Pulver und Gold

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Autor: Levin Schücking
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Titel: Pulver und Gold
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aus: Die Gartenlaube, Heft 1–8, S. 1–4, 21–24, 37–40, 57–60, 73–76, 89–92, 105–108, 130–132
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[1]

Pulver und Gold.

Den Mittheilungen eines Officiers nacherzählt von Levin Schücking.


Wir hielten auf einem Höhenzuge, den die vortrefflich gebaute und wohlerhaltene Chaussee – um die Obstbäume rechts und links waren sogar kleine runde Resedabeete angelegt – überstieg, um sich vor uns in ein weites muldenförmiges Thal niederzusenken. Eine weite, farbenreiche, aber wie träumend und weltentrückt daliegende Landschaft! Grüne Fluren, die Dächer der Dörfer in Grün gehüllt, grüne Waldstrecken, hier und da das Gewässer eines Flusses, der sich durch den fernen Grund schlängelte; jenseits desselben Aecker und Weinberge und leise anschwellende Hügel, über die dunkelviolette Tinten ausgegossen lagen, und, in hellere Bläue gekleidet, Bergzüge dahinter, über denen der Abendhimmel rosigen Schimmer breitete. Und über dem Allen Todtenstille! Wenn ich in eine solche mir fremde, im Abendsonnenlichte daliegende Landschaft blicke, hat sie für mich stets etwas Urweltliches, noch von Menschen nicht Berührtes, Unentdecktes, was mich in allerlei Träumereien versenkt. Es ist eben die überwältigende Macht des Eindrucks der Natur, der uns die Menschen in solch weiter großer Welt, und was darin geschehen, die „Geschichte“, vergessen läßt.

Zu solchen Träumereien hatte ich freilich jetzt sehr wenig Ruhe und Muße. In die still und abendlich da vor uns ausgebreitete Natur brachten wir eben Geschichte genug; in die friedliche Schlummerstimmung, in welcher das Gelände müde vor uns lag, brachten wir den Krieg, den hellen wachen Krieg; in die menschenleere stumme Umgebung unserer Straße schnaubten unsere Rosse hinein, es klirrten die Kinnketten und die Bügel, es klapperten die Säbelscheiden an den Flanken unserer Pferde, deren Hufe das Pflaster schlugen; über uns aber im Abendwinde flatterten die schwarzweißen Fähnlein unserer Lanzen.

Wir waren unser ein Dutzend. Ich, damals noch Vice-Wachtmeister, hatte sie zu führen … lauter frische und rüstige, heute bei dem schönen Herbstwetter fast muthwillige Reitersknechte, die sich nicht anfechten ließen, daß, während die Schwadronen, zu denen wir gehörten, im letzten, eine halbe Meile hinter uns liegenden Städtchen ruhig sich einquartiert hatten, wir noch eine tüchtige Strecke weiter reiten mußten.

Wir sollten, so lautete unsere Ordre, Chateau Giron besetzen; es lief da eine steinerne Brücke über den Fluß, und jenseits der Brücke kreuzte sich die Chaussee, auf welcher wir daher geritten kamen, mit einer anderen, die von Lure, den obern Oignon entlang in der Richtung nach Befangen lief, während unsere Chaussee geradezu auf Mömpelgard führte. Chateau Giron also war zur Bewachung des Ueberganges über den kleinen Fluß und des Kreuzungspunktes der Straßen jenseits ein nicht unwichtiger Punkt. Ich hatte Befehl erhalten, da Posto zu fassen, und von dort aus Recognoscirungspatrouillen auf das jenseitige Oignonufer auszusenden, während sich in unserm Rücken unsere Heermassen über Besoul auf Gray und auf Besançon vorschoben. Unser Rückhalt lag hinter uns in dem Städtchen Noroy, auf das wir uns zurückzuziehen hatten, wenn wir von Franctireurbanden in überlegener Stärke angegriffen worden wären.

Daß die Gegend nicht frei von diesen Banden war, sollten wir noch ein diesem Abende wahrnehmen. Als wir etwa eine Viertelstunde weiter getrabt waren, sahen wir plötzlich, auf einer neuen Bodenerhebung angekommen, unter uns in der Tiefe des Thalgrundes einem Trupp dieser blaubekittelten Miliz … sie waren zu fern, um sie an ihrer primitiven Uniform zu erkennen, aber die Läufe ihrer Flinten blitzen in den letzten Strahlen der Sonne, wie sie in großer Hast durch eine Allee dahineilten, welche von der Chaussee rechtsab auf ein stattliches herrschaftliches Gebäude zuführte. Sie umgaben einen mit einem Tuche überspannten Karren, der von zwei voreinander gespannten Pferden gezogen wurde … wir konnten wahrnehmen, wie sie in hastiger Flucht auf die Pferde einhieben, um sie im Laufen zu erhalten. Es mochten ihrer zehn oder ein Dutzend sein – ein Reiter führte sie, in welchem einer unserer Ulanen, der sich eines Perspectivs erfreute, einen Gensd’armen erkennen wollte.

Der Karren, den sie führten, mußte, so schlossen wir aus ihrer Eile, ihn in Sicherheit zu bringen, Verwundete enthalten – vielleicht auch flüchtige Weiber und Kinder aus der Nachbarschaft, die, beim Anblick unserer Lanzenfähnlein von Schrecken ergriffen, sich vor uns deutschen Barbaren in Sicherheit bringen wollten.

Zwischen den Vorgebäuden des Edelhofes verschwand der ganze Haufe.

Es mußte Chateau Giron sein, dieser Edelhof, just der, den wir besetzen sollten. Wenn die flüchtige Bande sich da hineinwarf und es vertheidigte, so hatten wir die Aussicht auf ein kleines Gefecht, bevor wir und unsere Thiere zur Ruhe kamen. Doch war es nicht wahrscheinlich, daß sie den gefürchteten Ulanen die Stirn bieten würden. Ihre Flucht da unten durch die Allee deutete auf panischen Schrecken.

Wir setzten also ruhig unsern Marsch fort, erreichten die Allee und bogen in sie ein. Ich sandte zwei Eclaireurs vorauf. Sie kamen, nachdem sie den Schloßhof überblickt, mit der Meldung zurück, daß sich kein Feind dort mehr sehen lasse, und Alles sicher [2] scheine. Unser Schwarm hielt bald vor dem eisernen Gitterthor des Schlosses; ein äußerst verdrossen ausschauender Mann in blauem Kittel öffnete es; jenseits eines Rasens, der den Schloßhof ausfüllte, erhob sich das Herrenhaus. Auf dem Treppenperron stand eine Gruppe von Leuten, die unser Nahen neugierig beobachteten. Ich nahm eine Dame von hoher schlanker Gestalt und einen Geistlichen darunter wahr.

