zum Vergnügen der Kinder beitragen mag. Die Zimmer sind fast alle größer, als wir sie bis jetzt in theuren und ungesunden Miethswohnungen finden, wesentliche Bedingung für gesundes Athmen. Da andere Häuser mit freien Hofräumen oder Hintergärten, wie sie namentlich für die Heimstätten über tausend Thaler beabsichtigt und zum Teil schon angelegt sind, einander gegenüber liegen und nur durch niedrige Mauern oder lebendige Hecken getrennt sind, so bildet sich hinter diesen Häusern ein freier, großer, freundlicher, gesunder Raum für alle Umwohner zugleich. Durch solche große Gartenflächen sind namentlich Londoner Vorstädte so gesund und malerisch schön geworden. Man blickt aus dem Vorgärtchen durch zwei Zimmer hindurch in die dahinter liegenden, und in die Zimmer winkt und wirkt von beiden Seiten grünes, lachendes Leben hinein. Welcher Gegensatz zu den engen, giftigen, dichtbewohnten Höfen großstädtischer Miethscasernen, die oft eben so eng als tief und hoch ihren Bewohnern den Himmel mit Luft, Licht und Leben nur wie eine kleine Oeffnung über dunklem Abgrunde voller Kohlensäure und Pestluft aus der selten gereinigten Excrementenhofburg zeigen! In dem wohlfeilsten, einfachsten Häuschen des deutschen Central-Bauvereins ist den äußeren Bedingungen für ein gesundes, edleres Culturleben ebenso Rechnung getragen, wie in den theueren für wohlhabende Classen.
Diese Tausendthaler-Häuser kann sich jeder Vereinsgenosse durch wöchentlich einen Thaler Abzahlung allmählich als schuldenfreies Eigenthum erwerben, und zwar mit Grund und Boden, auch dicht bei Berlin oder anderen Großstädten. Dies sind aber noch nicht die ärmsten sparfähigen Classen, so daß man namentlich für wohlfeilere Gegenden und die armen Arbeiter auf dem Lande nach englischen Mustern noch tiefer steigen wird. In meiner Broschüre „Die Stadtgifte“ etc. habe ich die musterhaften „Panzerhäuser“ beschrieben, wie sie in England schon für fünfzig Pfund, also für etwa ein Drittel des bei uns erreichbar erscheinenden niedrigsten Preises gebaut werden. Dies wird auch bei uns möglich sein, so daß den Mitgliedern einer Baugenossenschaft schon bei einer wöchentlichen Einzahlung von zehn Silbergroschen binnen fünfzehn bis zwanzig Jahren das bewohnte Haus zum schuldenfreien Eigenthume wird, wie in England.
Der deutsche Central-Bauverein ist in Deutschland das erste Unternehmen, die sogenannten „Terminal-Baugesellschaften“, wie sie sich in England geradezu tausendweise wohlthätig ent- und abgewickelt haben, in’s Leben zu rufen. Durch Auswahl der besten Bestimmungen daraus ist die Sache bereits ebenso vereinfacht als vervollkommnet, und in Bezug auf Münzung und Verwerthung des genossenschaftlichen Credits, worüber sich namentlich der sachverständige Dr. Engel in Berlin, das berühmte Haupt der Statistik, ausgesprochen, lassen sich noch viele Vortheile für alle Genossen verwirklichen. Namentlich empfehlen sich Entrichtungen für das Creditgeben, also Vorschüsse für Genossen, die auch als redliche Arbeiter oder Handwerker in den Fall kommen können, Geld auf Credit gut zu verwerthen und deshalb auch zu verzinsen. Da sie zugleich Gläubiger und Schuldner der Genossenschaft sind, durch Einzahlungen, Eigenthum und Vertrauen Gewähr bieten, kann ihnen die Bank der Genossenschaft gelegentlich Geldverlegenheiten sehr gut ersparen.
Unser Verein hat zunächst um Berlin herum verschiedene Bodenflächen erworben, um darauf seine Häuser in Abstufungen von tausend bis zehntausend Thalern den Genossen der einzelnen Mitgliedsgruppen zu erbauen und so Blüthentrauben von Vorstädten anzulegen, wie sie namentlich London in Schichtungen weit rings umgeben. Dies wird auch zu der englischen Lebens- und Geschäftsweise führen, wie sie sich in Hamburg, Köln etc. bereits vortheilhaft geltend macht, und wie ich sie in der Gartenlaube früher geschildert und empfohlen habe. Der Mittelpunkt der Stadt wird immer mehr Geschäft, in welches man jeden Morgen aus der gesunden, halbländlichen Wohnung geht, fährt oder reitet, um ununterbrochen bis vier, fünf Uhr zu arbeiten und dann in die Ruhe und Schönheit des Familienlebens draußen zurückzukehren. Künstler, Gelehrte und sonstige gebildete Familien können fortdauernd draußen wohnen und arbeiten und sich der ihr Eigenthum werdenden Häuslichkeit ohne Störung und Stadtgifte erfreuen.
Nach den Statuten des Vereins bilden sich einzelne Genossenschaften für Häuser von tausend bis zehntausend Thalern. Jedes Mitglied zahlt nach einer Einlage von zwei auf je tausend Thaler (die angerechnet werden) wöchentlich einen. Diese Einzahlungen werden mit Zins auf Zins gutgeschrieben und vierteljährlich mit fünf Procent verzinst. Ausgearbeitete Tabellen darüber, jedem Genossen eingehändigt, zeigen die erstaunliche Fruchtbarkeit solcher eingezahlter Ersparnisse, der Capitalserwerbung auf die leichteste und vortheilhafteste Weise, so daß die Zahlungen für den Nießbrauch des Hauses bis zur völligen Abzahlung dadurch so gut wie vergütet werden. Ist der Betrag für ein Haus beisammen, so steht dasselbe schon fix und fertig und wird verloost. Durch weitere Einzahlungen, wobei Zins auf Zinszinsen, Capital und Credit ungemein förderlich werden, ist der Beitrag für das nächste Haus und dieses selbst bald da und letzteres wird wieder verloost. Und so geht es fort, und zwar so, daß kein Mitglied länger als zwölf Jahre für sein Haus einzuzahlen und zu sparen braucht. Das Geld fließt also wie in eine Sparcasse. Viele zahlen, wie in England, ohne Rücksicht auf ein Haus, blos der guten und sicheren Zinsen wegen ein. Dadurch wird die Genossenschaft überhaupt eine wohlthätige Vereinigung von Personen, die Credit geben und nehmen. Wer auf ein Haus einzahlt, kann den Betrag, wenn er nicht weiter fortfahren will oder kann, stets unverkürzt zurückerhalten. Aber wenn nun ein Ernährer, nachdem er so und so viel Jahre eingezahlt und vielleicht schon ein Haus gewonnen hat, plötzlich stirbt und Wittwe und Kinder nicht weiter zahlen können? Im schlimmsten Falle können die Erben ihren Eigenthumsantheil verkaufen; aber jedes Mitglied wird es hoffentlich vorziehen, sich sofort für den Fall seines Todes auf den Betrag für das Haus zu versichern. Dies wird nach englischem Muster so gemacht. Man zahlt auf ein Haus für die und die Summe ein. Diese wird bei einer Lebensversicherung mit zwei bis drei Silbergroschen wöchentlich auf je tausend Thaler so versichert, daß im Todesfalle diese Lebensversicherungsgesellschaft den Rest des Guthabens an die Baugenossenschaft zahlt und die Erben dadurch sofort in den schuldenfreien Besitz ihres Hauses eintreten. Größerer Deutlichkeit wegen ein Beispiel. Der versicherte Genosse hat fünf Jahre lang etwa zweihundertfünfzig Thaler auf sein Haus für tausend Thaler eingezahlt und stirbt. Jetzt zahlt die Versicherungsgesellschaft den Rest der Schuld, siebenhundertfünfzig Thaler, auf einmal an die Baugenossenschaftscasse, und Wittwe oder Erben erhalten das Haus sofort als schuldenfreies Eigenthum, das sie vielleicht mit fünfzig Procent Gewinn verkaufen können. Der Versicherte zahlte während der fünf Jahre etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Thaler. Man kann also die Seinigen auf die billigste Weise gegen alle Gefahr vor Verlust schützen. Die Billigkeit erklärt sich dadurch, daß sich mit jeder Woche der auszuzahlende Betrag für den Todesfall verringert und zwar mit Rücksicht auf die übrigen Einzahler so bedeutend, daß sich die zwei, drei Silbergroschen auf’s Tausend in England erfahrungsmäßig noch als ein bedeutender Nebengewinn der Versicherungsgesellschaften erwiesen haben.
Unser Verein wartet übrigens durchaus nicht mit seinen Bauten, bis sich die Beträge für je ein Haus eingefunden haben. Im Nordosten Berlins läßt er auf einmal dreißig Eintausendthalerhäuser, im Süden mehrere Reihen von theureren und auf dem luftigen, schon malerisch bepflanzten und bebauten Westende mehrere Zehntausendthaler-Villas aus eigener Capitalskraft bauen, um sie den Genossen zur Verfügung zu stellen. Abzweigungen für dieselben Zwecke mit denselben Statuten haben sich in mehreren Provinzialstädten theils gebildet, theils sind sie noch im Werden begriffen. Die Statuten geben blos allgemeine, unerläßliche Bedingungen, innerhalb welcher noch mit jedem einzelnen eintretenden Genossen ein freies, klares Abkommen getroffen wird, worin er in Bezug auf den Bau und die Einrichtung seines Hauses u. s. w. seinem Bedürfnisse und Geschmacke Genüge und Rechte sichern kann. Dasselbe gilt für Zweig-Vereine in den Provinzen.
