Die Gartenlaube (1871)/Heft 18

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1871
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[293]

No. 18.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Ein Held der Feder.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


„Ruhig, ruhig, Miß Jane!“ sagte Atkins kalt, indem er seine Hand auf ihren Arm legte. „Die Sache ist noch keineswegs entschieden! Eine Spur, die nur auftauchte, um sich sofort wieder zu verlieren, und uns einen nur sehr schwachen Anhalt für die Zukunft übrig läßt, das ist vorläufig das einzige Resultat, das ich ihnen mitbringe.“

Miß Forest hatte bereits ihre Fassung wieder. „Gleichviel! Es ist das erste Lebens- und Daseinszeichen! Was haben Sie entdeckt? Wie gelangten Sie dazu?“

Atkins zog sie ruhig auf das Sopha nieder und nahm an ihrer Seite Platz.

„Mäßigen Sie ihre Ungeduld Jane. Ich werde so klar und kurz als möglich sein, das Ausführliche mögen Sie später erfahren. – Sie wissen, daß ich bereits auf unserer Durchreise in Hamburg die nöthigen Schritte that und den betreffenden Aufruf erließ; es erfolgte, wie gewöhnlich, keine Antwort. Nach vier Wochen reiste ich auf ihren Wunsch wieder dorthin, um mich persönlich von der Erfolglosigkeit unserer Bemühungen zu überzeugen. In den ersten Tagen meines Aufenthaltes schien dies in der That der einzige Gewinn der Reise, am dritten meldete sich bei mir ein Matrose.“

„Ein Matrose?“ wiederholte Jane erstaunt.

„Ja. Er war soeben erst mit seinem Schiffe angelangt, hatte zufällig Kenntniß von jenem Aufruf erhalten und kam nun, mir mitzutheilen, daß vor zwanzig Jahren die Nachbarn seiner Eltern, arme Fischersleute aus einem kleinen Stranddorfe der Nordseeküste, von Hamburg, wohin sie zu Markte gereist waren, einen dort aufgefundenen Knaben mitgebracht hatten den sie bei sich behielten, und der mit ihrem eigenen Sohne zusammen aufwuchs. Die Angaben des Mannes waren so bestimmt, daß sie ihm in der That die ausgesetzte Belohnung eintrugen, und mich veranlaßten, sofort nach dem bezeichneten Orte zu schreiben.“

Jane war seinen Worten mit leidenschaftlicher Spannung gefolgt. „Sie haben bereits Antwort?“

„Ja, eine sehr ausführliche! Sie werden ja den Brief selbst lesen, für mich geht unzweifelhaft daraus hervor, daß jener Knabe in der That der junge Mr. Forest war; Datum, Alter, ungefähre Beschreibung, alles stimmt genau mit meinen Notizen. Daraus erklärt sich auch die Resultatlosigkeit aller Nachforschungen. Die Fischersleute haben mit dem gewöhnlichen Unverstande solcher Menschen, statt den Behörden Anzeige von ihrem Findling zu machen, ruhig gewartet, daß er ihnen früher oder später wieder abgefordert werde, und ihn einstweilen zu sich genommen. Sie hatten längst Hamburg verlassen, als der Brief aus Amerika eintraf und Doctor Stephan die ersten Schritte that, und in jenes elende, auf seinen Sanddünen von aller Welt abgelegene Fischerdorf ist schwerlich jemals eine Zeitung gedrungen.“

„Nun, und jene Leute?“ unterbrach ihn Jane mit äußerster Ungeduld.

„Sind todt! Sie starben schon nach einigen Jahren, und da die ohnehin arme Gemeinde sich nicht mit der Sorge für die beiden Knaben belasten konnte und wollte, so kam der Fischerssohn zu Verwandten, einem Handwerker in einer kleinen norddeutschen Stadt, der junge Mr. Forest dagegen fand Aufnahme bei einem Geistlichen in einem der Nachbardörfer, der indessen auch schon seit Jahren seine Pfarre und die Gegend verlassen hat. Hier endigt der Brief und damit vorläufig auch meine Nachforschungen.“

Mit einem tiefem Athemzuge erhob sich Jane. So entmuthigend auch der Schluß lautete, für sie bedurfte es nicht mehr als eines Fingerzeiges, um sofort ihre ganze Thatkraft wach zu rufen. In einer Minute hatte sie das Alles überschaut und beherrschte die ganze Sache bereits mit der nöthigen Klarheit und Energie.

„Wir müssen vor allen Dingen den Verbleib jenes Geistlichen ermitteln, und uns zunächst wegen der Auskunft darüber nach seiner ehemaligen Pfarre wenden. Ist er nicht aufzufinden, dann müssen wir unsere Nachforschungen auf den Handwerker ausdehnen, der den anderen Knaben zu sich nahm, vielleicht blieb er in irgend einer Verbindung mit dem Jugendgefährten. Jedenfalls muß die kaum gehoffte Spur rasch und entschieden verfolgt werden.“

„Das ist auch meine Ansicht. Ich wollte nur zuvor mit Ihnen Rücksprache nehmen, um dann die nöthigen Recherchen zu veranlassen. Doch noch eins! Ich habe auf Ihren ausdrücklichen Wunsch bisher gegen Mr. Alison geschwiegen; er hat keine Ahnung von der möglichen Existenz eines Schwagers. Wäre es jetzt nicht an der Zeit, ihm Eröffnungen zu machen?“

„Nein!“ sagte Jane mit einer eigenthümlichen Schroffheit. „Nicht eher, bis ich Gewißheit habe! Wir können von ihm weder Unterstützung noch Wohlwollen für Bemühungen erwarten, die ihn möglicherweise um die Hälfte des Vermögens verkürzen, auf das er rechnet.“

[294] Der seltsame Ton machte Atkins aufmerksam. „Was haben Sie mit Henry gehabt? Auch er war verstimmt! Gab es Streit zwischen Ihnen?“

„Ja!“, erklärte Jane mit herber Aufrichtigkeit. „Ich beleidigte ihn!“

„Und er?“

„Er?“ Die Lippen der jungen Dame zuckten verächtlich. „Nun, er fügte sich!“

Atkins zog leicht die Augenbrauen zusammen. „Nehmen Sie sich in Acht, Jane! Alison ist nicht der Mann, der eine Beleidigung verzeiht, auch Ihnen nicht. Für den Augenblick mag er sie ertragen haben, vergessen wird er sie nie, und Sie dürften zur gelegenen Stunde dafür büßen müssen. Ich kenne ihn!“

„Auch ich! Seien Sie außer Sorge, Mr. Atkins, ich fürchte diese Art von Rache nicht, aber – ich achte sie auch nicht!“

„Hüten Sie sich vor diesem Ton, Miß Jane, wenigstens ihm gegenüber. Sie könnten es damit zum Bruche treiben.“

„Schwerlich! Mr. Alison weiß zu gut, was ich ihm werth bin.“

Atkins schüttelte den Kopf, so hatte er sein Mündel noch niemals gesehen. „Sie wissen so gut wie ich, daß Alison Sie trotz alledem liebt, und geliebt hätte, auch ohne Ihr Vermögen.“

„Auch gewählt?“

Er schwieg.

„Sparen Sie Ihre Vertheidigung!“ sagte Jane bitter. „Ich weiß, welchem Beweggrund ich allein die Ehre verdanke, dereinst Mrs. Alison zu heißen!“

Atkins fixirte sie scharf einige Secunden lang. „Und ist Ihnen denn das etwas Neues?“ fragte er langsam. „Wußten Sie das alles nicht ebenso genau, als Sie ihm vor fünf Monaten Ihre Hand zusagten? Und diese Zusage, die der Erbe und dereinstige Chef des Hauses Alison und Comp. erhielt,“ er legte einen bedeutsamen Nachdruck auf die Worte, „wäre sie ihm auch zu Theil geworden, wenn er zum Beispiel die bescheidene Stellung eines Clerk dort eingenommen hätte?“

Der Stich traf, Jane senkte einen Moment lang wie schuldbewußt das Haupt; ihr kamen die Worte in’s Gedächtniß, mit denen sie dem Vater ihre Verlobung mitgetheilt. Damals war ihr das so einfach und natürlich erschienen, jetzt freilich lagen fünf Monate dazwischen. Fünf Monate – und drei Tage!

„Sie sehen,“ fuhr Atkins scharf und unerbittlich fort, „auch bei Ihnen spielte der Dollar seine Rolle, natürlich! denn Mr. Forest erzog Sie zu einer vernünftigen Auffassung des Lebens und der Wirklichkeit. Die Liebe ist ein Luxus, den sich der Reiche immerhin erlauben darf – und Alison erlaubte ihn sich bei seiner Wahl – aber man darf ihn nicht so übertreiben, daß man das Rechnen dabei vergißt, das doch nun einmal die Hauptsache im Leben ist.“

„In Amerika – ja!“ sagte Jane tonlos.

Atkins zuckte die Achseln. „In Deutschland mag es allerdings noch überspannte Köpfe geben, die auf eine Million gar keine Rücksicht nehmen, und im Stande sind, einer Erbin, wenn sie sich etwas gegen sie herausnimmt, ohne Weiteres den Rücken zu kehren. Wollen Sie Mr. Alison einen Vorwurf daraus machen, daß er den Verhältnissen besser Rechnung zu tragen weiß? Jene Herren mögen sich in ihrem erhabenen Mannesstolz sehr großartig vorkommen, aber – Millionäre werden sie dabei niemals werden.“

„Sie haben Recht!“ sagte Jane plötzlich eiskalt und sich erhebend, „Jedem das Seine!“

Atkins sah sie an, als wisse er nicht recht, wie die Antwort gemeint sei. Es war wieder völlig Miß Forest in ihrer undurchdringlichen Ruhe, die jetzt vor ihm stand, und doch klang etwas wie Hohn in ihren Worten; es war ein völlig nutzloser Versuch, sie heut enträthseln zu wollen, er gab ihn auf.

Sich gleichfalls erhebend, zog er eine Brieftasche hervor und reichte sie ihr. „Wir sind von der Hauptsache abgekommen. Hier finden Sie den vorhin erwähnten Brief und alle die übrigen Notizen, prüfen Sie genau, ich nehme heut Abend noch einmal Rücksprache darüber mit Ihnen, jetzt muß ich Sie verlassen.“

Jane reichte ihm die Hand. „Ich danke Ihnen! Und, was meine heutige Laune betrifft,“ die Erklärung schien ihr schwer zu fallen, aber sie fühlte doch wohl deren Nothwendigkeit, „so achten Sie nicht weiter darauf. Es giebt Stimmungen, deren man nicht immer Herr werden kann. Auf Wiedersehen!“

Als Atkins draußen war, blieb er stehen und schüttelte noch einmal den Kopf „Es giebt Stimmungen – hm! Das ist ja wunderbar! Henry hat Ahnungen und sie Stimmungen! Dinge, mit denen sich die Beiden sonst wahrlich nicht abgaben. Uebrigens hat er Recht, sie ist verändert, und wenn ich auch noch anfangen wollte, zu ahnen, dann würde ich sagen,“ hier schickte Mr. Atkins einen sehr unholden Blick hinüber nach dem sonnenbeglänzten Wasserspiegel des Stromes, der zwischen den Bäumen des Gartens sichtbar ward, „es liegt etwas hier in dieser deutschen Luft, und dieser verwünschte Rhein schickt uns, ehe wir es denken, irgend ein Ungewitter auf den Hals!“




Der Amerikaner hatte Recht behalten, wenn auch in anderer Weise, als er geglaubt. Seine ganz speciell gemeinten Befürchtungen waren zu einer politischen Prophezeiung geworden. Es lag wirklich etwas in der deutschen Luft, und es war in der That am Rhein, wo der erste Blitz aufzuckte, der das nahende Ungewitter verkündigte. Frankreich hatte den Krieg erklärt! Wie aus heiterem Himmel kam der Schlag, und wie im rollenden Donner gab ganz Deutschland, vom Fels zum Meere, in tausendstimmigem Echo den Ruf zurück.

Am Rhein flammte es auf in allen Städten, Flecken und Dörfern: heißer, glühender noch, als in den anderen Grenzmarken; waren sie doch die zuerst Bedrohten, die vor allem zu Schützenden, der kostbare Einsatz, um dessen willen das frevelhafte Spiel begonnen war, das fühlte Jeder bis zum ärmsten Bauer herab, und mit einem einzigen endlosen Jubelruf empfingen die geängstigten Rheinlande die Schützer, die Rächer des beabsichtigten Raubes. In riesigen ununterbrochenen Zügen warf Deutschland seine gesammte Kriegsmacht nach der gefährdeten Grenze, immer mächtiger und mächtiger schwoll die Heereswoge an, immer dichter und dichter schaarten sich die Massen um das bedrohte Palladium der Nation; noch war der Gegner nicht zur Hälfte gerüstet, da rollten die grünen Wogen bereits unter sicherer Hut, Glied an Glied geschlossen stand das nun endlich geeinte Deutschland Wacht an den Ufern seines Rheines, bereit, den alten heiligen Strom zu schützen, oder sich, selbst ein vernichtender Strom, in’s Land des Feindes zu ergießen!

Auch in B. hatte die allgemeine Begeisterung mächtig gezündet. Die Studenten eilten zu den Fahnen oder in die Sanitätscolonnen, die Professoren schlossen ihre Vorlesungen und stellten sich, wenn Alter und Gesundheit es noch erlaubten, selbst an die Spitze jener letzteren, die Frauen rafften jetzt schon alle Kräfte und Mittel zusammen, um auf dem thränen- und segensreichen Felde, das der Krieg ihnen zugewiesen, Hülfe und Rettung zu bringen. Alles ward mit fortgerissen, Alles überbot sich in fieberhafter Thätigkeit, die sonst so streng festgehaltenen Schranken der Stände und Gesellschaftsclassen fielen hier in der Stadt, wie draußen im Vaterlande die Grenzen zwischen Nord und Süd – Alles stand zusammen in einer Aufopferung, einer Hingebung, in einem einzigen Begeisterungssturm! –

Es war in den ersten Tagen jener Bewegung an einem prachtvollen Julitage, als Jane allein in dem Balconzimmer saß, dessen Thüren nach dem Garten hinaus weit geöffnet waren. Draußen lag der Sonnenschein heiß auf Rasen und Gebüsch, wie auf den Wellen des vorübergleitenden Stromes, die Rosen blühten in voller Pracht, Käfer und Schmetterlinge gaukelten friedlich darüber hin und das große altmodische Gemach, mit seinen weinumrankten Fenstern, seinen hochlehnigen Stühlen und Kanapees und seiner einförmig tickenden Wanduhr sah gleichfalls so friedlich und behaglich aus, als vermöge kein Kriegslärm von draußen die Ruhe und den Frieden dieses Haus zu stören.

Ruhe und Frieden war es nun gerade nicht, was auf dem Antlitz der jungen Dame lag, die, tief über eine Zeitung gebeugt, dort etwas zu lesen schien, das sie mächtig fesselte, denn ihr Blick folgte in athemloser Spannung den Zeilen und sie hörte weder den Schritt eines Kommenden, noch sah sie seine Gestalt, bis er dicht vor ihr in der Balconthür stand.

„So vertieft, Miß Jane?“ sagte Atkins vollends eintretend. „Sie scheinen mit einer sehr interessanten Lectüre – aber was, was haben Sie denn?“

Jane hatte sich plötzlich erhoben und wendete ihm, das Blatt noch immer in der Hand, ihr Gesicht zu. Wäre sie nicht so an [295] die strengste Selbstbeherrschung gewöhnt gewesen, die Züge hätten vielleicht noch mehr von der stürmischen Bewegung verrathen, die das ganze Wesen der jungen Dame durchbebte, jetzt sprachen nur die heißgerötheten Wangen, die flammenden Augen davon, aber sie sagten genug, um ihre schnell erfundene Ausflucht der Lüge zu zeihen.

„Mir ist nichts, gar nichts, ich leide nur von der unerträglichen Hitze, vor der ich hier vergebens Schutz suchte.“

Atkins sah sie mißtrauisch an, plötzlich schien ihm ein Gedanke zu kommen; es gab nur einen einzigen Gegenstand, bei dessen Berührung er Jane jemals aufgeregt gesehen.