Zur Rechten des Hofes, in der Ecke, wo eine niedrige Mauer mit einem Gitterthörchen das Herrenhaus mit einem der vorspringenden Nebenhäuser verband, stand ein Karren, der ganz so aussah, als müsse es der sein, den wir inmittten der flüchtigen Franctireurs wahrgenommen. Von den Letzteren war nichts mehr zu gewahren.

Ich ritt vor, der Schloßtreppe zu; der Geistliche, ein Mann in noch jungen Jahren, mit scharfen Zügen und bleichem Teint, und jenem unterschlächtigen Blicke der dunklen Augen, welcher eher vor Vertrauen warnt, als dazu ermuthigt, stieg die Treppenstufen herab, mir entgegen. Zugleich sah ich die Dame bei unserer Annäherung sich wenden und in das Innere des Gebäudes zurückgehen; doch hatte ihre Bewegung nichts Fluchtähnliches; sie ging so ruhig die paar Schritte über den breiten Perron und in das offenstehende Portal hinein, als ob es sich bei der Verhandlung mit uns um ein Alltägliches handle, das sie den Leuten überlassen könne.

„Was ist des Herrn Begehren?“ sagte der Geistliche, auf der untersten Treppenstufe stehen bleibend, in gutem, nur vom elsässer Dialect gefärbtem Deutsch.

„Der Krieg, ehrwürdiger Herr,“ versetzte ich, aus dem Sattel springend, „bringt unterschiedene Gäste: zwölf Rosse, zwölf Reiter; ich selbst bin der verhängnißvolle dreizehnte; für die Rosse begehren wir Futter und Stall, für die Reiter Kost und Quartier; auf wie lange, das wissen wir nicht; hoffentlich lange genug, um Ihnen den Beweis zu geben, wie liebenswürdige und anspruchlose Leute wir sind, wenn man uns liebenswürdig und freundlich entgegenkommt.“

Die Gesichtszüge des Geistlichen hatten sich während dieser Mittheilung verlängert, und waren womöglich noch bleicher geworden. Auch sah ich, daß die Gruppe von Leuten, dem Aeußern nach Domestiken, auf dem Perron über mir in eine gewisse Bewegung gerieth – sie flüsterten wie erschrocken zusammen. Es mußten also mehrere unter ihnen sein, die Deutsch verstanden.

„Sie wollen sich hier einquartieren, auf mehrere Tage?“ fragte der Geistliche, viel weniger laut, als er anfangs gesprochen.

„Sie brauchen nicht darüber zu erschrecken,“ versetzte ich, „es sei denn, Sie hätten den Haufen Franctireurs, den wir vorhin wahrnahmen, hier im Hause verborgen. Es würde alsdann unserer Einquartierung eine kleine Störung des Hausfriedens vorhergehen müssen, den wir sonst in keiner Weise zu unterbrechen gedenken.“

„O nein, mein Herr,“ fiel der Geistliche ein, „diese Leute haben sich vor Ihnen geflüchtet; sie sind durch unsere Gärten gelaufen, um auf das andere Ufer des Oignon zu kommen, vielleicht haben sie zu ihrem bessern Schutze sogar die Brücke unzugänglich gemacht.“

„So, so,“ sagte ich, den Herrn ‚Curé‘ fixirend. „Seltsam, daß sie alsdann nicht geradeaus der Chaussee folgend über diese Brücke geeilt sind, sondern den bedeutenden Umweg rechts ab über diesen Hof, dieses ‚Schloß‘ gewählt haben!“

Der Geistliche zuckte mit den Schultern.

„Was hatten sie in jenem Karren geborgen?“

„Ihre Tornister, ihre Munition …“

„Und das haben sie hierher in Sicherheit gebracht?“

„Nur den Karren. Sie hatten den Karren mit zwei Pferden gestern Morgen hier requirirt und haben ihn hierher wieder abgeliefert; den Inhalt haben sie unter sich vertheilt und mit sich genommen.“

„Ihre Franctireurs sind außerordentlich ehrliche Leute,“ sagte ich; „auf eiliger Flucht vor uns scheuen sie doch den Umweg nicht, das requirirte Gefährt seinem Eigenthümer zurückzustellen; und sie senden nicht etwa den Fuhrknecht damit heim, sondern begleiten ihn selbst zu größerer Sicherheit, bis sie ihn richtig an seiner Stelle sehen …“

„Daß sie den Umweg machten, scheint mir doch natürlich,“ entgegnete der Geistliche; „auf der Chaussee wären sie bald von Ihnen eingeholt worden; durch unsere Gärten und Gehölze dahinter laufend waren sie sicher, von Reitern nicht verfolgt werden zu können!“

Diese Bemerkung war richtig. Es ließ sich Nichts darauf erwidern. Meine Cameraden, die längst abgesessen waren und unter das Linnendach des Karrens geblickt hatten, bestätigten, daß er entladen sei, es lagen noch ein paar alte einläufige Flinten mit Steinschlössern, ein paar Pferdedecken und die Ueberreste von Brod und Käse, alte Zeitungen, eine Feldflasche von der großen, mit grünem Tuche überzogenen Art und ein rothes Militärkäppi darauf.

Das waren nun freilich keine Beutestücke, um sich weiter darum zu kümmern, und wir wandten uns den Ställen zu; sie lagen in dem niedrigen Gebäude rechts, und über ihnen in einem Kniestock vier oder fünf Kammern für Knechte oder Gesinde; der Mann, welcher uns das Thor geöffnet, zeigte sie uns, und nachdem wir die Ackerpferde unten entfernen lassen und die unseren untergebracht, nahmen wir Besitz davon – es war eine vortreffliche kleine Caserne, in der wir Quartier gefunden, ein Alarmquartier, wie wir es wünschen mußten; die Thiere unten, die Mannschaft darüber, und Alles dicht beieinander. Für mich selbst und den ehrlichen Kriegsgefährten, den der Officier seinen Burschen, der Unterofficier und Freiwillige seinen „Putzcameraden“ nennt, bat ich, ein besseres Quartier im Herrenhause auswählen zu dürfen, und fand gleich beim Eintritt in das Haus ein im ersten Stock über den Souterrains liegendes, sehr schön und reich möblirtes Empfangszimmer, hinter dem ein Fremdenzimmer mit einem großen Himmelbette lag; in einer Garderobe, die daran stieß, ließ ich meinen Cameraden sich einlogiren, um ihn in meiner Nähe zu halten. Dem geistlichen Herrn, der mich führte, schien diese Wahl sehr störend – vielleicht fand er es sehr anmaßend, daß ich sie ohne Weiteres occupirte; aber ich achtete nicht darauf und machte ihn mit Dem bekannt, was uns als Verpflegung zukomme.