Kurz, die Suche ist so begründet und gegliedert, daß jeder Betheiligte immer nur gewinnen und selbst bei Verarmung oder Tod das eingezahlte Geld nie verloren gehen kann. Auch ist die Genossenschaft frei von den Gefahren, denen andere, selbst solide Unternehmungen nicht selten unterliegen. Das Geld wird ja immer in soliden, sich durch weitern Anbau im Werthe steigernden Häusern angelegt und diese hypothekarisch und durch Feuerversicherung über anderweitige Gefahr erhoben. Jeder Besitzer zahlt fünf Procent für den Nießbrauch seines Hauses nur bis zur Höhe [269] seines Antheils, und dann ist es sein schuldenfreies, im Werthe vielleicht schon doppelt gestiegenes Eigenthum. In der Nähe großer, wachsender Städte kann es leicht vorkommen, daß so ein Tausendthalerhaus nach zehn Jahren schon zweitausend Thaler werth ist, so daß der Besitzer und bald schuldenfreie Eigenthümer es geradezu wie ein Geschenk betrachten kann. Mit anderen Worten: er erhält für seine gesparten tausend zweitausend Thaler. Und dann hat er noch während der Zeit billiger und besser gewohnt und sich und den Seinigen ein herrliches Capital von gestärkter Gesundheit, schönerem Familienglück und höherer Cultur erworben.
Ueber die Fruchtbarkeit des Creditgebens und Creditnehmens müßte man den Geheimrath Dr. Engel sprechen lassen. Vielleicht räumt die Gartenlaube dafür später noch ein Plätzchen ein, weil man damit herrlich nachweisen kann, wie eine solche Baugenossenschaft
zugleich auch zur wohlfeilsten und gewinnreichsten Form der Sparcasse wird. Die Gründer des deutschen Centralbauvereins haben für Deutschland den Grund und Boden für solche genossenschaftliche Förderung gewonnen und bebauen ihn bereits in den verschiedensten Formen. Diese können überall und ohne Anstrengung für Stadt und Land eingerichtet und verpflanzt werden. Sie sprechen deshalb auch in ihren Statuten die feste, klare Ueberzeugung aus, daß sie ein gesundes, volkswirthschaftliches, materiell und moralisch schöpferisches Unternehmen in’s Leben gerufen haben. Es hängt nicht von dem guten Willen und der Wohlthätigkeit Einzelner ab, demüthigt auch den ärmsten, noch sparfähigen Arbeiter nicht durch Angebot von Almosen, sondern giebt ihm blos Gelegenheit, sich aus eigener Kraft mit seiner Familie aus der Noth und Unsicherheit des Lebens und Wohnens zu erheben.
Solche Baugesellschaften fördern das Gemein- und Einzelwohl durch Erziehung zahlreicher freier und unabhängiger Besitzer unbeweglichen Eigenthums, schöner, eigener, gesunder Herde, die mehr werth sind als Gold. Innerhalb dieses unbeweglichen Eigenthums blühen und fruchten noch viel höhere, die beweglichen geistigen und sittlichen Werthe, welche sich nicht auf’s Haus beschränken, sondern von Nachbar zu Nachbar sich wohlthuend über ganze Gemeinden und Völker ausdehnen.
Auf die sociale Frage giebt es verschiedene Antworten, aber keine erbaulichere und versöhnendere als die unserer genossenschaftlichen Freimaurer.
Erinnerungen aus dem heiligen Kriege.
„Um Frankreich und dessen Bewohner zu kennen, darf man nicht in Paris gewesen sein,“ sagte mir eines Tages mein Wirth in Tours. „Man verwechselt uns Franzosen immer mit den Parisern; es giebt keinen größeren Gemeinplatz und keine hartnäckigere Lüge als die Phrase: Paris ist Frankreich. Nichts weniger als das. Paris ist ein Ding, ein Land, ein Reich für sich und ebenso machen die Pariser eine eigene Nation aus, es ist die Stadt des Völkermischmaschs, die Residenz, die sich das moderne Babel, nämlich der Gedanke des Weltbürgerthums erbaut hat, an diesem werden die Nationalitäten und an Paris wird Frankreich zu Grunde gehen. Wer unser Land, wer unser Volk kennen lernen will, der muß zuerst in die Provinz, dann erst nach Paris gehen.“ Nun denn, die Vorbedingungen wären erfüllt, um nach dieser Weisung einen Einblick in französische Verhältnisse, in Sitten und Gewohnheiten des täglichen und häuslichen Lebens, in den Charakter, die Denk- und Gefühlsweise des Volkes zu gewinnen. Ich habe die Seine nur bei Troyes und bei Fontainebleau, nie bei Paris gesehen, wir haben die Provinz vom äußersten Osten bis zum Westen, [270] und von da wieder ein gutes Stück nach Süden hinab durchzogen, wir haben Lothringen kennen gelernt, den südlichen Theil der Champagne, wir sind bis an die Grenzen von Burgund gestreift, wir sind in den Kornboden Frankreichs, in die Beauce und das Gatinais eingebrochen, wir haben uns in das Stromgebiet der Loire und des Loiret vorgeschoben, wir haben Bekanntschaft mit dem Lande der französischen Obotriten, mit der Vendée gemacht, es hat uns dann weiter südwärts gezogen in die lachenden Gegenden der Touraine, an die reizenden Loireufer mit ihren alten Renaissanceschlöstern, ihren modernen, graciösen Villas und ihren im Februar veilchenblühenden und -duftenden Auen. Ueberall habe ich mit den Leuten des Landes am Kamine gesessen, habe ihren Pot au feu gehütet, daß die Fleischbrühe nicht überlief; nicht nur einen Scheffel Salz habe ich mit ihnen gegessen, nein, auch so und so viele Cotelettes und Hühner und Kalbsbraten, habe ihren Wein ausgetrunken, in ihren Betten geschlafen, habe sie Napoleon den Dritten und Gambetta verwünschen hören, dabei mir von ihren Familienverhältnissen erzählen lassen und ihnen Vorlesungen über Deutschland gehalten und über das Paradies, welches die Deutschen bewohnen. Also werden mir meine lieben Leser vielleicht zutrauen, daß ich ihnen manches Interessante über Land und Leute in Frankreich erzählen kann. Ich will heute mit der nachfolgenden kleinen Skizze beginnen.
Am 8. August, wo man allgemein glaubte, die Franzosen würden nach den Schlachten von Spichern und bei Weißenburg und Wörth die Saarlinie halten und sich zur entscheidenden Schlacht stellen, überschritten wir die französische Grenze. Die ersten französischen Quartiere sollten wir in Saargemünd beziehen. Dorthin war ich mit der Colonne des Hauptquartiers dem Stabe vorausgegangen. Durch diesen Vorsprung hatte man den Vortheil, sich eines Quartiers nach eigener Wahl zu versichern. Auf der Mairie, oder wie die Baiern sagen Marie, hatten sich im großen Sitzungssaale der Väter der Stadt unsere Quartiermacher installirt und die lebensgroßen Oelbilder Napoleon’s des Dritten und Donna Eugenia’s schauten finster genug auf die preußischen Uniformen herab, welche sich’s in den hohen Lehnstühlen ganz bequem gemacht hatten, ein Quartierbillet nach dem andern in Empfang zu nehmen, und auf die ganz verzweifelte Frage des bereits vor Angst schwitzenden Beamten „Encore?“ mit einem trockenen „Encore“ antworteten. Man ließ mir die Wahl zwischen zwei Billets, bei einem Schlächter und bei zwei Putzmacherinnen. Beim Schlächter, sagte ich mir, die Billets in der Hand abwiegend, bekommst du jedenfalls gute Verpflegung, bei den Putzmacherinnen jedoch ist vielleicht besseres Quartier. Ich gab das Quartierbillet für den Schlächter zurück. Ich fand ein kleines, elegantes Haus, in der ersten Etage kündigte sich das Modemagazin durch eine ausgebaute Glasauslage an. Ich war auf ein paar graciöse Französinnen gefaßt, welche die hohe Schule der Hauben und Hüte und Fichus in Paris absolvirt hatten; das erste lebende Wesen, welches mir aus der Wohnung entgegentrat, war ein kleiner Affenpinscher, der auf die fremde Einquartierung dressirt zu sein schien, denn er bellte mich mit französischer Lebhaftigkeit an; nun trat eine junge Dame aus der Thür, um ihm Ruhe zu gebieten, verschwand jedoch bei meinem Anblick blitzschnell, die Thür hinter sich zuwerfend.
Recht herzlicher Empfang! dachte ich mir, aber vielleicht kommt's noch. Richtig, die Thür that sich auf, drei weiblichen Wesen befand ich mich gegenüber, zwei jüngeren zwischen vierundzwanzig bis dreißig Jahren und einer älteren Frau. Alle drei schienen aus Trauer um das bedrohte Vaterland das Gelübde gethan zu haben, sich vierzehn Tage lang nicht zu waschen, nicht zu kämmen, kattunene Nachtjacken zu tragen und alle unnöthigen Unterröcke auf dem Altare des Vaterlandes niederzulegen; die beiden Jüngeren waren sehr häßlich, die Alte dagegen sogar sehr hübsch, nur weil sie keinen Anspruch darauf machte, es zu sein. Nein, das können meine Quartiergeberinnen nicht sein; jedenfalls hatte ich mich in der Etage geirrt.
„Wo wolle Sie denn hin, Herr?“ frug mich die Alte in deutschem Moseldialect, als ich eine Treppe höher gehen wollte.
„Ich habe ein Billet für die Mesdemoiselles so und so, marchandes de Modes.“
„Da sind Sie als recht bei uns, die Mesdemoiselles sind hier mei Töchter, und ich bin die Mutter."
