Die Gartenlaube (1871)/Heft 17
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No. 17. | 1871. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
„Sie sollten,“ ergriff der Professor das Wort, „mit Ihrer Verachtung etwas weniger freigebig sein, Miß Forest, und es giebt Dinge, die deren würdiger sind, als unsere Poesie.“
„Für die ich nicht empfänglich bin.“
„Für die Sie es nicht sein wollen, und die sich ihr Recht ebenso erzwingen wird, wie die Heimath, deren Zauber Sie vorhin unterlagen, gerade in dem Moment, wo Sie sie klein und dürftig nannten.“
Jane war einen Augenblick sprachlos vor Ueberraschung und Zorn. Wer lehrte diesen Menschen, der in seiner Träumerei und Zerstreutheit so oft das Einfachste, Nächstliegende vergaß, ihr so tief in’s Innerste blicken, ihr, deren Züge nie verriethen, was dort innen vorging? Wer hieß ihn mit so empörender Klarheit Empfindungen aufdecken, die sie sich selbst noch nicht gestanden? Zum ersten Male gewann jene unerklärliche Beklemmung, die sie stets in seiner Gegenwart befiel, einen bestimmten Anhalt; sie fühlte dunkel, daß ihr von diesem Manne irgend eine Gefahr drohe, daß sie ihn fern halten müsse um jeden Preis, selbst um den einer Beleidigung.
Miß Forest richtete sich mit ihrer ganzen Hoheit empor und maß den Professor vom Kopf bis zu den Füßen. „Ich bedaure, Mr. Fernow, daß Ihr Scharfblick Sie diesmal getäuscht hat. Ueber meine Sympathien und Antipathien steht mir wohl allein das Urtheil zu; im Uebrigen versichere ich Sie, daß ich Sentimentalität und Träumerei, gleichviel in welcher Gestalt, gründlich hasse, und daß mir nichts auf der ganzen Welt so zuwider ist als – Federhelden!“
Das Wort war heraus, und als habe er eine Wunde empfangen, so zuckte der Professor auf unter diesem Hohne. Die jähe Flamme loderte wieder in seinem Antlitz empor und aus den blauen Augen sprühte ein Blitz, daß jede Andere als Jane davor gebebt hätte; einen Moment lang schien eine wilde leidenschaftliche Entgegnung auf seinen Lippen zu schweben; dann wandte er sich plötzlich seitwärts und legte die Hand über die Augen.
Jane stand unbeweglich; jetzt hatte sie ihren Willen, der Sturm war wachgerufen wie damals, als er sie so plötzlich emporgehoben. Was nun?
Nach einer secundenlangen Pause wendete sich Fernow wieder zu ihr. Sein Gesicht war wieder bleich, aber vollkommen ruhig und seiner Stimme fehlte jener eigenthümlich vibrirende Klang, den sie während der ganzen Unterredung gehabt.
„Sie scheinen zu vergessen, Miß Forest, daß auch die Vorrechte einer Dame ihre Grenzen haben. Wenn man Ihnen in der Gesellschaft aus, wie ich fürchte, sehr eigennützigen und persönlichen Motiven erlaubt, darüber hinauszugehen, so möchte ich Sie daran erinnern, daß ich nicht zu dieser Gesellschaft gehöre und directe Beleidigungen nicht dulde. Einem Manne würde ich anders geantwortet haben. Ihnen – kann ich nur versichern, es wird hinfort meine eifrigste Sorge sein, daß unsere Wege sich nicht wieder kreuzen.“
Und mit einer Verbeugung, genau so vornehm kalt, so hochmüthig, wie sie der jungen Dame selbst gegen mißliebige Personen zu Gebote stand, drehte er ihr den Rücken und verschwand hinter der Mauer.
Jane blieb zurück in einer Art von Betäubung, die erst allmählich dem Bewußtsein dessen Platz machte, was man sich eigentlich gegen sie erlaubt hatte. Beschämt, ausgescholten, zurechtgewiesen! sie, Jane Forest! von diesem armseligen Gelehrten, auf den sie bis zu dieser Stunde noch mit mitleidiger Verachtung herabgeblickt hatte! Freilich, mit der Verachtung war es jetzt vorbei, wer konnte aber auch ahnen, daß dieser Mann, so scheu, so unbeholfen im gewöhnlichen Leben, sich in einem Moment, wo die conventionellen Schranken fielen, so enthüllen würde! Jane empfand mitten in ihrer Aufregung doch etwas wie eine tiefe Genugthuung, daß er sich gerade ihr und nur ihr allein von dieser Seite zeigte, aber das minderte ihren Zorn durchaus nicht, so wenig wie das Bewußtsein, daß sie ihn absichtlich bis zum Aeußersten getrieben und die Entgegnung eine verdiente war. Eins wenigstens war diesem deutschen Professor gelungen, was bisher noch Niemand vermocht hatte: die eisige Kälte, welche die junge Dame bisher Allem entgegensetzte, zu durchbrechen und statt ihrer eine Leidenschaftlichkeit wach zu rufen, die ihm freilich am feindseligsten war. Jetzt haßte sie diesen Mann, der ihr die erste Demüthigung aufgezwungen, haßte ihn mit der ganzen Energie einer stolzen, verwöhnten Natur, die sich bisher für unnahbar gehalten und jetzt zum ersten Male ihren Meister fand. Die kostbaren Spitzen ihres Taschentuches mußten es entgelten, sie lagen zerpflückt am Boden, es kümmerte sie nicht, daß die Dunkelheit hereinbrach, daß sie zwei Stunden weit von B. entfernt war und zu Fuß dorthin zurück mußte, es kümmerte sie überhaupt nichts nach diesem Auftritt. Mit einer heftigen Bewegung raffte sie ihren Hut vom Boden auf und stieß verächtlich mit dem Fuße die Epheuranken fort, die sich um ihr Kleid schlangen.
[278] „‚Es wird hinfort meine eifrigste Sorge sein, Ihren Weg nicht wieder zu kreuzen!‘ Nun, Mr. Fernow ich kreuze den Ihrigen gewiß nicht, und so war das hoffentlich ein Abschied für immer!“
Jane hob den Kopf mit einem Ausdruck, als sei sie bereit der ganzen Welt damit Trotz zu bieten, und eilte dann raschen Schrittes den Fußweg hinab in’s Thal, wo bereits dunkle Schatten lagerten, während oben die Dämmerung ihre grauen Schleier dichter und dichter um die alten Burgtrümmer und um die Stelle wob, wo zwei Menschenherzen einander so nahe begegnet und so feindselig geschieden waren.
Vom Landungsplatz des Dampfers her schritten einige Tage später zwei Herren in eleganter Reisekleidung die Straße hinauf, in der das Haus des Doctor Stephan lag.
„Eilen Sie nicht so, Henry!“ sagte der Aeltere etwas mißmuthig. „Ich kann Ihnen in der Hitze nicht folgen, und was soll Miß Jane denken, wenn sie sich zufällig am Fenster befände, und Sie in diesem Sturmschritt ankommen sähe!“
Die Mahnung, sehr überflüssig bei jedem ähnlichen Wiedersehen, schien gleichwohl hier völlig an ihrem Platze zu sein, Alison mäßigte, als sei er in der That auf einer Ungehörigkeit betroffen, seinen Schritt und wandte den Blick, der ungeduldig die Häuser musterte, seinem Begleiter zu.
„Das war ein überraschendes Zusammentreffen!“ fuhr Atkins fort. „Wir glaubten Sie noch in London; war es nicht Ihr Plan, von dort direct nach Paris zu gehen?“
„Allerdings, aber dann wäre ich erst im Herbst nach dem Rhein gekommen, und da Miß Forest seit Wochen bereits in B. ist, so nahm ich den Umweg, um sie wenigstens auf einige Tage zu sehen. – Was mich jedoch sehr überraschte, war Ihr Entschluß, sie nach Deutschland zu begleiten“.
„Sie meinen, weil ich von jeher darauf geschimpft habe?“ sagte Atkins gleichmüthig. „Allerdings bildet das auch hier meine Hauptbeschäftigung, es ist das einzig Praktische in diesem verkehrten Lande; aber ich bin doch nun einmal dem Namen nach Vormund von Miß Jane, und obgleich sie in allen Dingen mehr als selbstständig ist – beiläufig, Henry, Sie werden das auch noch zur Genüge erfahren – hielt ich es doch nicht für passend, sie die Reise über den Ocean so ganz allein machen zu lassen. Da ich überdies die Herren Deutschen, mit denen unser Nordamerika ja jetzt förmlich gepflastert ist, zur Genüge kenne, so konnte ich mir den Genuß nicht versagen, sie bei dieser Gelegenheit auch einmal in ihrem eigenen gelobten Lande zu bewundern. – Sie sind mir hoffentlich dankbar, daß ich Ihrer Braut zur Seite blieb?“
„Gewiß!“ stimmte Alison in etwas kühlem Tone bei. „Ich bin nur erstaunt, daß die Angelegenheiten Miß Forest’s Ihnen eine so lange Abwesenheit gestatten.“
Der alte Sarkasmus trat in seiner vollen Schärfe wieder auf das Gesicht Mr. Atkins’, als er beißend erwiderte: „Beruhigen Sie sich, Henry, Ihr künftiges Vermögen ist in sicheren Händen.“
„Ich fragte nicht in meinem Interesse,“ sagte Alison gereizt.
„Aber in dem von Miß Jane, das binnen Jahresfrist auch das Ihrige ist. Nun, ärgern Sie sich nicht! Es ist natürlich, daß Sie sich darum kümmern, und ich bin Ihnen wohl einige Auskunft schuldig. Sie wissen vermuthlich, daß der verstorbene Mr. Forest schon während der letzten Jahre sein Vermögen fast gänzlich aus dem Grundbesitz zog und in Werthpapieren anlegte. Sie sind sicher deponirt, die übrigen Geschäfte wurden in den zwei Monaten nach seinem Tode erledigt, die Besitzung ist in zuverlässiger Obhut – ein Vermögen, das meiner Verwaltung anvertraut ist, wird nicht einer Vergnügungsreise wegen leichtsinnig preisgegeben, Mr. Alison.“
Henry hatte trotz seiner Gereiztheit doch mit ziemlicher Aufmerksamkeit und Genugthuung zugehört, er wußte jetzt das Nöthige und fragte daher, rasch den Gegenstand wechselnd:
„Und wie finden Sie Deutschland?“
„Langweilig! Wie ich es mir gedacht habe, und das Leben in diesem gelehrten B. hier nun vollends nicht zum Aushalten! Ich versichere Ihnen, Miß Jane bringt dem Wunsche ihres Vaters ein Opfer mit diesem Aufenthalt; ich verließ sie bereits gründlich gelangweilt von all den Rücksichten, Steifheiten und Gemüthlichkeiten, zwischen denen sie rettungslos eingekeilt ist, und vor denen ich die Flucht nahm.“
„Also deshalb gingen Sie nach Hamburg?“
„Nein! Ich hatte Geschäfte dort!“
„Benutzen Sie die europäische Reise zu Geschäftsangelegenheiten?“ fragte Alison aufmerksam werdend.
„Ich nicht! Es handelt sich um Mr. Forest’s Interessen. Eine alte Schuld, die wir oft genug vergeblich eingefordert haben.“
Das Interesse des jungen Kaufmanns war jetzt gleichfalls rege geworden.
„Ist der Posten von Bedeutung?“ fragte er angelegentlich.
„Ja.“
„Und Sie hoffen ihn jetzt einzuziehen?“
„Ich hoffe es.“
„Dann wünsche ich Ihnen Glück!“ sagte Alison lebhaft. „Es ist stets angenehm für einen Geschäftsmann, wenn dergleichen alte, bereits aufgegebene Schulden getilgt werden.“
„Meinen Sie?“ fragte Atkins boshaft. „Es kann unter Umständen auch eine halbe Million kosten.“
Zum Glück hörte Alison die letzten halblaut gesprochenen Worte nicht, denn er wendete in diesem Augenblick seine ganze Aufmerksamkeit den Fenstern des Hauses zu, vor dem sein Begleiter stehen geblieben war und dessen Klingel er jetzt zog. Die Thür ward von Friedrich geöffnet, der seinen Herrn zurückerwartet und dessen Gesicht sich bedeutend verlängerte, als er den Amerikaner erblickte, der bei seinem Aufenthalt in B. zwar niemals die Gastfreundschaft des Doctors in Anspruch nahm, sondern stets im Hôtel wohnte, aber doch täglich in dem Hause verkehrte, wo sich sein Mündel befand.
„Ist Miß Forest zu Hause?“
„Nein!“
„Und Mr. und Mrs. Stephan?“
„Auch ausgegangen!“
„Werden sie bald zurückerwartet?“
„Jede Minute!“
„Dann thun wir besser, hier im Garten zu warten, als erst in’s Hôtel zurückzukehren,“ wandte sich Atkins zu seinem Begleiter. „Kommen Sie, Henry. – Sie melden der Herrschaft sofort nach ihrer Ankunft mein Hiersein, ich verlasse mich darauf.“
Der mit diesen Worten und einem kurzen vornehmen Kopfnicken abgefertigte Friedrich sah den davonschreitenden Herren mit einem wahren Ingrimm nach. „Noch Einer! Nun bringt er gar den Dritten mit! Die amerikanische Sippschaft wird uns zuletzt noch aus dem Hause treiben. Ich wollte –“ sein fernerer Segenswunsch verhallte in dem dröhnenden Zufallen der Thür, die er mit solcher Gewalt in’s Schloß warf, daß die Fensterscheiben klirrten.
„Was hat denn dieser Mensch?“ fragte Alison, als sie den Garten betraten; „er gab uns in eigenthümlicher Weise die geforderte Auskunft.“
Atkins lachte. „Ein deutscher Bär! Riesig, täppisch, ungeschickt, in dessen geistreichem Kopf nichtsdestoweniger so etwas wie Nationalitätenhaß zu spuken scheint; ich wenigstens kann mich nicht rühmen, je etwas Anderes als diese Bärenmiene bei ihm gesehen zu haben, obgleich er sonst harmlos und gutmüthig bis zur grenzenlosen Dummheit ist.“
„Es ist der Diener des Hauses?“
„Das gerade nicht, vielmehr steht er in Diensten eines – Ah, Mr. Fernow!“ unterbrach sich Atkins plötzlich mit einer Wendung nach dem mittleren Gange, „sehr erfreut, Sie zu sehen!“
Der Professor, der soeben aus der Universität zurückkehrte und, wie gewöhnlich, seinen Weg durch den Garten nahm, erwiderte den Gruß und kam näher.
„Wie geht es Ihnen, Mr. Fernow?“ fragte Atkins herablassend. „Sie sehen angegriffen aus, das kommt von der Gelehrsamkeit! Wollen Sie mir erlauben, Ihnen einen jungen Freund und Landsmann vorzustellen? Mr. Alison! Mr. Fernow, Professor an der Universität und Hausgenosse des Doctor Stephan.“
Landsmann! Hausgenosse! das waren zwei sehr gleichgültige, allgemeine Bezeichnungen, auch legte Atkins nicht den geringsten Nachdruck darauf, dennoch schienen sie den beiden Männern in gleicher Weise aufzufallen. Der dunkle Blick Alison’s heftete sich mit einem plötzlich erwachenden Argwohn scharf und forschend auf das Gesicht des Professors, und die blauen Augen Fernow’s leuchteten auf in peinlicher Ueberraschung, als er mit ungewöhnlicher Energie den Blick zurückgab. Es war, als ahnten die [279] Beiden im ersten Moment ihres Zusammentreffens etwas von einer späteren feindseligen Beziehung, ihre gegenseitige Verbeugung war so kalt und gemessen, als trete Jeder bereits hinter eine unsichtbare Schranke zurück.