„Sie haben irgend eine Notiz über unsere Angelegenheit gefunden?“ fragte er rasch. „Eine neue Spur?“

Jane war ihrer Erregung bereits wieder vollkommen Herr geworden, sie legte ruhig das Blatt nieder. „Nichts dergleichen! durchaus nichts! Ich hoffte im Gegentheil, Sie würden mir eine Nachricht darüber bringen.“

Er zuckte die Achseln. „Noch habe ich keine erhalten und auch nicht erwartet. Die Behörden haben augenblicklich weder Zeit noch Lust, sich mit Privatrecherchen abzugeben, es möchte ihnen auch schwer werden, jetzt, wo kein Mensch und kein Ding mehr an seinem Platze ist. Eine Reise unsererseits würde vollends nichts nützen, ganz abgesehen von der Unmöglichkeit jetzt vorwärts zu kommen, wir wissen ja nicht einmal, wohin sich die Reise zu richten haben würde. Es kann Wochen dauern, bis überhaupt eine Antwort kommt, wir müssen eben warten.“

„Warten!“ sagte Jane heftig, „immer warten! Und inzwischen verliert sich die kaum gefundene Spur von neuem. Ach, daß jene Fischersleute sterben mußten!“

„War das größte Glück für Sie und den jungen Mr. Forest!“ ergänzte Atkins trocken, „denn das allein entriß ihn dem Kreise, in den ein unglücklicher Zufall ihn geworfen. Wir wissen allerdings nicht, in welcher Eigenschaft er in das Haus jenes Geistlichen kam, hoffentlich als Pflegesohn, und hoffentlich hat man dort das Versäumte nachgeholt. Im anderen Falle könnte sich das gehoffte Wiedersehen sehr peinlich gestalten, oder wäre es Ihnen gleichgültig, Jane, Ihren nächsten Blutsverwandten in jener ersten Sphäre aufsuchen zu müssen?“

Die junge Dame schwieg betroffen; daß sie den Bruder arm wiederfinden könne, daran mochte sie öfter gedacht haben, niedrig – der Gedanke war ihr augenscheinlich noch niemals gekommen, und er gewann auch kaum einen Moment lang Gewalt über sie, dann empörte sich ihr ganzer Hochmuth dagegen.

„Mein Bruder hat das Blut des Vaters in seinen Adern, das erträgt keine Niedrigkeit! Wenn er noch lebt, so hat auch er sich über jede seiner unwürdige Sphäre hinausgeschwungen. Das weiß ich!“

„Ohne richtig Lesen und Schreiben gelernt zu haben? Hm! Sie vergessen, daß dem Mr. Forest bei allem, was er unternahm, die Erziehung zur Seite stand. Ein Student, der seine Bildung auf einer deutschen Hochschule empfing, ist so ziemlich jeder Lebensstellung gewachsen. Ein Fischerjunge – nun, ich hoffe, der treffliche geistliche Herr hat uns der Sorge enthoben, aber der so plötzlich ausgebrochen Krieg spielt uns nichts desto weniger einen argen Streich, er bringt die ganze Angelegenheit in’s Stocken.“

Mit einem Seufzer der Ungeduld nahm Jane ihren Platz wieder ein, während Atkins zum Tische trat und das Blatt ergriff, bei dem er sie vorhin gefunden.

„Ah, die Zeitung! Haben Sie den ‚Aufruf an das deutsche Volk‘ gelesen, der an der Spitze des Blattes steht?“

„Ja!“ klang es zögernd, wie mit innerem Widerstreben von Jane’s ’Lippen.

„Ein seltsames Machwerk!“ sagte Atkins halb spottend und halb mit einem bei ihm seltenen Ernst. „Ich begreife nur nicht, wie ein Mensch eine so unsinnige Menge von Poesie in die Prosa eines Zeitungsartikels legen kann. Er hat jedenfalls irgend einen Dichter zum Verfasser, und einer von den schlechtesten ist es gerade nicht gewesen! Ein bloßer Journalist hat das sicher nicht geschrieben, dazu ist es denn doch zu –“

„Genial!“ vollendete Jane, wieder mit dem früheren seltsamen Aufflammen ihrer dunklen Augen.

„Ja, das heißt überspannt! Nun, die deutsche Genialität ist das immer! Schwung und Feuer hat das Ding übrigens, das muß man ihm lassen, und bei der ohnehin bis zum Siedepunkt gestiegenen Begeisterung von B. wirkt es vollends wie ein Funke im Pulverfaß. Die halbe Stadt hat bereits den Kopf darüber verloren, in der Universität reißt man sich um die einzelnen Exemplare, die Worte zünden überall wie die Brandraketen. Mich soll nur wundern, wie lange das ganze Brillantfeuerwerk überhaupt vorhält!“

Jane blickte mit leisem Hohne zu ihm hinüber. „Ihnen bringt es doch wenigstens Abwechselung,“ sagte sie nicht ohne Ironie. „Sie fanden ja Deutschland so über alle Begriffe langweilig.“

„Ja, das fand ich!“ grollte Atkins, „aber jetzt wollte ich lieber die frühere Langeweile ertragen, statt inmitten eines toll gewordenen Volkes zu sitzen, dem das einzige Lobenswerthe, die frühere Demuth und Bescheidenheit, völlig abhanden gekommen ist. Glauben Sie, daß man die Ausländer noch respectirt, daß man sich überhaupt noch um sie kümmert? In meinem Hôtel werde ich auf’s Elendeste vernachlässigt, alle Sorgfalt und Aufmerksamkeit ist einzig für die deutschen Officiere da; auf der Straße, bei Begegnungen, im Gespräche wird mir stündlich meine unendliche Ueberflüssigkeit unter den Herren Germanen kund gethan; der liebenswürdige Mr. Friedrich findet es gar nicht mehr nöthig, seiner Bärennatur noch einen Zügel anzulegen, und scheint täglich größeren Appetit zu verspüren, mich zum Frühstück zu verzehren. Sogar die gute Mrs. Stephan beginnt sich zu fühlen! Hat sie Ihnen nicht gestern eine förmliche Malice gesagt, als Sie sich weigerten, sich zu ihrem patriotischen Comité pressen zu lassen? Hätte sie das jemals früher gewagt? Man rebellirt auch gegen Sie, Jane, Sie sehen es ja. Erbin! Amerikaner! Engländer! Das gilt ihnen Alles nichts, seit sie unter sich einig geworden sind. Sie brauchen nichts mehr von alledem, sie sind ja deutsch geworden!“

Eine dunkle Röthe war bei den letzten Worten langsam in Jane’s Antlitz aufgestiegen, aber sie sah nicht auf.

„Ich habe meiner Tante erklärt, daß, sobald es Gefahr und Noth zu lindern giebt, ich an meinem Platze sein werde, daß ich aber die begeisterten Demonstrationen, in denen die Damen sich jetzt gefallen, sehr unnöthig und überflüssig finde.“

„Recht so!“ sagte Atkins heftig. „Halten Sie wenigstens Stand! Geben Sie ihr nicht nach, keinen Fußbreit! – Und nun hören Sie nur diesen Lärm an der Hausglocke! Ich wette darauf, das ist auch wieder ein neu erwachtes Nationalbewußtsein, das vor acht Tagen noch ganz bescheiden die Klingel zog und sich jetzt natürlich mit diesem Sturmläuten einführt!“

Die Malice des Amerikaners hatte sich diesmal gegen seinen Wirth gerichtet; es war Doctor Stephan, der jetzt die Thür öffnete und ziemlich heftig eintrat.

„Nun so soll doch gleich –! Ah, Verzeihung, ich wußte nicht, daß Jemand hier sei. Aber dreimal habe ich schellen müssen, ehe die Magd sich aus der Küche herbemühte. Sobald der Friedrich nicht im Hause ist, geht Alles verkehrt!“

„Auch ich habe bereits diesen ausgezeichneten Pförtner vermißt!“ sagte Atkins nach der ersten Begrüßung mit jener außerordentlichen Höflichkeit, die bei ihm stets eine Bosheit barg. „Jedenfalls darf man dem preußischen Heere zu dieser Acquisition Glück wünschen?“

„Ja, Friedrich hat Ordre empfangen,“ sagte der Doctor mit einem unterdrückten Seufzer. „Er ist bereits gestern nach H. hinübergefahren, wird aber wohl noch einmal zurückkommen. Der Professor ist gleichfalls hinüber.“

„Mr. Fernow? Was hat denn er in H. zu thun?“

„Er muß sich gleichfalls zur Untersuchung stellen, der Form wegen, die wird in solcher Zeit nicht leicht Jemandem erspart. Bei ihm bleibt die Sache natürlich nur Formalität, aber der Friedrich wird uns fehlen! Wir behelfen uns zur Noth noch ohne ihn, aber wie der Professor, den er so verwöhnt und gepflegt hat, mit einem anderen Diener fertig werden soll, das weiß der Himmel!“

Damit trat der Doctor zu seiner Nichte, die völlig theilnahmlos bei dem Gespräch die Zeitung wieder aufgenommen hatte, und sah ihr über die Schulter in das Blatt.

„Ich glaube, Sie trauen dem Mr. Fernow allzuviel Interesse für die ungelehrte Wirklichkeit zu,“ spottete Atkins. „Er wird hinter seinem Schreibtisch und seinen Folianten den Wechsel der Bedienung so wenig merken, wie er von dem ganzen Kriege etwas gemerkt hätte, wäre nicht die gezwungene Reise nach H. gewesen.“

[296] Die kleinen grauen Augen des Doctors glänzten in einer eigenthümlichen Schadenfreude, als er zu dem Amerikaner hinüberblickte. „Wirklich? Meinen Sie das? – Hast Du den Aufruf gelesen, Jane, der heute in der – Zeitung steht?“

„Ja!“ sagte Jane rasch, mit einer plötzlichen Spannung das Auge zu dem Oheim emporhebend.

„Sie auch, Mr. Atkins?“

„Die Brandrakete, die heute Morgen die gute Stadt B. und wahrscheinlich noch einige hundert andere Städte in Feuer und Flammen setzte? Ja, Mr. Stephan, die haben wir gelesen!“

„Das freut mich; die ‚Brandrakete‘ kam aus meinem Hause – der Artikel ist vom Professor Fernow!“

Jane zuckte zusammen; sie ließ das Blatt fallen, als habe sie auf einmal glühendes Eisen in der Hand. Mr. Atkins dagegen fuhr von seinem Stuhle auf, stand einen Augenblick kerzengerade da und setzte sich dann ebenso plötzlich wieder nieder.

„Das ist nicht möglich!“ sagte er kurz.

„Nun, das habe ich heute schon mindestens dreißig Mal gehört!“ triumphirte der Doctor, ohne sich im Geringsten beleidigt zu fühlen. „Unmöglich! schrie mir Alles entgegen. Ich hätte es selber nicht geglaubt, wenn mir nicht die Ungeschicklichkeit Friedrichs, der den Artikel heimlich in die Druckerei tragen sollte, die Sache verrathen hätte. Natürlich wartete ich erst die Wirkung ab und gab dann mein Geheimniß allen vier Wänden preis. Das hat erst recht gezündet; in der Universität zumal schlug es ein wie eine Bombe. Der Professor kann sich auf einen Empfang gefaßt machen, wenn er zurückkehrt, und ich mich auf eine Scene mit ihm, denn er wird natürlich außer sich gerathen über meine Indiscretion. Pah! mich hat er nicht in’s Vertrauen gezogen, ich hatte kein Schweigen zu halten. Was sagst Du eigentlich zu der Geschichte, Jane?“

„Ich – Nichts!“ sagte Jane mit dem herbsten Tone und Ausdrucke, der ihr zu Gebote stand. Sie wendete sich ab, ging zum Fenster und preßte die Stirn gegen die Scheiben.

„Und Sie, Mr. Atkins?“

Der Gefragte legte sich resignirt in seinen Stuhl zurück.

„Ich warte auf Ihre weiteren Neuigkeiten, Mr. Stephan! Wollen Sie mir vielleicht noch mittheilen, daß Ihr Professor nächstens eine Batterie stürmen und sein Friedrich eine archäologische Vorlesung halten wird – schonen Sie mich durchaus nicht, ich bin jetzt auf Alles gefaßt, ich wundere mich über nichts mehr hier in Deutschland!“

Der Doctor lachte laut auf; plötzlich jedoch unterbrach er seine Heiterkeit und blickte besorgt hinaus.

„Was ist denn das? Da kommt ja Friedrich schon zurück, in solcher Eile! Was hat denn der Bursche? Er sieht ja ganz verstört aus!“

Es war wirklich Friedrich, der im vollen Laufschritt durch den Garten kam und in solcher Aufregung in’s Zimmer stürzte, daß selbst die Gegenwart der gefürchteten „amerikanischen Miß“ und ihres noch mehr gehaßten Begleiters ihn gar nicht kümmerte.

„Was giebt’s?“ rief der Doctor hastig. „Was hast Du, Friedrich? Es ist doch nichts passirt?“

„Ja!“ stotterte Friedrich athemlos. „Passirt ist etwas – der Herr Professor –“

„Ein Unglück? Wo denn? Auf der Bahn oder drüben in H.? So sprich doch!“ drängte der Arzt im vollen Ernste erschreckt.

„Drüben in H.!“ stieß Friedrich verzweiflungsvoll hervor. „Der Herr Professor – er muß auch mit in’s Feld – wir marschiren morgen!“

Die Wirkung dieser Worte war, für den Augenblick wenigstens, ein totales Stillschweigen. Jane hatte sich umgewendet und blickte den unglücklichen Boten an, als zweifle sie im vollen Ernst an seinem Verstande; der Doctor stand da wie vom Donner gerührt; nur Mr. Atkins sagte nach einer secundenlangen Pause halblaut:

„Jetzt fehlt wirklich nur noch die Vorlesung des Mr. Friedrich!“

„Aber sind denn meine Collegen vom Militär des Kukuks?“ brach jetzt der Doctor entrüstet los. „Professor Fernow für diensttauglich erklärt! Meinen Patienten, der mir seit drei Jahren zu schaffen macht! Wie in Himmels Namen ist denn das zugegangen?“

„Ich weiß nicht, wie es eigentlich kam,“ berichtete Friedrich, dem die Angst und Aufregung eine ganz ungewöhnliche Rednergabe lieh; „aber der Herr ist ja selber schuld daran! Ich stand ganz nahe bei ihm, da sah einer von den Doctoren ihn so von der Seite an, zuckte mit den Achseln und meinte: ‚Nun, mit Ihnen geht es doch wohl nicht. Sie können ja kaum ein Gewehr tragen!‘ Gott weiß, warum der Herr Professor das so übel nahm; er wurde auf einmal blutroth im ganzen Gesicht, gab dem Doctor einen Blick, daß der genug hatte, ging drei Schritte zurück und sagte ganz laut: ‚Ich bitte wenigstens um die Untersuchung!‘ ‚Wenn’s weiter nichts ist, das wollen wir besorgen!‘ meinte der Oberstabsarzt und kam selbst heran –“

„Der Oberstabsarzt ist’s gewesen!“ unterbrach ihn Stephan. „Das hätte ich mir denken können! Denn der nimmt Alles, was beim ersten Marsch in den Lazarethen liegen bleibt! Nun weiter!“

„Ja, nun hieß es nur: ‚Sind Sie irgendwie krank?‘ ‚Nein!‘ antwortete der Herr Professor und biß die Zähne zusammen, denn alle die Mannschaften sahen auf ihn hin. Dabei hatte er sich hoch aufgerichtet, noch immer feuerroth bis an die Stirn, und sah jetzt wirklich ganz und gar nicht krank aus. Der Oberstabsarzt befühlte ihn denn auch nur so ganz kurz und sagte dann: ‚Unsinn, College, wir können jetzt nicht so wählerisch sein; Brust und Lungen sind noch gesund, das Bischen Schwächlichkeit vom Stubensitzen muß sich geben – Sie werden genommen, Punctum!‘ Ich dachte, der Schlag sollte mich rühren, und der Herr Professor that einen Athemzug, als wollte ihm die Brust zerspringen.“

Der Doctor begann heftig im Zimmer auf und nieder zu gehen; jetzt aber mischte sich auch Atkins in’s Gespräch.