„So – hm – Sie sind die Mutter – hm.“
Gewöhnlich, dachte ich bei mir, pflegen Putzmacherinnen keine Mütter zu haben, aber in diesem Falle, bei diesen Töchtern da schadet’s auch nicht. Es wäre doch besser gewesen, ich hätte das Quartierbillet beim Schlächter behalten. Ich wurde in einen Salon geführt, in welchem Mademoiselle Zoë, die ältere der Töchter und die Seele des Geschäftes, „die das Genie hat“, wie mir die Mutter vertraute, ihren Kundinnen Audienz zu ertheilen pflegte; da waren auf den Tischen Cartons ausgebreitet, da standen ringsum schwarzpolirte Gestelle, auf denen sich einst coquette Hüte graciös gewiegt hatten, nun waren sie leer, nur einige verstaubte Mousselinhauben trauerten mit geknickten Flügeln der früheren Herrlichkeit nach, und die Mutter öffnete verzweiflungsvoll die Cartons, zeigte auf verstaubte Federn, auf verblaßte Blumen, verblichene Blätter, und klagte den Kaiser des Ruins ihres Geschäfts an. Sie hätten gar nichts mehr, und dabei seien die Preise des Fleisches, des Brodes, überhaupt aller Lebensmittel in einer Weise gestiegen, daß sie nicht mehr wüßten, woher sie die Mittel nehmen sollten. Alle Bekannte, von denen sie hätten borgen können, seien aus der Stadt beim Nahen der Preußen geflohen auch ihre Töchter hätten, wie alle Jungfrauen, diese Absicht gehabt, aber das hätten sie nicht nöthig gehabt und dem habe sie sich energisch widersetzt.
„Die Preiße sind doch keine Unmensche, das sind polirte, honette Leut’. Ei, mer kenne sie doch von Saarbrück her, ,ihr thut hier bleibe, ihr faudirt euch nicht` hab' ich zu meine Demoiselles gesagt.“
„Sehr wahr. Ihre Demoiselles werden von den Unsrigen nichts riskiren.“
„Ach, Herr, wenn nur endlich Friede werde thät'! Ob wir Preiße, ob wir Baschkire werde, das ist uns toute la même chose, wenn als nur das Geschäft in eme gute Train geht.“
Die Frau und die Töchter seufzten schon nach Frieden, ehe nur der Krieg angegangen war.
Diese Jeremiade war mein Willkomm in dem Hause. Die Aufregung der Damen legte sich indessen und machte einer höchst freundlichen Stimmung Platz, als ich den Dreien erklärte, daß ich nur ein Zimmer zum Wohnen, ein Bett zum Schlafen, einen Tisch zum Schreiben beanspruchte, allenfalls Morgens Kaffee, den ich ihnen jedoch bezahlen würde, sonst kein Frühstück, kein Diner. Wie glücklich waren sie darüber! Das heiße Dankgefühl ihres Herzens ließen sie an meinen Stiefeln aus. Ich wollte nicht zugeben, daß dieselben Hände, die sonst stur mit Gaze und zarten Blumen hantirten, die Arbeit des Schuhputzens übernähmen. Aber sie machten es wie weiland Nürnbergs Jungfrauen mit Kaiser Maximilian dem Ersten: um ihn an der Abreise zu verhindern, um ihn zu zwingen, während der Fastnacht noch einem Tanze auf dem Rathause in Nürnberg beizuwohnen, nähmen sie ihm heimlich die Stiefel weg. So geschah es auch mir; wenn ich noch schlief, schlich sich die Alte in das Zimmer, holte die Stiefel, und wenn ich erwachte, konnte ich mein verschlafenes Gesicht in ihrem Glanze sich spiegeln lassen. Das rührte mich tief und bezwang zuletzt meinen Unmuth, den ich über mich selbst hatte, daß ich nicht lieber bei den Fleischtöpfen des Schlächters mich niedergelassen hatte, als bei verhungerten Putzmacherinnen.
In Puttlange, was ein alter deutscher Ort ist, genannt Püttlingen, wohnte ich nach Verhältniß des kleinen Ortes recht gut und wurde ebenso gut verpflegt und bedient, jedoch bei wem und von wem? das möchte ich heute noch wissen; das habe ich nicht erfahren können. Das Haus, in das ich eintrat, war bewohnt; überhaupt hatten hier zwischen Saar und Mosel die Leute, zum größten Theile wenigstens, ihre Wohnungen noch nicht verlassen; die Ereignisse rückten ihnen zu schnell auf den Hals. Sie hatten allenfalls nur noch Zeit, ihr Geld und ihr Silberzeug bei Seite zu bringen; aber die Insassen selbst mußten bleiben, und sie erwarteten zitternd die in ihrem Wahne so furchtbaren Feinde. Man sah in den Orten nur ganz alte Leute; alle Bevölkerung unter vierzig Jahren hatte sich „sauvirt“; auch die Frauen, selbst wenn sie das kanonische Alter, das heißt die Vierzig bereits erreicht hatten, hielten ihre Ehre und Tugend dennoch gefährdet; namentlich schienen sämmtliche Kinder ausgestorben zu sein. Kein Wunder auch, unsere Soldaten waren in den Ruf gekommen, daß sie Kinder besonders schmackhaft fänden – die Tollheit war um diese Zeit in einem französischen Gehirne der normale Zustand, und jetzt ist es noch nicht viel besser geworden.
Wie bereits bemerkt, deuteten alle Anzeichen darauf hin, daß [271] das Haus, in welchem ich Quartier beziehen sollte, bewohnt war. Aus der Küche drang ein einladender Bratengeruch; ich hörte Thüren öffnen und schließen, aber Niemand zeigte sich, um mir mein Zimmer anzuweisen, wenn ich es nicht selbst gefunden hätte durch den Namen, den der Quartiermacher angeschrieben hatte. Siehe da, Alles war für meine Ankunft vorbereitet; der Tisch war vollständig gedeckt, ein einfaches Mittagsessen war reservirt, die Suppe dampfte noch aus der Terrine; man mußte also den Moment, wo ich in Sicht war, erfaßt haben, um sie auf den Tisch zu stellen und dann flugs den Rückzug zu nehmen. Ich setzte mich hin und aß, ganz allein wie der Papst; ich klingelte dann, daß man den Tisch abräume. Kein lebendes Wesen ließ sich sehen; doch ja – eine Katze kam gravitätisch hereinspaziert, eine der herrlichen Angorakatzen, wie man sie häufig in Frankreich hat, sah mich groß an, suchte sich einige Augenblicke niederzusetzen und entfernte sich ebenso feierlich, wie sie gekommen war. Außer diesem vierbeinigen Besuche vermochte ich kein lebendes Wesen zu entdecken.
Des Nachmittags war ich ausgegangen, des Abends kam ich nach Hause, wieder war der Tisch zum Abendessen servirt, das Bett abgedeckt, auf dem Kopfkissen lag, wie in allen französischen Betten, die übliche weiße, baumwollene Zipfelmütze, aber in dem Hause herrschte Todtenstille, es schien von dienstbaren Geistern, von Heinzelmännchen, von irgend einem unconcessionirten Dienstmanninstitut bewirtschaftet zu werden. Unfreundlich schienen sie eben nicht zu sein; meinen Mantel, der vom Regen während des Tages durchnäßt war, fand ich getrocknet vor, überall begegnete ich Spuren einer sorgenden, thätigen Hand, aber von dieser selbst war nicht eine Fingerspitze zu erspähen. Die Sache fing fast an, unheimlich zu werden, aber trotzdem hatte ich mich eines ganz gesegneten Schlafes zu erfreuen, aus dem ich am Morgen durch ein leises Klopfen an die Thüre geweckt wurde. „Wer da? Herein!“ rief ich, mir die Augen reibend, aber dem Rufe wurde nicht Folge geleistet, es kam Niemand. Mit einem Satze war ich aus dem Bette, riß die Thür auf, die ich, nebenbei gesagt, niemals verschließe, auch während des Feldzuges in keinem Quartier verschlossen gehalten habe; der Flur vor meinem Zimmer war leer, ich glaubte das leise Anziehen einer Nebenthür zu vernehmen, aber in der Toilette, in der ich war, konnte ich keine weiteren Nachforschungen anstellen. Als ich in mein Zimmer zurückkehrte, drang mir ein gar einladender lieblicher Duft entgegen; auf dem Tische war das Frühstück Café en lait mit Butter und Brod servirt. Nun verstand ich auch das Klopfen, man hatte mich durch dieses Zeichen aufmerksam machen wollen, daß der Kaffee kalt würde, aber wie derselbe in´s Zimmer gebracht worden war, ob durch das Schlüsselloch, ob das geheimnißvolle Haus ein „Tischlein decke dich“ besaß, das weiß ich heute noch nicht – meine lieben Leser werden es durch meinen festen Schlaf begreiflich finden, am Ende muß ich es auch annehmen, aber eine Stunde darauf trat ich den Weitermarsch an und ich ging aus dem Hause, in welchem ich neunzehn Stunden gewohnt, gegessen, geschlafen, gefrühstückt hatte, ohne ein anderes Geschöpf zu Gesicht bekommen zu haben, als den Hauskater, und der konnte mir über meinen Quartiergeber eben so wenig Auskunft geben, als ich es meinen lieben Lesern gegenüber vermag.
Eine Genugthuung hatten wir, glaube ich, in französischen Quartieren mehr oder minder Alle, nämlich, daß bei den Franzosen die Herzlichkeit beim Abschiede von uns größer war, als bei unserem Empfange. Nicht etwa darum, daß sie froh gewesen wären, unser los geworden zu sein, denn nach uns kamen wieder Andere, sondern weil sie sich gestehen mußten, daß wir um so viel besser waren, als der Ruf, in welchen uns ihre Journalisten und Priester gebracht hatten, weil sie sich innerlich eines Unrechtes gegen uns schuldig fühlten. Hier gewann das Reinmenschliche die Oberhand über alle nationalen Leidenschaften. Einen solchen eclatanten Fall erlebte ich auf unserem Vormarsche gegen die Mosel in Delme. Als ich in das Haus eintrat, in welchem ich mein Quartier finden sollte, begegnete ich im Flur einer Frau, die beim Anblick eines Prussien in ihrem Hause mit einem Schrei des Schreckens entfloh und die Thür hinter sich in das Schloß warf. Welches Bild bot sich dagegen des andern Morgens dar, als es an das Abschiednehmen ging!