Atkins versuchte vergebens mit seiner gewohnten Lebhaftigkeit ein Gespräch in Gang zu bringen, es ging nicht. Alison hatte für Alles, was gesagt wurde, nur eine kühle, höfliche Zustimmung, und der Professor, noch einsilbiger als sonst, ergriff die erste Gelegenheit, aus der gefürchteten Unterhaltungssphäre in’s Haus zu flüchten; er verabschiedete sich schon nach wenigen Minuten in seiner schüchternen, höflichen Weise von dem älteren Amerikaner, von dessen jungem Begleiter mit einem stummen, zurückhaltenden Gruße, und ließ die Beiden allein.
„Wer ist dieser Mr. Fernow?“ fragte Alison, als der Professor außer Gehörweite war.
„Ich habe es Ihnen ja bereits gesagt. Professor der hiesigen Universität, eine Leuchte der Wissenschaft, ein kostbares Exemplar von einem deutschen Gelehrten, der mit seinen Forschungen nach jahrtausendaltem Gerumpel und Gekritzel sich um die Menschheit verdient macht, und dabei selbst zur Mumie eintrocknet. Uebrigens ein sehr gutgeartetes, unschädliches Exemplar, das sich unendlich komisch in der Rolle eines Ritters und Beschützers ausnahm, die ein alberner Zufall ihm gleich am Tage unserer Ankunft bei Miß Jane zuertheilte.“
Alison, der dem Professor nachgeblickt, wandte sich plötzlich um.
„Bei Miß Forest?“ fragte er hastig. „Doch wohl nicht als ihr alleiniger Beschützer? Hoffentlich waren Sie zugegen?“
„Durchaus nicht! Der Wagen brach uns auf der Landstraße, es regnete in Strömen, ich mußte bei dem verwundeten Postillon zurückbleiben und war froh, Miß Jane dem Schutze des ersten besten Gentleman, in diesem Falle Professor Fernow, zu übergeben, der unsere tragische Gruppe passirte, und dem seine Gelehrsamkeit wenigstens so viel Verstand übrig ließ, die ihm anvertraute Dame glücklich nach B. zu bringen.“
„So?“ sagte Alison scharf. „Und dies Abenteuer leitete natürlich eine nähere Bekanntschaft ein, bei der sich die Beiden, da sie Hausgenossen sind, täglich sehen und sprechen?“
Atkins sah ihn einen Augenblick lang verwundert an, dann brach er in ein lautes Lachen aus.
„Henry, ich glaube gar, Sie sind eifersüchtig! Eifersüchtig auf diesen schwindsüchtigen Professor! Wissen Sie, was dazugehört, in diesen deutschen Universitäten mit ihrer entsetzlichen Gründlichkeit mit dreißig Jahren – und der da ist noch nicht einmal dreißig – schon eine Professur zu bekleiden? Ein Ungeheuer von Gelehrsamkeit gehört dazu. Ein Mensch, der sich mit Leib und Seele den Büchern verschrieben hat, und sonst vom hellen lichten Tage nichts weiß. Wirklich, Sie thun dem armen Manne bitteres Unrecht, wenn Sie glauben, daß irgend etwas, das nicht in Schweinsleder gebunden ist, überhaupt für ihn existirt, und da Miß Jane dies beneidenswerthe Vorrecht nicht genießt, so hat auch sie leider keinen Anspruch auf sein Wohlgefallen.“
Alison hörte nicht auf die Spöttereien. „Spricht ihn Miß Forest öfter?“ fragte er ungeduldig.
„Schwerlich! In der Zeit wenigstens, wo ich hier war, schien der Gebrauch der Sprache Beiden abhanden gekommen zu sein, so stumm gingen sie an einander vorüber. Ich bitte Sie, Henry, thun Sie doch dem Geschmack Ihrer Braut nicht diese Beleidigung an! Wo bleibt Ihre Selbstschätzung? Stellen Sie sich wirklich auf eine Linie mit diesem Bücherwurm?“
Alisons Stirn begann, sich zu entwölken. „Sie haben Recht, es wäre lächerlich! Ich hatte daheim mit so manchem Bewerber um Miß Forest’s Gunst in die Schranken zu treten, und es waren keine verachtungswerthen Gegner darunter. Ich habe nie einen von ihnen gefürchtet! Beim Anblick dieses ‚schwindsüchtigen Professors‘, wie Sie ihn nennen, kam mir etwas wie eine Ahnung, als könne gerade er gefährlich werden.“
„Ahnung?“ sagte Atkins gedehnt. „Um Gotteswillen, Henry, fangen Sie nicht zu ahnen an! Das ist auch eine von den deutschen Erfindungen; da sie nie ordentlich rechnen, ahnen sie alles Mögliche. Sie werden doch nicht auch diesem Unsinn verfallen?“
Noch bevor Alison antworten konnte, wurden sie unterbrochen, ein junges Dienstmädchen erschien, um die soeben erfolgte Ankunft der Doctorin und Miß Forest’s zu melden und die Herren zum Eintritt einzuladen.
Jane hatte mit ihrer gewöhnlichen Consequenz selbst den Verwandten ein Geheimniß aus ihrer Verlobung gemacht, ihre erste Begegnung mit Alison konnte deshalb auch nur eine völlig fremde sein. Fünf Monate waren vergangen, seit er sie zum letzten Male gesehen hatte, in dem reichen Empfangszimmer ihres Vaterhauses, in der eleganten Toilette, jetzt trat ihm die hohe Gestalt in dunkler Trauerkleidung, inmitten des altmodischen, einfachen Gemaches entgegen, das hier als Besuchzimmer diente; war es dieser Contrast oder die lange Trennung, Alison hatte sie nie so schön gesehen.
„Sie verzeihen, Miß Forest, daß ich es nicht unterlassen konnte, auf meiner Durchreise Sie aufzusuchen. Mr. Atkins versicherte mich eines freundlichen Empfanges.“
Jane reichte ihm die Hand. „Ein Landsmann ist mir stets willkommen.“ Ihr Blick begegnete dem seinigen, es war eine stumme Begrüßung, die einzige zwischen ihnen, sonst verrieth kein Zeichen, auch nicht das leiseste, ein Brautpaar, das sich nach halbjähriger Trennung zum ersten Mal wieder sah. Die Beiden waren zu sehr Herr über ihre Züge, zu sehr an conventionelle Schranken gewöhnt, um durch Uebereilung ein Verhältniß zu verrathen, das noch nicht für die Oeffentlichkeit bestimmt war.
Jane wandte sich zu ihrer Tante und stellte ihr Mr. Alison, „einen Freund unseres Hauses“, vor; die Doctorin verneigte sich, sie konnte noch immer nicht die Sicherheit und Selbständigkeit begreifen, mit der ihre Nichte fremde Herren empfing und verabschiedete, dies achtzehnjährige Mädchen, das, ihrer Meinung nach, sich noch stets unter den mütterlichen Flügeln der Tante verborgen halten mußte und sich höchstens dann und wann mit einer schüchternen Bemerkung hervorwagen durfte. Jane hatte die Sache einfach umgekehrt und ihr diese Rolle zugetheilt, welche die sonst nicht gerade schüchterne alte Dame, gänzlich beherrscht von dem Einfluß ihrer Nichte, sehr passiv durchführte und dabei stets in dem unbehaglichen Bewußtsein ihrer völligen Ueberflüssigkeit.
Alison hatte den Damen gegenüber Platz genommen, man sprach von seinen Reisen, von England und Frankreich, vom Rhein, aber Henry’s Unterhaltungsgabe war heut nicht besonders glänzend. Er wartete mit einer von Minute zu Minute sich steigernden Ungeduld darauf, daß Atkins ihm auf irgend eine Weise Gelegenheit zu einem Alleinsein mit Jane geben werde, aber Atkins schien ein lebhaftes Vergnügen an seinem unterdrückten Aerger zu finden und zog das Gespräch in’s Endlose. Doch der junge Amerikaner war nicht der Mann, der so mit sich spielen ließ; als man ihm nicht zu Hülfe kam, ergriff er selbst das Steuer und bat Miß Forest einfach, ihm zu erlauben, daß er ihr Briefe und Nachrichten von zu Haus übergeben dürfe, die für sie allein bestimmt seien.
Jane erhob sich sofort und führte ihn, mit einer kurzen Entschuldigung gegen die Tante, in ihr an das Besuchzimmer stoßendes Wohngemach, es Mr. Atkins überlassen, die empörten Gefühle der Frau Doctorin über diese neue amerikanische Freiheit zu beruhigen. Kaum hatte sich die Thür hinter ihnen geschlossen, als Alison auf sie zutrat und ihr mit einer gewaltsam unterdrückten, aber dennoch leidenschaftlichen Bewegung die Hand entgegenstreckte.
„Verzeihen Sie, Jane, daß ich zu diesem ungeschickten Mittel griff! Ich ertrug den Zwang nicht länger!“
Er ergriff wieder die schöne, kühle Hand, die sich wie damals willig in die seinige legte, aber ohne ihren Druck zu erwidern.
„Sie hätten ein weniger gewaltsames Mittel wählen sollen, Henry! Mr. Atkins würde früher ober später gewiß einen Vorwand gefunden haben, der uns das Alleinsein ermöglichte. So muß es meiner Tante nothwendig auffallen.“
Die kühle Erwiderung schien auch Alison’s Leidenschaft auf einmal zu dämpfen. „Sie scheinen es sehr zu fürchten, daß Mr. Stephan Kenntniß von unseren gegenseitigen Beziehungen erhält.“
„Wenigstens wünsche ich es nicht.“
„Und doch wird es sich nicht vermeiden lassen.“
„Ich glaube, das steht allein bei uns, und dies um so mehr, als Ihr Aufenthalt in B., wie Sie mir schrieben, sich ja nur auf Tage beschränken wird.“
„Allerdings! Es scheint nicht, daß ich besonderen Grund haben werde, ihn zu verlängern.“
Jane fühlte den Stich, sie lenkte rasch von einem Thema ab, das verfänglich zu werden drohte.
[280] „Sie wollen nach Paris? Man spricht ja von einem möglichen Kriege mit Frankreich.“
Alison zuckte die Achseln. „Ich glaube nicht daran, sollte es aber dennoch dazu kommen, so würde ich natürlich zurückkehren, um Ihnen zur Seite zu sein, und Sie fortzuführen, wenn die französischen Heere den Rhein und ganz Deutschland überschwemmen.“
„Setzen Sie das so ganz bestimmt voraus?“
„Ja! Nehmen Sie etwas Anderes an?“
Jane hob mit dem ihr eigenen trotzigen Ausdruck den Kopf. „Es könnte doch sein, daß wir unsern Rhein vertheidigen!“
„Wir? Unseren Rhein?“ wiederholte Alison scharf. „Ich dächte, Miß Forest hätte bisher ihren Stolz und ihre Ehre darein gesetzt, eine Tochter des Landes zu heißen, dem sie in Allem angehört – die ersten kurzen Lebenstage ausgenommen.“
Jane biß sich so heftig auf die Lippen, daß ein leichter Blutstropfen hervordrang. Wer hieß diese unvorsichtigen Lippen auch gerade hier eine Reminiscenz wiederholen, die nicht aus ihrem Gedächtniß wollte. „Wir! Unser Rhein!“ Ihre eigenen Worte waren das freilich nicht, und die Erinnerung an den Moment, wo sie dieselbe so glühend und begeistert aus einem andern Munde gehört, trieb ihr unwillkürlich eine helle Röthe in’s Antlitz; sie wandte sich rasch ab und beugte sich über die am Fenster stehenden Blumen.
Alison beobachtete sie schweigend, aber scharf und unverwandt. „Es scheint, Sie haben hier bereits deutsche Sympathien eingesogen?“ sagte er endlich.
„Ich?“ Jane wandte sich mit einer halb zornigen Bewegung ihm wieder zu. „Sie irren, Henry! Ich fühle mich hier überall beengt, gepeinigt, ich bringe täglich und stündlich ein neues Opfer mit diesem Aufenthalt! Es ist kaum zu ertragen!“
Es lag trotz aller Beherrschung doch eine eigenthümliche Heftigkeit in ihrem Tone, und Alison, der sie stets so kalt gesehen, entging dies nicht, aber er deutete es falsch; seine Augen leuchteten plötzlich auf in tiefster innerster Genugthuung, er trat ihr ganz nahe und ergriff auf’s Neue ihre Hand.
„Nun denn, Jane, es steht ja nur bei Ihnen, dies Opfer abzukürzen! Geben Sie mir schon jetzt das Recht, das Sie mir erst nach Jahresfrist zugestehen wollten, und das zu erreichen mein größter Wunsch ist. In wenig Wochen können die nöthigen Formalitäten abgemacht sein, wir treten dann zusammen die Weiterreise durch den Continent an, oder ich führe Sie, wenn Sie es wünschen, sofort nach Amerika zurück.“
„Nein, Henry, nein! Das ist unmöglich!“
Alison ließ ihre Hand fallen und trat finster einen Schritt zurück. „Unmöglich!“ wiederholte er schneidend, „und weshalb?“
Jane mochte wohl fühlen, daß ihre fast ungestüme Abwehr eine Erklärung nothwendig machte.
„Ich trage noch die Trauer um meinen Vater!“ sagte sie milder, „und ich folge überhaupt in dieser ganzen Angelegenheit einzig seiner Bestimmung und seinem Wunsche.“
„Es war Ihr Wunsch, Jane, nicht der des Mr. Forest. Ich begriff es, daß Sie im Angesicht eines sterbenden Vaters nicht Braut heißen mochten, und meine eigene Reise war es, die den Zeitpunkt unserer Vereinigung so weit hinausschob. Jetzt existirt jener Grund nicht mehr, und diesen hat der Zufall aufgehoben, der uns bereits nach Monaten wieder zusammenführt. Sie wollen während des Trauerjahres keine Vermählung feiern – sei es, ich will Sie nicht dazu drängen, aber ich bitte jetzt, ich fordere es, daß Sie unsere gegenseitigen Beziehungen nicht länger mit diesem strengen Geheimniß umhüllen, daß Sie sich öffentlich als meine Braut bekennen und mir das Recht geben, als Ihr Verlobter Sie im Hause Ihrer Verwandten aufzusuchen.“
Es lag eine solche Energie in seinem Tone, eine solche Entschiedenheit in seiner doch nur berechtigten Forderung, daß eine Zurückweisung derselben unmöglich schien, und eine Andere hätte dies auch schwerlich gewagt, aber Alison vergaß, daß Jane ihm gewachsen war, daß ihre Energie der seinigen nichts nachgab, und daß dieser Ton am wenigsten geeignet war, sie nachgiebig zu stimmen. Das „ich fordere“ klang sehr ungewohnt und unhold in den Ohren des stolzen Mädchens, ihr ganzer Trotz brach hervor.
„Sie vergessen, Mr. Alison, daß die Zeit noch nicht da ist, wo Sie ‚fordern‘ dürfen,“ sagte sie kalt. „Ich habe Ihnen eine Bedingung auferlegt, die Sie zu erfüllen versprachen, die Gründe dafür unterliegen jetzt wie damals einzig meiner Beurtheilung. Ich entlasse Sie Ihres Versprechens nicht. Ich will nicht!“
Die ganze energische Willenskraft der jungen Dame lag in diesem „Ich will nicht!“ und es klang genau so herausfordernd und beleidigend, wie vor wenigen Tagen ein anderes Wort aus ihrem Munde. Vielleicht wollte sie auch hier zum Aeußersten treiben, aber diesmal war die Wirkung eine andere.
Auch Alison schwieg einige Secunden lang. Wäre Jane blos schön, nicht reich gewesen, das verletzte Selbstgefühl des Mannes hätte ihm vielleicht eine Antwort eingegeben, die bei der Schroffheit dieser beiden Charaktere unvermeidlich zum Bruch hätte führen müssen. Aber der junge Kaufmann verstand zu rechnen, er wollte diesen kostbaren Besitz nicht aufgeben einer Frauenlaune wegen und wußte zu gut, daß er hier noch keine Macht geltend machen dürfe. Er fügte sich, aber es lag eine drohende Wolke auf seiner Stirne.