Eine Stunde später wurde uns denn auch in dem großen Gesindezimmer neben der Küche ein gutes und reichliches Nachtessen aufgetragen. Der Knecht bediente uns, der weibliche Theil der Dienerschaft ließ sich nicht blicken; als wir fast zu Ende waren und, nachdem der geschärfte Appetit gestillt, die Ermüdung unserer Glieder von dem langen scharfen Ritt doppelt zu empfinden begannen, trat noch der Geistliche ein; er kam zu mir, verbeugte sich und fragte mit einer sanften und wohllautenden Stimme, ob wir zufrieden seien oder noch Wünsche hätten. Dabei holte er einen Stuhl herbei, den er neben dem meinen an’s obere Ende des Tisches stellte, wie um eine längere Unterhaltung zu beginnen.

„Wir sind immer zufrieden, ehrwürdiger Herr,“ versetzte ich, „wo wir mit der Freundlichkeit aufgenommen werden, welche Sie durch diese Frage an den Tag legen – darf ich Ihnen von unserem Weine einschenken?“

Der Geistliche bat darum, ein Cigarre, welche ich ihm bot, lehnte er ab.

„Sie sind Ulanen?“ sagte er, einen forschenden Blick über die meist blonden und treuherzigen deutschen Physiognomien meiner zwölf Tischgenossen streifen lassend.

„Sie sehen es an unserer Ausrüstung.“

„Ich habe nie sicher erfahren können, aus welcher Gegend Deutschlands,“ fuhr er fort, „die Ulanen stammen – und,“ setzte er wie zögernd hinzu, „welcher Confession sie sind!“

Ein schallendes Gelächter war die unmittelbare Antwort, die der geistliche Herr erhielt, obwohl ich Alles that, es zu unterdrücken, damit er sich nicht beleidigt fühle.

„Die Ulanen,“ fiel ein muthwilliger junger Freiwilliger ein, der vor Wochen erst in beschleunigtem Tempo sein Abiturienten-Examen gemacht hatte, um dann sofort in’s Heer einzutreten, – „die Ulanen sind ein verlorener Zweig der alten Hunnen, der sich in den Waldgebirgen des Harzes gehalten hat; als Attila 451 auf den catalaunischen Feldern geschlagen war, retteten diese unbändigen Wilden sich mit ihren Nationalgottheiten auf den Blocksberg, wohin alles Volk Galliens sie ja längst gewünscht hatte, und führten da ein tolles Reiterleben, immer im Sattel und auf dem Rücken ihrer Pferde, auf dem sie geboren werden, heirathen und sterben. Ein bewundernswürdiges Volk, sagt schon Tacitus in seiner Germania – groß durch seine rauhen Tugenden! Was aber ihre Confession angeht, so bedaure ich, Ihnen erröthend gestehen zu müssen, daß sie schon unter Kaiser Valens zum Arianismus [3] bekehrt wurden. Sie sind sammt und sonders Arianer, die, wie Sie ja wohl wissen werden, nicht ganz an die Göttlichkeit Jesu glauben.“

Diese Erklärung wurde mit dem trockensten Tone und der ernstesten Miene von der Welt vorgebracht, aber wieder mit schallendem Gelächter aufgenommen.

„Wenn,“ fuhr der Eulenspiegel in der Reiteruniform, ohne sich dadurch irre machen zu lassen, fort, „dieser Umstand, daß sie in ketzerischer Verstocktheit die Definitionen des Concils von Nicäa über das berühmte Homousios verwarfen, sie nicht Ihrer weiteren Theilnahme unwürdig erscheinen läßt, hochwürdiger Herr, so darf ich zu weiterer Aufklärung über diesen tapferen Volksstamm hinzufügen, daß derselbe unter seinen nationalen Eigenschaften einen wunderbaren Spürsinn besitzt, welcher seine einfache, mit einer glatten Eisenspitze und einem schwarzweißen Wimpel verfehlte Lanze zu einer ganz famosen Wünschelruthe macht, die aber nicht da, wo eine Wasserader sprudelt, sondern da, wo edles Rebenblut in tiefen Kellerverstecken verborgen ist, stehen bleibt! Meine Cameraden werden mir bezeugen, daß wir trotz unserer Ketzerei darin Wunder thun!“

„Farceur!“ murmelte der Geistliche, „Possenreißer!“ während die Uebrigen wieder auflachten.

„Nehmen Sie meinem Cameraden seine Scherze nicht übel,“ sagte ich; „wir treffen hier in Frankreich mitunter auf eine so merkwürdige Unkunde deutscher Verhältnisse, auf so seltsame Vorstellungen von unserem Lande, daß es natürlich ist, wenn wir Anfällen von Heiterkeit dabei nachgeben …“

„Es thut mir leid,“ sagte der Geistliche, „daß meine Frage über die Herkunft der Ulanen eine solche Unkunde verrieth, die die Lachlust der Herren reizte. Ich bin wenigstens belehrt, daß dieser Volksstamm neben seiner kriegerischen Tüchtigkeit eine ausgezeichnete Schulbildung besitzt – unsere Troupiers ist man nicht gewöhnt, von Attila, Arianismus, dem Kaiser Valens und dem Concil von Nicäa reden zu hören! Sind Ihre Cameraden alle so gelehrt?“

„Dafür kann ich nicht einstehen,“ antwortete ich lachend; „möglich immerhin, daß Einer oder der Andere von uns es noch bis zum Präsidenten einer gelehrten Akademie bringt. Nur mich muß ich bescheiden davon ausnehmen. Das Einzige, was ich in der Gelehrsamkeit geleistet, ist eine ziemlich mühsam zusammengeschriebene Doctordissertation!“