Ich hatte mich in dem Hause installirt, die Frau ließ sich in der ersten Stunde nicht mehr blicken, dagegen aber war der Mann erschienen, seines Zeichens ein Ackerbürger, eine freundliche, biedere Natur, die mir die Hand bot und mich in ein Zimmer zu ebener Erde führte, an dessen Alkoven ein Schlafzimmer stieß. Der Mann brachte Wein, stieß mit mir an und erzählte mir, daß achtundvierzig Stunden vorher Theile der französischen Armee den Ort passirt, sowie daß sich die Campagnards gewundert hätten, die Armee, die sie auf dem Wege nach Deutschland glaubten, Kehrt machen zu sehen, man habe sie aber beruhigt und ihnen gesagt: die Franzosen hätten bereits den Preußen eine furchtbare Niederlage bereitet und seien auf dem Wege, sie an einer andern Stelle noch vollends zu vernichten; das hätten sie denn auch gerne geglaubt, nur erst, als sechsunddreißig Stunden darauf die preußischen Spitzen im Orte erschienen seien, da sei ihnen die Sache mit der Niederlage der Preußen nicht mehr ganz geheuer gewesen, die Cavallerie, die zuerst erschienen sei, habe gar nicht das Ansehen von Truppen gehabt, die kurz vorher aufs Haupt geschlagen worden seien, im Gegentheil hätten sie so frisch und wohlgemuth in die Welt gesehen und auf ihren Rossen eine Sicherheit zur Schau getragen, die einen auffallenden Gegensatz gegen die französische Reiterei gebildet habe. Letztere schien es sehr eilig gehabt zu haben, so erzählte mir mein Wirth. Natürlich versäumte ich es nicht, ihn über die wahre Sachlage aufzuklären, daß wir die Sieger und die Franzosen auf dem Rückzuge seien, die Sache schien ihm auch einzuleuchten, trüb schaute er in das Glas, rückte die Mütze von einer Seite des Kopfes auf die andere und sagte mehrere Male. „O armes Frankreich! o Paris! diese verruchte Stadt ist die Ursache all’ unseres Uebels.“
Während einer Gesprächspause klopfte es an die Thüre. Ein Mann, in der Mitte der Dreißiger und in der Uniform der preußischen Oberstabsärzte; das Gesicht von einem Vollbart umsäumt, trat in das Zimmer. Er überreichte dem Besitzer des Hauses ein Quartierbillett lautend auf einen Officier und einen Burschen.
„Das kann nur ein Irrthum sein,“ bemerkte ich, „dieses Haus ist bereits vom Obercommando der II. Armee belegt und außer einem kleinen Wohnraume, in dem sich die Wirthsleute aufhalten sind diese beiden Gemächer die einzige bewohnbare Localität.
„Mir ganz einerlei!“ versetzte der Militärarzt, „ich gehöre zum X. Corps, bin Chefarzt eines Lazareths und habe von unserm Fourier dieses Quartierbillet der Mairie eingehändigt erhalten. Ich bleibe.“
„Es fragt sich nur, wo Sie bleiben,“ war meine Erwiderung, und in dieser lief ein gereizter Ton unter. Ich habe schon früher an einer andern Stelle betont, wie sehr der Krieg dazu angethan sei, jede egoistische Regung im Menschenherzen zu steigern. Namentlich findet das auf Quartiere seine Anwendung. „Ich bin zuerst hierher gekommen, ich werde meine Rechte hier geltend machen,“ erklärte ich.
„Und ich weiche nicht von der Stelle!“ war die Antwort des Arztes. Ich habe nicht Lust, in dem Hundeneste noch eine Stunde nach Quartier umherzulaufen. Wer sind Sie überhaupt, mein Herr? Sie sind Civilist, ich trage Uniform, ich habe hier das Vorrecht. Ich lege Beschlag auf das Bett.“
„Mein ist das Bett und mir gehört es zu!“ rief ich in plötzlicher parodirender Eingebung und stellte mich vor den Eingang des Alkovens.
Es fielen gegenseitig noch einige sehr heftige Redensarten, es war nicht abzusehen, wie der Streit geendet haben würde, wenn nicht plötzlich eine Pause eingetreten wäre und Einer den Andern schärfer in’s Auge gefaßt hätte. Plötzlich ertönten in gleichem Momente von vier Lippen die gegenseitigen Namen, begleitet von einem hellschallenden Gelächter.
„Du bist’s, Du? Aber Mensch, wie kommst Du denn hierher?“ So begegneten sich die Fragen fast in den nämlichen Ausdrücken, begleitet von kräftigem freudigem Händeschütteln. In der Hitze des Gefechts, durch die äußere Veränderung, die mit meinem Gegenüber, wie mit mir von der Zeit vorgenommen worden war, hatten wir uns nicht erkannt, und nun fiel plötzlich der Schleier von unseren Augen. Der jetzige Chefarzt war früher in Berlin Mitglied eines lustigen Kneipkreises, genannt die „Reifenschwinger“, zu dem unter Anderen Hans Wachenhusen, Gustav Rasch, Julius Rodenberg, Georg Hesekiel, Karl Frenzel und auch meine Wenigkeit gehörten. Seit zehn Jahren hatten wir uns aus dem Gesicht verloren, fast gar nichts mehr von einander gehört,
[272][273] und nun mußten wir uns auf fremdem, französischen Boden in einem uns Beiden zugewiesenen Logis ganz zufällig wiederfinden. Sehr spaßhaft war die verblüffte Miene, die unser Wirth zu dieser Begegnung machte. Erst dieses gegenseitige kurze pikirte Auftreten und dann plötzlich diese fröhliche Herzlichkeit – man sah es ihm an, daß er sich keinen Vers darauf zu machen wußte. Schließlich machten wir ihm denn die Sache klar, und nun bezeigte die ehrliche Haut eine Freude, als ob er der Dritte im Bunde wäre. Ganz unbemerkt verschwand er und kehrte mit einigen Flaschen sehr alten, vortrefflichen Burgunders zurück. Nun setzten wir uns fest und erzählten uns unsere Erlebnisse während dieser zehn Jahre. Mein Freund war ein tüchtiger Arzt geworden, hatte sich verheirathet, war mehrfacher Vater und vor einem Jahre Wittwer geworden, sonst aber fanden wir, daß wir die Alten geblieben waren. Namentlich hatte mein Freund eine Eigenschaft beibehalten, um die er früher vielfach geneckt worden war: er hatte die Gewohnheit, nur im Superlativ zu sprechen. Nach seiner Anschauung war Alles ausgezeichnet, wunderbar, großartig, pyramidal, grandios oder kolossal. Solche Naturen sind stets liebenswürdig, und so erwies es sich auch jetzt wieder.
So vergingen ein paar Stunden; unser Wirth hatte seine Freude an uns, verstand natürlich von unserm Gespräche nicht Ein Wort, lachte aber bald den Einen, bald den Andern seelenvergnügt an und nöthigte durch Anstoßen so lange zum Trinken, bis wir – ich muß es zu meiner Beschämung gestehen – alle Drei des süßen Weines mehr als genug hatten.
Unser Franzose war aus Rand und Band; er erzählte uns, daß man uns eigentlich für eine große Räuberbande halte und mit den Cartouches und Mendrins auf eine Reihe stelle. Der ganze Ort habe sein baares Geld in Sicherheit gebracht, und wenn man in der Kirche der heiligen Jungfrau den Jupon aufhebe, so werde man darunter sämmtliches baare Vermögen finden. Auch er habe darum seine Frau in den Schornstein gehängt – nein, nicht seine Frau, sondern nur seine silbernen Löffel, verbesserte er, im Gegentheil, Madame Jouvenot sei eine ausgezeichnete Frau, die man höchstens nur in Glas und Rahmen aufhänge.
Von Zeit zu Zeit bewegte sich der Vorhang hinter dem Glasfenster, und man sah das Gesicht der Frau, die vorhin bei meinem Erscheinen so plötzlich Reißaus genommen hatte, aufmerksam in das Zimmer lugen. Wahrscheinlich wollte sie sehen, ob wir ihrem Manne noch nicht den Kopf abgeschnitten hätten; da solches bis dato noch nicht geschehen, so schien sie Zutrauen zu gewinnen und erschien, wenn auch immer noch scheu und zögernd, in der offenen Alkoventhür, bis Monsieur Jouvenot sie an der Hand nahm und feierlichst präsentirte. Madame hatte nun die Ehre, in den Zecherkreis gezogen zu werden; sie hatte einen dunklen Schnurrbart auf den Lippen, der manchem Fähndrich Ehre gemacht hätte, und schlug auch eine tüchtige Klinge; am Abend stand eine Batterie von acht leeren Flaschen auf dem Tische. Vom Weggehen meines superlativen Freundes war nun keine Rede mehr. Als ein Beweis besonderer Auszeichnung räumte ihm das Ehepaar sein schneeweißüberzogenes eheliches Bett ein. Und als wir am andern Morgen – die Sonntagsglocken läuteten rings in die Berge – von dem Ehepaar Abschied nehmen mußten, gab es nichts Betrübteres als Herrn und Madame Jouvenot, die uns die Versicherung gaben, daß sie Wüthriche erwartet und nun Menschen kennen gelernt hätten, die plaudern und lachen, die trinken und fröhlich sein können wie sie selbst.
Sie standen sich Aug’ in Auge gegenüber; zu anderer Zeit und an einem anderen Orte wären sie einander wohl in die Arme gefallen: statt dessen fuhren sie jetzt betroffen auseinander; denn der Kurzenbauer, der endlich auch die Seinigen vermißt hatte, war ebenfalls nach dem Treffpunkte geeilt und eben recht gekommen, um die Beiden zu sehen und den Schluß ihrer Unterredung mit anzuhören. Die Mahm, die er zuerst getroffen, stand neben ihm, schweigend, aber mit einer Miene, in welcher Rührung und Spott durcheinander zuckten, als wollle sie sagen: Ich hab’s gewußt, daß es so kommen wird – nun ist’s doch geworden, ohne daß Du etwas gemerkt hast.