„Nehmen Sie es mir nicht übel, Mr. Stephan, aber das ist ein Geniestreich Ihres Herrn Collegen, der nahezu an Tollheit grenzt. Einen schwindsüchtigen Professor von seinem Katheder wegzunehmen, um ihn in das Heer einzureihen! Ein schöner Zuwachs!“

„Schwindsüchtig ist Fernow nicht!“ sagte der Doctor mit großer Bestimmtheit. „Das weiß mein College so gut wie ich, und sein Nervenleiden kann er ihm, zumal im Moment der Erregung, nicht so ohne Weiteres ansehen, dazu gehört längere Beobachtung. Seine Stellung schützt den Professor vollends nicht, er ist eben noch jung, genau so alt wie Friedrich. Hätte ich nur eine Ahnung von der Geschichte gehabt, ich hätte ja gern vorgebeugt und die nöthigen Winke gegeben, weiß Gott, ich konnte es hier mit gutem Gewissen, aber wer konnte denn das vorhersehen! Hier in B. wäre die Sache überhaupt nicht passirt – jetzt ist’s zu spät.“

„Aber, Herr Doctor“ – Friedrich blickte mit einer wahren Todesangst den Arzt an –, „der Herr Professor kann doch nicht mit ausmarschiren. Sie wissen ja, daß er keine Zugluft vertragen kann, und keine Hitze, und die Kälte auch nicht, daß für ihn ganz besonders gekocht werden muß, und daß er schon krank wurde, wenn er einmal ohne Regenschirm ausging. Lieber Gott, er stirbt uns ja in den ersten acht Tagen!“

„Nun, beruhige Dich nur!“ tröstete Stephan. „Wir wollen sehen, was sich thun läßt. Rückgängig kann die Sache allerdings nicht gemacht werden, aber vielleicht ist es durchzusetzen, daß Dein Herr zum leichtesten Dienst in irgend einem der Bureau- oder Verwaltungszweige verwendet wird. Ich werde die nöthigen Schritte dazu thun, vor allen Dingen aber muß ich ihn selbst sprechen. Er ist doch mit Dir zurückgekommen?“

„Ja!“ sagte Friedrich aufathmend. „Ich bin nur vorausgelaufen.“

„Nun, so geh’ und bringe vorläufig Deine eigenen Sachen in Ordnung. Sie wollen auch fort, Mr. Atkins?“

„Nur auf eine Viertelstunde – zur Abkühlung! Ich fühle wirklich das dringende Bedürfniß, mich zu überzeugen, ob es hier in B. noch irgend ein Ding giebt, das nicht auf dem Kopfe steht. Miß Forest scheint eine ähnliche Empfindung zu haben – darf ich um Ihre Begleitung bitten, Jane?“

„Ich – bin müde!“

Die junge Dame sank in den Lehnstuhl, stützte den Kopf in die Hand und entzog damit ihr Gesicht jeder ferneren Beobachtung.

„Jane ist heute merkwürdig übler Laune!“ sagte der Doctor draußen auf dem Balcon zu Atkins, dem er das Geleit gab. „Kaum ein Wort ist ihr abzugewinnen! Mir scheint sie überhaupt ganz verändert seit den letzten vierzehn Tagen. Kennen Sie die Ursache dieser fortwährenden Verstimmung?“

[297] „Die Ursache sitzt augenblicklich in Paris,“ dachte Atkins, laut aber erwiderte er in gleichgültigem Tone: „Ich vermuthe, Mr. Alison, der junge Landsmann den ich kürzlich bei ihnen einführte, hat Miß Forest Briefe und Nachrichten von einer ihrer näheren Bekannten überbracht, die ihr zur Verstimmung Anlaß geben. Wenigstens wurde mir dergleichen angedeutet.“

„So? Nun, dann ist die Sache natürlich!“ meinte der Doctor arglos. „Ich fürchtete schon, es sei irgend etwas in meinem Hause oder in ihrer Umgebung, das diese Laune hervorrief.“

(Fortsetzung folgt.)




Ein Märtyrer der Freiheit.
„Scheltet mich einen Träumer, einen Schwärmer, einen Thoren, wenn’s beliebt, aber Ihr könnt mir das Credo meines ganzen Lebens nicht aus dem Herzen reißen: in fünf Jahrhunderten ist das Erdenrund germanisch vermittelt. Drum stimme auch du, täglich kleiner werdendes Häuflein der Männer, die ihr den schönen hohen Traum träumtet von einem gewaltigen, mächtigen deutschen Freistaate, ihr, deren Haar die Sorgen des Exils gebleicht, auf deren Antlitz die Mühen Furchen gezogen und deren müder Leib sich sehnt einzugehen zur ewigen Freiheit, drum stimmt auch ihr in den Ruf ein: ‚O Freiheit, laß deine Diener in Frieden scheiden, denn sie haben ihrer Nation Kraft und Herrlichkeit geschaut!‘ Hochauf, mein Volk! Heil dir, mein Vaterland!“ Fr. Hecker’s Schlußworte aus seiner in St. Louis gehaltenen Friedensfestrede.

Jacob Venedey.

Im Winter des Jahres 1869 sah man in Berlin in den liberalen Kreisen einen ältern Herrn, dessen hohe schlanke Figur ihm trotz des vorgerückten Alters eine gewisse Jugendlichkeit verlieh. Auch sein Gesicht mit der hohen Stirn, von langen blonden bereits in’s Graue spielenden Haaren umgeben, mit den treuen, blauen Augen, dem freundlichen Mund und den feinen Zügen verriethen eine gewisse Kindlichkeit, eine Reinheit und Idealität, wie sie nur selten gefunden wird, nachdem die Illusionen des Lebens entschwunden.

[298] Der schwarze, altdeutsche Rock mit einer Reihe Knöpfe erinnerte an den alten Burschenschafter; sein ganzes Wesen und Benehmen hatte etwas Vormärzliches, Naives und hoch Ehrenfestes und Energisches, etwas von jenem sittlichen Pathos, von jener Ueberzeugungstreue und Opferfähigkeit, von jener Innerlichkeit und Wahrheit, die unserer materiellen Zeit trotz alles Geistes und anderer Vorzüge mehr oder minder zu fehlen scheint.

Das war Jacob Venedey, einer der edelsten Deutschen, ein wahrer Märtyrer der Freiheit, der unermüdliche Kämpfer für Wahrheit und Recht, der als Mann und Greis sich die Ideale seiner Jugend bewahrt und bis zu seinem letzten Athemzuge dafür gelitten und gestritten hat.

Er war wenige Tage nach dem Tode Schiller’s und vor der Aufhebung des republikanischen Kalenders in Frankreich, zu Köln am 24. Mai 1805, oder wie man damals noch am Rhein schrieb, am 13. Floréal des Jahres Dreizehn der Republik, geboren. Die ersten Lieder, die das Kind aus dem Munde seines Vaters vernahm, waren die Marseillaise und Schiller’s Lied an die Freude: „Seid umschlungen, Millionen, diesen Kuß der ganzen Welt!“

Sein Vater war der Notar und Republikaner Michel Venedey, der eine hervorragende Rolle während der ersten französischen Revolution in Köln spielte, ein edler Freiheitsschwärmer, einer jener rheinischen Patrioten, die wie Görres und Forster von der Erhebung des Volkes träumten, bis sie der eisene Despotismus des ersten Napoleon weckte und enttäuschte. In der Stunde, wo Bonaparte die Republik vernichtete, faßte der alte Venedey den Entschluß, den Staatsdienst zu verlassen. „Ich habe der Republik gedient, ich diene keinem Menschen, keinem Despoten!“ war der Gedanke, der ihn bei diesem Schritte leitete. Noch nach langen, langen Jahren schrieb er seinem Sohne: „Ich weinte damals, wie man weint über den Tod eines Freundes, den Tod der Heißgeliebten.“

Unter solchen Eindrücken und Erinnerungen wuchs der Knabe auf; er sah die Jahre der Schmach für das geliebte Vaterland unter dem eisernen Joch und dem Druck der Fremden; aber auch die Zeit der Erhebung und Befreiung, der flammenden Begeisterung. Auf dem Lande, wohin der Vater sich zurückgezogen hatte, entwickelte er sich kräftig, gesund an Leib und Geist, in Gesellschaft der Bauernkinder und Hirtenbuben, mit denen er das Vieh weidete auf dem „Beckerader Hofe“, der seiner Familie gehörte. „Wer sein Kind lieb hat,“ schreibt er später, „und aus seinem Sohne einen Mann, heller im Kopf, frischer im Herzen und stärker in Mark und Bein, als dies bei Stadtkindern möglich, erziehen will, der schicke ihn vom vierten bis zum siebenten Jahre in die Schule der Hirtenbuben auf der Wiese und im Buchenwalde des Beckerader Hofes.“

Daneben lernte er die Anfangsgründe der Wissenschaft, wenn ihm auch das ABC nicht leicht in den Kopf wollte. Nachdem er vom Lande nach Köln zurückgekehrt war, kam er auf die Schule und auf das Gymnasium und machte so tüchtige Fortschritte, daß er noch jung die Universität bezog und zuerst in Bonn, später in Heidelberg studirte.

Selbstverständlich wurde Venedey ein eifriger Burschenschafter, begeistert für die deutsche Einheit und Freiheit, ein jugendlicher Schwärmer für die schwarz-roth-goldenen Farben, die damals so verpönt waren, daß ihre Träger von den Regierungen verfolgt und eingekerkert wurden. Auch Venedey mußte seine Liebe schwer büßen und sah sich gezwungen, seine Heimath zu verlassen, wo er an der Seite seines Vaters sich der Advocatur widmete. Eine von ihm 1832 veröffentlichte Schrift über die damals verhaßten „Geschwornengerichte“ raubte ihm jede Aussicht auf eine Anstellung; hiermit endete seine Staatscarrière und fortan diente er nicht mehr der Regierung, sondern nur – dem deutschen Volke.

Zunächst wandte er sich nach Süddeutschland, wo er an dem „Hambacher Feste“ theilnahm und an dem in Mannheim erscheinenden „Wächter am Rhein“ ein eifriger Mitarbeiter wurde. Aber auch hier verfolgte ihn das Schicksal, das ihn zum Märtyrer der Freiheit bestimmt zu haben schien. Ein preußischer Polizeispion, der die Maske des Liberalismus trug und das Vertrauen des arglosen Venedey mißbrauchte, denuncirte ihn und veranlaßte seine Verhaftung. In der Dunkelheit machte der Eingekerkerte einen Fluchtversuch aus seinem Gefängnisse, wobei er jedoch stürzte und sich den Fuß verrenkte. Die preußische Regierung, welche damals auf Metternich’s Veranlassung die traurige Schergenrolle gegen die sogenannten Demagogen übernommen hatte, verlangte Venedey’s Auslieferung.

Wie ein Verbrecher wurde er mit Ketten belastet, zu Fuß von Mannheim nach Frankenthal transportirt, wo ihm jedoch ein zweiter, ebenso kühn erdachter, als energisch ausgeführter Fluchtplan besser glückte. Unter mancherlei Abenteuern und nicht ohne Gefahr kam er über die französische Grenze zunächst nach Nancy und später nach Paris, wo er sich niederließ und eine Monatsschrift unter dem Titel „der Geächtete“ herausgab.

Die Polizei des Bürgerkönigs Louis Philipp ließ ihm jedoch keine Ruhe und verfolgte den Flüchtling mit demselben Eifer, wie ihre deutsche Collegin, indem sie ihn nach Havre verwies, wo er sich längere Zeit aufhielt und mit schriftstellerischen Arbeiten beschäftigte. Erst den Bemühungen der beiden französischen Gelehrten, des berühmten Arago und Mignet, die seinem Werke „Römerthum, Christenthum, Germanenthum“ höchste Anerkennung zollten, gelang es, ihm die Rückkehr nach Paris zu erwirken, wo er bis zum Jahre 1848 als Correspondent verschiedener angesehener deutscher Zeitungen lebte.

Auf das Innigste mit dem gleichgesinnten Börne und mit den französischen Republikanern befreundet, gerieth der durch und durch biedere und ehrliche Venedey mit dem politisch grundsatzlosen, aber höchst witzigen Heine in ärgerliche Streitigkeiten, wobei er seinem Gegner zur Zielscheibe einer ebenso kränkenden als unverdienten Satire diente. Wenn auch Heine an Geist und Witz dem edlen Schwärmer überlegen war und die Lacher auf seiner Seite hatte, so trug Venedey’s unzerstörbare Gutherzigkeit und Großmuth den Sieg davon, indem er rein und geachtet aus dem Kampfe hervorging, da er, im Besitz der compromittirendsten Briefe und Schriftstücke von Heine’s Hand, es verschmähte, einen unehrenhaften Gebrauch davon zu machen und sich an dem ungezogenen Liebling der Grazien zu rächen.

Das Sturmjahr 1848 führte auch Venedey in das stets heiß geliebte Vaterland zurück, wo er zunächst von dem deutschen Volke in den Fünfziger-Ausschuß und später in das Frankfurter Parlament gewählt wurde. Getreu den Idealen seiner Jugend kämpfte er für die Freiheit, ohne jedoch in jenen Radicalismus zu verfallen, dem die unverständige Menge damals zujauchzte. So kam es, daß er, der ehrlichste Demokrat, vielfach angefeindet, verspottet und verhöhnt, besonders aber wegen seines gläubigen Enthusiasmus von dem geistreichen Skeptiker Karl Vogt oft in rücksichtsloser Weise angegriffen wurde. Als es aber darauf ankam, seiner Ueberzeugung zu folgen und die Treue zu bewähren, da war Venedey wieder einer der Vordersten, der mit dem Rumpf des deutschen Parlaments nach Stuttgart ging, ohne vor den voraussichtlichen Verfolgungen zurückzuschrecken.

Nachdem die deutsche Volksvertretung den Bajonneten der Reaction erlegen, bot Venedey der damaligen Regierung in Schleswig-Holstein seine Dienste an. Abschläglich beschieden, wandte er sich nach Berlin, von wo er durch den allmächtigen Polizeipräsidenten Hinckeldey ausgewiesen wurde. Das gleiche Loos traf ihn in Breslau, bis er endlich, von Ort zu Ort getrieben, ein Asyl in Zürich suchte, wo er sich als Docent der Geschichte an der dortigen Universität niederließ. Im Jahre 1854 heirathete er die Wittwe des gleichfalls wegen seines Liberalismus verfolgten Gustav Obermüller, mit der er bis zu seinem Ende in der glücklichsten Ehe lebte.

Da sich seine Hoffnung auf eine Anstellung im Polytechnicum nicht verwirklichte und seine Frau sich mit dem Schweizer Leben nicht befreunden konnte, so kehrte er wieder nach Deutschland zurück, wo er einige Zeit in Heidelberg bei dem bekannten Chemiker Moleschott von dem spärlichen Ertrage seiner schriftstellerischen Arbeiten lebte, der jedoch trotz aller Einschränkungen selbst nicht für die bescheidensten Bedürfnisse hinreichte.

Unter diesen Verhältnissen zog es Venedey vor, Heidelberg zu verlassen und mit dem billigeren Aufenthalte auf dem Lande zu vertauschen. Mit dem Rest seines zusammengeschmolzenen Vermögens kaufte er für vierzehnhundert Gulden in Oberweiler, nahe bei Badenweiler, eine hundertfünfzig Jahre alte Bauernhütte, die er sein „Rasthaus“ nannte. Während er hier fleißig an seiner deutschen Geschichte und anderen Werken arbeitete, eröffnete seine Frau eine Pension für Sommergäste, die einen guten Fortgang hatte, so daß sich Beide in den Stand gesetzt fanden, das kleine Grundstück durch Ankauf einiger daran liegenden Wiesen zu vergrößern.

[299] In seinen Mußestunden, wenn er die Feder aus der Hand legte, griff das frühere Mitglied des Parlaments, der bekannte Schriftsteller, wie ein alter Römer zur Schaufel und Harke. Um den Tagelohn zu ersparen, ebnete er selbst die Wege und pflanzte mehrere Tausend junge Bäume, die lustig aufwuchsen und einen schattigen Park bildeten, der bis dahin seiner Besitzung gefehlt hatte. Zugleich faßte er den Gedanken, in diesen neuen Anlagen ein kleines Sommerhaus zu errichten, worin seine Frau den Gästen Kaffee reichen sollte, da es noch immer am Besten fehlte und das Grundstück verschuldet war.

Diese Hoffnung wurde jedoch von ruchloser Hand zerstört. An dem Tage, wo das Sommerhaus eingeweiht werden sollte, ging dasselbe in Flammen auf. Trotzdem die spätere Untersuchung den unumstößlichen Beweis lieferte, daß das Feuer von einem boshaften Arbeiter angelegt worden war, ging die badische Bureaukratie in ihrem Haß gegen den demokratischen Volksmann und in ihrer unbegreiflichen Verblendung so weit, Venedey selbst und seine Frau der Brandstiftung am eigenen Hause zu beschuldigen. Obgleich von allen Seiten seine Freunde herbeieilten und durch wohlgemeinte Sammlungen ihn in den Stand setzten, das niedergebrannte Sommerhaus wieder aufzurichten, so konnte er doch die ihm zugefügte Kränkung nicht so leicht überwinden, noch dazu, da das neue Haus von derselben ruchlosen Hand noch einmal angezündet wurde. Der Aufenthalt auf dem Lande war ihm verleidet, und er nahm daher mit Freuden das Anerbieten der „Neuen freien Presse“ an, als ihr Berichterstatter nach Berlin zu gehen, wo er bis zum März des Jahres 1870 verweilte und zu den alten Freunden zahlreiche neue sich erwarb. – Durch vielseitige Beweise der Liebe und Anerkennung, die ihm hier zu Theil wurden, gehoben und gestärkt, kehrte er mit seiner Familie nach Oberweiler zurück. Durch den bald darauf ausgebrochenen Krieg mit Frankreich gerieth jedoch Venedey in neue Conflicte, zu denen sich noch pecuniäre Verlegenheiten gesellten, da die erwarteten Sommergäste aus Furcht vor dem nahen Kriege ausblieben. Der alte Burschenschafter, der die Freiheit des Vaterlandes ebenso sehr und noch mehr als die Einheit liebte, der Feind jedes militärischen Despotismus fühlte während dieses Kampfes seine Brust von den widersprechendsten Gefühlen zerrissen. Als deutscher Patriot mußte er den Sieg seinen Brüdern wünschen, als Demokrat konnte er seine liberalen Sympathien ebenso wenig verleugnen. Dieser Widerspruch brach ihm das Herz und legte den Keim zu seinem Tode.