„Ah … Sie sind Doctor? Doctor – und … Unterofficier? Wie ist das möglich?“

„Er ist Doctor Juris, Unterofficier, Baron und Referendar,“ rief hier der „Possenreißer“ aus, „ein Mann vom Scheitel bis zur Sohle ganz das, was man die allgemeine Wehrpflicht heißt, oder auch den Kantischen kategorischen Imperativ, in seiner Beziehung zu Vaterland, König und Zündnadelcarabiner …“

Die übrigen elf Paladine meiner Tafelrunde verstanden natürlich von all diesem blühenden Unsinn wenig genug, was sie jedoch nicht hinderte, wieder laut aufzulachen. Ich sah an der Miene des Geistlichen, daß er mit sich schwankte, ob er sich länger zum Mittelpunkt dieser Heiterkeit hergeben solle oder besser thue, sich zurückzuziehen; da ich aber wünschte, daß er bleibe, um von ihm einiges Nähere über unsere Wirthe zu erfahren, so schnitt ich dem „Possenreißer“ rasch das Wort ab, indem ich mich an den Geistlichen mit der Frage wandte: „Sie sind der Hausgeistliche, der Erzieher vielleicht in diesem Hause?“

„Nehmen Sie an, ich wäre das Erstere,“ antwortete der Geistliche, „wenn Sie eine Erklärung wünschen, weshalb ich die Herrschaft vertrete …“

„Der Eigenthümer des Schlosses ist abwesend?“

„Er ist todt; Herr Kühn ist vor drei Jahren gestorben.“

„Er war ein Deutscher, der Herr Kühn?“

„Ein Elsasser; er hatte … wie nennen Sie das: des usines im Departement Oberrhein; Chateau Giron gehörte ursprünglich seiner Frau, die Französin ist.“

„Und sie lebt hier, diese Dame? Ich glaube sie bei unserer Ankunft auf dem Treppenperron wahrgenommen zu haben.“

„Sie irren,“ sagte der Geistliche. „Madame ist leidend, sie ist gelähmt und kaum im Stande, ihren Sessel zu verlassen. Das hat sie gezwungen, auch bei der Annäherung der deutschen Truppen in diesem unbeschützten Hause zu bleiben.“

„Sie hat sehr wohl daran gethan, finde ich nun; den besten Schutz, den sie finden konnte, wird sie in unserer Rücksichtnahme auf die Anwesenheit einer leidenden Dame im Hause finden.“

Der Geistliche antwortete mit einer kleinen Verbeugung.

„Und jene schlankgewachsene junge Dame, die ich sah?“

„Ist Mademoiselle Kühn, die hier bei ihrer Mutter zu deren Pflege geblieben ist.“

„Ah – das ist sehr brav –“

„Daß sie ihre Pflicht erfüllt?“

„Daß sie uns nicht fürchtet … aber freilich, wie sollte sie auch, da sie im Grunde doch eine Deutsche ist?“

„Ah,“ sagte lächelnd der Geistliche, „Mademoiselle Kühn würde das für kein Compliment halten. Sie fühlt sich sehr als Französin – sie ist in einem französischen Kloster erzogen und sehr begeistert für Frankreich, sehr erbittert gegen die Deutschen.“

„Und Sie,“ fiel ich ein, „der Sie deutsch reden, also auch wohl Deutschland ein wenig kennen, thun nichts, um Ihre Damen unparteiischer denken zu lassen?“

„Sollen Frauen unparteiisch denken?“

„Legen Sie den Ton dabei auf das ‚Unparteiisch‘ oder auf das ‚Denken‘?“

„Vielleicht,“ antwortete er an seinem Glase nippend, „auf beide Worte!“

„Also wie Lessing sagt: ‚Eine Frau, die denkt, ist so widerwärtig wie ein Mann, der sich schminkt.‘ Aber da in Frankreich die Männer, wenn nicht sich, doch all ihr Thun und Treiben sehr stark mit schönen Phrasen zu schminken pflegen, so könnten die Frauen auch beginnen, zu denken!“

„Was sollte das helfen?“ sagte er. „Sie werden immer so denken, wie ein persönliches Gefühl oder eine Erfahrung ihres Herzens es sie lehrt, und nichts wird sie davon abbringen und ‚unparteiisch‘ zu denken lehren.“

„Und lehrt Fräulein Kühn eine Erfahrung des Herzens, schlecht von den Deutschen zu denken?“

Sein Schweigen mochte mir andeuten sollen, daß das eine indiscrete Frage sei; ich fuhr um desto rascher fort: „Ich sehe, es bleibt also nichts übrig, als daß wir Deutschen hier, wenn wir lange genug bleiben sollten, selber Propaganda für uns und moralische Eroberungen machen!“

„Sie werden, wenn Sie auf letztere ausgehen, keine Enceinte und unüberwindliche Außenforts finden,“ sagte der Geistliche.

„Desto besser,“ fiel ich lachend ein, „denn dann kann hier unser Feldzug sich ganz in der Ruhe und Stille vollziehen, welche Sie für Ihre kranke Dame wünschen müssen. Sind Sie überzeugt, daß Ihre Franctireurs die Ruhe nicht unterbrechen werden, vielleicht nicht diese Nacht schon? Ihre Sympathien werden auf Seite dieser Leute sein, aber Sie werden selber nicht wünschen, daß dies Haus der Schauplatz eines Ueberfalls und eines Kampfes werde. … würden wir von einer Uebermacht hier überrascht und niedergehauen, so würden die Unsrigen bald da sein, um uns zu rächen, und die nächsten verderblichen Folgen würden Chateau Giron treffen – es würde zerstört, dem Erdboden gleich gemacht werden, man würde die Bewohner …“

„Seien Sie darüber beruhigt,“ fiel der Geistliche, mich mit offenbar sehr erschrockener Miene ansehend, ein. „Wir glauben nicht, daß Franctireurs in der Nähe sind; sollten solche auftauchen, so würde es nicht geschehen können, ohne daß wir von ihrer Annäherung erführen, und dann würden wir es als eine Pflicht gegen Sie, unsere Gäste, betrachten, Sie zu warnen.“

„Nun, mehr verlange ich nicht,“ versetzte ich, dem Geistlichen der aufgestanden war, sich zu empfehlen, die Hand reichend.

Er nahm sie und verabschiedete sich mit einer Verbeugung gegen die Söhne des Ulanenstammes, die während meiner Unterredung mit ihm sich untereinander laut und lärmend unterhalten hatten.