„Brauchst Dich nit zu strapazir’n!“ rief der Bauer zornig, „es thät’ Dich doch nichts nutzen! Wenn Du den Glauben auch zuwegen bringst, es wär’ doch ein Aberglauben. Du und mein Deandl? Ein Holzknecht und die reichste Bauerntochter aus der Gemeind’? Ein Fremder und eine Jachenauerin? Kreuzbirnbaum und Hollerstaud’n, das wär’ eine schöne Zusammenstellung! Und wie ist’s nachher – ich mein’, da müßt’ ich doch wohl auch gefragt werden?“
„Das ist gewiß, Vater,“ sagte Stasi, die jetzt, nachdem alle Last von ihrem Herzen genommen war, die alte Festigkeit wieder fand. „Wenn Du doch schon einmal gehorcht hast, dann wirst auch gehört haben, daß ich Dir heut’ noch Alles hab’ selber sagen wollen – früher hab’ ich’s ja nit können; ich hab’s ja selber nit gewußt, Vater.“
„So?“ schrie der Bauer. „Und damit, meinst wohl, wär’ schon Alles in Richtigkeit? Wär’ ich Dir g’rad’ recht zum Jasagen? Also deswegen bist so dasig ’worden, weil Du Einen g’funden hast, der Dir Herr ’worden ist? Meinetwegen – aber mir wird er nit Herr! In die Jachenau kommt kein Fremder, so lang’ ich’s verhindern kann, und auf’n Kurzenhof schon gar nit.“
Ein zweiter Kanonenschuß unterbrach den Erguß seines Zornes; die Bergschützen, die ihres Hauptmanns gewärtig schon lange verwundert in der Nähe gestanden, kamen eilends heran, denn der Schuß zeigte an, daß der König und seine Escorte das Thor der Stadt verlassen habe und sich bereits der Festwiese nähere, es war also die höchste Zeit, sich im Zuge aufzustellen oder einen Platz zu wählen, von welchem aus wirklich etwas von den zu erwartenden Festlichkeiten zu sehen war.
„Ich geh’, weil ich muß,“ sagte Martl, indem er seinen Hut aufhob und kräftig auf die Stirne drückte. „Weil ich muß, sag’ ich, nit weil ich mich fürcht’! Ich fürcht’ Dich nit, Kurzenbauer, und wenn Du Dich noch so fuchtig anstellst – ich hab’ mich vor Deinem Madl auch nit g’fürcht’t, und das ist doch ein ander’s Korn; die trifft besser mit ihren Augen als Du, denn die hat mir gleich einen Kernschuß gegeben mitten in’s Herz hinein! – Ich geh; aber ich komm’ wieder, und nachher wirst wohl anders reden.“
„Ja, Martl, geh’,“ sagte Stasi, „und komm’ wieder, und wenn der Vater nit anders red’t, – ich bin g’wiß nit anders; ich halt’ aus bei Dir, und wann ich zu Dir nach Lenggries zieh’n müßt’ in die Hütten von Dein’ alten Mutterl.“
Sie boten sich nochmal, wie zur Bestätigung des Gelöbnisses, die Hand; dann schritt Martl mit seinen Burschen hinweg; Stasi trat vor an den Bergrand, der Bauer wollte folgen, denn trotz seines Aergers wollte er doch von dem Schauspiel nichts versäumen. „Schon recht,“ zürnte er weiter. „Wir werden schon sehen, wer Herr im Haus ist und wer das letzte Wort behält.“
In diesem Selbstgespräche fühlte er sich am Arme gefaßt und erblickte seine Schwester neben sich, die ihn zurückhielt. „Du nit, Bruder,“ sagte sie; „Du wirst’s letzte Wort nit b’halten, – und wenn Du’s behalt’st, nachher wird’s letzte Wort Ja heißen. Die Stasi geht, Du hast es g’hört: sie hat die Schneid’ und die Resch’n, die ich vor dreißig Jahr’n nit gehabt hab’ – probir’s nachher, wie Du allein auf’m Kurzenhof zurecht kommst; denn ich – das sag’ ich Dir – ich nehm’ mein Sachel und geh’ mit ihr! Ich hab oft mit’m Davongeh’n gedroht und hab’ niemals Ernst gemacht, jetzt aber wird nimmer viel gered’t, jetzt geschieht’s. Wenn Du also gescheidt sein willst – wenn Du in Deinen alten Tagen nit erfahren willst, was es heißt, kein’ Menschen bei sich haben, der Einen gern hat, dann sagst Ja, Bruder! Du solltest froh [274] sein, daß sich Einer gefunden hat, der sich von dem dornigen Zaun nit hat schrecken lassen und hat’s Röserl herausgeholt aus’m Garten; Du sollt’st den prächtigen Burschen auf den Händen tragen, und sollt’st froh sein, wenn Du Deiner Tochter ein freudig’s und vergnügt’s Leben schaffen und hinterlassen kannst, wenn Du einmal Deine Augen zumachst. – Und Eins will ich Dir noch sagend Lipp,“ setzte sie leiser, aber mit steigendem Nachdruck hinzu. „Wenn Du willst, daß ich Dir verzeih’ und das, was Du mir angethan hast, nit in die Ewigkeit mitnehmen soll, nachher sagst Ja … ich hab’ seit derselbigen Zeit kein Sterbenswörtl mehr von ihm gehört – Du weißt wohl, wen ich mein’ – ich hab’ ihn nimmer unter’n Lebendigen gesucht. Heut’ aber hab’ ich ihn wieder g’sehn – als einen alten Lumpen, Bruder – als einen Vagabunden, das ist er durch Dich ’worden, Bruder; Du hast ihn auf’m G’wissen, wie mich … das ist eine schwere Bürd’, Bruder – mach’, daß sie Dir leichter und Dein Sterbkissen einmal linder wird – und sag’ Ja; – sonst reisen wir nimmer zusammen heim in die Jachenau.“
Der Bauer sagte gar nichts; er schritt nur in zorniger Eile den Berg hinab, gerade auf das Königszelt zu; dort, meinte er, müsse man Alles am Besten sehen können, denn dort war noch der einzige von Menschen nicht überfüllte Raum. Darin hatte er auch ganz Recht; nur wußte er nicht, daß der Platz vor dem Zelt frei bleiben mußte, und daß berittene Landwehr und Gensd’armerie die Aufgabe hatten, die Zuschauer in weiten Kreisen zurückzuhalten. Eben als er hinein wollte und sich darüber mit den Reitern herumstritt, krachte ein dritter Schuß; der König fuhr heran und hielt vor dem Zelte. Er bemerkte beim Aussteigen den kleinen Auflauf, warf einen flüchtigen Blick auf die drei Gebirgsleute, und rief einem Lakai zu, er solle die Gesellschaft neben das Zelt führen und vor demselben in einer Ecke postiren. Von dort aus konnten sie Alles unmittelbar und in größter Bequemlichkeit betrachten; es war, als gehörten sie auch zu den Vornehmen, den Beamten und Officieren, die sich im Zelte um den König versammelten.
Der Festzug begann; schon weithin verkündet und begrüßt vom Brausen der Volksstimmen, rollte eine lange Reihe geschmückter Wagen vorüber, in welchen jeder Bezirk seine Sitten, Gebräuche, seinen hauptsächlichen Erwerb und seine überwiegende Beschäftigung darzustellen versucht hatte. Den Anfang machte ein Bezirk, der, durch die Zucht schöner Pferde berühmt, mit einer Abtheilung stattlicher junger Bursche auf nicht minder stattlichen Rossen angezogen kam. Dann folgte ein Wagen, auf welchem ein Garten nachgebildet, war, mit Gemüse- und Blumenbeeten und fruchtbeladenen Obstbäumen; dann ein Floß, wie sie auf der Isar üblich sind, aus unbehauenen Baumstämmen zusammengefügt, mit einer Bretterhütte darauf, vor welcher eine reisende Gesellschaft um das Feuer gelagert sich ihr Mittagsmahl bereitete und mit Gesang und Citherspiel würzte. Als trefflicher Gegensatz schloß sich ein Wagen mit einem mächtigen Kornfuder an, das sich von Zeit zu Zeit auf beiden Seiten öffnete und das Innere einer Dreschtenne zeigte, auf welcher ein halbes Dutzend schmucker Bursche und Mädchen lustig die Drischel im sechstheiligen Tacte klappern ließ. Auf dem nächsten Wagen befand sich ein Kahn, mit Fischern besetzt, deren einige die Ruder schwangen wie zum Wettfahren und Schifferstechen, während Andere eifrigst beschäftigt waren, Netze auszuwerfen und wieder einzuziehen, wieder Andere aber als Wasserjäger den Tauben nachschossen, die man von Zeit zu Zeit fliegen ließ, und welche die Möven vorstellen sollten, die es lieben, im Geröhricht der Bergseen zu nisten. Wieder ein Wagen war mit Felstrümmern künstlich zu einer Art Gebirge gestaltet; dazwischen auf einem kleinen, mit grünem Rasen ausgelegten Platze stand die Sennhütte und saß die Sennerin.
So kam noch manche hübsche Augenweide, manch stattliches Schaugepränge, bis als trefflicher Schluß die Bergschützen von Lenggries und Jachenau heranschritten, voran die Trommler mit den langen, schmalen Trommeln und den lustigen Schwegelpfeifen, und die alte Fahne, die den Söhnen der Berge schon zu der Schlacht in der Mordweihnacht von Sendling vorgetragen worden. Sie erregten nicht minder allgemeines Aufsehen und Wohlgefallen, als die Reiter und Wagen.
Der König aber kam die Stufen des Zeltes herunter, ließ den schmucken Hauptmann vor sich kommen und unterhielt sich mit ihm.
„Ein Kernschlag von Männern,“ sagte er zu seinen Begleitern, „das sind die echten Nachkömmlinge der Kämpfer von Sendling. Das giebt wieder ein stattliches Geschlecht, denn ich bin gewiß, ein so schmucker Bursche, wie dieser Hauptmann, hat sich auch einen ebenso schönen Schatz ausgesucht.“
„Ja, Herr König,“ sagte Martl mit einem Seitenblicke nach der Ecke, in welcher Stasi mit dem Vater stand. An einem Schatz thät’s nit fehlen, und an der Schönheit auch nit … Da steht sie im Eck, kannst sie selber anschaun, Herr König!“
„Die ist’s?“ sagte der Fürst vergnügt. „Dann hab’ ich es ja recht gut gemacht, daß ich die Leutchen hier untergebracht habe. Hast einen guten Geschmack, Bursche, – in der That ein bildhübsches Mädchen! Sehen Sie nur, meine Herren!“ fuhr er fort und wandte sich zu den bekreuzten und besternten Officieren und Beamten im Zelte, die sich zustimmend verneigten. „Nun, da wird’s wohl bald Hochzeit geben?“
„Ja, das ist justement noch nit ausg’macht,“ sagten Martl und Stasi wie aus Einem Munde, indem sie nach dem Bauer blickten, der in bodenloser Verlegenheit seinen Hut in den Händen hin und wieder drehte.