In diesem Sinne schrieb er jenen Artikel für die „Neue freie Presse“, „Vae Victoribus“, der ein so großes Aufsehen erregte, und ihm, dem besten und ehrlichsten Sohne seines Volkes, den Namen eines Verräthers von Seiten des fanatischen Pöbels eintrug, welcher ihn sogar mit dem Tod durch Erschießen bedrohte. Von Neuem war ihm die Heimath verleidet; er ging nach Stuttgart, um dort für die gute Sache zu wirken, wohin seine Familie vor dem drohenden Einbruch der Franzosen ihm später folgte. Als die Gefahr glücklich durch den Sieg der Deutschen vorübergegangen war, kehrte er in sein verlassenes Rasthaus nach Oberweiler zurück.

Innerlich gebrochen, arbeitete er fleißiger als je, um die Seinigen vor der dringenden Noth zu schützen. Aber seine Manuscripte wurden von verschiedenen Redactionen und Verlegern zurückgewiesen, weil er es nicht verstand, gegen seine bessere Ueberzeugung zu schreiben. Unter solchen Umständen mußte seine Lage sich nur verschlimmern, trotz aller Mühen, trotz seiner immer neuen Anstrengungen. Dazu kamen noch die vielen Angriffe und Beschuldigungen, indem selbst frühere Gesinnungsgenossen ihn für einen Söldling Bismarck’s ausschrieen, weil er anderer Meinung war, als sie, und sich nicht scheute, dieselbe offen auszusprechen. Gegen diese lächerliche Anklage schrieb er in einem Briefe an einen bekannten Journalisten:

„In welchem Dienste ich schreibe? O, das wissen Sie ja! Im Dienste des Vaterlandes. Und wenn Sie wissen wollen, was dieser Dienst einträgt, so könnte ich Ihnen die Quittung des Leihhauses zu Freiburg schicken, wo ich unter andern die silberne Zuckerdose, die mir die Jenaer Burschenschaft geschenkt hat, mit unseren silbernen Eßlöffeln versetzt habe, um, wenn es nöthig wäre, unser Rasthaus zu verlassen, das nöthige Reisegeld zu haben. Ich diene mit Stolz einem Herrn, der schlecht zahlt, und habe mein ganzes Leben lang ihm mit Stolz gedient, um heute wie vor vierzig Jahren zu sagen: Das Vaterland über Alles!“

Noch einmal leuchtete ihm ein Lichtstrahl, die Aussicht, in den Reichstag gewählt zu werden, die ihn mit Freuden erfüllte, nicht wegen der damit verbundenen Auszeichnung, sondern wegen der erhofften Gelegenheit, sich öffentlich von der Tribüne herab gegen all’ die gemeinen Verleumdungen vertheidigen zu können. Bevor jedoch dieser Wunsch ist Erfüllung ging, erkrankte Venedey an einer Lungenentzündung, die seinem Leben ein Ende machte. Während seiner Krankheit rief er öfters: „O, nur jetzt nicht sterben, als bezahlter Verräther, von der eigenen Partei verkannt und beschimpft!“ Im Verlauf seiner Leiden, als die Besinnung ihn verließ, glaubte er auf der Tribüne des Reichstags zu stehen; er sprach voller Pathos von dem deutschen Volk, von Freiheit und Grundrechten, von Glaubensfreiheit und Ultramontanismus. In seinen letzten Tagen beschäftigte er sich mit Gambetta und Garibaldi, den er persönlich liebte, wenn er ihn auch verdammte, er sprach mit Beiden französisch und sagte von dem Ersteren: „Alle Welt glaubt an Gambetta, aber er selbst glaubt nicht an sich, und das ist der Grund seines Sturzes!“ So umschwebten ihn auf dem Todtenlager deutsche und französische Erinnerungen, wie den Knaben die Marseillaise und Schiller’s Lied an die Freude einst umschwebt.

Jetzt ruht der alte treue Kämpfer unter den Tannen des Schwarzwaldes von allen seinen Leiden aus, beweint von seiner hinterlassenen Gattin und zwei hoffnungsvollen Söhnen in dem Alter von elf bis vierzehn Jahren, betrauert von seinen Freunden und geachtet selbst von seinen Gegnern, die ihr schweres, an ihm begangenes Unrecht nach seinem Tode zu spät einsehen. Er selbst war als Schriftsteller und Volksmann einer der edelsten und reinsten Charaktere unserer Zeit, treu den Idealen der Jugend, selbstlos und begeistert für die Freiheit und Größe seines Volkes, für die höchsten Ziele der Menschheit, und darum ein leuchtendes Vorbild in einer Zeit, die zwar reich an talentvollen und geistreichen Männern, aber leider arm an jenen festen und uneigennützigen Charakteren ist, unter denen Venedey vor Allen genannt zu werden verdient.
Max Ring.




Aus der Wandermappe der Gartenlaube.
Nr. 8. Eine Besteigung des Großglockners.
(Schluß.)

So zogen wir vorsichtig weiter. Wegen des stets über uns hinhuschenden Nebels und wegen der Menge des fest angewehten Schnees hatten wir weder vom Schneeglanze noch vom Einsinken in verborgene Klüfte sonderlich viel zu leiden. So kamen wir, den Ködnitz-Gletscher quer überschreitend und weniger vom Winde belästigt, als wir gedacht hatten, bis an sein östliches Ende. Hier bricht nun der Eiskamm, der sich vom Glockner über die Adlersruhe gegen die Leiterköpfe zieht, in jähen, nur wenig von Felsen durchbrochenen Eiswänden ab, und mit einem gewissen Mißbehagen und Ahnungsgefühle blickten wir zu der hoch über uns liegenden Adlersruhe; denn oben stiebten ganze Wolken aufgewirbelten Schnees auf, ein Zeichen, daß der Orcan in dieser Höhe sein altes Spiel von heute Nacht forttreibe. Doch besannen wir uns nicht lange. Die Fußeisen wurden angezogen und nun begann die eigentliche Arbeit der Führer.

Da das Terrain zum Stufenhauen doch zu wenig steil war, so mußten die drei Führer mit ihren Fußeisen Tritte in das Eis stoßen und stets auf der Hut sein, daß nicht einer von uns Zweien stürzte.

Endlich nach fast einstündigem Marsche gelangten wir zur schwachen Einsattelung der Adlersruhe und waren vielleicht noch dreißig Schritte vom Kamme entfernt: da mit einem Male erfaßte uns, gerade an der steilsten Stelle, ein orcanartiger Schneesturm, der von Norden über die Schneide dahersauste und uns fast [300] hinunterzustürzen drohte. Geblendet vom Schnee und überwältigt vom plötzlichen Anfalle, wollte ich, mich niederwerfend, einen Augenblick Halt machen; doch die Führer, die Gefahr ahnend, verstanden hier keinen Spaß. Mit herculischen Kräften griffen sie uns, das Seil spannte sich stramm wie eine Saite, und von ihnen gezogen, flog ich, fast ohne zu wissen, wie mir geschah, im Schlepptau die steile Firnhalde hinauf; – wir waren auf der Adlersruhe 10,932 Fuß ü. M. Hier aber erfaßte uns der Nordoststurm mit voller Gewalt, so daß es selbst den gewandten und abgehärteten Führern zu arg wurde und sie uns nur noch die Worte zuriefen: „Nieder mit den Köpfen!“ Im Augenblicke lag die ganze Schaar, gleich eingeschneiten Schafen, die Köpfe zusammengesteckt, auf den Knieen am Boden. Der Sturm sauste über uns hinaus; Keiner wagte aufzusehen. Es war ein Kraftausdruck, dessen sich die gewaltige Eiswelt gegen uns freche Eindringlinge bediente; es war der letzte Mahnruf, den ungleichen Kampf mit den finsteren Mächten nicht aufzunehmen. Doch verhallte auch diesmal der Donner der eisigen Windsbraut, und mit ihm schwand auch unsere Furcht. Wir schüttelten den auf unsere Leiber hochangewehten Schnee wieder ab und schickten uns an, weiter in die Nacht des nebelumstürmten Glockners vorzudringen. Von der Adlersruhe zieht ein schwachgewölbter, aber ziemlich stark geneigter Firngrath bis unter die Spitze des kleinen Glockners, der gegen Süden in einzelnen Eiswänden abbricht. Bevor der schwere Anstieg über diesen Firngrath begonnen wurde, machten wir ein wenig Halt, was selbst den Führern nicht unerwünscht war, denn auch sie waren von den ausgestandenen Strapazen ziemlich angegriffen.

Das Morgenbrod schmeckte uns nicht, wir waren zu sehr aufgeregt, nur plagte uns gewaltiger Durst; doch war aus meiner etwas erwärmten Feldflasche nur wenig, aus den in den Tragkörben offen daliegenden Flaschen gar kein Wein zu erhalten – Alles war gefroren! Nach einer halben Stunde wurde wieder aufgebrochen; der Wind kam nur mehr stoßweise und machte oft acht bis zehn Minuten lang Pausen, so daß während derselben die schwierigsten Stellen überwunden werden konnten. Aber jetzt begann der schwierigste Theil der Unternehmung. Es galt nämlich die circa drei- bis vierhundert Fuß hohen glatten Eiswände, die sich von der kleinen Glocknerspitze gegen Süden herabsenken, zu übersteigen. Der erste Führer stieg voran, mit außerordentlicher Gewandtheit und Schnelligkeit Stufen in das Eis hauend, während der zweite und dritte Führer, die ihm nachfolgten, mich und den Fremden am Seite nach sich zogen. So gelangten wir ohne weiteren Unfall auf die Spitze des kleinen Glockners. Der Nebel hatte sich zertheilt, der Wind hatte momentan aufgehört, und herrlich entfaltete sich das unendlich großartige Glocknerpanorama.

Fast ahnend, daß von der obersten höchsten Spitze die Rundschau sich nicht mehr in gleichem Maße und so ruhig genießen ließe, wie hier, versuchte ich den gewaltigen Eindruck, den dieses prachtvolle Rundgemälde, mit all’ seinen tausend und aber tausend Spitzen, Jochen, Kämmen, Thälern und Flüssen hervorrufen mußte, in mir zu fixiren und ein getreues Abbild all’ dieser Schönheiten in meiner Seele zu bewahren. Doch konnten wir nicht lange hier verweilen, die Zeit war schon vorgerückt und noch hieß es, das schwerste Stück Arbeit, nämlich die Passage über die sogenannte Scharte zu vollenden. Diese vielgenannte, gefürchtete Scharte ist nichts anderes, als ein circa sechs bis sieben Klafter langer Firngrath, der sich vom Fuße der eigentlichen Glocknerspitze in einem Winkel von vielleicht zwölf Grad gegen den kleinen Glockner herabzieht; sein Scheitel ist dachfirstähnlich, an manchen Stellen sechs bis zehn Zoll, an manchen nur drei Zoll breit. Zu beiden Seiten stürzt er in furchtbaren, ein- bis zweitausend Fuß tiefen Eiswänden östlich zur Pasterze, westlich gegen den Ködnitzgletscher ab. Mag auch die Passage unter gehörigen Vorsichtsmaßregeln nicht gefährlich sein, der Anblick ist jedenfalls schauerlich.

Ohne sich lange zu besinnen, und die Sache als fast alltäglich betrachend, stieg der erste Führer zur Scharte hinab. Alles Entbehrliche, sowie auch die Bergstöcke, wurden hier zurückgelassen. Sodann begann der Führer, am Seile gebunden und – fest gehalten, seine schwindlige Arbeit; er hieb nämlich an der von der Scharte gegen die Pasterze abfallenden Eiswand circa vier Fuß unter dem Grathe breite Stufen in das Eis und stellte sich nach glücklich vollbrachtem Werke am jenseitigen Bord auf, um den zweiten Führer in Empfang zu nehmen.

Als dies geschehen, wurde ich an das Seil gebunden, mit den nöthigen Instructionen versehen, und ohne Furcht oder Beklemmung stieg ich, die Fußeisen fest in die Stufen stoßend und auf die Eisschneide mit dem linken Arme mich stützend, die gefährliche Stelle hinüber. Gleicherweise wurden mein Reisegefährte und die drei anderen Führer hinübergeseilt. Die ganze Passage ist durchaus nicht so arg, als man sich vorstellen möchte; nur die letzte Stelle ist etwas bedenklich. Um nämlich auf das kleine Plateau zu gelangen, das über der Eisschneide sich befindet und zur höchsten Spitze führt, muß man sich auf den scharfen eisigen Grath selbst hinaufschwingen; da sitzt man nun auf einem kaum handbreiten Eisfirste, – zwischen zwei Ländern, den einen Fuß buchstäblich nach Tirol, den andern nach Kärnthen hinabhängend. Aber auch diese Stelle, sowie der letzte Anstieg zur Spitze wurde glücklich, jedoch unter stetem Ankämpfen gegen den neuerdings losbrechenden Nordwind überwunden, und um halb zehn Uhr Morgens standen wir auf der höchsten Spitze des Großglockners. Mein erster Aufschrei der Freude wurde durch den heulenden Sturm fortgetragen, der mark- und beindurchdringend durch die eisige Höhe fegte; dazu kam noch ein dichter Nebel, der uns Alle in seinen feuchtkalten Mantel hüllte und jegliche Aussicht versperrte.

So standen wir heroben nach zehn- bis zwölfstündigem Marsche fast auf der höchsten Eiswarte Oesterreichs, ermattet und abgespannt, zitternd vor Frost und Kälte, ohne auch nur einen Blick in die unendliche Gebirgswelt, die unsichtbar zu unseren Füßen lag, werfen zu können. Schon wollte ich nach fünf bis acht Minuten zum Rückzuge blasen lassen, als plötzlich wie ferner Donner der Sturm in die dichte Nebelmasse fuhr und dieselbe flatternd und fliegend auseinandertrieb. Der schwere Mantel löste sich, und rein blaute über uns der klare Himmel; bis in unabsehbare Fernen reihten sich Gebirge an Gebirge, Thäler an Thäler. Die Aufklärung war so rasch gekommen und der Sturmwind hatte eine so unerwartete Attaque auf uns gemacht, daß wir moralisch und physisch zu Boden kamen und uns auf dem schmalen, geneigten Plateau kaum mehr zu erhalten vermochten. Halb knieend, halb liegend staunte ich nun all’ die Wunder an, die sich meinem Blicke hier aufthaten!

Es ist kein Land des Reizes und Zaubers, das man hier erblickt, nichts schmeichelt den Sinnen, kein befreundeter Ton dringt zum Ohre!

In unmittelbarer Umgebung, und besonders gegen Osten, meilenweite Firnmeere und blendende Schneefelder, von öden, schwarzen Felsmauern und Karrenfeldern umrahmt. Weiter hinaus coulissenartig, in blaue Fernen verschwindend, gewaltige Gebirgsreihen mit Hunderten von Zacken und Spitzen in die klaren Lüfte strebend. Trotz der Reinheit der fernsten Contouren schwebte doch ein geheimnißvolles Dunkel schleierartig über Berg und Höhe. Der Himmel war tief-, fast schwärzlichblau und die Sonne hatte nicht mehr ihren strahlenden Glanz, sondern glich mehr einer Feuerkugel im blaudunklen Raume. Alles verkündet, daß man nicht mehr an freundlichem, dem Menschen zur Stätte angewiesenen Orte weilt, sondern irdischem Behagen entrückt im Reiche der überirdischen Mächte auf der höchsten Zinne des Wundertempels steht! Wer vermöchte den Eindruck zu beschreiben, den dieses unendliche Panorama hervorruft, wer die Spitzen, Joche, Kämme und Zinken zu zählen und zu nennen, die brüderlich sich in- und aneinanderschlingen, und durch weite Länder von Ost nach West, voll Nord nach Süden ziehen? Mit kleineren Gebirgsmassen und ihrer Beobachtung konnte ich mich gar nicht abgeben, denn Wind und Kälte nahmen in zu peinlichem Maße überhand; ich sah nur die Matadoren der Eiswelt, den Montblanc, Monterosa, die Berneroberlandsgruppe, Ortles, Bernina, die gesammte Oetzthaler und Stubaierfernermasse, die badischen, bairischen, würtembergischen und österreichischen Ebenen, die steirischen und bellunesischen Alpen, die Marmolata, den Terglou und die lombardischen Ebenen, und das Alles in voller Klarheit!