„Sie haben ja eine große Freundschaft mit diesem verdächtigen Schwarzen geschlossen, Herr Bernold,“ sagte einer der Ulanen. „Ich würde dem Gesicht nicht über den Weg trauen!“

„Das ist die alte Wahlverwandtschaft zwischen den Heiligen und den Rittern!“ rief der beredte Abiturient aus. „Der Junker braucht den Pfaffen wie der Schäfer den Hund!“

„Wenn Sie sich in ungehörigen Redensarten ergehen wider Ihren Chef und Commandoführer, lieber Glauroth, so lasse ich Sie die Nacht hindurch zur Strafe in dem Karren schlafen, den die Franctireurs zurückgelassen haben. Vorläufig können Sie mich [4] auf einer Streifpartie begleiten, die ich nach dem Flusse hinab machen will, bevor ich mich zur Ruhe begebe … Ihr Andern könnt Euch legen; aber vergeßt nicht, nach den Pferden zu sehen; sie werden ihr Futter verzehrt haben und müssen getränkt werden.“

Ich ging, und während die Anderen lässiger aufbrachen, folgte mir Glauroth, der beredte Jüngling. Draußen schien der Mond auf Schloß und Hof und Gärten. Diesen letzteren wandte ich mich zu. Da sie hinter dem Schlosse nach der Flußseite hinaus lagen, wollte ich durch sie hinabwandeln, um das Flußufer zu erreichen und zu sehen, ob eine Fähre oder eine Laufbrücke unsere Franctireurs dort bei ihrer Flucht auf das andere Ufer und in das Bergland da drüben aufgenommen habe; war das nicht der Fall, so konnten sie sich immer noch in unserer Nähe versteckt halten und wir mußten dann trotz der Versicherungen des Hausgeistlichen auf unserer Hut sein.

Die Gartenanlagen, die wir betraten, waren schön und, so viel das Mondlicht erkennen ließ, außerordentlich wohlgepflegt. Eine breite Terrasse, dann ein tiefer liegender Grund mit Bassins, Springbrunnen und wasserspeienden Tritonen und Nereiden oder was diese kalt vom Mondlicht übergossenen nackten Figuren darstellten; umher große Blumenbeete in üppiger Fülle; dann Gänge, von niedrigen Spalieren oder sauber geschorenen Hecken eingefaßt; rechts lag das blaue Himmelslicht schillernd auf dem langen Glasdach eines Warmhauses, links zog sich ein ähnliches Gebäude, in dunklem Schatten daliegend, hin.

Wir waren in halblautem Gespräch zwischen zwei langen, etwa vier Fuß hohen Taxushecken hinabgeschritten, die in ein Gehölz führten, durch das sich eine Allee unter dunklen, ihre Aeste zusammenstreckenden Wipfeln vor uns dahinzog. Glauroth blieb plötzlich stehen – wie lauschend.

„Was haben Sie?“ fragte ich.

„Pst,“ flüsterte er zurück, „ich hörte ein Knicken, wie wenn man ein Gewehr spannt.“

„Ah … in welcher Richtung?“

Er trat rasch seitwärts, war im Augenblick neben der Hecke rechts und beugte sich mit dem Oberkörper hinüber.

„He da! … schauen Sie einmal her, Bernold!“ rief er dabei aus.

Ich war bereits neben ihm; ein Mann, der da niedergeduckt gesessen haben mußte, erhob sich just, von Glauroth am Kragen gefaßt. Es war ein Mann in einer Blouse, ein Knecht, wie es schien; er war unbewaffnet. Eine kurze Tabakspfeife, die er in der Hand hielt, war die einzige Waffe, die er führte.

„Was seid Ihr? Was treibt Ihr hier? Weshalb verkriecht Ihr Euch hier?“ rief ich ihn auf französisch an.

Er stammelte Worte zurück, die ich nicht verstand; aber ich glaubte ihn zu erkennen während dessen. Es war derselbe mürrisch aussehende Mensch, der uns mit so verbissener und widerwilliger Miene heute das Gitterthor geöffnet hatte.

„Wo ist Eure Waffe? Ihr habt den Hahn einer Flinte gespannt!“

„Pardon, Monsieur, ich habe nicht daran gedacht, denn ich habe keine Flinte!“ rief er jetzt, seine Pfeife erhebend. „Ich habe nur das gethan!“ setzte er, mit dem Daumen den Deckel aufmachend und dann wieder niederklappend, hinzu.

„Es ist dasselbe Geräusch!“ sagte mein junger Camerad.

„Es war sehr dumm von mir,“ fuhr der Knecht verdrossen fort; „ich dachte nur, daß das Feuer meiner Pfeife, die ich eben angezündet hatte, durch die Hecke schimmern könne, und darum schloß ich rasch den Deckel.“ …

„Aber weshalb haltet Ihr da Wache, und duckt Euch bei unserem Kommen so ängstlich nieder?“

„Ich laure auf Marder, die uns das Obst stehlen!“ sagte er. „Ich bin nicht ängstlich vor den Herren,“ fügte er mürrisch hinzu, „ich hatte mich gesetzt, weil ich müde war. Wenn ich nicht wollte, daß Sie mich wahrnehmen sollten, so war’s natürlich. Ich hatte kein Verlangen nach dem Verhör, das Sie jetzt eben mit mir anstellen – hier in unserem eigenen Garten!“

[21] Ich verdolmetschte diese Antworten meinem Cameraden Glauroth, der in seinen Classen so viel Französisch gelernt, um es zu verstehen, wenn er es in einem Buche deutlich gedruckt vor sich hatte, nicht aber, wenn es ein lebendiger Mund vor ihm sprach. Er war, wie ich, der Ansicht, daß der Mensch schwerlich um der Marder willen da verborgen war; an einem Tage, wie der heutige für die Schloßbewohner gewesen, dachten sie wohl nicht daran, daß ein paar Apricosen oder Birnen von ihren Spalieren verschwinden könnten.

„Ihr habt auf Franctireurs gewartet,“ sagte ich, „und wolltet ihnen den Weg in’s Schloß zeigen, um uns überfallen zu können!“

Er sah mich mit einem feindlichen, höchst tückischen Blick unter den buschigen grauen Brauen her an und sagte: „Sie irren, Monsieur – die Franctireurs sind verdammtes Gesindel, mit denen wir nichts zu schaffen haben, Wenn Sie gekommen wären, wahrhaftig,“ er wandte seinen Kopf rasch ab, dem Eingang der Allee zu, und fuhr fort mit einer Stimme, die plötzlich dreimal lauter war, als bisher – aber wieder zu mir gewandt: „Wahrhaftig, gare à vous, reculez, en arrière, allez-vous en! würde ich Ihnen zugerufen haben, die Preußen sind hier!“

„Und weshalb schreist Du das jetzt so laut, Spitzbube?“ rief Glauroth ihn an der Jacke erfassend aus.