„Das ist wohl der Vater,“ fuhr der König, dadurch aufmerksam gemacht, fort, „und Ihr wollt wohl sagen, daß die Bestimmung der Hochzeit noch vom Vater abhängt? Also wann soll die Hochzeit sein, Alter?“
„Ja, Herr König,“ sagte der Bauer, als er endlich ein Wort hervorzubringen vermochte, „da hat’s halt einen Haken damit. Du mußt wissen, ich bin der Kurzenbauer am Berg in der Jachenau, und das da ist der Floßermartl aus’m Lenggries, und das ist noch nie g’schehn und darf auch nit sein nach einem alten Brauch, daß ein Fremder in die Gemeind’ hineinheirath’t.“
„Ah, ich verstehe,“ sagte der König, „die Nachbarn sind dagegen; Du aber, Alter, bist klüger, nicht wahr? Du willst den albernen Brauch abschaffen. Recht so,“ fuhr er fort, indem er dem Alten auf die Schulter klopfte. „Das lob’ ich; das gefällt mir … Nun, sorge dafür, daß die Hochzeit bald ist, und wenn das junge Paar einen Gevatter braucht, da komm’ nach München, Kurzenbauer, und laß mich’s wissen!“
Er winkte, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung, von den Scheibenschützen mit den Preisfahnen gedrängt, die auch an die Reihe kommen wollten, wie hinter ihnen die Rennpferde, Rennmeister und Rennbuben. Jauchzend zogen die Schützen hinweg, mit ihnen Stasi, die Martl nicht mehr von der Seite ließ, unmittelbar hinterdrein trabte der alte Bauer, der nicht wußte, wie ihm geschah.
Die Festfreuden, die noch kamen, der Volksjubel und die Erregung über das Pferderennen gingen an der Gesellschaft vom Kurzenhofe ziemlich unbeachtet vorüber; sie waren Alle zu sehr mit Dem beschäftigt was sie erlebt hatten, und noch mehr mit Dem, was nun noch kommen sollte. Stasi’s Antlitz war wie eine frisch aufgebrochene Rose; Freude, Hoffnung, Erwartung glühte in deren Blättern, und die leichten Schatten, welche Sorge, Furcht und Erregung dazwischen streuten, dienten nur dazu, die Schönheit der Färbung zu erhöhen. Sie sprach nichts vor innerer Bewegung, ebensowenig die Mahm, die es vor Rührung nicht konnte und der immerwährend die Lippen zuckten, als wolle sie zu weinen anfangen. Der Bauer war ebenfalls stumm; es war kein kleiner Kampf, den die geschmeichelte Eitelkeit mit dem angestammten und eingewurzelten Vorurtheil in seinem Innern ausfocht; er brummte nur halblaut mit sich selbst und gesticulirte eifrig vor sich hin, bald grimmig die Faust ballend, bald sich mit honigsüßem Lächeln zu einem unterthänigen Bückling anschickend.
Vor der Schenke zum Raben beim Tölzer Wirth sank endlich die letzte Hülle des Räthsels. Noch immer stumm saßen die Drei um den ebenfalls stummen Bierkrug, der sich über die Vernachlässigung zu wundern schien, die ihm zu Theil wurde, als festen Schrittes und blitzenden Auges, umgeben von seinen Schützen, Martl hinzutrat. „Ich hab’s gesagt, daß ich wiederkomm’,“ rief er. „Da bin ich jetzt, Kurzenbauer, und frag’ Dich, ob Du noch so red’st wie zuvor?“
„Wie werd’ ich denn reden?“ antwortete der Bauer, sich zusammennehmend und mit absichtlich erhobener Stimme, als wolle er sich dadurch selbst alles Schwanken und einen etwaigen Widerruf unmöglich machen. „Kreuzbirnbaum und Hollerstauden! Hast denn nit gemerkt, daß ich Dich nur gestimmt hab’? Da ist unser Herr König ein anderer Mann – der hat nur gleich über’s [275] Gesicht und über’s Gewand angesehn, wie ich gesinnt bin. Hast Du ’glaubt, der Kurzenbauer ist ein Hackstock, daß er sich an solche dumme alte Bräuch’ hängt? Ich hab’ nie anders gered’t und red’ noch so: Gerad’ weil Du kein Jachenauer bist, mußt’ mein Schwiegersohn wer’n! Wie wir heimkommen, ist der erste Weg zum Landrichter und der zweite zum Pfarrer – Gebt ’s einander d’ Händ’! Die Schützen alle san Zeugen.“
Das glückliche Paar ließ sich den Befehl nicht zwei Mal sagen; es reichte sich die Hände und wäre sich wohl in die Arme gesunken, wäre es nicht zum ersten Male und vor der unbekannten Menschenmenge gewesen, die von der Neugier herbeigerufen war. Alles rief Beifall; die Schützen aber schwenkten die Hüte und jauchzten dazu, als ob es bis an die fernen Berge hallen und die Botschaft bis in die Jachenau tragen sollte. Nun, da das Eis gebrochen war, ging der Strom der Freude bald immer freier und in immer rauschenderen Wellen dahin; der Alte war selig, einen Kreis von Zuhörern um sich zu sehen, die ihn lobten, und er wurde nicht müde, zu erzählen, wie der König ihm gleich durch und durch gesehen, wie er sich ihm selber zum Gevatter angetragen und ihm auf die Schulter geklopft habe, als wäre er Seinesgleichen. Die Schwester saß unbeachtet in der lauten Freude: sie hatte ihr Lebenlang Thränen und Leid niedergekämpft; sie that es auch jetzt – aber es ward ihr leicht; denn ihr Blick ruhte auf dem Liebesglücke, das dem jungen Paare aufgegangen war, wie über Nacht der Frühling kommt.
Stasi und Martl selbst wußten sich in das ungeahnte, ungehoffte und unerwartete Glück kaum zu finden; Hand in Hand saßen sie nebeneinander, Aug’ in Auge und im eifrigsten Gespräche; sie hatten sich so viel zu sagen, daß weit eher die Zeit zum Erzählen fehlen konnte, als der Stoff dazu. Für sie war das ganze Fest und die Menge der Gäste nicht da; denn sie feierten das Brautfest ihrer Herzen und machten den Volksspruch wahr, daß ein Paar Verliebter immer wie unter einem Glassturz sitze und, weil es von der übrigen Welt abgeschlossen sei, von ihr auch nicht gesehen zu sein glaube.
„Und wie ist es jetzt? Wirst Wort halten?“ fragte Stasi leise. „Wirst mir das goldene Büchsel geben?“
„Jeden Augenblick,“ entgegnete Martl ebenso. „Aber warum liegt Dir denn jetzt noch gar so viel d’ran? Was willst thun damit?“
„Errathst es nit? Statt Deiner will ich’s anhängen und will’s tragen zum Andenken – und wenn mich die Z’widerwurz’n wieder grüßen laßt, will ich d’ran hinlangen; aber es wird nimmer g’schehen.“
„Ja, das weiß ich g’wiß. Wie Du mir damals in der Krepp’n (Hohlweg) begegn’t bist, hast mich, eh’ Dir der Zorn ’kommen ist, gar so freundlich und so eigen angeschaut, das ist Deine Seel’ gewes’n, die mich gegrüßt hat – alles And’re, das war nur ein Nebel, wie er auf’n Berg’n liegt, der verfliegt, wenn die Sonn’ ’raufkommt.“
„Und Du?“ fragte Stasi wieder, indem sie sich näher zu ihm hinneigte. „Wirst auch alleweil lieb und gut bleib’n mit mir? Wirst es nit machen, wie’s in dem Schnaderhüpfl heißt, das Du auf’m Schieß’n in Länggries gesungen hast? Du weißt es schon:
Ueber’n Baum, unter’n Baum
’S Eichkatzl springt;
Sucht sich an and’re Nuß,
Bald’s die oa nit aufbringt.“
„Na, jetzt geht’s aus einem andern Ton,“ rief Martl, indem er seinen Hut schwenkte. „Jetzt heißt’s so:
Ueber’n Baum, unter’n Baum
’S Eichkatzl springt;
Laßt nit von sein’ Nuß’n,
Bis daß sie’s aufbringt.
Und die härteste Nuß
Hat den süßesten Kern,
Und diem (manchmal) kann auch a Röserl
Aus a Z’widerwurz’ wer’n.“
Des Kaisers Einzug. (Mit Illustration.) Da es nicht Aufgabe unseres Blattes sein kann, von jedem großen Festtage, an welchem der deutsche Kaiser seinen glanzvollen Einzug in Berlin hielt, nachträglich noch eine Schilderung zu geben, wie sie von allen Blättern des In- und Auslandes schon in der eingehendsten Weise gebracht worden ist, so beschränken wir uns darauf, aus dem uns zugleich mit der Illustration des Professor Döpler zugehenden Artikel eines wohlunterrichteten Mitarbeiters nachfolgende wohl auch heute noch interessante Stellen mitzutheilen:
„Nachdem ich schon an zwei Stunden lang mich durch das Wogen und Treiben in den menschenvollen, flaggen- und fahnengeschmückten Straßen und Plätzen gedrängt hatte, fand ich es an der Zeit, unserem eigentlichen Reporterposten, dem am aristokratischen Westende der Stadt, nahe dem sogenannten Geheimrathsviertel gelegenen Potsdamer Bahnhofe, zuzutrachten. Gegen fünf Uhr sollte der den Kaiser heimführende Extrazug dort einlaufen. Zwar schlug es eben erst Zwei, als wir Beiden, Zeichner und Berichterstatter, auf dem Leipziger Platze standen und die hübsche Schiffsflaggengruppe betrachteten, mit welcher der Admiral der deutschen Flotte, Prinz Adalbert von Preußen, sein Palais seemännisch ausgeziert hatte, allein schon wälzt sich vor, neben und hinter uns eine endlose Völkerwanderung der erwähnten Station zu, so daß wir, eingekeilt wie wir sind, selbst zu dem schneckenartigsten Fortkommen nur mit Mühe und und unter energischem Gebrauche unserer Ellenbogen Raum und Luft gewinnen. Der Zutritt zum Bahnhof war zwar im Grunde nur gegen Eintrittskarten möglich; glückliche Geistesgegenwart aber ließ uns auf den Einfall kommen, Fahrbillets nach Potsdam zu lösen, und deren Besitz erwirkte uns wirklich die Erlaubniß, den Perron des Bahnhofs zu betreten.