Welche Erhabenheit und Größe lag nicht in diesen einfachen Formen und Gebilden von Eis und Fels! O, wäre es mir nur vergönnt gewesen, blos noch eine halbe Stunde auf dieser fesselnden Höhe ruhig und unbeirrt weilen zu können! Doch unseres Bleibens war nicht mehr länger auf der Spitze, wollten wir anders noch glücklich in die Heimath kommen, unsere Glieder zitterten, und die Kräfte nahmen zusehends ab, selbst die Führer beklagten sich bitter über die Kälte, die sie in so hohem Grade hier noch nie gefunden.

[301] Das Hauptstärkungsmittel, der Wein, war gefroren! Noch einen letzten Gruß, noch einen Blick in die Runde nach den geliebten Höhen, und rasch ging es die Spitze hinab zur Scharte. Dieselbe wurde zwar glücklich überwunden, allein als ich gerade in der Mitte des Kammes mich befand, verlor ich plötzlich aus eigener Unvorsichtigkeit durch Hinabsehen in die Tiefe das Gleichgewicht und stürzte, jedoch nicht weit, denn das Seil war stramm, und die Führer zogen dasselbe unter lauten Zurufen und Ermuthigungen mit großer Kraft an sich, so daß ich halb schwebend, halb gehend am jenseitigen Firn anlangte. Dieser kleine Unfall machte die Führer noch viel aufmerksamer und vorsichtiger; denn als wir von der Scharte weg die steilen Eiswände hinabzusteigen begannen, erfaßte mich einer von ihnen am Seile knapp hinter meinem Rücken und führte mich, trotz meines Widerstrebens, wie ein Kind am Gängelbande die Eisstufen hinab. Mein Reisegefährte, der, zitternd vor Kälte, auch schon mehr als genug hatte, folgte mir, auf gleiche Weise geführt, nach, und so gelangten wir ohne weitern Unfall wieder zur Adlersruhe, wo wir noch einen Augenblick Halt machten und noch einen letzten scheidenden Blick in das herrliche Panorama thaten. Sodann wurde wieder aufgebrochen, und in der Hoffnung auf baldige Erlösung ging es nun etwas schneller die letzte steile Firnhalde hinab. Nachdem die größte Steigung aufgehört hatte, wurden die Fußeisen abgeschnallt, den Führern übergeben, und mit einem lauten lachenden „Fürchtet Euch nicht!“ setzten sich die letzteren auf ihre Bergstöcke und fuhren sausend die Firnfläche hinab, während ich und mein College, die wir noch immer am Seile hingen und durch den ersten starken Ruck auf das Eis zu sitzen kamen, in dieser Stellung von den vorderen Führern gezogen, von den Hinteren geleitet, die fliegende Fahrt mitmachten. In kurzer Zeit, während deren die Führer noch eine außerordentliche Bravour im Hinabfahren entwickelten, hatten wir die Eispassage überstanden und standen nun wieder auf festem Boden.

Unterdessen hatte die Temperatur zugenommen, und wir fühlten uns nach fünfzehnstündigem Frieren wieder einmal in einer behaglichen Wärme; doch war ich so ermattet und erschöpft, daß ich mich nur noch mit Mühe zu der eine halbe Stunde entfernten Hütte schleppen konnte. Wie mir zu Muthe gewesen wäre, wenn keine Hütte hier gestanden hätte, das weiß ich nicht. Ich und mein Camerad fühlen uns nur verpflichtet, dem wackern H. Stüdel unsern besten wärmsten Dank im Namen aller Bergfreunde abzustatten; und mit diesem Dankgefühl zogen wir in seine Hütte ein, als wäre sie ein Palast; es war halb zwei Uhr Nachmittags. Schnell wurde ein lustiges Feuer angemacht, gekocht, gegessen und getrunken und sodann geruht. Nachdem wir uns ein wenig restaurirt, brachen wir um drei Uhr wieder auf und erreichten um sieben Uhr Abends Kals, wo Alle, nachdem sie von unserer Ersteigung gehört, sich höchlich verwunderten, wie wir es hatten wagen können, bei einem solchen Sturme die Glocknerspitze zu erklimmen. – Nach einem kleinen Imbiß suchte und fand ich die wohlverdiente Ruhe.

Wenn nun schon eine Ersteigung des Großglockners unter so mißlichen und widerwärtigen Umständen bei Nebel, Schnee und tobenden Stürmen gelang und der Genuß der Rundsicht selbst unter so abnormen Verhältnissen als ein wahrhaft großer, wenn auch theuer erkaufter gelten kann, wie muß derselbe erst beschaffen sein, wenn kein Wölkchen das reine Himmelsblau trübt, wenn bei dunstfreier Atmosphäre der Blick weit über zwanzig Meilen hinausschweift auf ein Territorium von mehr als fünftausend Qudratmeilen, wenn der Thermometer auf der Spitze über zwölf Grad zeigt und ein Streichhölzchen ruhig in der herrlichen Luft fortbrennt! dann wiegt dieser Genuß alle anderen auf, dann ist kein Opfer zu hart, keine Mühe zu groß, um ihn zu erkaufen!

Wem hat man aber dann diesen Genuß zu verdanken? Nochmals sei es gesagt und laut verkündet in allen deutschen Gauen, wo Lust und Liebe für unsere herrlichen Hochalpen warm in der Männerbrust lodert – dem Herrn Johann Stüdel und den wackeren Glocknerführern von Kals.

J. v. Trentinaglia.




Erinnerungen aus dem heiligen Kriege.
Nr. 3. Kriegerische Abenteuer einer friedfertigen Primadonna.
(Fortsetzung.)


Der Schaffner war ein Mann von Wort. Schnell hatte er in dem kleinen und dunklen Raume einige Bund reines Stroh ausgebreitet, dann ging er fort und kam nach ungefähr fünfzehn Minuten mit Decken belastet wieder, so daß das aus solchem Material bereitete Lager ein ganz erträgliches wurde.

„So, meine Damen,“ sagte der Bettenfabrikant, sich vergnügt die Hände reibend, „nun werde ich Ihnen auch noch eine Laterne anzünden, das Wachslicht hierzu hat mir der Herr Oberst gegeben und hat mir befohlen, ein schönes Compliment zu machen, und es thäte ihm leid, daß er die Damen nicht besser quartieren könnte, namentlich solche, wie die Madame Lucca!“

„Kennt er mich denn?“ fragte die Sängerin überrascht.

„Ja. Als ich ihn um Decken für die Damen bat, trat ein Herr Lieutenant zu ihm und nannte Ihren Namen, hat auch erzählt, daß Sie für die Verwundeten auf freiem Felde Kaffee gekocht haben. Da hat der Herr Oberst ausgerufen: ‚Brave Frau! Ich werde wenigstens eine Wache vor’s Spritzenhaus schicken, damit sie in der Nacht nicht gestohlen wird.‘“

„Wie?“

„Nee, ‚damit ihr in der Nacht nichts gestohlen wird?‘ Nun schlafen Sie wohl, Madamchen, und lassen Sie sich recht was Angenehmes träumen. Gute Nacht!“

„Noch einen Augenblick, lieber Mann!“ rief die Lucca in bittendem Tone. „Ist die Thür zu diesem Gemach nicht zu verschließen?“

„Nein; das Thürschloß hat der letzte Spitzbube gewaltsam abgerissen und ist damit durchgebrannt. Deshalb kriegen Sie ja eine Wache! Legen Sie sich nur ruhig auf Ihr kleines Ohr!“

Mit dieser galanten Empfehlung verschwand der Schaffner und die beiden Frauen waren allein.

„Editha,“ flüsterte die Herrin, „wir dürfen Beide zugleich nicht schlafen. Bis Mitternacht werde ich wachen, dann lösen Sie mich ab.“

„Warum denn, gnädige Frau?“

„Die Thür ist, wie Sie gehört haben, unverschließbar. Wer kann wissen, was uns bevorsteht? – Die Nacht ist überhaupt keines Menschen Freund.“

„Ich habe ein Schutzmittel gefunden, Frau Baronin!“ rief Editha erfreut.

„Nun, und worin besteht das?“

„Ich schiebe die Kiste mit dem Gemüse hier innen vor die Thür und stelle die Koffer darauf; das bildet gewissermaßen eine kleine Barricade. So, sehen Sie! Das war schnell vollbracht!“

„Ein schwaches Bollwerk bei ernstlichem Angriff!“ lächelte wehmüthig die Primadonna; danach legten sich beide Dulderinnen auf ihr gemeinschaftliches Bett von ausgedroschenen Daunen und hüllten sich ganz in die Decken voll Weichheit und milder Wolle.

Morpheus hatte bereits beide Damen fein säuberlich in seine molligen Arme genommen, als plötzlich von außen erst leise, dann stärker an die Thür gepocht wurde.

„Barmherziger Himmel, erbarme dich! Verloren, verloren, wer rettet mich?“ schrie die Kammerjungfer und war mit einem Satze an der Thür, um das Gewicht der Gemüsebarricade durch das ihrer nicht ganz leichten Person zu verstärken. „Wer da?“ fragte sie nun, durch mehr Sicherheit beherzter geworden, und eine männliche Stimme flüsterte:

„Ich bin’s, Lieutenant v. L., Ihr Reisegefährte.“

„Aber, mein Herr, was wollen Sie bei nachtschlafender Zeit am Spritzenhaus?“ ließ sich nun Paulinchen im Zorn vernehmen.

„Ich will nichts weiter, als den Damen durch die Thürfuge melden, daß sie sich ohne Furcht der Ruhe hingeben können, da ich, auf Befehl des Herrn Obersten, eine Wache vor’s Spritzenhaus gestellt habe.“ Danach sang er, aus dem „Barbier von Sevilla“ den Almaviva imitirend: „Wünsche Ihnen wohl zu schlafen!“ und verschwand heimlich lachend.

„Sonderbarer Schwärmer!“ grollte Editha, und Herrin wie [302] Dienerin suchten nun, durch die Wache beruhigt, ihr Lager wieder auf. Die Ermüdung beider Damen war so groß, daß sie bis gegen vier Uhr Morgens fest schliefen.

Da wurde draußen plötzlich getrommelt und geblasen, barsche Commandos erschallten, man hörte Kanonen und schweres Fuhrwerk rasseln, überhaupt Kriegslärm ertönen. Es mußte etwas Außerordentliches in Saarbrücken vorgehen. Schnell war die Barricade von der Thür entfernt und Frau Lucca trat in’s Freie.

Lieutenant v. L. kam auf einem feurigen Fuchs gesprengt und rapportirte hastig: „Wir sind alarmirt, Madame. Die Franzosen halten’s nicht länger aus, sie wollen Prügel haben. Ist Alles schon voraus, ich bin nur zurückgeblieben, um Ihnen Rapport zu erstatten. Auf Wiedersehen! Doch halt, beinahe hätte ich vergessen, Ihnen zu berichten, daß Ihr Gemahl im Lazareth zu Pont à Mousson sich befindet.“

„Wie weit ist das von hier?“

„Mindestens zehn Meilen. – Man winkt mir. Verzeihen Sie! – Der Ritter muß zum blut’gen Kampf hinaus! A revoir!“

Und dahin sprengte er mit der Schnelligkeit einer Chassepotkugel.

Nach dem Abzuge der Truppen von Saarbrücken war der Ort wie ausgefegt. Einen alten Mann, der des Weges kam, rief die Sängerin an: „Alter Herr, ist hier kein Wagen zu bekommen?“

„Nicht ’n Rad!“ brummte der Alte und wollte weiter gehen.

„Nur noch eine Frage,“ bat sie den Alten. „Wer ist von unserm Militär noch hier?“

„Nur noch der Großherzog von Oldenburg. Da kommt er eben mit seinem Stabe die Straße hierzu geritten. Bon jour!“ und fort war er.

„Schnell, Editha! Da kommt unsere letzte Hoffnung!“ rief hastig Frau Lucca, und beide Damen stellten sich, Front machend, an der Straße auf.

Der Großherzog von Oldenburg kam im eifrigen Gespräch mit einem höhern Officier langsam herangeritten, die Officiere seines Stabes folgten.

„Guten Morgen, Durchlaucht!“ grüßte die Sängerin mit lauter Stimme.

Der Großherzog hielt überrascht sein Pferd an, und auf die Grüßende blickend, sprach er: „Irre ich mich? Nein; Sie sind doch die Berliner Primadonna, Frau Lucca! Ich hatte einige Male das große Vergnügen, Sie in der Oper zu hören.“

„Durchlaucht, es freut mich, daß Sie die Gnade haben, sich meiner unbedeutenden Person zu erinnern. Sr. Durchlaucht dem Großherzog von Mecklenburg wurde ich bei Hofe vorgestellt; hier thu’ ich’s selber, auf offenem Markt. Hab’ die Ehr’ – Pauline Lucca!“

„Sehr erfreut! “ erwiderte der Großherzog, an die Mütze fassend. „Aber was führt Sie hierher in die Wirren des bösen Krieges?“

„Ich will meinen Mann nach Hause haben, der verwundet in Pont à Mousson liegt. Bis Saarbrücken bin ich gekommen; aber hier hat die Weltgeschicht’ ein End’.“

„Was heißt das?“ fragte lächelnd der Großherzog.

„Ich liege hier fest und kann keinen Wagen bekommen; da richte ich an Ew. Durchlaucht die dringende Bitte, mir zu helfen.“

„Das, schöne Frau, ist mir beim besten Willen nicht möglich,“ sagte bedauernd der Großherzog. „Mir steht augenblicklich kein andres Gefährt zur Verfügung, als der meinem Zuge folgende Planwagen, auf dem sich meine Diener und allerhand Reise-Utensilien befinden.“

„Durchlaucht,“ erwiderte rasch die Sängerin, „Ihre Diener scheinen mir sehr gesunde Beine zu haben. Könnten nicht ein paar von diesen die Partie nach Pont à Mousson zu Fuß machen? Da würde Platz für mich und meine Kammerjungfer nebst kleinen Gepäck!“

„Ich kann doch einer so berühmten Sängerin keinen Sitz im Planwagen anbieten!“

„Durchlauchtigster Großherzog! Schlecht fahren ist besser als gut laufen. Haben Sie in Betreff des Planwagens weiter keine Bedenken?“

„Nein, das sind die einzigen.“

„Dann bitte ich, drei Mann vom Planwagen abzucommandiren, damit ich aufsteigen kann.“

Der Großherzog gab dem Wunsche mit Lachen nach, reichte darauf der Sängerin mit der freundlichsten Miene die Hand, lud sie ein, nach beendetem Krieg seinen Hof zu besuchen, entschuldigte sich mit Eile und ritt dann mit seinen Officieren im Trabe weiter.

Drei Diener waren bereits vom Wagen gestiegen und Kiste und Koffer schnell aufgeladen, danach bestieg auch die Lucca mit ihrer Kammerjungfer die „Equipage des Planes“ und fort rollte dieser in der Richtung von Pont à Mousson.

Sie sollten diese Stadt erst in den Spätstunden des folgenden Tages erreichen, nachdem sie nahezu sechsunddreißig Stunden ununterbrochen im Planwagen zugebracht und selbst darin geschlafen hatten, nachdem sie manche Fährlichkeit und manches Abenteuer überstanden hatten, dessen Aufzählung im Einzelnen uns hier zu weit führen würde.

Wo nun aber den Kranken finden? Ganz Pont à Mousson war in ein großes Lazareth umgewandelt; fast an jedem Hause wehte eine der trübseligen Fahnen mit dem Genfer Kreuz. Frau Lucca fragte unverdrossen rechts und links in den Häusern nach, und im fünfzehnten erhielt sie endlich die Nachricht: „Lieutenant von Rhaden, schwer verwundet, im ersten Geschoß, Zimmer Nr. 9.“

Bei dieser Nachricht schwand ihr bisheriger Muth.

„Also schwer verwundet?“ rief sie, und eine böse Ahnung beengte ihre Brust.