Ich hatte das Gesicht nach derselben Richtung gewendet, wohin hin der Mensch soeben geblickt, nach dem Eingange der Allee – und täuschte ich mich oder war es Wirklichkeit? ich glaubte eine dunkle Gestalt wahrzunehmen, die sich dort aus dem Schattendunkel heranbewegte – und im nächsten Augenblick zurückfliehend in demselben verschwunden war.

„Nehmen wir den Menschen zwischen uns; er soll uns folgen und uns durch die Allee zum Flusse führen,“ sagte Glauroth.

Ich war einverstanden.

„Also vorwärts,“ rief ich unserem Gefangenen zu, „geht mit uns bis zum Flusse hinab!“

„Ich werde mich hüten,“ versetzte er mürrisch; „ich … ich habe nichts im Gehölze zu thun und will schlafen gehen!“

„Ihr geht mit uns, wie wir’s Euch befehlen …“

„Und wenn ich nicht will?!“

„Es ist offenbar, daß er seinen Wachposten hier nicht verlassen will!“ rief mein Camerad. „Es wäre gut, wenn wir …“

„Still!“ sagte ich, mich wendend, weil ich Schritte vernahm – ich sah dieselbe Gestalt, welche vorhin in’s Dunkel zurückgetreten war, herankommen; es waren leichte Schritte, die auf dem Kiesboden knirschten, begleitet von dem Rauschen von Seide, und das Nahen einer Dame ankündigten – in der That, eine junge Dame trat rasch aus der Schattenregion in das helle Mondlicht.

Wir Beide starrten sie überrascht an, diese schlanke elegante Gestalt mit, wie es schien, feinen und edeln Zügen – deutlich erkennen konnten wir nur das schöne Oval des Gesichts, um das sie ein schwarzes Spitzentuch – geknüpft trug; auch ihr Kleid war schwarz, der Mondschein rieselte hell an den Falten desselben nieder.

Sie hatte beim Herankommen den rechten Arm ein wenig erhoben, wie eine Bewegung der Beschwichtigung machend, und in langsamem, französisch accentuirtem Deutsch sagte sie:

„Lassen Sie den Mann, lassen Sie ihn … es ist unser Gärtner … was verlangen Sie von ihm?“

Die Worte waren mit einer gewissen Betonung von Entrüstung ausgesprochen.

„Verzeihung, Mademoiselle,“ sagte ich, mich verbeugend, „wir fanden ihn in einer Weise, die uns Verdacht einflößen mußte, wenigstens verbarg er sich vor uns und weigerte sich, uns zu führen.“

„Beides war sehr natürlich,“ fiel sie mit einer mich eigenthümlich berührenden metallhellen und doch weichen Stimme ein, die ein wenig wie von einer Aufregung vibrirte, „ich hatte ihm befohlen, dort zu bleiben – ich wollte, während ich im Garten spazieren ging, ihn zu meinem Schutze da wissen.“

„Dann,“ versetzte ich, „müssen wir abermals um Verzeihung wegen dieser Störung bitten; wir konnten das nicht ahnen – es that uns in der That leid, Sie hier, in Ihren Gartenanlagen – denn ich darf voraussetzen, daß ich mit der Herrin dieser schönen Besitzung rede – belästigt zu haben –“

„O, Sie verzeihen uns das gewiß,“ fiel hier der unausstehliche Glauroth mit seiner Suada ein, „Sie selbst haben sich ja von dieser schönen Mondscheinnacht herauslocken lassen – wir dürfen deshalb hoffen, daß Sie Nachsicht mit der deutschen Sentimentalität haben, die sich unwiderstehlich hinausgezogen fühlte in diese thauige und blumendufterfüllte Mondscheinnacht, in welcher wir wohl erwarten konnten, der Elfenkönigin, nicht aber der …“

Ich fühlte, daß er im Begriff stand ein tactloses Compliment vorzubringen, und darum unterbrach ich ihn rasch: „Und als ein Zeichen Ihrer Verzeihung würden wir es betrachten, Fräulein, [22] wenn Sie uns gestatteten, Sie durch den Garten zu Ihrem Schlosse heimzugeleiten.“

Es war jedenfalls ein wenig zudringlich, auch antwortete die junge Dame nicht darauf; doch wandte sie sich zum Gehen und darin lag denn freilich eine Art Erlaubniß, sie zu begleiten.

„Sie reden von deutscher Sentimentalität,“ sagte sie dabei, „während Sie uns den Krieg und alle seine Schrecken bringen – jetzt, wo der Krieg gar keinen Zweck mehr hat. Ist das deutsches Gemüth?“

Sie sprach das Wort mit einer unendlich bittern, spöttischen Betonung, die mich sehr lebhaft erwidern ließ: „Gewiß, Fräulein; nie war ein Krieg mehr eine Gemüthssache, als just der, den wir mit Frankreich führen. Ist die brausende Begeisterung, mit der sich ganz Deutschland in diesen Krieg gestürzt hat, nicht eine Sache des Gemüths? Ist das stürmische Verlangen jedes deutschen Mannes, die alten geraubten Reichslande mit dem tüchtigen deutschen Bruderstamme, dem reinen deutschen Blute darin, wiederzuerobern, sie zu ihrem Mutterlande zurückzuführen, nicht Sache des Gemüths?“

„Und ist es nicht äußerst gemüthlich,“ unterbrach mich Glauroth, „in dieser mondbeglänzten Zaubernacht, in dieser uns fremden Welt, an der Seite einer schönen jungen Dame durch abendliche Gärten zu wandeln?