Dieser selbst ist bekanntlich bis zum Augenblicke blos eine provisorische, barackenähnliche Schöpfung, so lange der großartige Bau, der ihm definitiv bestimmt ist, noch seiner Vollendung entgegensieht, und diesem provisorischen Zustande des Bahnhofs war es denn auch zweifelsohne hauptsächlich zuzuschreiben, daß sein festlicher Aufputz und Ausschmuck etwas dürftig ausfiel. An den Holzpfeilern der dem Schienenstrange zugewandten Einsteighallen hafteten zwar zahlreiche Wappenschilder, flatterten Mengen von Fahnen und Fähnchen, hingen Bänder und Schleifen und Laubgewinde, Alles aber von Papier, Pappe und Kattun, mit Einem Worte, so wenig kaiserlich und kaiserstädtisch wie immer möglich. Von künstlerischer Erfindung und Anordnung der Decoration – oder auch nur von Fülle und Reichthum der Ornamente zeigte sich keine Spur, wie sich überhaupt bei den verschiedenen Berliner Märzfeierlichkeiten in den äußerlichen Festdecorationen ein bedauerlicher Mangel an Geschmack und schöpferischen Gedanken, besonders aber an einheitlicher Organisation bemerklich machte. Bei allen diesen Festivitäten waren Nüchternheit, Monotonie und Ideenarmuth, ein Operiren jedes Einzelnen auf seine eigene Faust und nach seinem eigenen Belieben und Verständniß der vorherrschende Charakter. Nirgends ließ sich ein Zuratheziehen und planmäßiges Zusammenwirken competenter Kräfte, nur selten ein origineller Einfall, ein glücklicher künstlerischer Wurf wahrnehmen: Inspiration und Schwung fehlten fast durchgängig an der Festzier für den Tag, wie in den Beleuchtungsarrangements für die Nacht, bei welchen letzteren man dem Gase die Hauptrolle überlassen hatte und Krone, Adler und Stern in ermüdender Wiederholung zur Schau stellte. Wenn demungeachtet die Illuminationen einen imposanten Eindruck hervorbrachen, so that dies lediglich die Quantität, nicht die Qualität des Gebotenen, die große Stadt mit ihren großen, geraden, breiten Straßen und weiten Plätzen, auf denen die unabsehbaren Lichterlinien zur vollsten Geltung kamen, und vor Allem die ungeheure Menschenfluth, welche, nach Hunderttausenden zu bemessen, in dem Glanzmeer zuschauend auf und nieder wogte.
Stundenlang neben einem Schienenstrange hin und her zu patrouilliren, alle fünf Minuten von einem der Locomotive entströmenden Dampfstrahle angezischt und von den schrillen Signalpfiffen umgellt, bot nichts Plaisirliches, umsoweniger, wenn man gleich Einem, der kein gutes Gewissen hat, nicht recht frank und frei sich umzublicken wagt und sich immer hinter einer bestimmten Demarcationslinie verschanzen zu müssen glaubt. Indessen mancherlei interessante und ergötzliche Beobachtungen und Episoden helfen uns über die vor uns liegende Zeitwüste hinweg. Da erschien zuerst ein Unicum von Menschengestalt. Mit seiner schwarzweißrothen Binde um den Arm und der ditto Schleife am Hute sah dieser Einzige seiner Art wie ein aus der verklungenen Liederfestperiode in die reale Gegenwart verschlagener deutscher Sangesbruder aus, der sich in den fremdartigen Umgebungen nicht recht geheuer fühlt. Der seltsame Einsiedler war ein Probeexemplar der projectirten Bürgerconstabler, vermuthlich das einzige bis jetzt ordonnanzmäßig in’s Feld gerückte Individuum, dem es in seiner Sonderstellung noch sehr unbehaglich und furchtsamlich zu Muthe zu sein schien und der sich in offenbarer Verlegenheit immer nur die abgeschiedensten Winkel des Bahnhofs zum Schauplatze seiner Thätigteit erkor. Nun, das Publicum, vielleicht schon in Vorahnung, daß ihm am nächsten Morgen auf rothen Anschlagzetteln der polizeipräsidentliche Dank für sein „würdiges und tactvolles Verhalten“ am Kaisereinzugstage gespendet werden würde, war brav und harmlos und krümmte dem blöden Sicherheitsfreiwilligen kein Härchen seines hochblonden Bartes.
Währenddem war es in den vorderen Regionen, da, wo das erwartete Reichsoberhaupt zuerst wieder den Fuß auf den angestammten Berliner Sandboden setzen sollte, von Secunde zu Secunde officieller und farbenprächtiger geworden. Vor den breiten Generalsscharlachstreifen und den dicken goldenen und silbernen Achselschnüren, vor den Kreuz- und Sternenfirmamenten über kriegerischen und nicht kriegerischen Herzen, vor den Dreimastern und den altväterisch hohen goldbelasteten Kragen der Minister und Präsidenten, vor den bauschenden Seidenroben und den Kolossalbouquets ihrer Damen konnte man, wenigstens aus unserer respectvollen Entfernung, das Empfangszelt mit seinen neudeutschen Tricoloren und Draperien, seinen Gedenkschildern „Sedan“ und „Paris“, seiner „Borussia“ und „Germania“ und seinem Blumen- und Blätterschmucke kaum noch erkennen.
Bunter und wechselvoller noch gestaltet sich das Bild draußen vor der Station. Drüben in den hohen Häusern der Flotwellstraße haben sich von oben bis unten alle Fenster in Schaulogen verwandelt, die bis in den [276] hintersten Hintergrund ein eleganter Damenflor garnirt, und einzelne vermessene Jünglinge hat der Enthusiasmus bis auf die Dachfirsten und Schornsteine emporgetrieben; auf dem Platze selbst aber möchte auch das winzigste Borsdorfer Aepfelchen Mühe gehabt haben, durch den dichten Menschenwall bis zur Erde hinab zu gelangen. Schon kommen die abholenden Hofequipagen angerollt, Zwei- und Viergespanne, offene Phaëtons und geschlossene Staatswagen; dabei wird in der ungeheuren Festbegrüßung Alles zum Motiv eines neuen Jubelausbruches und jede Kutsche mit schallendem Hurrah empfangen, wenn sie vor der Hand auch Niemanden bringt als den Rosselenker auf dem Bocke und die beiden Lakaien auf dem Trittbrette. Die schönen Goldbraunen vor dem Wagen, der jetzt in den Platz einbiegt, und den Mann darin mit dem tief in den Nacken hinunter geschobenen blanken Reiterhelm – die kennt ringsum Groß und Klein. „Bismarck! Bismarck hoch!“ erbraust es von tausend Stimmen, und wer von den Knaben auf den Bäumen und Zäunen sich solchen Luxus gestatten kann, der schwingt jauchzend seine Mütze. Noch cordialer und ausgelassener wird eine originelle Soldatenfigur begrüßt, die kurz darauf zu Pferde herantrottet, ein hochbetagter Herr in Kürassieruniform mit einem kleinen vertrockneten runzligen Gesichte, in dem ein fadenscheiniger, borstiger Schnurrbart sich wundersam in die Höhe stülpt. Es ist der absonderliche Gönner sowohl als Günstling sämmtlicher Berliner Straßenjugend männlichen und weiblichen Geschlechts, mit Einem Worte, der berühmte Sprachverderber und etwas minder berühmte Feldmarschall Wrangel. Der joviale Greis, welcher vor Monden schon seine Diamanthochzeit gefeiert, der unverwüstliche Sechsundachtziger, der als Freiwilliger mit in den Krieg zu ziehen begehrte, hat es sich wenigstens nicht nehmen lassen, „seinem“ Kaiser nach echter Ritterweise zu Roß in die Reichshauptstadt zu geleiten.
Und „als wollte das Meer noch ein Meer gebären“, so nimmt es kein Ende mit den zuströmenden Volksmassen, und der Pferde- und Wagen-, Jäger- und Lakaienknäuel erscheint unentwirrbar.
„Hören Sie?“ weckte mich mein kunstfertiger Begleiter aus den Betrachtungen, die ich über die möglichen Unglücksfälle anstellte, welche der morgige Polizeibericht gelegentlich des Kaisereinzugs zu melden haben würde.
Ich hörte vorerst nichts als ein dumpfes Grollen wie von fernem Donner, aber ich sah, wie in die bunte Gruppe der Officiellen am Empfangszelte plötzlich Leben und Bewegung kam, und das Durcheinander sich in Reih und Glied aufrollte. Der große, lang’ erwartete Moment nahte, das dumpfe Grollen ließ sich bald als lauter Hurrahruf unterscheiden, welcher sich draußen von Wächterhäuschen zu Wächterhäuschen wie an einer Telegraphenkette fortpflanzte, und schon begannen die Hochs betäubend in unserer Nähe zu erdröhnen, während in langsamen Stößen eine mit Fahnen und Guirlanden geschmückte Locomotive kam und hinter ihr die ebenso umkränzten Waggons erschienen.