„Wir hoffen, ihn dennoch durchzubringen,“ sagte in beruhigendem Tone der Arzt. „Fassen Sie sich, Madame, es wird noch Alles gut werden.“

„Wird es ihm nicht schaden, wenn er mich plötzlich vor sich hintreten sieht?“ fragte die bekümmerte Gattin.

„Fast fürcht’ ich es,“ erwiderte der Arzt. „Bei klarem Verstande und in Fieberphantasien nannte er unaufhörlich Ihren Namen. Folgen Sie mir gefälligst die Treppe hinauf; aber erst, wenn ich den Kranken vorbereitet habe, werde ich mir erlauben, Sie in’s Krankenzimmer zu rufen.“

Sie folgte und wartete auf dem Corridor einige Minuten; da öffnete der Arzt die Thür und flüsterte: „Er schläft; bitte leise einzutreten!“

Die Sängerin trat ein, ihre Blicke suchten den geliebten Mann; aber welch ein Bild des Jammers bot sich ihren Augen dar! In einem kleinen dumpfigen Raume stand ein Bett, der Größe nach für ein Kind berechnet; darauf ruhte eine männliche Gestalt von mindestens sechs Fuß, die Beine über die untere Bettwand herabhängend, Kopf und Gesicht fast ganz verhüllt durch Verbände und Bandagen, Mund und Nase dick aufgeschwollen und bleifarbig.

„Das ist mein Mann?“ fragte die Sängerin mit unsicherer Stimme.

„Herr Lieutenant von Rhaden, ja.“

Sie sank auf einen Stuhl und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen.

„Madame,“ sagte der Arzt mit leisem Vorwurf, „ich würde Sie hier nicht eingeführt haben, hätte mir Ihr Gemahl nicht oft erzählt, daß Sie eine Frau von besonderer geistiger Stärke wären.“

Die Sängerin stand auf, ihr Gesicht war bleich, aber ihre Miene gefaßt.

„Mein Mann soll sich in mir nicht geirrt haben,“ sagte sie mit sicherer Stimme und trat an das Bett. „Adolph,“ flüsterte sie, „Deine Pauline ist hier!“

„Er schläft noch,“ bemerkte der Arzt.

„Er hat ja aber die Augen weit geöffnet,“ entgegnete sie.

„Nur das linke; die Sehnen dieses Auges sind durch den Schuß zerrissen, er kann es nicht mehr schließen, ebensowenig die Wimper bewegen; auf dem linken Ohre ist er taub; auch über die linke Partie seines Mundes, wie über die linke Seite seines Gesichts überhaupt ist er völlig machtlos.“

„Und wird das so bleiben?“ fragte die Gattin angstvoll.

Der Arzt zuckte die Achseln „Wir wollen das Beste hoffen.“

„Pauline!“ hauchte der Kranke mit schwerer, vom Schuß lädirter Zunge.

„Bitte, Madame, hinter das Kopfende des Bettes zu treten,“ sagte rasch und leise der Arzt. „Ihr Herr Gemahl ist nahe dem Erwachen, und Ihr plötzlicher Anblick würde ihn zu sehr erschüttern.“

Der Kranke bewegte sich, der Arzt setzte sich an’s Bett und befühlte den Puls des Patienten.

[303] „Sie haben lange geschlafen, Herr Baron; fühlen Sie sich etwas erleichtert?“

„Ein wenig,“ lispelte der Patient, „ich habe wieder angenehm geträumt.“

„Von Ihrer Frau? Sie nannten deren Namen!“

„Von meiner Pauline, ja. Ich sah sie leibhaftig an mein Bett treten, sie weinte und flüsterte: ‚Adolph!‘“

„Wenn dieser Traum nun zur Wahrheit würde?“ fragte forschend der Arzt.

„Eher würde ich glauben,“ erwiderte der Kranke mit schmerzlichem Lächeln, „daß ein Engel vom hohen Himmel zu mir herniederstiege!“

Länger hielt sich die tief ergriffene Gattin nicht. „Adolph!“ rief sie mit vor Thränen erstickter Stimme und sank vor seinem Bett auf die Kniee.

Wir wollen die Scene des Wiedersehens hier nicht weiter ausmalen. Der Arzt hatte zu wehren, zu trösten und zu beruhigen; es gelang ihm namentlich durch das Argument, daß der Krieg noch viele Tausend Unglücklichere gemacht, die Ruhe und selbst die Heiterkeit bei der jungen Frau wieder herzustellen.

„Darf denn mein Mann etwas genießen?“ fragte sie den Arzt. „Ich habe eine Kiste mit comprimirtem Gemüse mitgebracht.“ Sie seufzte unwillkürlich bei Erwähnung dieser ominösen Vegetarianerkost.

„Jetzt nur Kaffee!“ lallte der Kranke. „Kaffee! Kaffee! nichts weiter!“

„O, in diesem Artikel bin ich Meisterin!“ rief sie, jetzt wieder ganz heiter geworden. „Du sollst so duftigen Mokka haben, wie Du ihn jemals gemeinschaftlich mit mir bei Hiller getrunken hast!“

Der Arzt ließ sogleich eine Kaffeemaschine kommen, und in einer Viertelstunde dampfte der Mokka aus den Tassen. Der Kranke hat von diesem Kaffee – wie Frau Lucca mit großer Genugthuung selbst erzählt – fünf Tassen von ihr sich einflößen lassen; so groß war das Bedürfniß seines Magens nach Nahrung.

Ihre nächste Sorge war die Beschaffung einiger luftiger Zimmer und weicher Betten, sowohl für den Kranken als für sich und ihr Kammermädchen. Der Arzt sagte ihr, daß in ganz Pont à Mousson nur noch ein Haus bekannt sei, wo Zimmer und Betten vorhanden wären; der Besitzer desselben, ein französischer Beamter, behaupte aber, es sei bei ihm selber Alles krank und er halte sein Haus vor Jedermann verschlossen.

Hier erhob sich die Lucca mit ihrer alten Energie. „Was?“ rief sie, der Franzos’ will’s besser haben als mein Mann. Da müßte ich keinen Paß vom Grafen Eulenburg besitzen!“ Und nach Schirm und Hut greifend, wandte sie sich der Thür zu.

„Adolph, Du sollst bald besser quartiert werden; mit dem Franzosen werd’ ich a mal ein gutes Wort Deutsch reden. Verlaß Dich auf mich!“

Danach stürmte sie hinaus, dem bezeichneten Hause zu. Nach langem heftigem Läuten wurde ihr endlich geöffnet. Ein dürrer Mann in einem großgeblümten Schlafrocke und eine Zipfelmütze auf dem Kopfe trat ihr entgegen.

„Monsieur,“ redete sie ihn sofort an, „ich verlange von ihnen zwei luftige Zimmer und drei reinliche und möglichst weiche Betten! … Ah! Sie verstehen nicht deutsch! Bon! très bien! da werde ich ihnen zeigen, daß ich mein Schulgeld für den französischen Unterricht aach nicht vernascht habe.“ Darauf machte sie ihm im reinsten Französisch, nach dem leicht faßlichen System von Toussaint-Langenscheidt, begreiflich, daß sie für Zimmer und Betten bezahlen werde, ganz nach seinem Verlangen; sollte er, der Franzose, jedoch sich auch ihr gegenüber „dickköpfig“ zu verhalten gesonnen sein, so werde sie ihn mit seiner ganzen französisch parlirenden Mischpoche an die frische Luft auf das Schleunigste befördern lassen. Zum Beweise, welche Macht ihr gegeben, zeigte sie dem Buntbeblümten mit der Zipfelmütze die französische Seite ihres vom Minister Grafen Eulenburg erhaltenen Passes. Das wirkte drastisch. Der Franzose zog sofort die straffen Segel ein und stellte zwei der schönsten Zimmer nebst drei sauber überzogenen und gut gestopften Daunenbetten der gefährlichen Dame zur Verfügung. Er verlangte dafür allerdings eine enorme Summe, sie wurde ihm aber von der Frau Lucca, ohne Feilschen, in blinkenden Friedrichsd’or gleich baar ausgezahlt, was ihm zu imponiren schien.

Der Umzug des Kranken, wie der Einzug seiner sehr gesunden Frau mit ihrer Kammerjungfer und dem comprimirten Gemüse fand noch an demselben Abend statt.

„Siehst Du, Adolph,“ sagte die Gattin zu ihrem im weichen Bette aufrecht sitzenden Gemahl mit einem gewissen Stolze, „diese Wohlthat wäre Dir vielleicht nicht zu Theil geworden, wenn ich nicht ein Bischen Französisch verstanden hätte.“

Zehn volle Tage pflegte sie den Kranken mit treuer Hingebung; trotz der schrecklichen, durch das Eitern der Wunde hervorgerufenen Miasmen wich sie nicht von seinem Bett.

Die Kammerjungfer kochte und dämpfte jeden Tag eine vom Arzt bestimmte Portion des comprimirten Gemüses, das aber nur in sehr flüssigem Zustande von dem Patienten genossen werden konnte, dabei besserte sich sein Zustand mit jedem Tage.

Frau Lucca hatte ihren Gatten in einer ruhigen Stunde um die näheren Umstände seiner Verwundung gefragt; doch da ihm das Sprechen sauer wurde, verwies er sie an einen Unterofficier, Namens Walter, der ihm in der Schlacht vor Metz zur Seite gestanden und die Details seiner (von Rhaden’s) Verwundungsgeschichte genauer kennen müsse, als der Verwundete selbst. Dieser Unterofficier lag, am Bein verwundet, in dem von Rhaden verlassenen Lazareth.

Als der Kranke eines Tages eingeschlummert war, ließ Frau Lucca den Unterofficier Walter, der mit Hülfe eines Stockes schon wieder gehen konnte, zu sich bitten, und der wackere Krieger kam dieser Bitte auch bereitwilligst nach.

Wir geben die Geschichte der Verwundung des Lieutenant v. Rhaden, wie sie der Unterofficier Walter der Frau Lucca persönlich mitgetheilt hat.

„Am fünfzehnten August,“ so begann er seine Erzählung, „brachen die Franzosen von Metz auf, um auf der Straße nach Verdün durchzukommen; den Kaiser und seinen hoffnungsvollen Erben hatten sie wohlverpackt in der Mitte. Es wollte aber mit dem Vormarsch der Franzosen nicht so rasch gehen, wie sie wohl gedacht hatten, weil die Deutschen sie von allen Seiten bedrohten. Der Kaiser mußte auch zu seiner Escorte kein rechtes Vertrauen haben, denn er machte sich am Sechszehnten früh, auf einem Umwege nach Chalons, schleunigst auf die Strümpfe. Das war auch sein Glück, denn gegen Mittag desselben Tages brachten wir die Bazaine’schen bei Mars la Tour zum Stehen. Die feindliche Armee hatte zwei Dörfer, ein Vorwerk und die daran gelegenen Höhen besetzt.

‚Jagt die Kerls von den Höhen hinunter!‘ schrie der General von Stülpnagel. Das gelang nach schwerem Kampfe. Die Franzosen wurden von den Höhen und auch aus den Dörfern Vionville und Flavigny vertrieben und die Unseren setzten sich darin fest. Um ein Uhr hatte aber der Feind mit Infanterie und Artillerie das Gehölz St. Arnould besetzt und richtete von da aus ein mörderisches Feuer auf die Brandenburger, daß diese fielen, wie die Mücken im Rauch. Um drei ein halb Uhr erschien der Prinz Friedrich Karl auf dem Kampfplatze und ritt unsere Reihen entlang; die Granaten und Chassepotkugeln schlugen um ihn und seine Suite ein, so daß viele Mannschaften in seiner Nähe verwundet wurden. Der Prinz übernahm bei seinem Erscheinen den Oberbefehl. Bis vier Uhr währte der Artilleriekampf, nun aber hieß es: ‚Bajonnete zur Attaque! – Marsch! Marsch!‘ – Darauf hatten wir nur gewartet. ‚Hurrah!‘ schrie es aus tausend und aber tausend Kehlen, und mit gefälltem Bajonnet ging es los auf die unverschämten Rothhosen. Ach, gnädige Frau, war das ein Schießen, Schlagen und Stechen! Da konnte man wohl mit Schiller sagen: ‚Ein Schlachten war’s, nicht eine Schlacht zu nennen‘.

Der Lieutenant von Rhaden, ihr Herr Gemahl, war mit hochgeschwungenem Degen, nicht achtend der Kugeln, die, wie Schloßen in einem Hagelsturm auf uns niederfielen, in erster Reihe zu sehen, immer feuerte er uns an: ‚Nicht weichen, meine Braven! Das Gehölz müssen wir vor Dunkelwerden haben!‘ Ich hatte so recht meine Freude an der imposanten Heldengestalt; da plötzlich hält der Herr Lieutenant, mitten im Vordringen, ein, die Hand mit dem Degen senkt sich, er blickt starr nach einer Richtung und scheint das mörderische Treiben rings um sich her gar nicht mehr zu bemerken. Mir ahnte gleich nichts Gutes. Rasch eilte ich zu ihm und sah nun, wie ihm das Blut unter’m linken Auge über die Wange floß.

[304] ‚Herr Lieutenant,‘ rief ich und berührte seinen Arm, ‚Sie haben einen Schuß in’s Gesicht.‘ Aber er hörte mich nicht. Wie angewurzelt stand er da, die Blicke in’s Blaue gerichtet, den Degen krampfhaft festhaltend, fertig wie zum Hiebe, wie Einer, der durch Hexerei mitten in einer Action gebannt ist. Ich umfaßte ihn sanft, da ich glaubte, er müsse jeden Augenblick zusammenbrechen, und schrie mit dem Kanonendonner um die Wette: ‚Herr Lieutenant, Sie sind verwundet!‘ Da richtete er langsam das Gesicht mir zu – ach, gnädige Frau, wie war das schöne männliche Antlitz in den wenigen Secunden entstellt! Nach einigem Besinnen sprach er kaum verständlich, da die von der Kugel gestreifte Zunge stark blutete:

‚Unterofficier Walter!‘

‚Zu Befehl, Herr Lieutenant!‘

‚Ich glaube, ich habe genug, Walter!‘

‚Zu Befehl, Herr Lieutenant – das glaube ich auch. Die Kugel ist über’m linken Auge hinein- und rechts am Kinn wieder hinausgegangen. Eine der schlimmsten Verwundungen! Haben Sie noch etwas zu bestellen an Ihre Familie? Will’s gern ausrichten.‘

Bergübergang von Abtheilungen des Werder’schen Corps bei den Kämpfen vor Belfort.
Originalzeichnung von Chr. Sell.


‚Nehmen Sie meine Uhr und diesen Brillantring, bringen Sie Beides meiner Frau und sagen Sie ihr – daß mein letzter Gedanke – –‘

Hier verließ ihn die Besinnung, sein Kopf senkte sich langsam auf meine Schulter und ich mußte alle meine Kräfte zusammennehmen, um ihn aufrecht zu erhalten. Ich rief ein paar Cameraden heran, mit deren Hülfe ich ihn auf eine Stelle trug, wo er wenigstens vor Pferdehufen und Kanonenrädern geschützt war, hier legte ich ihm meinen Tornister unter den Kopf, bedeckte ihn mit meinem Mantel, und vorwärts stürmte ich wieder mit doppelter Wuth auf die hundsföttischen Franzosen, und Sie dürfen’s mir glauben, gnädige Frau, daß ich die Burschen nicht mit Chocolade begossen habe. Bei vollständiger Dunkelheit war das Schlachtfeld und auch der Sieg unser. Als ich glaubte, es sei Alles vorbei, begab ich mich schleunigst nach der Stelle zurück, wo wir unsern Verwundeten niedergelegt hatten; aber in dem Moment, wo ich

[305]

Das neue Theater in Altenburg.

[306] mich über ihn beuge, fährt mir, klaps! eine verfl – verspätete Chassepotkugel in’s Bein, und so unglücklich, daß ich gleich niederstürze und besinnungslos zu Füßen meines vermeintlich todten Lieutenants liegen blieb.

Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich unter ärztlicher Pflege hier im Lazareth zu Pont à Mousson und hörte zu meiner Freude, daß auch der Herr v. Rhaden außer Lebensgefahr sich mit mir unter einem Dache befinde. Viele Zeitungen hatten bereits die Nachricht von seinem Tode gebracht.

Acht Stunden hat ihr Herr Gemahl auf dem Schlachtfelde unter Leichen und Verwundeten gelegen, und ich halte es noch heut für ein Wunder, daß die Krankenträger den schwer Getroffenen noch athmend gefunden haben.“

Hier schloß der Unterofficier seine Erzählung, die Frau Lucca in athemloser Spannung angehört hatte. Sie fürchtete für ihren Mann immer noch das Schlimmste.