„Sie sind unzugänglich und hart, Jane, wie ein Fels! Sei es denn nach Ihrem Willen, aber,“ seine Stimme bebte in verhaltenem Groll, „vergessen Sie nicht, daß auch ich ein Versprechen empfangen habe, und daß ich es seiner Zeit ebenso unerbittlich einfordern werde, wie Sie jetzt das meinige.“
Jane war bleich geworden, aber ihr Auge begegnete fest und furchtlos dem seinen. „Mein Wort hat die Bedeutung eines Schwures, ich breche eins so wenig wie den anderen.“
„Und Sie wiederholen mir diesen Schwur jetzt mit freiem Willen?“ Sein Auge ruhte durchbohrend auf ihrem Antlitz, es schien als zögere sie eine Secunde, nur eine einzige, dann legte sie ihre Hand rasch in die seine.
„Ich wiederhole ihn – freiwillig!“
Alison athmete tief auf, er preßte ihre Finger mit kernhaftem Druck. „Ich danke Ihnen, Jane! Im Frühjahr kehre ich zurück, um mein Weib zu fordern; bis dahin seien Sie frei, wie Sie es gewünscht haben!“ – Es trat eine Pause ein, drückend für Beide; Jane war es, die zuerst wieder sprach.
„Ich fürchte, wir dürfen die Unterredung nicht länger ausdehnen. Es möchte Zeit sein, daß wir zu meiner Tante und Mr. Atkins zurückkehren.“
Alison erwiderte nichts, er öffnete schweigend die Thüre und folgte ihr in das andere Zimmer, wo inzwischen auch Dr. Stephan erschienen war, dessen joviale Lebhaftigkeit, die den Malicen Atkins’ nichts schuldig blieb, das Gespräch besser in Gang zu halten wußte.
„Nun, wie fanden Sie Miß Jane?“ fragte Atkins, als er eine halbe Stunde später seinen jungen Landsmann hinaus begleitete.
„Verändert!“ lautete die kurze finstere Antwort.
Atkins machte eine ärgerliche Miene. „Thorheit! Sie sind verändert, Henry! Sie haben sich in England den Spleen geholt; es ist Zeit, daß das lustige Paris Sie davon curirt.“
Alison gab keine Antwort, er reichte ihm flüchtig die Hand und ging. – Inzwischen war Jane in ihr Zimmer zurückgekehrt, wohin Atkins ihr jetzt folgte. Sie trat ihm entgegen und rasch, als solle damit jedes andere näherliegende Thema abgeschnitten werden, fragte sie: „Sie bringen mir Nachrichten über Ihre Reise? Ich kann mir den Erfolg denken! Umsonst, wie Alles, was bisher geschah!“
„Diesmal nicht!“
Jane blickte ihn an, als traue sie ihren Ohren nicht. „Wie sagen Sie?“
„Wir haben eine Spur!“
Jane zuckte auf. „Von meinem Bruder?“
Bis in die neueste Zeit waren die Glanzpunkte unserer Hochalpen leider ausschließliches Eigenthum kühner und gewandter Bergsteiger, und die Schönheiten unzähliger Panorama’s und Detailansichten dem größten Theile des Publicums so gut wie verschlossen. Erst der Gegenwart gebührt der Ruhm, selbst die gefährlichsten, ja früher fast für unersteiglich gehaltenen Spitzen zum Gemeingute Aller gemacht zu haben. Hinter der Schweiz, die den ersten Anstoß gegeben, ist auch das Schwesterland Tirol nicht zurückgeblieben,
[282] und selbst in den entlegensten Theilen, die früher nur Alpenherden und arme Bauern gesehen, regt sich lobenswerther Eifer. Einzelnen wackeren Männer ist es gelungen, die Zahl der jährlich zuziehenden Fremden durch Verbesserung der Wege, Errichtung von Schutzhütten, Regelung des Führerwesens u. s. w. zu verdreifachen. Vor allen anderen aber gebührt dies Lob einem deutschen Manne, einem kühnen Steiger und warmen Freunde unserer Alpen, dem Herrn Johann Stüdel, Kaufmann aus Prag, der keine Kosten und keine Mühe scheute, um den König der deutschen Alpen, den zwölftausendundacht Fuß hohen Großglockner an der Grenze Tirols und Kärnthens, durch Erbauung einer Hütte knapp am Gletscher (der sogenannten Stüdelhütte) leichter zugänglich zu machen.
Eben dem König der deutschen Alpen galt es, als ich im August des Jahres 186* von Pinzgau über den Kaisertauern in das kleine Dorf Kals im abgelegensten östlichen Winkel Tirols eilte. Meine Hoffnungen auf gutes Unterkommen waren durchaus nicht sanguinisch, doch wurden sie durch die außerordentlich freundliche und verhältnißmäßig gute Bedienung im Glocknerwirthshause (Unterer Wirth) wahrhaft übertroffen. Leider Gott zeigte der Himmel draußen ein bitterböses Gesicht, und es hatte durchaus keinen Anschein, als wenn der Regen in Bälde aufhören dürfte. Der Abend verging, wie er unter solchen Umständen eben vergehen kann. Die verschiedensten Pläne, hundert Vermuthungen über das morgige Wetter und mancherlei Besprechungen mit den unterdessen herbeigekommenen Führern bildeten den Hauptgegenstand der Unterhaltung.
Mit sehr geringen Hoffnungen legte ich mich zu Bette. Der Morgen zeigte sich neblig und trübe, doch blies ein frischer steter Wind von den Tauern herab, – ein Zeichen, daß das Wetter zum Besseren sich wenden dürfte; und wirklich, um elf Uhr Vormittags begann es in den oberen Regionen lebendig zu werden. Nord- und Südwind kämpften einen verzweifelten Kampf, doch gewann der erstere die Oberhand, freier und freier wurden die Berge, immer lichter die Höhen und immer größer die blauen Lücken im Wolkenmeere. Es war zwölfeinhalb Uhr und nun die höchste Zeit zu einem Entschlusse zu kommen. Die Führer zeigten sich etwas schwankend und wollten zum Unternehmen nicht recht einrathen. Ich jedoch und ein eben anwesender Fremder, der die Partie auf den Glockner gleichfalls mitmachen wollte, schnitten alle Einwendungen kurz ab, und geboten Aufbruch mit der Erklärung, daß wir wenigstens den Versuch machen wollten. Die Führer wurden angewiesen, sich zu rüsten und ihre Vorbereitungen zu treffen, während die freundliche Glocknerwirthin die Verproviantirung übernahm. Um einhalbdrei Uhr war alles fertig, und bei herrlichem Sonnenscheine brach unsere Karawane fröhlich und jubelnd von Kals auf. Dieselbe bestand aus mir, dem Fremden und fünf Führern.
An der Grenze dreier Länder, Salzburg, Tirol und Kärnthen, erhebt sich aus gewaltigen Eis- und Firnmeeren stolz und kühn die Pyramide des Großglockners zwölftausendundacht Fuß; von ihm entspringen gegen Süden die drei Thäler: das Teischnitz-, Ködnitz- und Leiterthal, wovon die zwei ersten zur Drau-, das letztere zum Möllgebiete gehören.
Früher war der Ausgangspunkt für alle Glocknerbesteigungen das kleine Dörfchen Heiligenblut im Möllthale. Seitdem aber auf Tirolerseite die Stüdelhütte erbaut, und ein neuer viel kürzerer Weg über die südlichen Felswände des Glockners, der sogenannte Peggerweg (nach Herrn Ingenieur Pegger so benannt, der auf diesem Wege zum ersten Male die Spitze erstieg) hergestellt wurde, hat sich das früher kaum gekannte Dörfchen Kals, nordöstlich von Lienz im Pusterthale, zum Stationsplatze emporgeschwungen. Wir stiegen nun von Kals aus den anfangs etwas steilen Weg durch das Ködnitzthal hinan. Ueppige Wälder zieren die abschüssigen Halden des Thales und tief unten tost der Bach im steinigen Bette.
Nach zwei Stunden betraten wir eine herrliche Wiesenmatte, auf der die früher zum Uebernachten bestimmte, nun verlassene Jürgenhütte, sechstausendzweihundertfünfzehn Fuß hoch, liegt. Im Hintergrunde erhob sich von schweren Nebelmassen umzogen das eisumlagerte Gestelle des Glockners. Ein kalter, feuchter Wind blies von seinen Höhen herab und verkündete nichts Gutes; auch die Nachbarberge hatten sich mit Schneewolken umzogen. Ein banges Gefühl beschlich mich, es lastete auf mir, und tausend Stimmen tönten von Fels und Riff, die flüsternd wie zur Umkehr mahnten. Und nicht umsonst! denn wir waren keine zweihundert Schritte weiter gestiegen, als plötzlich in seinem Grimme das gewaltige Haupt des Glockners löwenähnlich seine schneeigen Mähnen schüttelte, und sausend und brausend der Sturm auf uns niederfuhr, Massen feinkörnigen Schnees vor sich peitschend. In einem Nu waren wir in die flatternde Bergfee gehüllt, und vermochten nur mit großer Anstrengung die Jürgenhütte zu erreichen, worin wir theilweise Schutz gegen das fürchterliche Unwetter fanden. Doch bald legte sich die tobende Windsbraut, und als ich in das Freie trat, lächelte mir vom Glockner herab schon wieder ein wenig blauer Himmel. Ich rief die Führer heraus und mahnte zum schnellen Aufbruch.
Verdoppelten Schrittes ging es nun über steinige Wiesen und Geröllhalden hinauf, theilweise schon im Schnee watend. Hoch oben und noch ziemlich weit entfernt erblickte man die öden Gehänge der Vanitscharte, auf der die Stüdelhütte steht, das Ziel unserer heutigen Wanderung. Rechts und links lagerten sich wieder neue Wolkenmassen auf den Schultern der Berge, und aus der Ferne tönte unheimlich, fast gespensterhaft das Heulen des Windes, wie er um Fels und Ecke strich. Die Führer mahnten zur Eile, obgleich sie selbst unter ihrer Last den steilen Pfad hinaufkeuchten. Wir leisteten Unglaubliches in dem Sturmschritt, den wir nun einschlugen, und legten in kürzester Zeit einen Weg zurück, zu dem wir sonst noch einmal so lange gebraucht hätten. Doch bald versagten die Kräfte, man mußte sich verschnaufen, obgleich es klar war, daß dem Unwetter nicht mehr zu entrinnen war. Mit fast fanatischer Wuth raste der Schneesturm nun neuerdings gegen uns, mit übermenschlicher Anstrengung überwand ich die gewaltige Schwäche, die lähmend meine Glieder erfaßt hatte, und wollte mich matt und erschöpft zu einer etwas überhängenden Felsplatte hinschleppen, als der vorausgeeilte Führer mir zurief: „Da ist die Hütte!“ Ich raffte mich auf, eilte ihm nach, und um siebeneinhalb Uhr Abends stand ich bei der nun doppelt ersehnten Hütte, fast neuntausend Fuß über dem Meeresspiegel. Schnell war der angewehte Schnee beseitigt und die Thür geöffnet. Müde und fast ohne Athem warf ich mich in meinen Plaid gehüllt auf die Bank. Die Führer hatten rasch ein lustiges Feuer angemacht, und in der behaglichen Wärme und nach einem tüchtigen Schlucke Wein fühlte ich mich bald wieder besser. Nun ging es an das Besehen der Hütte und ihres Inventars.
Die Stüdelhütte ist in der Einsattlung des vom Glockner südwestlich zur Vanitscharte führenden Kammes aus Steinen erbaut und mit schweren Schieferplatten gedeckt. Das Innere ist in zwei Räume abgetheilt, von denen der eine als Speise-, der andere als Schlafsalon dient. Erwägt man die Höhe, in der diese Hütte liegt, die Schwierigkeiten des Transportes von Gegenständen, Utensilien und Eßwaaren, sowie die Kleinheit des Raumes selbst, so muß man erstaunen, mit welch praktischem Sinne und mit welcher Sorgfalt dieses Asyl ausgestattet ist. Da findet man einen von vier Steinplatten eingerahmten Herd, schön getrocknetes Holz, mehrere Pfannen, Tisch und Bänke, verschiedene Kochgeräthe, Kaffeeschalen, Teller, Bestecke, Servietten, Butter, Schmalz, Salz, Speck, Kopfkissen, Decken, Lichter, einen Thermometer, Fremdenbuch, ja sogar eine Petroleumlampe – und das alles in einer Höhe von neuntausend Fuß über dem Meeresspiegel, in der Region des ewigen Schnees und Eises, meilenweit entfernt von allen bewohnten Stätten.
Als wir so um das Feuer herumsaßen, und uns eben anschickten unser Souper zu bereiten, hörten wir plötzlich draußen Hallohrufe! Wir sprangen auf, öffneten die Thür und erblickten mitten im Schneegestöber die drei anderen Führer, die etwas später von Kals aufgebrochen und nun durch das Teischnitzthal heraufgekommen waren. In Doublirschritten gewaltig gegen den rasenden Sturm ankämpfend, mit Lasten von Schnee bedeckt, eilten sie in die gastliche Hütte. Nun war die Gesellschaft vollzählig, und nachdem ich, der Fremde und die Führer uns an den mitgebrachten Vorräthen und am Weine gelabt hatten, wurden die Führer nacheinander hinausgeschickt, um das Wetter zu recognosciren. Immer aber kam die gleiche Meldung: Wetter, das heißt Himmel gegen Süden klar, gegen Norden dicht umwölkt, fürchterlicher, fast unerträglicher Sturm und Schneegestöber. Es war zehn Uhr Nachts geworden, und mein Vertrauen und Muth nicht sonderlich gehoben. Nun ging es in den Schlafraum! Eine lange, etwas schmale Holzstätte, mit fußhohem gefrornem Heu bedeckt, bildete das gemeinsame Bett; gottlob daß Decken und Kissen da waren! Dennoch wollte es mich bedünken, daß es ein wenig allzu kühl [283] hier sei; in dem Augenblicke hörte ich einen Schrei des Entsetzens von meinem Reisegefährten.
„Was meinen Sie,“ fragte er mit dem Thermometer in der Hand, „wie viel Grade wir hier haben?“
„Nun,“ antwortete ich, „gewiß nicht viel über Null.“
„Schauen Sie selbst.“
Ich warf einen Blick auf die Scala, und siehe da! – viereinhalb Grad unter Null. So, dachte ich mir, eine hübsche Zimmertemperatur! das wird gut gehen! dem muß vorgebeugt werden! Ich packte daher alle meine Kleidungsstücke aus meinem Reisesacke, zog Alles an, hüllte mich dicht in den schweren wollenen Shawl, that mir warme Handschuhe an, und vergrub mich so in das Heu. Die Letzten, die sich zur Ruhe begaben, waren die wackeren Führer, die selbst gewaltig froren, aber aus Schonung für uns das meiste Heu und die wollenen Decken uns überließen. Nun war Alles still – finstere Nacht umgab uns.
Die Natur machte ihre Rechte geltend, erschöpft von den Anstrengungen verfiel ich bald in einen schweren Schlaf; doch dürfte derselbe kaum eine halbe Stunde gedauert haben, denn plötzlich kam es mir vor, als wenn die Erde mit einem furchtbaren Donnergetöse sich öffnen wolle; – ein Stoß – und ich war erwacht, – erwacht zur traurigen Wirklichkeit! Denn draußen wüthete und raste ein Orcan, wie er in den Aequinoctialzeiten auf dem Weltmeere nicht ärger rasen konnte – ein wahrer Teifun[1][WS 1] des Hochgebirges. Es klirrte, rasselte, stöhnte und dröhnte, als wenn das ganze Grundgestelle des Glockners bersten wollte. Dazu flog, vom Winde gepeitscht, der feinkörnige Schnee durch die Spalten des Daches und verursachte im Laufe der Zeit eine ganz artige Nässe, dazu vier Grad Kälte und die Aussicht, noch sechs Stunden in einem solch qualvollen Zustande verharren zu müssen!