„Der Kaiser! Der Kaiser!“ lief es längs der Schiene durch die Versammlung, und alle Hände legten sich an die Helme und Käppis und alle Hüte flogen von den Köpfen, und drüben aus den Fenstern der Straßen wehte ein weißer Wald von grüßenden Tüchern. Er war angelangt in seinem heimathlichen Berlin, „Wilhelm der Kaiser-König“, und da stand sie am Fenster des Salonwagens, die schöne Kriegergestalt mit dem weißen Barte, an der sich zu weiden selbst Johannes Scherr, der feste Republikaner, seinen Augen nicht wehren mag, und blickte mit freundlichem, doch ernstem Gesicht auf die huldigende Menge, die nicht müde wurde in ihrem Freudegeschrei. Und warum sollte er nicht ernst dreinschaun in einem solchen Momente? Welche Gefühle mußten die Brust des Greises bewegen, dem es beschieden war, am Spätabend seiner Tage das Werk zu krönen, zu welchem Friedrich Wilhelm von Brandenburg, der große Kurfürst, der einzige echtdeutsche Regent in einer der kläglichsten Perioden unseres Vaterlandes, mit starker Hand den Grund gelegt hatte! „Welche Wendung!“ mußte er sich wiederholen, wenn er jenen Sonntag seines Abschiedes mit der Stunde seiner heutigen Rückkehr verglich und der Ueberfülle von Glorie, aber auch der Ueberfülle von Opfern gedacht, welche dazwischen lagen. Hatte er nicht vollen Grund, mit ernstem Antlitz die Heimath wieder zu begrüßen?
Was nun vor und in dem Empfangssalon vorging, wie eine der Fürstlichkeiten nach der andern dem Waggon entstieg, wie der Kaiser von den heimgebliebenen Seinigen willkommen geheißen wurde, wie ihm zwei kleine Mädchen ein Paar Maiblumensträuße überreichten, wie er seine Enkel herzte, die Kinder des Kronprinzen, wie er mit feuchtem Auge die Wittwe seines Bruders umfing, wie er diesem und jenem hohen Officiere und Würdenträger gerührt die Hand drückte, wie er seinen Kanzler mit stummem Danke auf die Wange küßte – von alledem haben Zeichner und Berichterstatter mit eigenen Augen nichts geschaut. Sie brauchen indeß auch nichts davon zu schildern, die Zeitungen haben ja schon genug und übergenug davon erzählt. Wohl aber haben wir Beide gehört, wie der älteste der preußischen Generäle, Papa Wrangel, ein weitschallendes Hoch auf „dem“ deutschen Kaiser ausbrachte, welches nachher das geistige Haupt des neuen Reiches, der nunmehrige Fürst von Bismarck-Schönhausen, mit seiner bis in die fernsten Enden des Bahnhofes dringenden sonoren Stimme wiederholte und das ein schier endloses Echo weckte bis weit auf die Straßen und Canalufer hinaus.
Während alledem aber schritt eine hohe Gestalt, den Mantel fest um die Schultern gezogen, einsam zwischen den Schienen auf und ab, als ginge sie all der Jubel gar nichts an, und schaute so schlicht und harmlos drein, als sei nichts Erhebliches vorgefallen in den letzten großen Monaten. Und die stille Figur, der man ohne den Helm und die Soldatenhülle den Militär kaum angesehen haben würde, war doch der, welcher alle die beispiellosen Siege unserer deutschen Waffen erdacht und angebahnt hatte, – Graf Moltke, der erste Stratege der Neuzeit. Bezeichnend für Art und Sinn des großen Mannes, schien er den Ovationen und Ceremonien drin im Salon aus dem Wege gehen zu wollen.
Doch jetzt hinaus nach dem Platze. Wir kommen eben rechtzeitig, um dicht an der Rampe, wo der Kaiser den Wagen besteigen wird, noch ein enges Plätzchen zu finden. Der leichte, von zwei Rappen gezogene Phaëton, mit dem grünbebuschten Jäger auf dem Bocke neben dem wohlbeleibten Kutscher, saust heran, und im nächsten Augenblicke erscheint der Kaiser an der Thür des Salons, bleibt ein paar Minuten vor dem Wagen stehen, während hinter ihm der blonde Vollbart des Kronprinzen, der Großherzog von Baden, das glattrasirte Gesicht des Prinzen-Admirals, eine Rarität zwischen all den vielen Schnurrbärten, und eine unabsehbare Suite von Officieren und Adjutanten auftauchen, neigt sich grüßend nach allen Seiten auf die begeisterte Volksmenge hinab und nimmt dann neben der Kaiserin im offenen Wagen Platz. Und jetzt bricht von Neuem ein Hurrah los, das Mark und Bein erschüttert, Alles mit fortreißend, weil Jeder fühlt, daß der Jubel in der Größe des Moments seine vollgültige Berechtigung hat und dem innersten Drange des Herzens entquillt.
Soll ich nun beschreiben, wie Carosse um Carosse vorfährt; wie fast bei jeder sich neuer Vivatsturm erhebt; wie das Jauchzen, das Hüteschwenken, das Tücherwehen permanent zu werden drohen, als die wohlbekannten Goldbraunen und der in den Nacken gerückte Kürassierhelm auf dem Haupte des „populärsten Mannes in Europa“ abermals sichtbar werden? Nein – ich meine, des Festjubels ist genug: er hat ja längst in Deutschland seinen Widerhall gefunden; ganz Deutschland hat begriffen, daß der Einzug des ersten Kaisers aus dem Hause der Hohenzollern in die neue Reichshauptstadt in der Mark eine Epoche bezeichnet in der Weltgeschichte.
Welch eine Wendung seit dem Tage von Olmütz und der Schlacht von Bronzell! Möge sie Frieden bedeuten, Freiheit und nationalen Wohlstand!“
Disciplin und Glaube haben gewiß nicht oft in besserer Harmonie gestanden, als bei jenem ostpreußischen Ulanen, von dem uns sein Rittmeister (Graf v. B.) Folgendes erzählte:
Ein polnischer Ort in Ostpreußen bekam einen neuen Gottesacker. Es war zur Typhuszeit, wo mancher Friedhof sich schnell füllte. Aber trotz der kirchlichen Weihe verweigerten sämmtliche Gemeindeglieder einstimmig die Benützung desselben, weil sie im alten Gottesacker seliger würden. Kein Zureden, weder geistliches noch obrigkeitliches, beugte die glaubensfesten Leute; die Leichen blieben unbeerdigt und häuften sich endlich in gefahrdrohender Weise. Man mußte zu strengeren Maßregeln schreiten, und ich erhielt den Befehl, mit meiner Schwadron den Ort zu besetzen und die Beerdigung im neuen Friedhof zu erzwingen. Unter meinen Ulanen war Einer aus dem Orte gebürtig. Ich nahm ihn vor und sagte ihm:
„Grawinsky, Euer Heimathsort ist rebellisch, Eure Bauern wollen sich nicht in dem neuen Gottesacker begraben lassen. Wir müssen hinreiten und sie dazu zwingen. Ich will nicht haben, daß Du gegen Deine Eltern und Geschwister und Freundschaft mit einhaust, wenn’s am Ende dazu kommen sollte. Du sollst Stallwacht haben.“
Er aber erwiderte: „Halten zu Gnaden, Herr Rittmeister, lassen der Herr Rittmeister mich mitreiten, werd’ auch einhauen auf’s Commando, aber eine Bitt’ hätt’ ich an den Herrn Rittmeister!“
„Und welche ist das?“
„Wenn’s das Unglück will, daß ich falle, so befehlen der Herr Rittmeister, daß ich im alten Gottesacker begraben werde.“
„In Eile“. (Mit Abbildung.) Wenn das auf einer Briefadresse steht, so läßt man sich’s gefallen; anders nimmt es sich aber aus, wenn es vor ein Frühstück gesetzt wird. Ein reitendes Jagdvergnügen kann vorkommen, aber – ein reitendes Frühstück ist nur einem Deutschen von Anno 70 möglich gewesen! Und so war es auch, und unser reitender Feldmaler H. Knackfuß ist es, der auch dazu seinen Beitrag als Theilnehmer geliefert und das Bildchen hergestellt hat, dessen Anblick uns das herzlichste „Prosit Mahlzeit!“ ausrufen läßt. „Quartiermachen,“ schreibt er dazu, „ist ein saures Geschäft, namentlich für Cavallerie, welche Eilmärsche macht. Da ist man häufig gezwungen, um allen Zeitverlust zu vermeiden, im schlanken Trabe die Packtaschen zu öffnen und den grimmigsten Forderungen des Magens Genüge zu thun.“ Der Humor scheint unter dem „Frühstück in Eile“ nicht zu leiden, der Verdauung hilft es gewiß trefflich auf, selbst den reitenden Schluck sehen wir mit deutscher Energie executirt – was ist da Besseres zu wünschen als
Glück auf, Ihr deutschen Reiter!
Es soll gesegnet sein
Euch Brod und Wurst und Wein!
So reitet keck und heiter
In Frankreich aus und ein!
Nie fehl’ es Euch an Brocken,
Nie sei der Mund Euch trocken!
Zeitungspresse. Die von Jacoby gegründete und von Guido Weiß mit großem Talent redigirte Berliner Zeitung „Die Zukunft“ hat mit Ende März aufgehört zu erscheinen. Es entsteht dadurch eine sehr bedauerliche Lücke in der Berliner Zeitungspresse. Für Laien in der Politik war allerdings die „Zukunft“ nicht geschrieben, auch wichen ihre Ansichten und Tendenzen sehr oft von dem bequem gemachten breiten Wege der Tagespolitik und des herkömmlichen Hurrahgeschreis ab und führten zu Consequenzen, die in gewissen Kreisen sehr unangenehm berührten. Was aber Schärfe des Urtheils, Unerschrockenheit und Entschiedenheit der Gesinnung, bündige und schlagende Kürze des Ausdrucks und Eleganz der Form anlangt, so war sie als musterhaft zu bezeichnen. Jedenfalls ist Guido Weiß, auch wenn man nicht in allen Stücken seinen Ansichten folgen konnte, als einer der talentvollsten und respectabelsten Publicisten der Jetztzeit anzuerkennen, eine Feder, deren haarscharfe schneidige Lapidarschrift bei dem nun beginnenden Kampf um das freiheitliche Deutschland trotz des Eingehens seiner Zeitung hoffentlich nicht fehlen wird.