(Schluß folgt.)




Unsere Batterie bei Werder’s Corps.
Erzählt von einem sächsischen Artilleristen.
(Mit Abbildung.)


Die königlich sächsische leichte Reservebatterie Nr. 2, Hauptmann Krutzsch, wurde am zweiundzwanzigsten December 1870 in Sachsen mobilisirt und verließ die Heimath am Weihnachtsabend, um sich zur Besatzung von Nanzig zu begeben. Auf der Fahrt dahin erhielt unser Batteriecommandant den Befehl, von Nanzig die Richtung nach Epinal einzuschlagen und sich dem damals hart bedrängten Werder’schen Corps zur Verstärkung anzuschließen.

Am Neunundzwanzigsten kamen wir in Epinal an. Der Etappencommandant, der königlich sächsische Oberst von Schmiden, und das damals dort garnisonirende Landwehrbataillon Nr. 103 erfreuten uns durch einen feierlichen Empfang mit Musik; aber schon bei diesem Einzuge wurde uns gesagt, daß wir wohl morgen gleich in’s Feuer kommen würden. Pferde und Mannschaft hatten schwer in der grimmigen Kälte gelitten und waren steif gefroren, dennoch war an keine längere Rast zu denken, und schon am andern Morgen ging’s in Eilmärschen über Plombières, Luxeuil und Vesoul bis Gray vorwärts. Bei Gray kam uns die badische Division auf ihrem Rückzug von Dijon entgegen, und wir kehrten mit ihr nach Vesoul zurück, wo wir feste Stellung nahmen. Das geschah am ersten Januar, und das war unsere Sylvesterfeier.

Hier standen wir bis zum Zwölften im angestrengtesten Dienst und im Verein mit dem preußischen Reservejägerregiment Nr. 1 und dem rheinländischen Landwehr-Füsilierregiment Euben, Nr. 25, jede Minute den Feind erwartend und zum Kampf bereit. – Wir Leute erfuhren, wie so oft in diesem Krieg, erst nachher, in welcher Gefahr wir und das ganze Corps, ja das liebe Vaterland selbst gestanden, und wie viel darauf ankam, daß hier Leib und Leben daran gegeben wurde, um den Plan Bourbaki’s, mit seiner Uebermacht und der Hülfe Garibaldi’s Belfort zu entsetzen, durch das Elsaß in Süddeutschland einzubrechen, die Tausende französischer Gefangenen zu befreien und unsere Heere in Frankreich ganz von Deutschland abzuschneiden, so gründlich als möglich zu vernichten.

Während dieser Zeit mußten wir mehr als einmal in der Nacht Alarm schlagen und zwar auf ganz besondre Weise. Jeder Trompeter, Signalist, Trommler, Alles war auf den Beinen, und Jeder machte nicht nur den möglichsten Lärm, sondern wechselte seinen Standort und wiederholte Strecke um Strecke weiter nach links, rechts und rückwärts, soweit nur das Terrain es erlaubte, seine Alarmzeichen, so daß durch die Nachtstille hin dem Feinde unsere Anzahl zehnmal stärker erscheinen mußte, als sie war. Und wirklich mußte diese Kriegslist gewirkt haben, denn wir blieben, obwohl von Feinden umringt, doch bis zum Zwölften unangegriffen. Nur das Landvolk führte seinen dummen Franctireurskrieg gegen die Unsern, und deshalb mußten wir noch vor unserm Abmarsch, der am Zwölften stattfand, ein Dorf in Brand schießen, weil die Bauern dort unsere braunen Husaren meuchlings angefallen hatten.

Wir hatten Ordre, über Lure und Ronchamp nach Belfort zu marschiren. An diesen Marsch wird jeder von uns denken, so lange er lebt. Wenn die Gebirge dort auch keine Alpen sind, so giebt’s doch so steile Höhen und Schluchten, daß heute sicherlich kein Mensch es glaubt, daß wir nicht blos mit Roß und Mann, sondern sogar mit unseren Kanonen darüber kamen. Kälte fünfzehn Grad, Schnee fußhoch, Glatteis unterm Schnee und Felsenwege wie die Dächer steilauf! Da galt’s, sich selbst mit aller Kraft in die Speichen legen, ziehen und schieben, bis der Athem ausging, Roß und Mann in der grimmigen Kälte in Schweiß gebadet – Schritt für Schritt vorwärts und oft genug wieder rückwärts, Hinstürzen und Aufraffen, ja, es war ein Stück Arbeit – bergauf – und wie ging’s nun gar erst bergab! Wir legten freilich Eisketten um die Räder, sonst hätte eine Rutschpartie beginnen können, bei der wir Alle in die Abgründe geschleudert worden wären; aber die Steile war so arg, daß die Pferde an den Spannketten hängend auf den Hintern rutschten, zitternd die Hufe vorstreckten und so um ihrer Last in die Tiefe hinabkamen.

Ronchamp, ein wichtiger Ort für diesen Krieg, denn hier befand sich das Laboratorium für die Munition der Belforter Belagerungsarmee, sollte es auch für uns werden, denn hier schien es am fünfzehnten Januar zu einer Schlacht zu kommen. Es war ein Sonntag, und schon früh halbacht wurde derselbe nicht etwa eingeläutet, sondern auf linkem und rechtem Flügel unserer Stellung zugleich mit Kanonendonner begrüßt. Es kam jedoch nicht zum rechten Ernst, als ob der Feind es hier nur auf einen Scheinangriff abgesehen hätte. Dennoch war der Tag heiß genug. Wir hatten mit unserer Batterie eine Brücke über den kleinen Fluß dort zu vertheidigen, die, im Fall eines nothwendigen Rückzugs unserer Seits, von uns sofort gesprengt werden sollte. Unsere Kampfgenossen, die preußischen Reservejäger von Nr. 1, hatten jedoch alle Angriffe des Feindes tapfer zurückgeschlagen.

Noch am selben Abend erhielten wir den Befehl, nach Frahier vorzurücken, mit der besondern Weisung, uns dort so viel wie möglich selbst Quartier zu suchen. Frahier liegt in einem von nahen waldigen Höhen begrenzten Thale und ist ein stattlicher Marktflecken. Vom Nachtmarsch todtmüde, sorgten wir erst für unsere Pferde, dann für uns, Alles nach Ruhe lechzend. Aber kaum waren unsere Pferde in den Ställen und wir auf der Streu, als eine furchtbare Kanonade über uns hereinbrach. Von den Höhen donnerte es Schlag auf Schlag und selbst Mitrailleusen knatterten dazwischen. Ei, wie geschwind waren wir da munter, Alle, Roß und Mann – und nun ging’s vor Allem an’s Alarmschlagen, wie’s unser General von Werder uns nun einmal beigebracht hatte. Das rasselte, trommelte, pfiff, tönte und schmetterte so nah und fern und hier und dort und überall, daß eine Armee von hunderttausend Mann keinen größeren Spectakel hätte machen können. Und es half abermals! Nachdem die Franzosen eine Masse Munition vergeblich verpufft hatten, schwieg ihr Feuer. Eine ihrer legten Granaten fuhr in einen Nußbaum, neben dem wir standen, und da rief unseres Lieutenants Frank lustiger Dienstbursche Preuße: „Dumme Kerle, jetzt Nüsse zu schütteln! Es sind ja keene druff!“ Wie spottschlecht die Granaten der Franzosen waren, hatten wir bald an ihrer geringen Wirkung erkannt. Später warf ich mit Preuße über zweihundert unexplodirte in einen Ziehbrunnen bei Frahier. Wer den Schatz einmal hebt, der kann lachen.

Aller Schlaf war uns für diese Nacht vergangen; wir bivouakirten mit großem Jubel über den glücklichen Erfolg. An Wein, Fleisch und Cigarren fehlte es uns nicht; nur Brod hatten wir schon drei Tage nicht gesehen und bekamen auch keins bis nach errungenem vollständigen Siege, das heißt nach noch acht Tagen.

Am Sechszehnten in aller Frühe eröffneten jedoch die Franzosen ihr Feuer wieder auf dem linken Flügel und zwar mit dreiundvierzig so gut gedeckten Geschützen, daß wir nur ein einziges Rohr derselben sehen konnten. Ihnen gegenüber standen nur wir mit unserer sächsischen und einer Badenser Batterie. Eine preußische Reservebatterie war hinter uns zur Deckung etwaigen Rückzugs [307] aufgestellt und konnte wegen ihrer Position uns nicht unterstützen. So mußten unsere beiden Batterien allein den ganzen Tag bis zum hereinbrechenden Abend das heftigste Feuer aushalten und so gut wie möglich erwidern. Wir standen auf zwei Anhöhen uns gegenüber; unsere Reiterei konnte uns so wenig wie unsere Infanterie helfen, denn das Zündnadelgewehr konnte den Feind nicht erreichen, während wir fortwährend den Kugeln der Chassepots ausgesetzt waren.

Da kam der Befehl vom General von Werder, uns zurückzuziehen und zwar nach einer Richtung, die offenbar nur zur Täuschung des Feindes eingeschlagen war, denn gleich darauf mußten wir eine Schwenkung in ganz anderer Richtung machen und wieder Posto fassen, um sofort an die rührigste Arbeit zu gehen. Hier wurden die Anhöhen verschanzt, mit schwerem Geschütz besetzt, Bäume gefällt, um die Wege unzugänglich zu machen, kurz Alles gethan, um einem mächtigen Feinde, und das war damals für uns noch die Bourbaki’sche Armee, alle nur menschenmöglichen Hindernisse für einen Durchbruch auf dieser Seite entgegenzustellen.

An demselben Abend war bei Belfort, auf beiden Seiten, der französischen wie der deutschen, das allerheftigste Feuer seit der ganzen Belagerung. Daß das eine Bedeutung hatte, die mit unserer schweren Arbeit zusammenhing, konnte man sich wohl denken. Das sollte uns für diese Nacht noch deutlicher werden. Wir erhielten den Befehl, auf der Stelle, wo wir standen, zu bivouakiren; aber zugleich ward uns streng verboten, Feuer anzuzünden, ja nicht einmal Tabak sollten wir rauchen, um unsere Stellung nicht zu verrathen. Und es waren siebenzehn Grad Kälte, und wir, lauter Landwehr, waren doch auch keine Jünglinge mehr. Aber da kam der General von Werder selber zu uns und sagte: „Meine alte Landwehr, haltet’s nur diesmal so aus, es wird schon einmal gehen. Es geschäh’ ja nicht, wenn’s nicht sein müßte, wenn nicht so viel davon abhinge. Haltet fest, verzagt nicht, morgen bekommen wir Hülfe.“ So ein Wort, das das Herz warm macht, hilft wahrlich auch für die Glieder. Aber eine schreckliche Nacht war’s denn doch, von der Mancher für’s ganze Leben was davongetragen hat.

Am Siebenzehnten früh halbfünf wurde das Lager verlassen und Position genommen. Eine Stunde später überraschte uns schon eine Abtheilung badischer Infanterie mit einer Morgenbescheerung. Sie waren auf ihrem Streifmarsch an eine Kirche gekommen, vor welcher sie vierhundert Chassepots in Pyramiden aufgestellt sahen, und zwar ohne Schildwache. Die ganze Mannschaft dazu lag in der Kirche im schönsten Schlaf. Natürlich nahmen die braven Badenser das Nest aus und brachten uns die gefangenen Vögel als Frühstücksvergnügen.

Leider endete der Tag gerade für diese Tapferen nicht so freudig, wenn auch siegreich. Zur Eiskälte gesellte sich bei Tagesanbruch ein furchtbarer Nebel, und trotz desselben begann das heftigste Infanteriefeuer, dem die Badenser ohne Deckung bloßgestellt waren, ohne doch vom Platze weichen zu dürfen. Als um neun Uhr die Sonne durch den Nebel brach, beschien sie ein Leichenfeld – schon um acht Uhr hatten die Badenser keinen einzigen Subalternofficier mehr, alle lagen verwundet oder todt da; dennoch hielt die Mannschaft heldenmüthig Stand; unsere Batterien redeten ihr scharfes Wort mit drein, und um Mittag löste die Ordnung in den Reihen des Feindes sich auf, er begann zu weichen, und wir verließen unsere mit Ehren behauptete Stellung nur, um ihn Schritt für Schritt auf seinem eiligen Rückzug zu verfolgen.

Die Verfolgung wurde am Achtzehnten fortgesetzt, und zwar nicht nur blind dem Feinde nach, wohin er wollte, sondern nach dem Plane des Generals von Werder so, daß die Franzosen dem hinter Besançon ihrer harrenden General von Manteuffel, fortan Oberfeldherr der vereinigten deutschen „Südarmee“, hübsch in die offenen Arme getrieben wurden. Unterwegs machten wir noch viele der Ausreißer, die sich in Schluchten und Wäldern versteckt hatten und nur selten Widerstand versuchten, zu Gefangenen.

Schon am Zwanzigsten sprach der Kaiser in einem Tagesbefehl seinen Dank aus gegen den General von Werder und seine tapferen Soldaten, und am Einundzwanzigsten erhielten wir zum ersten Male wieder Brod, während auch bis dahin Fleisch und Wein uns niemals ausgegangen war. Welche Freude dies war, begreift freilich nur, wer es so lange wie wir hat entbehren müssen.

Während nun die Südarmee ihre siegreichen Kämpfe fortsetzte, bis Bourbaki’s Armee in die Schweiz getrieben und Belfort übergeben war, gingen wir auf der alten Landstraße in der Richtung nach Vesoul wieder zurück und bestraften dabei die Bürger und Bauern, welche in der Zeit ihres Uebermuths wegen Bourbaki’s und Garibaldi’s Verheißungen und unserer Bedrängniß auf die Unseren geschossen hatten, so namentlich Lure, das uns fünfundachtzigtausend Franken und alle Waffen auf die Mairie abliefern mußte, Port-sur-Saone etc. Und schließlich hielt unser General von Werder auch uns Wort, indem er „seiner alten Landwehr“ nach so schweren Schlachten und Strapazen Ruhe vergönnte. Wir hatten nur noch den üblichen Dienst, Patrouilliren und dergleichen zu leisten, bis uns am 2. April gestattet wurde, Frankreich zu verlassen und in die liebe Heimath zurückzukehren.

Von den fünfzehnhundert Todten und Verwundeten, welche dieser so kurze und doch so glorreiche Feldzug des Werder’schen Corps gekostet hat, traf auf unsere Batteriemannschaft ein Verlust von sieben Verwundeten und einem Todten. Letzterer, der Oberkanonier Seidel, starb an der Amputation eines Armes, der ursprünglich nur leicht verwundet und erst durch den Transport so schlimm geworden war. Dagegen erhielt Unterofficier Schaufuß noch beim Zurückgehen am Sechszehnten, einen Schuß durch die Lunge und befindet sich trotzdem ganz wohl. Alle übrigen Verwundeten sind ebenfalls wieder geheilt. Gewiß nach solchen Kämpfen und Gefahren unserer Batterie eine große Gnade Gottes!

Ich für meine Person habe mir von Frahier die Patrontasche eines Mitrailleusenkanoniers mitgenommen; sie und das Bewußtsein, dem Vaterlande redlich gedient zu haben, ist mein Andenken an diesen Krieg.




Blätter und Blüthen.

Das neue Hoftheater in Altenburg. (Mit Abbildung.) Wer auf der von Penig herführenden, nach den Münsaer Linden benannten Landstraße in den Kessel hinuntersteigt, in welchem Altenburg liegt, hat im Sommer einen überraschend schönen Anblick. Rechts von ihm liegt auf gewaltigem steilabfallendem Felsblock das Schloß mit seinem kleinen, aber auf das Sorgfältigste unterhaltenen Park, und ihm zu Füßen sind bergauf, bergab die Straßen der häuserreichen Stadt ausgebreitet. Daß ihr Terrain ein so hügeliges ist, giebt dem Ganzen eine gefällige Bewegung in der Ruhe, und daß die letzten Häuser auf dem Höhenrücken drüben sich zwischen Bäumen und Gärten verlieren, vollendet das Malerische des Eindrucks. In neuerer Zeit nun ist für die Stadt zu diesem Allem ein neuer Reiz gekommen: ein schönes stattliches Theater, das sich dem Schlosse schräg gegenüber erhebt, auf dem Josephsplatze und der Straße rechts zur Seite, welche an freundlichen Villen vorüber vom Bahnhofe aus in das Innere der Stadt führt.