Mit Gigantenarmen, durch Nichts gehindert, faßte in furchtbaren Stößen der Sturmwind unsere gebrechliche Behausung und rüttelte an den Dachplatten, daß mir ganz angst und bange wurde; denn, dachte ich mir, entweder deckt er die Hütte ab, und was dann anfangen in dieser Nacht des Entsetzens, oder die centnerschweren Dachplatten, von dem gewaltigen Sturme aus ihrer Lage gebracht, stürzen auf uns nieder und zermalmen uns wie Haselnüsse. Selbst die Führer, die abgehärteten und daran gewöhnten Männer, bewegten sich unruhig auf ihrem Lager, ja ich vernahm sogar die stillen Gebete eines neben mir Liegenden. Nachträglich erklärte mir der Hauptführer, daß er unter den verschiedensten Witterungsverhältnissen den Glockner bestiegen, einen solchen Sturm aber noch nie erlebt habe.
Unerträglich langsam schlichen die bangen Stunden vorüber; als endlich einer der Führer verkündete, es sei halbvier Uhr, sprang ich mit einem „Gott Lob und Dank“ von meinem kalten Pfühle auf und eilte, Feuer zu machen. Die einzelnen Windstöße, wenn auch noch immer heftig genug, kamen nur nach einzelnen Intervallen mehr, und in mir dämmerte die Hoffnung, es könnte vielleicht das Wetter doch noch zum Besseren umschlagen. Ich öffnete behutsam die Thür und schaute hinaus: ein kalter, schauriger Morgen hatte sich aufgethan; der Himmel war zwar rein, insbesondere gegen Süden, allein unbarmherzig fegte der Wind um die Fels- und Firnecken, und öde lag die Hochgebirgswelt in frischem Winterkleide. Ich huschte allsogleich wieder in die Hütte. Zuerst wurde ein kräftiger Kaffee gekocht und inzwischen ein Führer nach dem andern hinausgeschickt, um das Wetter zu beobachten und seine Ansicht dann vorzubringen. Alle aber kamen, nach gethanem Ausblicke, darin überein, daß es zwar möglich sei, die Spitze zu erreichen, daß es aber wegen des in der Höhe wahrscheinlich noch ärger wüthenden Sturmes ein Stück Herculesarbeit sei, und es gerathener sein dürfte, entweder einen Tag noch zuzuwarten oder den Rückzug anzutreten. Da mir aber keine dieser Ansichten zusagte, auch die Möglichkeit des Hinaufkommens nicht in Abrede gestellt wurde, so befahl ich aufzubrechen und wenigstens den Versuch zu machen.
Eilends wurde der Kaffee getrunken, die Mundvorräthe und der Wein verpackt, die Stricke, Fußeisen und Beile untersucht und wohl versorgt, und hinaus zog die sieben Mann starke Karawane, dem Sturme trotzend, das Wagniß zu bestehen. Ein eiskalter Windstoß empfing uns schon auf der ersten Höhe hinter der Hütte, doch tröstete uns einigermaßen der südliche Himmel. Wir stiegen zuerst nordöstlich über einen schwach geneigten Chloritschiefergrath hinauf und kamen nach und nach dem Ködnitzgletscher und damit auch dem Glockner näher; neuer Muth beseelte uns, als über uns die zweigespaltene Spitze, rings von furchtbaren Eis- und Felsenwänden umgeben, gewaltig und übermächtig in den blauen Himmel ragte.
Hinauf! Hinauf! war das Losungswort, trotz des noch immer wüthenden Sturmes und des auf der Adlersruhe hoch aufwirbelnden Schnees. Wir waren nunmehr an der Stelle angelangt, wo sich die beiden Wege, der neue und der alte, trennen. Der erstere führt, wie schon oben erwähnt, direct über die Felswände zur Spitze, war aber heute wegen des angewehten Schnees und der damit verbundenen Unsicherheit des Trittes ungangbar; der letztere führt quer über den Ködnitzgletscher zur Adlersruhe und dann über Eiswände und die sogenannte Scharte zur Spitze. Dieser Weg wurde auch eingeschlagen. Dort, wo der Ködnitzgletscher beginnt, machten wir Halt, theils um Etwas zu genießen, theils um uns an das Seil zu binden. Ich nahm etwas Fleisch und Brod zu mir und wollte auch einen Schluck Wein aus meiner Feldflasche thun, doch kam ich mit den erstarrten Händen schlecht zurecht, und aus Versehen entschlüpfte mir der oben an der Flasche abzuschraubende Becher und rollte die geneigte Eisfläche hinab gerade gegen eine gähnende Kluft; ich hatte kaum einen kleinen Aufschrei gethan, als der Führer Tommele, trotz des ängstlichen Abmahnens seitens der anderen Führer, dem Becher nachrutschte und ihn am Rande der Kluft erwischte; noch einen Fuß weiter, und Mann und Becher hätten ein gemeinsames Grab gefunden.
Ruhig, als ob er den Becher von einer Wiese aufgehoben hätte, überreichte er mir denselben. Nun kam der zweite Schreck. Als ich nämlich den Inhalt der Feldflasche kennen lernen wollte, fand sich nichts, als ein halbgefrorener, schneeartiger Wein vor, der um keinen Preis aus der Flasche herauswollte. Das war unangenehm, doch da half kein weiteres Versuchen; ich barg die Flasche zwischen Rock und Weste, um sie etwas zu erwärmen und dann wenigstens später einen Labetrunk zu haben, und band mich resignirt an das Seil. Drei Führer gingen voraus, dann kam ich, hernach ein Führer, mein Reisegefährte und schließlich noch ein Führer.
So lange der Mensch noch Haare genug auf dem Kopfe hat und Haare lassen kann, denkt er nicht an seine spätere Kahlköpfigkeit und kümmert sich um die Pflege des Haares fast gar nicht. Dies rächt sich aber; denn weit früher, als es das Alter mit sich bringt, ergrauen seine Haare und fallen aus, der Kahlkopf aber fällt in die Hände des Perrückenmachers oder der Charlatane mit Haarwuchs befördernden Pomaden. Um dem zu entgehen, ist es unerläßlich, daß man sich über die Natur der Haare unterrichten läßt, und dies soll hiermit geschehen.
Die einzelnen Kopfhaare sprossen nicht ist stetig gleicher Entfernung voneinander aus der Haut hervor, es stehen vielmehr je zwei oder drei ziemlich nahe zusammen und diese sind durch einen verhältnißmäßig breiten freien Raum von ihren Nachbarn geschieden. Diese Vertheilung des Haares beruht auf einer bestimmten architektonischen Anordnung im Gefüge der Haut, sie findet sich bei allen Constitutionen und wird durch die Altersverhältnisse nicht geändert.
Den Raum, welchen die zu einer solchen Gruppe vereinigten Haare einnehmen, nebst dem zu ihnen gehörigen Theil des freien Zwischenterrains nenne ich einen Haarkreis.
Die einzelnen Haare eines Haarkreises befinden sich nach ihrer anatomischen Anordnung und nach ihrer physiologischen Ernährung in einer gewissen Abhängigkeit voneinander; allein diese bezieht sich nur auf einzelne Seiten ihres Daseins, in vielen Beziehungen ist die Selbstständigkeit eines Jeden vollständig. Jedes Haar hat eine sehr zierlich construirte Bildungs- und Wohnstätte, die sich durch die ganze Dicke der Haut bis tief in die saftige Fettpolsterlage des Unterhautgewebes erstreckt und zum Theil aus dieser seine
[284] ernährenden Blutgefäße und seine Nerven aufnimmt. Es ist ein solches Haarsäckchen die zierlichste Seilerwerkstätte, die man sich denken kann: auf dem Grunde sitzt ein kleiner Kegel (die Nährmutter, Matrix), der unermüdlich Säfte an sich zieht, aus ihnen Zellen bildet und sie sorgfältig aneinander fügt zu einer mächtigen Lage; als Ueberzug erscheint eine einfacher und derber construirte Lage dachziegelförmig übereinander geordneter Deckplatten, die mit ihrem freien Ende nach der Haarspitze gerichtet sind. Nebenbei bemerkt, weicht eben in Folge dieser Richtung der Deckplatten ein zwischen den Fingern der Länge nach hin und her geschobenes Haar stets nach seiner Wurzel hin zurück. Hat das so fertig gestellte Haar einen Theil seines Weges innerhalb seiner Mutterhülle zurückgelegt, so wird es für seinen künftigen Aufenthalt über der Haut, im Freien, zu größerem Widerstande gegen die Fährlichkeiten, welche ihm bevorstehen, vorbereitet: besondere Drüsen (Talgdrüsen) präpariren für jedes Haar ein besonderes, conservirendes Oel; damit ihm Zeit gelassen werde, sich mit diesem Oel recht vollständig zu durchtränken, ist die Einrichtung getroffen, daß das Haarsäckchen kurz vor seiner Tagesmündung eingeschnürt ist; das Haar, ohnehin durch seine nach der Spitze zu gerichteten Deckplatten in seinem Hervorwachsen aufgehalten, erfährt an dieser Einschnürungsstelle einen größeren Widerstand – es muß sich hindurchwinden und preßt in dem Engpaß das ihm zugeführte Oel tief in sein Inneres hinein. Nun ist es geschmeidig und widersteht den Zerrungen der Frisur und den Witterungseinflüssen. Es ist zu Tage und wächst.
Anfangs geht es mit diesem Wachsthum ziemlich schnell (nach den Beobachtungen von Berthold, Donders und mir alle zehn Tage etwa eine bis zwei Linien), aber wenn das Haar im Mittag seines Daseins angekommen ist (nach meinen Beobachtungen, wenn es etwa zwei Jahre steht und zehn bis zwölf Zoll lang geworden ist), dann verlangsamt es sein Wachsthum bis auf ein halb so rasches Tempo, und gegen das Ende seines Daseins lassen sich nur etwa alle vier Wochen bei Messungen kleine Zunahmen wahrnehmen.
Aus den Aeußerungen der meisten meiner Patienten weiß ich, daß die geläufigen Vorstellungen über die absolute Länge, welche das Haar erreicht, irrig sind. Ich habe tausende von Haaren gemessen, zum Theil von Damen mit üppigem Haarwuchs, und ich habe die Länge des Haares im Durchschnitt nur zweiundzwanzig Zoll gefunden; eine Länge von achtundzwanzig Zoll kam schon sehr selten vor.
Die natürlichen, unabänderlichen Verhältnisse des Haarwuchses bedingen es, daß jedes Haar, sobald es eine gewisse Zeit bestanden hat, seine Entwicklung abschließt, ausfällt und durch ein neues ersetzt wird (normaler Haarausfall). Welche Länge das Haar vor diesem typischen Haarwechsel erreicht, hängt hauptsächlich ab von der ursprünglichen Beschaffenheit der Hautstelle, an der es gebildet worden; andere Momente haben auf die typische Länge nur einen sehr untergeordneten Einfluß. Ich bemerke dies ausdrücklich, weil die Meinung allgemein verbreitet ist, man könne durch häufiges Schneiden des Haares die Länge desselben vermehren oder, wie man sich ausdrückt, „den ganzen Haarwuchs kräftigen“. Das Schneiden des Haares wirkt auf das Wachsthum desselben ganz anders, als die geläufige Meinung annimmt. Diese Frage ist für die ganze Pflege des Haares so wichtig, daß ich einen Theil der von mir hierüber angestellten Beobachtungen kurz erwähnen will.
Ich schnitt bei einer größeren Anzahl gesunder Männer im Kopfhaar einzelne Kreise von einem Zoll Durchmesser gleichmäßig kurz ab und verglich von Woche zu Woche die Intensität des Wachsthums an den geschorenen Stellen mit der der benachbarten; das Resultat war überraschend: in einzelnen Fällen wuchs das kurz geschorene Haar in demselben Verhältniß wie das benachbarte nicht geschorene, in den meisten Fällen trat dagegen nach dem Schneiden eine Verlangsamung des Wachsthums ein; nie habe ich eine Steigerung der Geschwindigkeit beobachtet. Ich habe seitdem dieses physiologische Gesetz bei der Krankenbehandlung oft erfolgreich verwerten können.
In der Norm findet sich unter dem täglichen Haarausfall auch bei dem üppigsten Haarwuchs eine Anzahl kurzer Haare; zuweilen sind es kurze abgerissene Stücke, in der Regel aber besitzen sie deutliche Spitze und deutliche Wurzel, haben also ihren Lebenslauf völlig abgeschlossen. Sie werden zunächst geliefert von der Randpartie des ganzen Haares; an den Stellen, an welchen der stärkere Haarwuchs aufhört, findet sich ein schmaler Uebergangsstreifen, an welchem kurzes und gewöhnlich auch feineres Haar producirt wird. Aber auch an den übrigen Theilen des Kopfes wird regelmäßig eine gewisse Menge kurzer Haare gebildet.
Es beginnt nun fast jede chronische Haarkrankheit damit, daß ein Theil des Haares an typischer Länge einbüßt; es findet sich alsdann im Haarausfall eine größere Anzahl kurzer Haare. Wie groß darf diese Zahl sein, ohne ein beginnendes Leiden anzudeuten? Ist es möglich, hier die Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit festzustellen?
Zur Beantwortung dieser Frage, welche für die möglichst frühe Erkenntniß der chronischen Haarkrankheiten von der allergrößten Wichtigkeit ist, habe ich bei sehr vielen Personen in verschiedenem Lebensalter und lange Zeit hindurch den täglichen Haarausfall untersucht. Die Verschiedenheiten, welche ich fand, waren recht erheblich; allein es ließen sich bei der großen Zahl von Untersuchungen die extremen Fälle als solche erkennen und ausscheiden, und es ließen sich sonach Mittelgruppen aufstellen. Die bezüglichen Verhältnisse sind am klarsten bei Frauen, die ihr Haar unverkürzt tragen, zu erkennen. Hier lautet das Schlußresultat: „Bei dem täglichen Haarausfall einer Dame darf in gesunder Zeit nie mehr als der vierte Theil des Haares unter sechs Zoll messen.
Bei Männern ober bei Frauen mit kurzer Haartracht ist die Entscheidung durch einfache Zählung nicht leicht zu ermöglichen; die genaue Feststellung, ob ein solches Haar gesund ist, kann (wenn es sich um die frühesten Stadien eines chronischen Haarleidens handelt – und dies sind diejenigen, in welchen am ehesten Hülfe möglich ist) nur durch Untersuchung des Haarausfalls seitens des Arztes erfolgen – doch gebe ich weiter unten auch für solche Fälle eine freilich nur summarische Durchschnittszahl.
Die ursprüngliche architektonische Anlage der in einer Haargruppe zusammenstehenden Haare ist so gefügt, daß sie ihr Wachsthum niemals zu ein und derselben Zeit beenden; die Haare, welche in einem Haarkreise sich befinden, haben nicht ein und dieselbe Dicke, nicht ein und dieselbe Geschwindigkeit des Wachsthums und erreichen nicht ein und dieselbe Länge. Dies ist die im Anfange dieses Aufsatzes erwähnte theilweise Abhängigkeit, in welcher die Einsassen eines Haarkreises von einander stehen; während der eine Einsasse nah’ am Ende seines Lebens angekommen ist, befindet sich der zweite auf der Höhe desselben und der dritte vielleicht im ersten Viertel. Diese Verschiedenheit der gleichzeitigen Lebensepochen verhindert es, daß die Einsassen eines Kreises zu gleicher Zeit ausfallen – die Momente des Ausfallens liegen in weiten Intervallen auseinander. Wäre diese Anordnung nicht getroffen, so würden wir regelmäßig wiederkehrende kleine kahle Flecke an unserem Kopfhaar wahrnehmen. Es kommen auch solche kleine Kahlheiten vor, aber in krankem Zustande – in der Norm erfolgt Ausfall und Ersatz allmählich, und viele Menschen ahnen nicht, daß jeden Tag eine gewisse Anzahl Haare ausfallen muß.
Die meisten acuten Haarkrankeiten beginnen mit einer erheblichen Zunahme des täglichen Haarausfalls; die Haare vollenden ihren ursprünglich veranlagten typischen Gang nicht, sie werden in ihrem Lebensgange vorzeitig unterbrochen.