‚In dem abendlichen Garten
Wandelt des Alcaden Tochter …‘“

Sie wandte sich mit einer ausdrucksvollen, für ihn nicht sehr schmeichelhaften Kopfbewegung von ihm ab und sagte zu mir gewendet: „Sie wollen erobern, das ist’s! Ein civilisirtes Volk will nie erobern. Aus Deutschland sind immer die Eroberer gekommen – die Hunnen, die Gothen, die Franken –“

„Die Ulanen!“ fiel der Primaner lächelnd ein, „das uncivilisirteste Volk von ihnen allen!“

„Und Frankreich,“ fuhr sie, ohne auf ihn zu hören, fort, „hat immer die traurige Aufgabe gehabt, sich dieser eroberungssüchtigen Nation zu erwehren, und sein bestes Herzblut dabei vergossen. Es ist kein Jahrhundert in unserer Geschichte, in welchem wir Frieden gehabt und nicht zu schweren Kriegen gegen Deutschland gezwungen gewesen wären. Welche Zeit wäre für die Welt die Ludwig’s des Vierzehnten gewesen, wenn er sich nicht in den Kriegen mit Deutschland in seiner besten Kraft, in seinen hochfliegendsten Plänen gelähmt gesehen! Doch ich kann nicht voraussetzen, daß Sie die Geschichte Frankreichs kennen, um …“

„Ihnen folgen zu können, Fräulein? In diese Anschauung freilich nicht; die Idee, den armen Ludwig den Vierzehnten bedauern zu sollen, weil er genöthigt war, dem unruhigen eroberungssüchtigen deutschen Nachbar die Pfalz zu verheeren, die herrlichen Rheinlande zu verwüsten, unsere Schlösser und Dome niederzubrennen, uns die alte Reichsstadt Straßburg fortzunehmen – in diese Idee kann ich Ihnen nicht folgen. Bedauern Sie auch den armen Cardinal Richelieu, daß er in Deutschland den unseligen dreißigjährigen Bürgerkrieg schüren und hetzen mußte?“

„O sicherlich – er that es mit schwerem Herzen; daß er kein Freund der Protestanten, hat er bei La Rochelle gezeigt, er hat sie da schwer genug getroffen; wie schmerzlich und hart mußte es für ihn, den Mann der Kirche sein, durch die Politik, durch die ewige Drohung, welche Deutschland für uns enthielt, gezwungen zu sein, die Ketzer dort zu unterstützen! Ja, mein Herr, ich bedaure den Cardinal Richelieu, der groß genug war, eine Schuld gegen sein religiöses Gewissen auf sich zu nehmen, um seines Vaterlandes willen!“

Mein Begleiter brach hier in ein leises Lachen aus. „Es scheint,“ sagte er, „die Geschichte wird in Frankreich nach ganz eigenthümlichen Heften gelesen.“

„Möglich,“ fiel ich ein, „daß man die Geschichte überall wie ein Advocaten-Plaidoyer für die eigene Sache vorträgt. … ‚Die Weltgeschichte ist das Weltgericht‘ soll vielleicht heißen: sie ist das große Tribunal, vor welchem die Advocaten der Völker, die Geschichtsschreiber ihre Vorträge für ihre Parteien halten. Der eigentliche Richter ist die Zeit!“

„Wir sind am Hause angekommen,“ unterbrach die junge Dame unsere gelehrte Unterhaltung. „Ich danke Ihnen, meine Herren!“ Sie machte eine kurze Verbeugung und ging rasch über die Terrasse davon, um in einer, wie es schien, nur angelehnt stehenden Seitenthür zu ebener Erde zu verschwinden.

„Wahrhaftig,“ sagte Glauroth ihr nachblickend, „das scheint ein reizendes Fräulein, und unsere Begegnung mit ihr im Mondschein wäre ein hübsches Abenteuer, wenn sie nicht leider ein vollkommener Blaustrumpf wäre!“

„Woraus schließen Sie das? Aus einigen höchst paradoxen Vorstellungen von französischer Geschichte?“

„Ich bitte Sie, eine Französin, die von der Politik Richelieu’s und Ludwig’s des Vierzehnten zu sprechen weiß!“

„Vielleicht hat sie es in Alexander Dumas‚Siècle de Louis quatorze‘[WS 1] gelesen.“

„Möglich freilich – nach solch einer zuverlässigen und gründlichen Quelle schmeckte es allerdings! Jedenfalls war es amüsant, die Dinge einmal so vollständig auf den Kopf gestellt zu sehen!“

„Amüsant? Mich hat es tief verstimmt; innerlich empört und zugleich traurig gemacht.“

„Ah – solcher Unsinn, solche durch und durch lächerliche Auffassungen?“

„Ich finde nichts Lächerliches daran. Ein Unrecht, das man durchaus keine Hoffnung hat gesühnt zu sehen, ein Irrthum, den es keine Möglichkeit giebt zu widerlegen, versetzt mich immer in ein Gefühl von schmerzlicher Ohnmacht, das ich nicht verwinden kann. Und dann: kommt es auf die ursprünglichen Thatsachen und die Wahrheit denn eigentlich an? In welchem Sinne, aus welchen Gründen, mit welchem Rechte Ludwig der Vierzehnte seine unheilvollen Kriege wider uns führte, das sind abgethane, zweihundert Jahre weit hinter uns liegende Dinge. Ob seine Motive gut oder abscheulich waren, was verschlägt es der Welt von heute? Die heute geltende Auffassung, die Deutung der alten Thatsachen ist das Wichtige, das Praktische dabei; wenn die Franzosen so denken wie dies Fräulein, so müssen sie in uns den Erbfeind sehen, wie wir nach unserer Auslegung der Thatsachen in ihnen den Erbfeind sehen; und wie sollen dann je zwei edle Nationen Europas wieder zu wahrhaftem Frieden kommen?“

„Ich sehe, die Aeußerungen dieses Fräuleins – Kühn nannte sie ja wohl der Geistliche? – haben Ihnen fürchterlich viel zu denken gegeben! Kommen Sie – soll die Streiterei zum Flusse hinab noch gemacht werden, oder wollen wir, was ich meinerseits vorzöge, uns der Wonne hingeben, uns einmal wieder in einem guten, warmen Bette ausstrecken zu können?“

„Ich glaube,“ sagte ich, „wir dürfen das ohne Gefahr. Wenn das Fräulein sich einer einsamen Streiferei durch das Gehölz hingeben konnte, so muß sie Gründe haben, einen Ueberfall von unseren Feinden für nicht denkbar zu halten.“

Ich ging mit ihm in den Nebenbau, um noch einmal nachzusehen, wie Pferde und Leute dort untergebracht seien, und kehrte dann zum Herrenhause zurück, wo mich in meinem Quartier mein Bursche erwartete. Ich hieß ihm seine Waffen zur Hand halten und sich im Uebrigen ruhig des gesunden Schlummers zu erfreuen, der ihn erwartete.