Man hat bekanntlich eine gewisse Durchschnittssumme von Jahren ausgerechnet, wenn wir nicht irren, dreißig, welche im Allgemeinen die Lebensdauer eines Theaters bilden, das alsdann durch Brand zu Grunde zu gehen pflegt. Das herzogliche Hoftheater in Altenburg hatte in dieser Hinsicht ein seltenes glückliches Geschick. Obgleich früher erbaut, als die meisten Schauspielhäuser Deutschlands, ist es doch bis auf den heutigen Tag noch nicht abgebrannt. Aber schon vor Jahren zeigte es eine derartige Altersschwäche und Hinfälligkeit, daß seine fernere Benutzung lebensgefährlich erschien und daß vom Herzog der Schluß des Hauses angeordnet wurde.

Natürlich machte sich alsbald das Bedürfniß nach einem neuen Theater geltend, und nachdem nur einmal die Landschaft die zum Bau nöthige Summe bewilligt hatte, fand man auch alsbald die richtigen Männer, deren Händen man das Unternehmen anvertrauen konnte. Schon am 1. Juli 1869 wurde mit dem Bau, der nach dem Plane des Baurath Enge in Altenburg und unter der Leitung des vom Architekten Feller unterstützten Baumeisters Otto Brückwald in Leipzig ausgeführt werden sollte, begonnen und schon gegen Weihnachten desselben Jahres konnte das Haus unter den üblichen Feierlichkeiten gerichtet werden.

Das neue Theater liegt, wie schon gesagt, dem schönen herzoglichen Residenzschlosse gegenüber. Wer von den Münsaer Linden kommt, hat das stattliche Haus gleich vor sich, die Stadt als wirksamen Hintergrund. Eine völlige Freistellung auch mit der Rückseite gestattete der Platz nicht, doch ist das Gebäude hinter der Bühne stylistisch abgeschlossen und nur durch ein niedrigeres, feuersicher gewölbtes Magazin mit der Häuserreihe der Burgstraße in Verbindung gebracht.

Ueber die äußere Ausstattung giebt unsere Abbildung hinreichende Auskunft. Sämmtliche Gesimse der durchaus massiven Mauern sind in Pirnaer Sandstein ausgeführt. Die obere Balustrade und die dahinter liegenden Felder der jetzt noch kahlen Wandfläche sollen später noch ihre entsprechende Ausschmückung erhalten und zwar die Balustrade mit Figuren und Vasen, die Wandfelder mit Malereien in Sgraffitomanier.

Ueber die breite Freitreppe tritt man in das untere Foyer. Links und rechts sind dem Logenhause Treppenhäuser angebaut. Jede der beiden breiten und hellen Treppen führt in das sehr schöne obere Foyer. Höher [308] hinauf liegt noch ein dritter Gang und die Gallerie. Das Innere ist äußerst praktisch und geschmackvoll. Von unten aus bis zum dritten Range sind die Verzierungen der Brüstungen golden in Weiß. Ebenso sind die Säulen verziert. Der Bühne gegenüber, welche eine Breite von dreiundsiebenzig und eine Tiefe von achtundvierzig Fuß hat, während die Bühnenöffnung im Proscenium sechsunddreißig Fuß breit ist, liegt die herzogliche Loge. Das Parterre enthält hundertzweiundsiebenzig, der gesammte Zuschauerraum neunhundert Plätze.

Daß die Decorationen durchaus neu und schön sind, bedarf kaum einer besonderen Hervorhebung; dieselben rühren von dem Decorationsmaler Lütkemeyer in Coburg her und repräsentiren einen Werth von achttausend Thalern. Die Maschinerie verdankt das Theater dem weithin bekannten Maschinenmeister Brand in Darmstadt. Sie kostet vierzehntausend Thaler. Das Gebäude an sich endlich erforderte einen Aufwand von zweiundachtzigtausend Thalern, so daß die Gesammtkosten des Baues sich auf etwa hundertvierzehntausend Thaler belaufen.

Abgesehen von einem namhaften jährlichen Zuschuß, welchen der Herzog Ernst dem neuen Theater zugesichert hat, soll sich dasselbe selbst erhalten; Director ist der frühere Regisseur Podolsky aus Weimar, der die Verpflichtung übernommen hat, jährlich vier Monate lang in Altenburg zu spielen. Möge die neue Bühne die Aufgabe, die ihr bei beschränkten Mitteln und unter beengenden Verhältnissen allein gegeben sein kann, nie aus dem Auge verlieren, möge sie, dem eitlen bei großen Bühnen unvermeidlichen Prunk glänzender Schaustellungen aus dem Wege gehend, lediglich dahin streben, im Kleinen Großes zu wirken: dann wird ihr Einfluß nach allen Richtungen hin – für die Kunst, wie für das Volk – ein wahrhaft fruchtbringender sein.


Für Brillenbedürftige. Gegen das Unwesen, das in den meisten Landkreisen, selbst in den kleineren Städten Deutschlands, mit dem Verkaufe von Brillen getrieben wird, veröffentliche ich nachstehende Warnung:

Im Allgemeinen erkennt man die Wichtigkeit einer passenden Brille und die großen Nachtheile einer nicht passenden, gewöhnlich zu scharfen Brille viel zu wenig. Man verfährt bei der Anschaffung einer Brille viel zu leichtsinnig. Besonders auf dem Lande wird weder der Arzt noch der Optiker zu Rathe gezogen. Kurzsichtige, die auf dem Lande in viel geringerer Zahl als in den Städten vorhanden sind, die beim Arbeiten in der Nähe durch die Kurzsichtigkeit nicht gestört werden, wählen nur in den seltensten Fällen bei ungewöhnlich hochgradiger Kurzsichtigkeit, die etwa am Erkennen der Furchen hindert, eine Brille. Die Kurzsichtigen auf dem Lande verzichten lieber auf das Sehen in die Ferne, auf das Grüßen in Entfernung und scheuen überdies das Auffallende des öffentlichen Tragens einer Brille oder gar einer Lorgnette. Wird dagegen Jemand gewahr, daß ihm das Lesen kleiner Schrift, das Einfädeln einer Nähnadel sehr schwer wird, so forscht er nach, ob in der Familie oder bei einem Nachbarn eine Lesebrille vacant ist. Hat sich eine solche gefunden, so richtet er sich, wenn das Sehen kleiner Gegenstände nur einigermaßen durch die Familienbrille gebessert wird, mit derselben ein, natürlich zum großen Nachtheile seiner Augen. Solche Brillen wechseln mitunter fünf-, sechsmal ihren Besitzer. Nun kommt alljährlich zu bestimmten Zeiten der Handelsmann mit Brillen in das Dorf und es beginnt das Kauf- und Tauschgeschäft. Der Hausirer, der nur die oberflächlichsten Kenntnisse von Brillengläsern hat, der vielleicht wenige Monate vorher mit alten Kleidern handelte und diesen undankbaren Artikel gegen den einträglicheren Brillenhandel auf dem Lande eintauschte, er weiß seine Brillen mit großer Beredsamkeit an den Mann zu bringen. Im günstigen Falle paßt die Brille wirklich und der Käufer hat nur den Nachtheil, daß er den doppelten Preis zahlen muß. In den allermeisten Fällen ist die Brille zu scharf; sie bessert das Sehvermögen für den Augenblick, indeß bei anhaltendem Gebrauch verursacht sie Drücken im Auge, Thränenlaufen, leichte Eingenommenheit des Kopfes und Reizerscheinungen anderer Art. Findet der Hausirer keine passende Brille, so empfiehlt er zur Schonung des Auges eine blaue Brille. Jedenfalls verkauft er eine Brille, selbst da, wo eine solche ganz unnöthig ist. Er läßt sich oft zwei bis drei Thaler für eine stählerne Convexbrille zahlen, die bei jedem Optiker einer größeren, selbst mittleren Stadt zu dem Durchschnittspreise von einem und ein Drittel Thaler zu haben ist. Bei einem Tauschgeschäfte nimmt er zwei alte Brillen gegen eine neue an und läßt sich anderthalb bis zwei Thaler zuzahlen. Um sich eine größere Glaubwürdigkeit zu verschaffen, so giebt er frecher Weise an, daß er von einer benachbarten Augenheilanstalt mit dem Verkaufe der Brillen beauftragt sei.

Ein solch geriebener Patron, der im vorigen Jahre den Liegnitzer und die benachbarten Landkreise mit blauen Brillen der schlechtesten Qualität versorgte und sich das einzelne Exemplar, das einen ungefähren Werth von fünfzehn Neugroschen hatte, mit zweieinhalb bis drei Thalern bezahlen ließ, gab an, daß er von dem Kloster der barmherzigen Brüder in Breslau mit dem Brillenverkaufe betraut worden sei. Welch großer Nachtheil, weniger noch dem Geldbeutel, als der Sehkraft der armen Brillenbedürftigen durch solche Hausirer zugefügt wird, dürfte annähernd kaum richtig gewürdigt werden. Ich gebe daher den Rath, niemals von Hausirern Brillen zu kaufen. „Die Brillengläser sind,“ wie der berühmte Augenarzt Arlt sagt, „durchaus keine gleichgültigen Gegenstände für die Augen, sie sind den kräftigsten Arzneimitteln an die Seite zu stellen. Und doch, während die sogenannten heroischen, das heißt die stark wirkenden Arzneimittel selbst in Apotheken nur mit größter Vorsicht verabfolgt werden dürfen, verkauft jeder armselige Krämer und Hausirer Augengläser, gleichviel ob gut, ob passend für das Auge oder nicht. So wird das wichtigste der Sinneswerkzeuge mit unverzeihlichem Leichtsinne der Gefahr preisgegeben, seine Brauchbarkeit einzubüßen.“ Heutzutage ist das auch nicht mehr der Weg, sich ein Augenglas zu wählen. Die Aerzte weisen jetzt nicht mehr, wie in früheren Zeiten, die Brillenbedürftigen kurzweg an den ersten besten Optiker. Sie untersuchen zunächst, ob überhaupt eine Brille nothwendig sei oder nicht. Im Besitze einer ausreichenden Anzahl von Probenummern sämmtlicher Gläser, die im Gebrauch sind, wählen sie nicht das für den Augenblick am meisten zusagende, gewöhnlich zu scharfe, sondern das passende Glas, bezeichnen die Nummer desselben genau und schicken den Brillenbedürftigen mit dieser schriftlichen Anweisung zu dem Optiker, „gerade so, wie sie,“ nach einem treffenden Vergleiche Arlt’s, „einen Kranken mit einem Recepte an den Apotheker adressiren.“ In einzelnen Fällen bestimmen sie auch bald, wann das Glas gegen eine stärkere Nummer umgetauscht werden solle. Sie geben fernere nothwendige Verhaltungsvorschriften an, so zum Beispiel den Kurzsichtigen, daß sie die Concavbrille, die sie für die Ferne brauchen, stets beim Lesen abnehmen, oder, falls sie diese Unbequemlichkeit scheuen, eine Lorgnette vorziehen sollen.

Wenn diese Andeutungen dazu dienen, dem durch die Brillenhausirer geübten Unfuge zu steuern, so ist der Zweck dieser Zeilen erreicht.

Liegnitz.
Dr. Süßbach.

Ein Epilog. Wir können die freundlichen Anfragen, die wir von so vielen Seiten nach den weitern Schicksalen des Officiers erhalten, dessen Abenteuer in Feindesland unsere Erzählung Pulver und Gold berichtete, nicht ohne Dank und Antwort lassen. Unser Held ist, von seiner Verwundung genesen, wieder bei seinem Truppentheil eingetreten und hat in den heißen Kampfestagen der Werder’schen Armee das Glück gehabt, sich das eiserne Kreuz zu erwerben; am dritten Tage jenes blutigen Ringens, beim Rückzuge der feindlichen Streitkräfte hat er durch rastloses Vordringen bei der Verfolgung über Noroy hinaus Chateau Giron von einem Haufen Lyoner Mobilen befreit, die in voller Auflösung und eben im Begriff waren, das Haus zu plündern. Blanche Kühn hat ihn zu ihrer vor Angst und Schrecken dem Tode nahen Mutter gebracht und diese ihm als dem Retter ihres Lebens gedankt und in ihrer Erschütterung voll nachgiebiger Güte die Geständnisse ihrer Tochter aufgenommen; auch dem Abbé Etienne haben jene Tage und der Anblick der aufgelöst dem Schweizer Gebiet zu strömenden Bourbaki’schen Schaaren andere Ansichten über französisches und deutsches Wesen beigebracht; als nach der Capitulation Belforts unser Officier nach Villersexel in Cantonnementsquartier kam und so nach dem nahen Chateau Giron zurückkehren konnte, hat er den Segen der Mutter zur Verbindung Blanche’s mit einem Deutschen erhalten, und Glauroth sagt, dieser Feldzug habe ihm das eiserne Kreuz mit Myrthenlaub eingebracht. – Bei der allgemeinen Auflösung der Verhältnisse in jener hart mitgenommenen Gegend hat sich keine Behörde gefunden, welche sich für befugt gehalten, von Fräulein Kühn eine Entschädigungssumme für die in ihrem Hause mit Beschlag belegte Kriegscasse eines nicht mehr existirenden Truppenkörpers anzunehmen. – Wegen eines in seiner früheren Unterredung mit dem Arzte von Noroy gebrauchten scharfen Ausdrucks über die Feindseligkeit, die sich bei unseren kleinen Nachbarvölkern als Folge unserer Siege gezeigt, hat unser Officier die Herausforderung eines Schweizer Journalisten erhalten, der darüber so in Hitze gerathen, wie einst die Leute von Chur über ein Wort Spiegelberg’s in den ersten Auflagen der Räuber (II. 3.), deren Verfasser doch später den Tell dichtete! Unser Held hat bei dem Ausdruck nichts Uebleres gemeint, als wir mit dem harmlosen Namen „die kleinen Raubstaaten“, der gutmüthig hingenommen wird, verbinden. Er hat jedoch die Herausforderung angenommen; der Herausforderer aber hat nach den Züricher Vorgängen nichts weiter von sich vernehmen lassen. Glauroth, der jetzt mit seinem Freunde in Villersexel im Quartier liegt, begleitet ihn auf seinen häufigen Ritten nach Chateau Giron und beschäftigt sich dann damit, entweder den Abbé Etienne zum Arianismus zu bekehren, oder in der Bibliothek der französischen Literatur angenehme und bildende Seiten abzugewinnen. Sie hoffen beide binnen Kurzem die Entlassung aus dem Reserveverhältniß zu erhalten.
L. S.

Kleiner Briefkasten.

C. B…sch in Straßburg. Sie haben vollkommen Recht, daß nichts geeigneter ist, deutsche Sympathien im Elsaß nicht aufkommen zu lassen, als die von Ihnen erzählten Thatsachen. Wenn aber der Bemühung, derlei Unfug abzuschaffen, mit Ihren Mittheilungen gedient sein soll, so ist’s unerläßlich, daß Sie ihren Namen nennen und sich bereit erklären, für die Wahrheit Ihrer Aussage auch vor Gericht einzustehen. Sind Sie dazu entschlossen, so adressiren Sie Ihre Sendung an Herrn Dr. Karl Ruß, Schriftsteller in Berlin, Kurfürstenstraße Nr. 9.

L. D. in Uffenheim. Von der Streckfuß’schen Weltgeschichte sind nur achtunddreißig Lieferungen erschienen und wird das Werk vorläufig nicht weiter fortgesetzt. Doch spricht man davon, daß nach dem Friedensschlusse das Buch durch Verkauf in andere Hände übergehen und dann fortgeführt werden wird.

O. J. in H. Warum lassen sich die Gemeinden die Einführung der „Evangelischen Kirchenlieder“ des orthodoxen Pfarrer Haupt gefallen? Dann sind sie es auch werth, wenn ihre Kinder Verslein singen müssen, wie:

„Und was dort in der Ecken liegt
Und nach dem Kindlein schaut vergnügt,
Ein Oechslein und ein Eselein:
Das mögen gute Thierlein sein.“

M. P. in E. Ein Wort für die Frauenemancipation, und noch dazu in Versen? Nein, das ist doch des Guten zu viel auf Einmal.

A. K. Nein. Was haben Sie uns aber denn schon früher geschickt, das Aufnahme gefunden haben soll? Wir bitten um Antwort.

J. H. in Neapel. Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit; doch der Abdruck ist uns wegen Mangel an Raum nicht möglich.

A. A. in F. Was Sie Alles zum Besten unserer „zukünftigen Landwehrfrauen“ vorhaben, ist ganz schön. Uns indessen entschuldigen Sie; wir haben noch genug mit den „gegenwärtigen“ zu thun.

C. G. in T. bei Haßfurt. Wir bitten über das Manuscript zu verfügen.

E. M. bei H–dt. Ihr Geschichtchen vom „Tractatverein“ ist pikant genug, aber doch nicht verwenden.

F. v. E. in New-York. Wir danken.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.