Ein solcher krankhafter Zustand ist dem Leidenden oder seiner Umgebung so auffällig, daß rechtzeitig ärztliche Hülfe gesucht wird.
Anders ist es bei den chronischen Haarkrankheiten. Sie beginnen nicht mit einem massenhaften Ausfall, sondern mit einer sehr allmählichen Abnahme der ursprünglich veranlagten Länge der einzelnen Haare. Der neue Nachwuchs wird immer kürzer. Da aber seine bisherige Dicke nicht abnimmt, erscheint er in völlig gleicher Dichtheit wie früher. Die Folge davon ist, daß Männer bei ihrer kurzen Haartracht in den ersten Jahren nichts von dem Leiden merken; den Frauen fällt gewöhnlich die große Zahl der kurzen Haare auf, die sich in die gewohnte Frisur nicht recht wollen einreihen lassen. Allein auch sie ahnen nicht, daß dieser Verkürzung des einzelnen Haares nach einer gewissen Zeit eine Verdünnung desselben folgt. Nun erst – indeß sind zwei bis fünf Jahre vergangen – fällt dem Auge das Dünnerwerden des Haarwuchses auf, und nun wird Hülfe gesucht, in der Regel zu spät; ein Haar, das allmählich an Länge und Dicke eingebüßt hat, läßt sich nur selten in den früheren Zustand zurückbringen.
Diejenige Zeitepoche des chronischen Haarleidens, in welcher das Haar an Länge, aber nicht an Dicke einbüßt, nenne ich das [285] erste Stadium des Haarschwundes; sobald die Abnahme auch des Dickendurchmessers eintritt, beginnt das zweite Stadium.
Alle Krankheitszustände gehen die durch die normalen Verhältnisse vorgezeichneten Wege: das gesunde Haar zeigt in der letzten Hälfte seines Wachsthums eine allmähliche, aber stetige Abnahme seines Dickendurchmessers, jedoch nur bis zu dreifünftel seiner normalen Stärke; die Verdünnung, welche im zweiten Stadium des Haarschwundes eintritt, erfolgt in derselben Weise, nur bis zu einem viel höheren Grade. Fällt dieses schon so verdünnte Haar aus, so zeigt der Nachwuchs schon an keiner Stelle seines Daseins mehr die ursprüngliche Kräftigung, und allmählich bekommt der weitere Nachwuchs den Charakter des ganz dünnen, des Wollhaares.
Die chronischen Haarkrankheiten haben einen fortschreitenden Charakter; dies Fortschreiten kann in doppelter Weise erfolgen. In dem einen Fall wird ein großer Theil der ganzen Kopfhaut (gewöhnlich der Mittelkopf) in der Weise ergriffen, daß in einer jeden Haargruppe je ein Haar an Dicke einbüßt, während die anderen Einsassen desselben Kreises noch ihre früheren Durchmesser behalten haben. Im Ganzen erscheint ein solcher Kopf noch wohl behaart, nur etwas weniger dicht bestanden, als früher. Im Lauf weniger Jahre werden dann die anderen Einsassen der Haarkreise in den Krankheitsproceß hineingezogen – es bildet sich eine „Platte“ aus. In dem anderen Fall ergreift das Leiden eine verhältnißmäßig kleine Stelle von der Ausdehnung eines Zehngroschenstückes, entweder auf der Höhe des Scheitels oder einen Zoll hinter dem vorderen Rande des Haarwuchses, selten an einer anderen Region; an dieser erkrankten Stelle büßen im Zeitraum eines Jahres fast alle Haare ihre normale Länge und Dicke ein. Das allgemeine Aussehen eines solchen Kopfes giebt den Eindruck einer Tonsur in einem kräftigen Haarwuchs. Erst wenn eine solche kleine Platte sich gebildet hat, schreitet das Leiden zu den benachbarten Haarkreisen weiter.
Im Allgemeinen kann man sagen: die erste Art des Fortschreitens (bei welchem ein großer Theil der Kopfhaut auf Einmal ergriffen ist, aber so, daß die Einsassen ein und desselben Kreises die verschiedenen Stadien der Krankheit gleichzeitig neben einander zeigen) findet sich mehr in jüngeren Jahren; die zweite Art (die Tonsur) mehr bei älteren Leuten.
Daß das erste Stadium der chronischen Haarleiden die Dicke des Haares gar nicht und damit auch die Stärke des ganzen Haarwuchses nicht auffällig angreift – dieser Umstand ist schuld, daß die Patienten von dem Bestehen der Krankheit keine Ahnung haben. Die Verkürzung des Haares bemerken sie nicht und sie wissen auch nicht, daß auf diese Verkürzung nach einer gewissen Frist eine Verdünnung des einzelnen Haares folgt. Das Uebel kommt ihnen erst zur Erkenntniß, wenn das zweite Stadium eingetreten ist. Dann ist es, wie bereits erwähnt, meist zu spät, der beginnenden Kahlköpfigkeit Einhalt zu thun. Auf frühe Erkenntniß des Uebels kommt es also an.
Das bequemste Mittel zu dieser möglichst frühen Erkenntniß habe ich bereits im Eingange dieses Aufsatzes angedeutet: man sammle an drei aufeinander folgenden Tagen sorgfältig den Haarausfall beim Morgen- und Abendfrisiren und sondere (bei langer Haartracht) die Haare über sechs Zoll von den kürzeren; findet sich, daß die Zahl der kürzeren ein Drittel des Gesammtausfalls beträgt, so liegt ein beginnendes Haarleiden vor, welches ärztliches Einschreiten erfordert. Bei kurzer Haartracht (Männer, Frauen mit kurzgeschnittenem Haar) sondere man diejenigen Haare, welche die Spur der Scheere zeigen, von denjenigen, welche noch ihre natürliche Spitze haben (ich nenne diese der kurzen Bezeichnung halber Spitzenhaare); die Zahl dieser Spitzenhaare darf bei einer Länge der Haartracht von fünf Zoll nur ein Viertel des Gesammtausfalls betragen.
Die Aerzte haben früher das vorzeilige Ausgehen der Haare als Folge einer allgemeinen oder örtlichen Schwäche angesehen. Man kam zu dieser Anschauung, weil man sah, daß nach schwächenden Einflüssen (schweren Erkrankungen) ein acutes Haarleiden (massenhafter Haarausfall) eintrat, und weil man nun nach Analogie eine solche Schwäche auch bei chronischen Haarkrankheiten voraussetzte. Seit Simson hat ein kräftiger Haarwuchs für das Zeichen einer kraftvollen Constitution gegolten: es lag der Schluß nahe, daß die Abnahme der ursprünglichen Kräftigkeit des Haarwuchses ein Reflex der Abnahme der Gesammtkräftigkeit sei. Bei diesem Schluß übersah man gänzlich, daß eine große Anzahl robuster, völlig gesunder Menschen, mit sehr solider Lebensweise, früh kahlköpfig wurden. Man hielt fest an der Vormeinung der Schwäche und erwartete daher Hülfe von den „Stärkungsmitteln“ oder, was in einer gewissen Epoche der Entwicklung der Medicin dasselbe bedeutete, von den „Reizmitteln“.
Diese Anschauung der Aerzte früherer Zeit ist damals ins Publicum übertragen worden und hat sich hier eingebürgert. Fast alle meine Patienten haben, bevor sie zu mir kamen, Monate hindurch solche Reizmittel (Spiritus, Franzbranntwein, Eau de Cologne, Ricinusöl) gebraucht. Sehr zu ihrem Schaden! Alle diese Reizmittel verkürzen die Lebensdauer des Haares, oder, um mich einer geläufigen Vorstellung, eines Bildes zu bedienen: sie erschöpfen den Haarboden.
Ich muß des Allerdringendsten vor dem Gebrauch solcher „Stärkungsmittel“ warnen. Die erkrankte Kopfhaut erträgt sie nicht. Nicht eine Schwäche liegt vor, sondern ein Krankheitsreiz: diesen zu beseitigen oder, wenn die völlige Beseitigung nicht mehr möglich, zu verringern – das ist die Aufgabe. Und diese Aufgabe läßt sich oft lösen. Aber nicht mit einem „Generalmittel“. Nicht wenige Patienten kommen zu mir in der Voraussetzung, als ob ich ein bestimmtes „Haarmittel“ hätte. Solche „Haarmittel“ giebt es nicht. Es giebt nur gewisse Medicamente, welche den Ursachen des vorzeitigen Haarschwundes, der Verkürzung und der Verdünnung des Haares entgegenwirken; aber diese Medicamente müssen je nach der Natur und dem Verlauf des Falles, je nach dem Stadium des Leidens, nach den Ursachen, nach der Gesammtconstitution ausgewählt und in ihrer Dosis bestimmt, respective verändert werden. Ein Mittel, das heut paßt, ist schon nach vier Wochen ungeeignet, oder ist in der früher angewendeten Dosis nicht mehr passend. Und dem nachdenkenden Laien kann das nicht auffällig sein, er braucht sich nur seiner eigenen Erfahrungen bei anderen Krankheitszuständen zu erinnern: bei einem acuten Uebel, welches ab und zu wieder auftritt (Magenkatarrh, Luftröhrenkatarrh), oder bei einem chronischen, welches ab und zu Anfälle macht (Migräne, Asthma) – da bringt wohl ein und dasselbe Medicament, das in diesem Fall schon früher erprobt worden, nun wiederum Hülfe der Linderung; wer aber ein stetiges chronisches Leiden hat (z. B. einen chronischen Hautausschlag, eine chronische Augenentzündung), der weiß, daß eine Arznei, welche in einem gewissen Stadium dieses Uebels Linderung brachte, später gar nicht mehr wirkte oder geradezu schadete.
Ein chronisches Haarleiden muß in derselben Weise wie irgend eine andere, sehr chronische Krankheit vom Arzt beobachtet und behandelt werden.
Am achtzehnten August des vergangenen Jahres strömten die Berliner in Sturmschritten wieder einmal den Litfaßsäulen zu, um Einsicht von der eben angeschlagenen Siegesdepesche zu nehmen.
Wohl an fünfzig Menschen, junge und alte, beiderlei Geschlechts und aus den verschiedensten Ständen, umdrängten eine Säule nahe der Victoriastraße; natürlich konnten die entfernt Stehenden von der Schrift der auf orangefarbenem Papier gedruckten Depesche nichts erkennen.
„Laut vorlesen!“ erschallte eine Stimme aus dem Hintergrunde.
„Ja, ja, vorlesen!“ rief es im Chorus durcheinander.
„Drängeln Sie doch nicht so, liebe Frau! Was interessirt Ihnen denn das?“ rief ein breitspuriger Bezirksvorsteher einer jungen Frau zu, die, mit einem Kinde auf dem Arme, sich mit Hülfe ihrer Ellenbogen durchzuarbeiten suchte.
„Was mir das interessirt?“ erwiderte die Repermandirte, [286] den Frager mit herausfordernden Blicken messend. „Mein Mann ist bei der Landwehr und steht mit vor Metze; da dächte ich wohl –“
„Platz der Landwehrfrau!“ tönte es von allen Seiten, und sofort bildete sich eine Gasse, damit die Frau mit ihrem Kinde bequem zu der Depesche gelangen könne.
Ein wohlbeleibter Herr mit spärlichem Haupthaar, eine goldene Brille auf der sanft geplatteten Nase, erbat Ruhe, und als diese eingetreten war, las er mit lauter, volltönender Stimme die Depesche vor, die, von Pont à Mousson datirt, die Mittheilung brachte, daß der Feind am sechszehnten einen Ausfall aus Metz gemacht, aber trotz bedeutender Ueberlegenheit nach zwölfstündigem heißem Kampfe in die Festung zurückgeworfen sei. „Verluste aller Waffen auf beiden Seiten sehr bedeutend,“ lautete der Dämpfer auf die frohe Siegesbotschaft.
„Es lebe die Armee! Hoch Prinz Friedrich Karl!“ jubelte die Menge unter fröhlichem Hüteschwenken.
Der Knäuel war eben daran, sich zu entwirren, als eine offene Equipage daher gefahren kam. Die darinsitzende, sehr geschmackvoll gekleidete Dame befahl dem Kutscher, dicht bei der Säule zu halten, und beauftragte danach den schnell vom Bock springenden Jäger, ihr den Inhalt der neuesten Depesche zu berichten.
„Diese Mühe kann Ihr Jäger sparen, gnädige Frau,“ sagte der Vorleser von vorhin, indem er an den Wagenschlag trat und die Dame höflich begrüßte.
„Ah, guten Tag, lieber Doctor!“ rief die Dame sichtlich erfreut; „hab’ Sie lange nicht gesehen. Bitte schnell mir zu sagen, wo wir wieder gesiegt haben!“
Der Angeredete gab lachend zurück: „Daß wir gesiegt haben, davon sind Sie im Voraus überzeugt; es handelt sich bei Ihnen nur um die Frage: wo? Nun denn: eine entscheidende Schlacht ist geschlagen worden in der Nähe von Metz, die Franzosen sind in die Festung zurückgeworfen; aber blutige Köpfe hat es auf beiden Seiten viel gegeben.“
„Maria und Joseph!“ rief die Dame mit einem unverkennbaren Anklang an den österreichischen Dialect; „da steht ja die Armee Seiner Hoheit des Prinzen Friedrich Karl, bei der mein Mann engagirt ist. Jesses, wenn meinem Adolph nur nichts passirt ist! Mir fehlt jede Nachricht von ihm. Sind in der Depesche keine speciellen Namen von Todten und Verwundeten angegeben?“
„General von Döring und von Wedel sind gefallen, von Rauch und von Grüter verwundet,“ berichtete der Doctor.
„Steht nichts vom Lieutenant von Rhaden dabei?“ fragte die Dame mit ängstlichem Tone weiter.
„Ihres Herrn Gemahls ist in der Depesche nicht Erwähnung gethan,“ antwortete der Gefragte lächelnd ob der naiven Frage.
„Da muß ich gleich telegraphisch anfragen. Wollen Sie mir das Telegramm besorgen, Herr Doctor? Mir läßt’s keine Ruh’, bevor ich erfahren hab’, daß mein Mann wohlauf ist. Wir sind ja dicht am Haus’. Bitte, stehen Sie mir in meiner Verlassenheit bei!“
Der also Gebetene sagte bereitwillig zu und folgte dem Wagen, der vor dem Hause Victoriastraße Nr. 30 anhielt.
„Wer war die interessante Dame?“ fragte ein Herr, der sich durch verschiedene Reise-Effecten als Fremder documentirte, den Bezirksvorsteher.
„Sie sind wohl nicht von hier?“ fragte der städtische Beamte zurück.
„Nein, ich bin aus Danzig.“
„Also ein Fremder? Konnt’ ich mir lebhaft denken; sonst müßten Sie ‚unsere Pauline‘ kennen.“ Sprach’s und schritt fürbaß, ohne den Fremden einer weiteren Erklärung zu würdigen.
Verblüfft sah ihm der Danziger nach und wandte sich dann zum Weitergehen. Ein elegant gekleideter Herr, der die Frage des Danzigers gehört hatte, trat jetzt zu ihm mit den Worten: „Die kleine Dame mit dem geistvollen Gesicht und den lebhaften Augen ist die Hofkammersängerin und Primadonna der großen Oper, Frau Pauline Lucca, die Gemahlin des Baron v. Rhaden, der jetzt im Felde steht. Die Sängerin genießt in der Residenz einer großen Popularität und wird von Hoch und Niedrig gewöhnlich nur ‚unsere Pauline‘ genannt.“
Der Fremde dankte in höflichen Worten für diese Erläuterung und setzte dann seinen Weg fort.
Frau Lucca war kaum in’s Haus getreten, als der Portier meldete: „Gnädige Frau, so eben ist diese Depesche für Sie abgegeben.“
Hastig erbrach sie das Couvert und las: „Lieutenant von Rhaden verwundet, jedoch nicht lebensgefährlich.“
„Hab’ ich’s doch geahnt!“ rief die Depeschen-Empfängerin mit schmerzlichem Ausdruck. „Mir hat drei Nächte hintereinander von Schlangen geträumt! Verwundet ist er, nicht lebensgefährlich, steht zwar in der Depesche, aber doch der Pflege bedürftig, und ich bin hundert Meilen von ihm entfernt!“ In großer Erregung fuhr sie fort, wie mit sich selbst redend: „Nein, nein! Ich kenne meine Pflicht und werde sie erfüllen. Johann soll nicht abschirren; ich fahre gleich weiter. Wo ist meine Kammerjungfer? Sie kommen g’rad’ recht, Editha. Machen Sie schnell Alles bereit – wir reisen. In den kleinen Koffer thun Sie nur die nöthige Wäsche, ein Kleiderwechsel ist nicht nöthig; zur Cour werden wir dort nicht geladen; und hier haben Sie Geld, kaufen Sie ein, was mein kranker Mann zur Stärkung braucht: Tauben, junge Hühner in Blechbüchsen verschlossen, Fleischextract, Eingemachtes; wenn es schon Caviar giebt, bringen Sie ein Tönnchen von dem Russen in der Charlottenstraße mit. Vergessen Sie auch nicht feinste Cigarren, und nehmen Sie ein Dutzend Flaschen vom besten Wein aus meinem Keller. Einen Paß muß ich aber auch haben; zunächst also zum Minister des Innern, dem Grafen Eulenburg. Nur schnell, Editha! Lasten Sie Alles in eine Kiste packen und nach der Anhaltischen Eisenbahn befördern. Wenn Sie damit fertig sind, reisen wir!“
„Und wohin,“ fiel jetzt der Docter ein, „wenn ich mir die Frage erlauben darf, wollen die Gnädige reisen?“
„Wohin? In’s feindliche Land. Ich will mir meinen Mann selbst holen, um ihn hier besser pflegen zu können.“
„In der Depesche ist aber nicht angegeben, an welchem Orte Ihr Herr Gemahl sich im Augenblicke befindet, das werden Sie in der großen Verwirrung, die jetzt vor Metz herrschen muß, auch nicht so leicht erfahren.“
„Ich such’ das ganze Elsaß und Lothringen ab, bis ich ihn gefunden.“
„Ihre Kammerjungfer soll Geflügel einkaufen; Fleischspeisen wird der Kranke vorläufig aber nicht genießen dürfen.“
„Er muß doch essen?“
„Allerdings, aber nur die ihm vorgeschriebene Lazarethkost.“
„Was ist das? Spitalsuppen? Laufgrabenbouillon? Daran ist mein Adolph nicht gewöhnt, der muß was Kräftiges haben.“
„Sie machen sich unnütze Mühe und Kosten,“ versicherte der Doctor. „Wenn Sie Etwas mitnehmen wollen, so sei es comprimirtes Gemüse, consistente Milch, Liebig’sches Fleischextract, Kaffee, Thee, Zucker, von solchen Sachen dürfen Kranke genießen. Wenn es Ihnen recht ist, werde ich die nöthigen Einkäufe besorgen.“
„Himmlischer Doctor, ich möcht’ Sie umarmen!“
„Bitte, sans gêne!“
Nachdem die Krankenverpflegungs-Proviantangelegenheit geordnet war, setzte sich Frau Lucca wieder in ihren Wagen und fuhr zu Minister Eulenburg, den sie in eindringlichen Worten um einen Paß nach dem Kriegsschauplatz für sich und ihre Kammerjungfer bat.
Der Minister war nicht wenig erstaunt über dieses Verlangen und suchte durch die triftigsten Gründe die Sängerin von der Reise zurückzuhalten. Namentlich hob er hervor, daß die Eisenbahnen für Militärzüge fast ganz in Beschlag genommen und auch Privatfuhrwerk fast gar nicht mehr aufzutreiben sei.
„Excellenz,“ erwiderte die Bittstellerin, „ich steh’ vor keinem Wagniß zurück und weiß Schwierigkeiten zu überwinden. Wenn’s keine Eisenbahnen, keine Wagen und keine Pferd’ für mich giebt, so suche ich eine andere Reisegelegenheit. Fort muß ich und sollt’ ich mir eine Kuh satteln lassen.“[3]
„Wenn Sie mit solcher Energie auf Ihrem Vorsatze bestehen,“ sagte lächelnd der Minister, „dann muß ich Ihnen schon zu Willen sein. Ich werde Ihnen den Paß in deutscher und französischer Sprache ausfertigen lassen, und alle Behörden darin ersuchen, Ihren Wünschen überall möglichst entgegenzukommen.“
„Excellenz, ich dank’ Ihnen in meinem und meines Mannes [287] Namen. Ich werd’ gewiß den besten Gebrauch von dem Paß machen. Aber, bitt’ schön, machen Sie es den Behörden etwa eindringlich, daß sie mir Hülfe leisten, wie ich es verlange, es wird Noth thun, besonders im feindlichen Lande.“
Am einundzwanzigsten August finden wir Frau Lucca mit ihrer Kammerjungfer auf dem Anhaltischen Bahnhofe und bald braust der Zug mit ihnen dahin – die beiden Damen in der ersten Wagenclasse, den Koffer mit Wäsche und die vom Doctor mit comprimirtem Gemüse, Apfelsinen, Wein und dergleichen mehr gefüllte Kiste im Gepäckraum.
Drei Stunden ungefähr ging der Zug vorwärts ohne Unterbrechung, und Frau Lucca sprach ihre Freude darüber gegen ihre Kammerjungfer unverhohlen aus.
„Sehn Sie, Editha, wie schnell das geht! Der Doctor und auch der Herr Minister wollten mich durch ihre ausgesprochenen Befürchtungen nur von der Reise zurückhalten.“
„Wir sind noch nicht am Ziele, gnädige Frau,“ unglücksunkte die moderne Kassandra.
Ein lang gezogener greller Pfiff ertönte von der Locomotive, der Zug bewegte sich langsamer und hielt endlich an einer kleinen Zwischenstation. Die Thüren der Waggons wurden geräuschvoll geöffnet und überall hörte man die Schaffner rufen: „Herrschaften, gefälligst aussteigen! Gepäck in Empfang nehmen!“
Die Thür zum Coupé der Lucca öffnete der Bahnhofsinspector selbst, mit den Worten:
„Gnädige Frau, wollen Sie die Güte haben auszusteigen!“
„Aber warum denn aussteigen? Ich hab’ mir’s hier so hübsch bequem gemacht.“
„Da thut mir’s um so mehr leid, Ihnen unbequem werden zu müssen. Eine eben eingetroffene Depesche von Saarbrücken befiehlt hier anzuhalten und den Frankfurter Zug abzuwarten; von dem Letzteren haben wir Gefangene aufzunehmen und mit diesen nach Berlin zurückzudampfen.“
„Und wann kommt der Zug, mit dem wir weiter fahren?“
Der Inspector zog die Achseln bis zu den Ohrläppchen: „Das läßt sich mit Bestimmtheit noch gar nicht angeben.“
„Aussteigen! Aussteigen!“ tönte das Commando der Bahnhofsbeamten.
Der Inspector half der Gnädigen mit echt weltmännischer Galanterie aus dem Wagen und suchte sie nach Kräften zu trösten, daß sie voraussichtlich ein paar Stunden lang verurtheilt war, auf dem kleinen, mit Soldaten, Telegraphisten, Marketendern und allerhand zum Krieg gehörenden Volk angefüllten Bahnhof auf den Berliner Zug zu warten.
Frau Lucca mit Editha auf den Koffern sitzend suchte sich über das Peinliche der Lage mit Biscuitessen hinwegzuhelfen, als auch schon, früher als man hoffen durfte, die Stimme eines Schaffners rief:
„Da kommt der Berliner Zug!“ Die Glocke schlug an, ein heiserer Pfiff von der Locomotive und langsam rollte eine unendlich lange Wagenreihe heran und hielt. Aufspringen und dem Zuge zueilen war für Frau Lucca das Werk eines Augenblicks, während Editha als Kistenwache zurückblieb.
„Wo ist der Herr Inspector? ich muß ihn sprechen!“ rief die Sängerin mit Hast.
„Ich bin der Inspector. Was steht zu Diensten, Madame?“
„Ich hab’ zwei Personen-Billets zur ersten Classe, für mich und meine Kammerjungfer, man hat uns hier abgesetzt und auf den nächstkommenden Zug verwiesen. Wollen Sie uns gefälligst Plätze anweisen?“
„Verehrte Frau,“ erwiderte der Inspector achselzuckend, „muß sehr bedauern nicht dienen zu können. Der ganze Zug ist vollgestopft mit Pferden, Soldaten, Kanonen, Proviant und Fourage; wie Sie sehen, wird auch alles Kriegsvolk, was hier im Hause war, noch nachgeschoben, so daß selbst kein Mäuschen Raum für ein Unterkommen mehr finden würde.“
„Aber mein Herr, ich muß weiter!“ drängte Frau Lucca fast weinend.
„Wir dürfen keine Civilpersonen in diesem Zuge mitnehmen,“ beschied sie der Inspector, zwar sehr höflich, aber bestimmt. „Ueberdies habe ich nicht eine Secunde Zeit. Der Zug geht sogleich weiter.“
Er gab das Zeichen und der Zugführer ließ seine schrille Pfeife ertönen. In dieser höchsten Noth vertrat Frau Lucca dem Inspector den Weg und rief ihm zu:
„Werden Sie auch diesen Paß nicht respectiren?“
Der Inspector blickte flüchtig in den ihm dargereichten Paß, dann aber las er aufmerksam und sagte endlich, sich tief verbeugend:
„Ah! Frau Lieutenant von Rhaden? Sie wollen zu ihrem verwundeten Mann, das ist allerdings etwas Anderes; da muß Rath geschafft werden; wie und wo ich aber noch zwei Damen placiren soll, das mögen die Götter wissen!“
„Wer sitzt in jenem Wagen?“ fragte sie, auf ein Gefährt erster Classe deutend.
„Das sind die Officier-Coupés.“
„Kriegs-Cameraden meines Mannes? Die werden, wenn ich sie bitt’, schon ein Bischen zusammenrücken.“
Damit trat sie rasch an den bezeichneten Wagen und sprach in das offene Fenster:
„Meine Herren, haben Sie nicht noch Raum für zwei schiffbrüchige Damen? Wir wollen uns recht klein machen.“
„Das ist ja unsere Lucca!“ tönte es wie aus einem Munde.
„Ja, ich bin’s, die unglückselige, die man wieder zurücklassen will,“ declamirte sie mit komischem Pathos, denn ihre frohe Laune war bereits zurückgekehrt.
„Wir sind unser zehn in diesem Coupé,“ sagte ein junger Lieutenant, „aber um ihnen, der pflichttreuen Gattin, Platz zu machen, setze ich mich auf den Schoß des Cameraden v. S.“
„Und ich,“ fiel rasch ein Zweiter ein, „nehme den Cameraden v. L. auf die Kniee, damit Ihre Kammerjungfer Raum findet.“
„Dadurch wird die Gesellschaft aufgeräumt,“ setzte ein Dritter lachend hinzu.
Die Thaten waren schnell den Worten gefolgt, wodurch zwei Plätze disponibel wurden. Frau Lucca stieg mit der Kammerjungfer rasch ein, Kiste und Koffer wurden den gutmüthigen Officieren zwischen die Beine geschoben und fort ging es wieder, in munterem Gespräch und durchaus zwangloser Unterhaltung.
Es vergingen Stunden und kaum war in dem heitern Hin- und Wiederreden eine Pause eingetreten. Da fuhr der Zug langsamer.
„Fahren wir noch nicht in Frankfurt ein?“ fragte schon etwas ungeduldig Paulinchen.
„Nein, gnädige Frau, wir sind noch mehrere Meilen von der ci-devant freien Reichsstadt entfernt,“ belehrte sie der Rittmeister.
„Hier sind wohl nur fünf Minuten Aufenthalt, dann geht es sogleich weiter,“ vermuthete v. P.; aber es kam anders. Der Zug hielt an keinem Stationsorte, sondern mitten im Felde, nur ein Wärterhaus befand sich in der Nähe. Der Hauptmann beugte sich zum Waggonfenster hinaus und fragte den Inspector, der geschäftig dahergegangen kam:
„Ist Etwas in Unordnung am Zuge?“
„Nein,“ war die Antwort, „der Bahnbeamte hat das Zeichen zum Halten gegeben und der Herr Oberst fand eine Depesche vor, mit der Weisung, hier zu warten, bis der Sanitätszug von Saarbrücken kommen wird, mit dem ihm neue Befehle zugehen werden.“
„Schöne Aussicht!“ seufzte der Fähndrich und sprang aus dem Wagen, die Cameraden folgten ihm und halfen dann den Damen beim Aussteigen.
„Wie lange kann es dauern, bis der Sanitätszug kommt?“ fragte Frau Lucca.
„Kann’s nicht sagen,“ antwortete der Inspector und schlug sich seitwärts in die Büsche.
Der Fähndrich schrie: „Seit heute Morgen nichts genossen! O! Ein Königreich für’n Pferd – aber es muß rindern und gebraten sein!“
„Meine Herren!“ fuhr hier die Lucca ermunternd dazwischen, „auch ich werde ein Opfer bringen für Deutschlands Größe. Sie sollen in einer halben Stunde etwas Warmes haben.“
Etwas Warmes?“ fragten Alle zugleich.
„Ja,“ replicirte sie lachend, „Kaffee, veritablen Mokka, ich habe zwei Pfund in der Reisetasche. Editha, gehen Sie schnell zum Bahnwärter, leihen Sie ein möglichst großes Kochgefäß, füllen Sie das mit Wasser – dort steht ja ein Brunnen – und tragen Sie mir es auf jenen Rasenplatz. Aber, wie steht’s mit der Feuerung? Für Holz müssen die Herren Officiere sorgen.“
[288]
[290] „Ganzes Bataillon zum Holzen!“ commandirte der Hauptmann, und in wenigen Minuten lagen die zusammengebrochenen Beine einer alten Gartenbank der „Kaffeeköchin für Deutschlands Größe“ zu Füßen.
„Da ist Holz vom Fichtenstamme!“ declamirte Lieutenant v. K.
Editha brachte einen Dreifuß und einen blankpolirten Messingkessel mit Wasser gefüllt, der Fähndrich steckte eine Handvoll Liebesbriefe unter die alten Bankbeine und lustig züngelten die Flammen um den von der Lucca, ihrer Kammerjungfer und den Officieren erwartungsvoll umstandenen Kaffeekessel.
„Es zischt! – Es braust! – Es siedet! – Hurrah, es kocht!“ riefen die Officiere, einer hinter dem anderen.
Da ein Kaffeetrichter nicht zur Hand war, so schüttete Frau Lucca den Inhalt ihrer Blechbüchse in das siedende Wasser und bald war die Luft weithin erfüllt vom Arom des duftigen Mokka.
„Jetzt Tassen, Tassen, meine Herren!“ rief die gütige Fee aus Mekka.
Der Wärter besaß nur zwei derartige Luxusartikel, die von den Officieren für die Damen bestimmt wurden; im Uebrigen wurden Gläser, Töpfe, ein Trinkhorn, eine sogenannte Wasserfüllkelle, lederne Trinkbecher und ähnliche zur Aufnahme von Flüssigkeiten geeignete Geschirre herbeigeholt und von Frau Lucca vermittelst eines Punschlöffels gastlich gefüllt.
Der Kaffee war noch sehr heiß, die Behälter desselben wurden zu einiger Abkühlung erst auf den Rasen gestellt. Da erschien plötzlich wie Zieten aus dem Busch, mit langgezogenem Pfiff, der Sanitätszug.
Ein Major, der den Zug begleitete, sprang aus dem Wagen und näherte sich, der Witterung folgend, der noch immer aus der Mokkafluth schöpfenden Hebe, mit der Bitte, den Verwundeten, die seit acht Stunden jedes Labsals entbehrt hatten, etwas Kaffee verabreichen zu wollen.
„Meine Herren Officiere,“ mit diesen Worten wandte sich die Kochkünstlerin an ihre Reisegefährten, „geben Sie gefälligst alle den Kaffee wieder her!“
„Wir werden ihn, mit Ihrer Erlaubniß, selbst zu den Kranken tragen,“ sagte v. P. und in der nächsten Secunde liefen die Officiere den Wagen zu, jeder einen Verwundeten wählend, um ihn durch Mokka zu erquicken.
„Ich danke Ihnen, Madame, im Namen meiner Kranken!“ sagte der Major. „Ihnen persönlich empfehle ich einen Schwerverwundeten in dem Waggon Nr. 245. Es ist ein einjährig Freiwilliger, der einzige Sohn sehr vermögender Eltern, im Civilstand Referendar und verlobt mit einer jungen und sehr reichen Banquierstochter. Dieser ist vor allen Anderen einer Stärkung bedürftig.“
Frau Lucca eilte mit ihrer Tasse dem bezeichneten Coupé zu. Da lag in einer Hängematte ein schöner junger Mann mit bleichen Zügen, bis unter’s Kinn in eine Decke gehüllt.
„Ich bringe Ihnen etwas Kaffee, mein Herr,“ redete ihn die Lucca mit ihrer sonoren Stimme an. Der Kranke richtete die Blicke starr auf sie, ohne zu antworten oder sich zu bewegen.
„Darf ich Sie aufrichten?“ fragte sie weiter und schob ihre kleine Hand unter sein lockiges Haupt.
„Nein, nein! Wo ist mein Diener?“ rief in fliegender Angst der Kranke.
„Es ist kein Diener hier, lieber Herr; vergönnen Sie mir doch, als barmherzige Schwester bei Ihnen den Opferdienst zu thun; ich will mich darin üben,“ bat die Lucca mit ihrem bezaubernden Lächeln.
Der Kranke schüttelte heftig den Kopf und sah sich wieder ängstlich um, als suche er Jemand.
„Sie sind,“ begann Frau Lucca wieder, „wie mir der Herr Major mittheilt, schwer verwundet, aber auch glücklicher Bräutigam. Hoffentlich ist die Zeit nicht fern, wo Sie, geheilt, Ihre holde Braut mit liebenden Armen wieder umschließen werden.“
Hier stürzte ein Thränenstrom aus den Augen des Verwundeten, und er schrie mit convulsivischem Schluchzen: „Ich habe ja keine Arme mehr!“
Frau Lucca wurde durch diese Worte bis in’s tiefste Herz erschüttert, auch ihren Augen entstürzte eine Thränenfluth, und sie mußte sich anhalten, um nicht umzusinken.
„Armer, armer Herr!“ schluchzte sie. „Sie bringen dem Vaterlande das schwerste Opfer!“ Tiefes Mitgefühl gewann ihr das Herz des Unglücklichen und er duldete nun, daß sie ihm den Kopf erhob, um seinem schmachtenden Munde etwas Kaffee einzuflößen.
Dem Unglücklichen waren, wie die Sängerin vom Major nachher erfuhr, beide Arme durch eine Granate bis an die Achseln vom Körper gerissen.
Nachdem der Oberst seine neuen Befehle, die uns unbekannt geblieben sind, von dem Führer des Sanitätszuges empfangen hatte, setzte sich der Train mit der Lucca und der jovialen Officiergesellschaft wieder in Bewegung. Auf der Tour vom Wärterhause bis Frankfurt und von da bis Saarbrücken ist der Primadonna Besonderes, oder besser, für die Nachwelt Aufbewahrungswürdiges nicht passirt.
Ihre Erzählung von dem jugendlichen Helden ohne Arme, dessen ganze sich so rosig gestaltende Zukunft durch eine Granate vernichtet worden, hatte die Gesellschaft sichtlich ernst gestimmt und die lebenslustigen Officiere zum Nachdenken über ihr eigenes nahe bevorstehendes Schicksal geneigt gemacht, so daß auf der Weiterfahrt nur wenig Worte gewechselt wurden.
Bei der Ankunft in Saarbrücken war es bereits tief Abend. Frau Lucca und ihre Kammerjungfer stiegen aus, die Officiere verabschiedeten sich höflich von den Damen, wünschten der Frau „Cameradin“ v. Rhaden Glück zur baldigen Auffindung ihres Gemahls und suchten dann eiligst die ihnen angewiesenen Quartiere auf.
Frau Lucca fragte einen Schaffner, wo man in Saarbrücken am besten logiren könne.
„Logiren?“ wiederholte der Schaffner, die Fragende mit erstaunten Blicken musternd. „Von Logements ist in Saarbrücken keine Rede; Alles mit Soldaten belegt.“
„Und ich bin so ermüdet!“ seufzte die arme Frau. „Wissen Sie uns nicht ein Unterkommen für die Nacht aufzufinden? Wenn es noch so beschränkt wäre, ich würde Sie königlich dafür belohnen.“
Der Schaffner rückte die Mütze und besann sich einige Minuten dann sagte er: „Ich war eben bei meinem Vetter in der Schäferhütte.“
„Lassen Sie uns zu ihm eilen,“ drängte die Lucca.
„Nee, da liegen zwölf Mann und ’n Gefreiter, auch die Kirche ist angefüllt mit französischen Gefangenen. Das einzige Local, was merkwürdiger Weise noch nicht belegt ist –“ er stockte.
„Nun, welches Local ist noch frei?“
„Das Spritzenhaus, mit Respect zu sagen, da könnte ich Ihnen ein schönes Lager bereiten aus reinlichem Stroh oder duftigem Heu, wenn Ihnen das Local nicht gar zu despectirlich wäre.“
„Warum despectirlich?“
„Weil wir in Friedenszeiten die Spitzbuben da drin einsperren.“
„Lieber Freund, das würde mich weniger tangiren; aber liegen auf blankem Stroh, ohne Decken?“
„O nein,“ fiel hier der Schaffner ein; „an weichen wollenen Decken, ganz neuen sogar, ist kein Mangel, die bekomme ich von den Herren Officieren schon geliehen, wenn ich sage, daß ich sie den Damen bringen will.“
„Hier haben Sie einen Louisd’or, lieber Freund! Eilen Sie, daß uns nicht auch noch dieses letzte Asyl für Obdachlose durch militärische Requisition verloren geht.“
„Ah! Madame sind nobel. Bitte mir zu folgen,“ sagte der Schaffner, schnell voranschreitend. Die Damen wollten folgen.
„He! Sie da! Frölens!“ rief ihnen ein Gepäckträger nach. „Hier steht noch eine Kiste und ein Koffer. Gehören die Sachen Ihnen?“
„Schaffen Sie das Gepäck nach dem Spritzenhause!“ befahl Editha und folgte mit ihrer Gebieterin dem improvisirten Herbergsvater.
„In’s Spritzenhaus?“ brummte der Gepäckträger. „Es ist doch nicht etwa unrechtes Gut? Der Koffer ist nur leicht – aber die Kiste, der Tausend, die hat Gewicht!“ Darnach that er, wie ihm befohlen.
Die Theorie der Kopfabschneider. Es war bekanntlich dem Kriegsminister Gambetta vorbehalten, die unter dem Namen „die Kopfabschneider“ selbst in der französischen Armee berüchtigten afrikanischen Reiterhorden, „die Gums“, von denen man sagte, daß sie mit der Gestalt des Menschen die Instincte des wilden Thieres vereinen, nach Frankreich zu rufen und der Loire-Armee als reguläre Truppe, als Spahis, mit der Bestimmung einzuverleiben, Schrecken und Tod in den Reihen der Preußen zu verbreiten. In welchem Rufe aber diese Gums bei ihren Landsleuten, den regulären Spahis stehen, unter welche man sie gesteckt hatte, davon Folgendes als Beispiel. Der General v. Schmidt, ein Stück Seydlitz und Ziethen, und dabei ein wahrer Vater für seine Soldaten, hatte zwei reguläre in der Gegend von Laval gefangene Spahis vor sich kommen lassen und sagte ihnen:
„Ich sollte Euch eigentlich hängen lassen, denn Ihr habt mir zwei meiner besten Ulanen caput gemacht. Ihr seid nicht werth, daß Euch das Sonnenlicht mehr bescheint – hängen, baumeln müßtet Ihr! Zwei meiner Leute so zu maltraitiren!“
Diesen Vorwurf wiesen die Spahis von sich ab und schoben diese Grausamkeit den Gums zu, mit denen sie zwar in einer Truppe dienen müßten, aber nie irgendwelche Gemeinschaft hätten. Sie verachteten und verabscheuten dieselben, wie der Mensch den Tiger, der bereit ist, ihm jeden Moment in den Nacken zu springen und ihn zu zerreißen. Die Gums seien von jeder Verbindung mit anderen Truppentheilen ausgeschlossen, sie bekämen nicht wie diese Verpflegung, sondern jeden Tag eine gewisse Löhnung, von welcher sie sich ihren Unterhalt beschaffen müßten.
Ich sah die zwei Gefangenen, die nach Le Mans gebracht wurden. Der eine mochte etwa achtundzwanzig Jahre alt sein, der andere zwanzig; der jüngere war der vornehmere, er selbst sagte, daß er der Sohn eines Kaïd sei und viel Land und viele Herden besitze. Sein Aeußeres war auch viel edler und vornehmer, als das des andern, den er mit einer gewissen Geringschätzung behandelte; derselbe war klein und von ungeschlachtem Gliederbau, während der jüngere fein und schlank gebaut war, edle und feingeschnittene Gesichtszüge hatte, ein blitzendes Auge und einen elastischen Gang. Die kleinen stechenden schwarzen Augen des Aelteren dagegen, die dunklen hellglänzenden Fleischmassen, die dicken Lippen, die platte Nase verriethen in ihrer Form wilde und thierische Triebe, und waren von einem lauernden, heimtückischen Ausdruck. Dazu hatte er einen Hieb über dem Kopfe, und die weiße Bandage verlieh ihm noch eine unheimliche Beleuchtung. Er trug ein Costüm von hellblauem Tuch, weite Beinkleider, die in einem Stücke gemacht waren, eine Jacke mit einem herzförmigen weißtuchenen Regimentsabzeichen auf der linken Seite, um die Schultern einen blauen mit weißem Leinen gefütterten Burnus, um den Kopf ein langes Stück Leinenzeug, das in Form eines Turbans und zugleich einer Capuze um denselben gewunden war. Der Burnus des Jüngeren war von brauner Farbe; dieser war jedoch nicht in Uniform, er hatte seine Tuchkleider abgelegt und befand sich quasi in Negligé, in Leinwandkleidern die vor so und so vieler Zeit einst weiß gewesen sein mochten, jetzt unterschieden sie sich wenig von dem braunen Tuche. Als Fußbekleidung trugen Beide Schuhe und Gamaschen. Als der Jüngere gefangen genommen worden war – er kam seinen Turban schwenkend wie eine Katze über die Knicks geklettert –, da umstanden ihn die Ulanen und betrachteten sich das fremde Menschenkind. „Ha,“ sagte der eine, „wie kann he denn reiten? he hat doch keene Sprungriemen!“
Der Aeltere sprach leidlich Französisch, wenn auch mit rauhen tiefen Gaumenlauten, der Jüngere sprach nur Arabisch, von europäischen Sprachen waren ihm nur zwei Worte geläufig: Pruss und Anisette. Da mit diesem geringen Wortvorrathe eine Unterhaltung wohl nicht gut möglich war, so benützten wir den Aelteren als Dolmetscher. Zuerst frugen wir ihn, was er denn von den Pruss hielte? Da blitzten seine Augen in jacher, unheimlicher Gluth auf, wild wehrte er mit den beiden mageren, sehnigen Armen ab, und seine Stimme ahmte das Hurrahgeschrei unserer Truppen nach, dann nahm er seinen Burnus und verhüllte damit sein Haupt. Der wachhabende Officier, Lieutenant Schuchardt, erzählt mir, daß Beide dasselbe gethan, als sie in die Caserne gebracht wurden, wo neben den Gefangenen auch Verwundete lagen, als sie dort der preußischen Krankenträger ansichtig wurden; dabei hatten sie außerdem noch heulende Klagetöne ausgestoßen. Mit den Sympathien für uns war es also schlecht bestellt, dagegen besser mit denen für Anisette und Tabak. Wein ließen sie Beide stehen, dagegen hatten sie eine halbe Flasche des genannten Liqueurs in einem Nu geleert und sahen sich nach mehr um. Ebenso empfänglich schien ihr Gemüth für Cigarren zu sein.
Der Aeltere erzählte dann, daß sie erst seit vier Wochen aus Afrika gekommen seien, daß sie nur sehr ungern ihr Land verlassen hätten, daß sie gezwungen worden seien. „Denn was geht das uns in unserem Lande an, wenn der Pruß und Franzos miteinander Krieg anfangen?“ raisonnirte er. Sie hätten viel von der Kälte zu leiden gehabt, mehr noch ihre Pferde, die das Futter und das Klima nicht vertragen konnten und zum großen Theile gestorben seien.
Auf unsere Frage, ob sie verheirathet seien, nickten sie Beide sehr lebhaft mit den Köpfen; der Aeltere sagte, daß er nur zwei Frauen habe, da er nicht reich genug sei, mehr zu ernähren, der Jüngere dagegen streckte vier Finger in die Höhe, um dadurch die Zahl seiner Frauen anzudeuten. Zuletzt richteten wir die Frage an sie, ob es denn wahr sei, daß sie den Gefangenen, die sie im Kampfe machten, die Köpfe abschnitten. Darauf waren Beide still, und als wir die Frage wiederholten, äußerte der Aeltere mit ernstem, sinnendem Ausdrucke, der Gefangene sei ein Feind, und einem Feinde dürfe man auf der Erde nichts Gutes gönnen, noch weniger dürfe man ihm das Paradies wünschen; Einer aber, dem der Kopf abgeschnitten sei, der könne niemals in das Paradies kommen, und darum thäten sie an allen ihren Feinden so. „Allah will es!“ schloß er mit feierlichem Tone seine Rede.Ungebetene Gäste. Mit Abbildung. Wenn die Wogen der öffentlichen Aufregung so hoch schlagen, wie dies während der letzten Berliner Märzfeste und namentlich am Tage des Kaisereinzugs der Fall war, alsdann pflegen in dem Gesammteindrucke der Bewegung, in dem großen Enthusiasmus- und Jubelmeere, in welchem unwillkürlich Alles nach und nach eintaucht, die kleineren Einzelbilder, die verschiedenen Episoden und Intermezzos der allgemeinen Beobachtung meist verloren zu gehen. Und doch boten jene Feste mancherlei solcher Sonderscenen und Zwischenspiele dar, die wohl verdienen, vor dem Loose der Vergessenheit bewahrt zu bleiben.
So war es ein wehmüthig-froher Anblick, als bei der letzten glänzenden Beleuchtung der Stadt mitten im Strome des schaulustig umherziehenden Publicums und zwischen der endlosen Reihe der die erhellten Straßen durchfahrenden Equipagen, Droschken, Omnibus plötzlich eine Anzahl eigenthümlicher langer Wagen mit auf leichten Säulen ruhenden Dächern erschien, denen Alles willig und oft unter lautem Hurrahruf Platz zu machen suchte, soweit dies das Gewirr von Menschen Thieren und Vehikeln irgend erlaubte. In den seltsamen Wagen – Kremser nennt sie der Berliner, der die vielumfassenden gern zu seinen sommerlichen Landpartien benutzt – saßen dicht gedrängt Mann an Mann, der eine mit verbundenem Kopfe, der andere mit beschientem Arme; hier lugte eine Krücke zwischen den Säulen hervor, dort hing ein in Banden gelegtes Bein über den Schlag hinaus, und die meisten der Insassen sahen wohl noch bleich und kränklich aus, aber Alle blickten sie mit heiteren Mienen in die sie umgebende Luft hinaus und bemühten sich, so gut es ihnen gelingen wollte, in die Feierfreude einzustimmen. Mit den gesunden Armen schwangen sie mit ihren bunten Mützen und wehten mit ihren Tüchern, und wer das nicht vermochte, der nickte wenigstens stillvergnügt mit dem Kopfe. Die also Lustfahrenden waren verwundete Krieger aus den verschiedenen Hospitälern und Baracken. Ueber dem Freudenrausche hatte man ihrer nicht vergessen; auch sie sollten ihr Theil haben an der Lust und der Ehre des Tages, den herbeizuführen sie mit den schwersten Opfern an Gesundheit und Lebenshoffnungen so wesentlich beigetragen hatten. Wie beeiferte sich Alt und Jung, durch allerhand willkommene kleine Aufmerksamkeiten und Spenden den tapferen Streitern seinen pietätvollen Dank zu bezeigen! Wie manches Auge feuchtete sich indeß, wenn es in den Kremsern gar Manchen nicht fand, welchen es darin gesucht haben mochte, gar Manchen, der draußen im Lazareth auf dem Marterbett stöhnte oder vielleicht mit den Tausenden seiner Cameraden schon unter dem Erdbügel seinen letzten Schlummer schlief!
Die interessanteste und charakteristischste Episode spielte am Bahnhofe selbst, als der Kaiser sich zum Einzuge in die festgeschmückte und festbewegte Stadt anschickte; es ist die Scene, welche unser Künstler in dem lebensvollen Bilde der heutigen Nummer festgehalten hat. Unmittelbar neben der Rampe, von der aus das neue Oberhaupt des wiedererstandenen deutschen Reiches den seiner harrenden offenen Wagen bestieg, zeigten sich in einem Fenster der Billet- und Gepäckhalle drei fremdartige Gestalten, die man auf den ersten Blick als französische Officiere erkannt haben würde, wenn auch nicht zwei derselben ihre Militärkäppis auf den Köpfen getragen hätten. Der Gesichtstypus, die stechenden dunklen Augen, die Habichtsnasen und der Schnitt am Schnurr- und Zwickelbart schlossen jedweden Zweifel an ihrer Identität aus. Waren es Kriegsgefangene aus Spandau, welche die Neugier nach Berlin geführt hatte, waren es auf eigene Kosten aus der Gefangenschaft nach Frankreich heim- und durchreisende Krieger – wir wissen es nicht, wir wissen nur, daß sie, wie uns dünkte, mit höhnischen Blicken und sich mancherlei jedenfalls frivole oder hämische Bemerkungen zuflüsternd aus das Schauspiel herabsahen, zu welchem auch sie negativ einen so reichlichen Theil beigetragen hatten.
Unten der siegreich heimkehrende Kaiser, der Bezwinger des hochmuthstollen Frankreich, mit einfacher Würde für die ihm darob dargebrachten Huldigungen seines Volkes dankend, und oben, Zeugen dieser ihre namenlose eigene Demüthigung bespiegelnden Ovationen, Officiere jener ohne Beispiel in der Geschichte vernichteten französischen Heere, die sich der Unüberwindlichkeit vermaßen und zu Hunderttausenden die Waffen strecken mußten vor dem gering geschätzten Gegner – welcher Contrast und welche neue merkwürdige Illustration zur „Völkerpsychologie“! Hätte im umgekehrten Falle ein in Frankreich gefangener deutscher Officier es über sich vermocht, den Triumphzug des siegenden Imperator mit anzuschauen? Nun und nimmermehr, wenn er zu solcher Schmach vom brutalen Sieger nicht mit brutaler Gewalt gezwungen worden wäre! All sein Blut hätte sich ja gegen eine solche Erniedrigung empört! Und, so fragen wir ferner, wie würde es einem deutschen Soldaten in Paris ergangen sein, der sich als „ungebetener Gast“ zu einem derartigen französischen Nationalfeste gedrängt und gar über die Feier zu lächeln und zu witzeln sich erfrecht hätte? Die Begebnisse der letzten Monate, die Jedermann offenkundig sind, überheben uns einer Beantwortung der Frage. Nichts aber bezeichnet vielleicht mit Einem Zuge die Nationalunterschiede der beiden Völker klarer und schärfer, als diese „ungebetenen“ und doch von keinem Menschen behelligten „Gäste“ am Tage des feierlichen Kaisereinzugs in die Hauptstadt des aus ihren Niederlagen neuerwachsenen deutschen Reiches. Jeder weitere Commentar des Bildes wäre von Ueberfluß.
Belfort nach seinem Fall. (Mit Abbildung.). Das vielbesprochene Bollwerk im Knotenpunkt der Hauptverkehrswege von Basel, Mömpelgard, Lyon, Straßburg, Lothringen und Paris, hat so viel des kostbarsten deutschen Blutes gekostet, daß, trotz aller erwiesenen Tapferkeit unserer Krieger und ihres schließlichen Erfolgs, das Bild dieser Stadt ein trauriger Anblick auch dann für uns bleiben würde, wenn die Friedenspräliminarien nicht die verstimmende Ansicht veranlaßt hätten, daß gerade dieses Blut vergeblich vergossen sei.
In der Geschichte des großen deutsch-französischen Kriegs wird einst
[292] die Cernirung, Beschießung und förmliche Belagerung von Belfort eine der ehrenvollsten Stellen einnehmen; und ein besonderes Gewicht wird man darauf legen, daß es gerade Landwehr war, welcher diese schwere Aufgabe zufiel: der in Stettin formirten ersten Landwehrdivision unter dem General von Treskow. Die Cernirung begann, nachdem die Umgegend von Franctireurs gesäubert war, am dritten November. Zwanzig Tage später war der Cernirungsgürtel schon so eng um die Festung geschlossen, daß der Bau der Batterien und die Aushebung der Tranchéen für die Deckungstruppen beginnen und damit die zweite Periode der Belagerung, die Beschießung des Platzes, beginnen konnte. In dieser Zeit waren bereits drei starke Ausfälle der Besatzung glücklich zurückgeschlagen worden. Man begann mit der Beschießung am dritten December, aber ohne daß man damit vorwärts kam; man mußte sich erst zweier verschanzter Bergkuppen, Haute-Perche und Basse-Perche, bemächtigen, um sich dadurch der Citadelle (oder dem Schloß, dem mittelsten Hauptgegenstande unserer Abbildung) bis auf achtzehnhundert Schritte zu nähern. Dahin gelangte man, nach sehr harten und blutigen Kämpfen erst, nachdem die Lunette Nr. 18 völlig zerstört, die Eröffnung der Laufgräben gegen die beiden Perches, die zum Theil in Felsen gesprengt werden mußten, gelungen und ein erster Angriff (am 26. Januar) vergeblich gemacht worden war, am 8. Februar. Von diesem Augenblick an dehnte die Beschießung sich auch auf das Schloß aus, welches achtzig Fuß über die Stadt sich erhebt, und schon dadurch starke Widerstandskraft zu äußern vermochte.
Die Besatzung hielt sich in der Festung so tapfer, wie die vom Präfecten Grosseau angefeuerte Bürgerschaft in der Stadt. Da jedoch mit dem Schloß auch die Stadtenceinte und das große neue Fort Des Barres, auf dem rechten Ufer des Savoureuse-Flusses, den unsere Abbildung zeigt, im Bereiche unserer Batterien lag, so war die Uebergabe ohne Sturm so gut wie sicher. Gleichwohl drängte der deutsche General und drohte, beide Perches in die Luft zu sprengen, wenn die Stadt nicht bis zum Fünfzehnten sich unterwerfe. Schon am 11. Februar erschien vor dem General von Treskow der Maire Grosjean mit Capitulationsanträgen. Blattern und Typhus wütheten in der unglücklichen Bevölkerung. Dennoch spannte man noch die französischen Saiten sehr hoch, aber nicht lange. Am Vierzehnten wurde ein Waffenstillstand abgeschlossen, welcher am 16. Februar zu der Capitulation führte, kraft welcher der zwölftausend Mann starken Besatzung freier Abzug gestattet war. Am 18. Februar wurde auf dem Schlosse die preußische Fahne aufgezogen und mit hundert und einem Schuß aus den französischen Kanonen von allen Forts begrüßt.
Einen schweren Dämpfer hat diesem Siegesjubel allerdings der Paragraph der Friedenspräliminarien aufgesetzt, nach welchem Belfort an Frankreich zurückgegeben werden muß. Vor der Hand ist’s aber noch in deutscher Gewalt und wird es bleiben, bis die deutschen Friedensbedingungen von Frankreich bis zum letzten Punkt befriedigt worden sind.
Innig mit den Belagerungskämpfen vor Belfort verknüpft sind die dieselben an Bedeutung noch weit überragenden Feldherrn- und Heeresthaten, mit welchen Werder und seine tapferen Schaaren den großen Doppelplan Bourbaki’s, mit der Entsetzung Belforts einen Einfall ins Elsaß und nach Baden zu verbinden, unter den allerschwierigsten Umständen zu Schanden machten. Diesen wunderbaren Großthaten werden wir einen besonderen Artikel mit Illustrationen widmen.
Die Mutter ist gefunden. Wir haben heute dem in Nr. 15 suchenden Sohne einen Brief seiner Mutter übersenden können, die ihn „mit großer Sehnsucht erwartet“. Glück auf zum Wiedersehen nach sechszehn Jahren!
Ein verlorener Sohn wird von seiner alten Mutter gesucht, die Tag und Nacht über ihn weint. Karl Boltze ist 1863 von Leipzig nach Amerika ausgewandert, nahm dort den Namen Charles Römer an, arbeitete dritthalb Jahr als Bäcker, dann als Handarbeiter auf Eisenbahnen und Farmen, ließ sich aber als Soldat auf drei Jahre anwerben, und kam zuerst in das elfte Infanterieregiment nach St. Louis, später mit demselben Regiment nach Richmond (Virginien). Den dritten Brief schrieb er aus Washington (Mai 1867) und vom 10. October 1867 datirt ist sein letzter Brief aus Fayetteville, Lincoln County (Tennessee), er war damals noch Soldat, aber im Regiment 29. Comp. H. Weitere Nachrichten fehlen ganz.
F. v. W. in M. Auch uns ist als die brutalste von allen Drohungen der Pfaffenschaft im Rheinlande bei den Reichstags-Wahlumtrieben die eines Priesters erschienen, welcher dem Ortsvorsteher, der seine Abstimmung für „seine Sache“ erklärt, zu sagen wagte: „Sie sind fünfzehn Jahre älter als ich und werden auch wohl früher sterben, und wenn Sie in der Todesstunde meiner bedürfen, dann sprechen wir uns weiter, dann werde ich auch sagen: das ist meine Sache.“ – Ja, es ist eine empörende Rohheit, dieses Bangemachenwollen mit Tod und ewiger Verdammniß, – aber „erschreckend“, wie Sie sich ausdrücken, sollte die einfältige Phrase denn doch für keinen vernünftigen Menschen mehr sein. Der Herr Ortsvorsteher, wie jeder brave und tüchtige Mann, ist vollkommen sicher vor der pfäffischen Drohung, wenn er einen solchen „Beistand“ in seiner letzten Stunde nicht braucht und wenn er zu der männlichen Ueberzeugung kommt, daß die Erlangung seiner ewigen Seligkeit nicht des Pfaffen, sondern seine Sache ist.
M. in R. So viel wir uns entsinnen, ist der Dichter Alexander Rost in seinen thüringer Dramen der Geschichte – so weit das in einem Schauspiel überhaupt möglich – ziemlich treu geblieben. Namentlich ist das Volksschauspiel „Landgraf Friedrich mit der gebissenen Wange“, welches den historisch-tragischen Conflict zwischen Albrecht dem Unartigen und seinem Sohne Friedrich behandelt, mit großem dramatischen Geschick und in vielen Scenen mit überwältigender Poesie gearbeitet. Die Scene auf Schloß Tenneberg (bei Waltershausen) ist von ergreifender Wirkung.
H. C. B. in St. Louis. Der Betreffende lebt und ist auch noch bei d. L. Bank beschäftigt.
E. Ors d’Italia. (Eingesandt.) Wir befinden uns wohl, verzeihen Dir von Herzen und sehen Deinen weiteren Nachrichten mit Freuden entgegen.
Im August vorigen Jahres trat in Crefeld ein Ausschuß von Männern zusammen, welche den Entschluß faßten und öffentlich aussprachen: für Karl Wilhelm, den Componisten des Nationalliedes unserer glorreichen Zeit, durch Beiträge aus allen Kreisen des deutschen Volkes ein Capital zu beschaffen, das dem kränkelnden Tondichter einen ruhigen, sorgenfreien Lebensabend bereiten sollte. Leider hat denselben in den letzten Tagen abermals ein schwerer Krankheitsfall betroffen und uns um die Hoffnung gebracht, den allerwärts verehrten Musiker noch ferner in seinem Berufe thätig zu sehen. Um so nothwendiger ist nun die Durchführung unsers Plans, und um so eifriger klopfen wir jetzt, wo der so hoch Gefeierte ganz hülflos geworden ist, während wir uns des theuern Guts des Friedens erfreuen, an die Herzen des deutschen Volkes und rufen ihm zu:
Bei den begeisternden Klängen der „Wacht am Rhein“ ist das deutsche Volk in Waffen ausgezogen, um den übermüthigen Feind zu strafen, der unsere Ehre anzutasten wagte; durch den Donner der Kanonen schwebten die Töne jener herzerhebenden Melodie beim Lagerfeuer im fernen Welschland empor und dieselbe Weise geleitet jetzt die lorbeergeschmückten Krieger heimwärts zum trauten Familienkreise.
Eine „Deutsche Karl-Wilhelm-Stiftung“ möchten wir in’s Leben rufen! Die Beiträge sollen zinstragend angelegt und die jährlichen Einkünfte dieses Capitals unserem Karl Wilhelm in Schmalkalden ausgezahlt werden. Nach seinem Tode aber sollen diese Ehrengaben in eine Stiftung zur dankbaren Erinnerung an das neuerstandene deutsche Reich und die Einigung des ganzen Volkes bei den Klängen der „Wacht am Rhein“, des Nationalliedes von 1870, verwandelt werden und dem Namen des Componisten noch späte Kränze der Dankbarkeit erwerben, denn die Zinsen sollen, je nach der Größe des Capitals, als Stipendien für junge, im deutschen Geiste schaffende deutsche Musiker das strebende Talent unterstützen.
Der Haupt-Ausschuß, unter Vorsitz des jedesmaligen Vorstandes der Liedertafel, mit Wohnsitz in Crefeld, der zweiten Heimath Wilhelm’s, behält sich die weiteren Beschlüsse über Verwaltung etc. vor und wird dieselben veröffentlichen.
Möchten sich in allen deutschen Städten baldigst Orts-Ausschüsse bilden, welche in geeigneter Weise zur Erreichung des erwähnten Zweckes zu wirken suchen! Vor Allem werden die deutschen Männergesangvereine, Militärgesangvereine und Militärcapellen gebeten, durch Veranstaltung von Concerten das Unternehmen fördern und die Erträge an den Cassirer des Haupt-Ausschusses, Herrn F. A. Müller in Crefeld, gelangen lassen zu wollen.
Alle Zeitungen von redlicher deutscher Richtung bitten wir um die Nachdruckung obiger Mittheilungen.
Crefeld, im März 1871.
Professor Dr. Blum (Stuttgart). – Ernst Buchleidner. – Jos. Etzbach. – Musikdirector Aug. Grüters. – Heinr. Hartwig (Dresden). – Ernst Keil (Leipzig). – Wm. van Kempen. – Julius Krüger. – Geh. Commissionsrath E. Litfaß (Berlin). – Aug. von Lumm. – F. A. Müller. – Oberbürgermeister Ondereyck. – Friedr. Pastor. – Andreas Pütz (Köln). – Emil Rittershaus (Barmen). – R. A. Scheibler. – Dr. Georg Scherer (Stuttgart). – C. Fr. Schroers. – Ernst Seyffardt. – G. Verhuven (Weimar). – General-Musikdirector Wieprecht (Berlin). – Musikdirector Fritz Wenigmann (Aachen). – Hof-Capellmeister F. Wüllner (München). – Professor Dr. Fr. Zander (Königsberg). – E. Zillessen jun.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: (Cyllon)