Mir kam der Schlummer für eine ganze Weile nicht. Ich hörte immer noch das eigenthümliche wohlklingende Organ des Fräuleins an meinem Ohre vibriren, und ich konnte die seltsame Gewißheit nicht überwinden, in welche mich das, was sie gesprochen, versetzt hatte. Ich dachte an das, was ihr von Klein auf von Leuten wie dieser Geistliche, der doch wohl großen Theil an ihrer Erziehung gehabt, und von klösterlichen Lehrerinnen eingeflößt sei, um ihre Ansichten zu bestimmen. Welche Meinungen die Priesterschaft von uns hatte und verbreitete und wie sie wider uns hetzte, wußten wir ja! Aber das nahm mir, wenn ich so sagen soll, den Stachel nicht, den das junge Mädchen mit seiner hochmüthigen Weise mir in’s Herz gedrückt. Es war vielleicht nur eine miserable jugendliche Eitelkeit, die es nicht überwinden konnte, von einem so hübschen, unter so romantischen Verhältnissen uns begegnenden Mädchen maltraitirt worden zu sein!

Die Nacht verging ziemlich ruhig. Nachdem ich am andern Tage meinen Dienstobliegenheiten genügt, die Rückkehr einer kleinen Streifpatrouille abgewartet, die Glauroth als Gefreiter mit zwei Mann ausgeführt, und vernommen hatte, daß der Oignonfluß hinter Chateau Giron keine Fähre oder prakticable Fuhrt zu besitzen scheine, daß nach den eingezogenen Erkundigungen die Franctireurs von gestern sich den Fluß abwärts nach der Richtung von Montbazon geflüchtet – als für den Tag also für mich „des Dienstes immergehende Uhr“ abgelaufen, nahm ich mir ein

[23] Herz, stieg aus meinem untern Stockwerk in das Hauptgeschoß von Chateau Giron hinauf und ließ mich von einem Mädchen, das mir begegnete, bei der Herrschaft melden. Das Mädchen sah den Ulanen, der die verwegene Idee hatte, ihrer Herrschaft einen Besuch machen zu wollen, mit verwunderten Blicken an und antwortete: „Mais Monsieur, Madame Kuhn ne reçoit pas – sie ist leidend – wenn Sie etwas Geschäftliches haben, so ist der Herr Abbé …“

„Bringen Sie immerhin meine Karte hinein, wenn nicht zu Madame Kühn, dann zu Fräulein Kühn!“

Sie ging und kam nach einer Weile zurück, um mich in einen sehr eleganten, sonnigen, auf den Garten hinausführenden Salon zu führen; im Hintergrunde war eine Portière von braunem Sammt niedergelassen; ich nahm an der Bewegung der Falten wahr, daß es soeben geschehen sein mußte – wahrscheinlich barg sie in einem Cabinete dahinter die leidende Madame – im Salon saß Fräulein Kühn in einem „Dos à Dos“, hinter ihr in demselben Möbel der Abbé, meine Karte in der Hand, die er ihr zu erklären schien – „tant bien que mal“, wie die französische Redensart heißt.

Er erhob sich, um mich zu bewillkommnen; das Fräulein wies auf einen in ihrer Nähe stehenden Sessel.

Ich muß gestehen, daß ich ein wenig verwirrt war. Ich hatte zu thun, mich in die Erscheinung der jungen Dame zu finden, welche mir gestern im Mondschein einen ganz andern Eindruck gemacht hatte – und doch war es dieselbe schlanke Gestalt mit den schön abfallenden Schulterlinien und dem edlen Oval des Kopfes, die gestern vom Mondlicht und einem eigenthümlichen Zauber umflossen vor mich getreten. Es war dasselbe sonor vibrirende Organ, das in meinem Ohre wiedergeklungen; und als sie die Arbeit, über welche sie gebückt saß, von sich schob und den Oberkörper zurückwarf, sah ich, daß sie auch ganz so groß war, wie sie mir gestern erschienen. Nur ihre Züge, die mir gestern bleich, ernst, strenge vorgekommen, waren anders. Sie hatten freilich nicht viel Farbe, aber eine ganz gesunde, wie von einem leichten bräunlichen Ton überhauchte Frische; sie hatten nicht viel vom französischen Typus, sie waren einfach und edel geschnitten; aber ein Ausdruck von Schelmerei, der aus ihren großen braunen Augen leuchten und um den scharfgezeichneten Mund zucken konnte, hatte nichts gar zu Strenges.

Ich bemerkte, daß, als sie ihre Stickerei von sich geworfen und nun ein Paar Halbhandschuhe, die vor ihr lagen, anzog, ihre Hände ein wenig zitterten; ich schloß daraus, daß sie eine impressionable Natur sei; das Entgegentreten eines „Feindes“, wie ich war, mußte sie ganz ebenso bewegen, wie mich die Erfüllung dieser meiner Höflichkeitspflicht gegen meine unfreiwilligen Gastfreunde.

„Ich hoffe, Sie gestatten mir,“ begann ich, ein wenig stotternd und unsicher, „persönlich Ihnen die Belästigung abzubitten, die wir gezwungen sind …“

„Ah,“ unterbrach sie mich, „wie könnten wir Belästigung zu fürchten haben von Leuten, die nur auf moralische Eroberungen ausgehen – mein Vetter, der Abbé hier, hat mir von seiner Unterhaltung mit Ihnen erzählt und hat meine Mutter und mich sehr beruhigt; meine arme Mutter ist leidend; sie konnte nicht reisen; so mußten wir denn hier auf unserem Gute bleiben und Stand halten …“

„Was ich als ein großes Glück für uns betrachte,“ fiel ich ein. „Was aber die moralischen Eroberungen angeht, so war das ein zuversichtliches Wort, das ich nicht mehr gesprochen hätte, wenn ich vorher Gelegenheit gehabt hätte, Ihnen zu begegnen, mein Fräulein, wie es erst nachher im Garten geschah, wo ich einsah, daß ich vielmehr Gefahr laufe, moralisch erobert zu werden.“

Sie schlug das Auge zu mir auf; es lag etwas von entrüsteter Verwunderung in dem Blicke, den sie auf mich heftete.

Ich fühlte, daß ich etwas gesagt, was sie gründlich mißverstand, und erröthete deshalb. In Deutschland wäre keine Dame auf den Gedanken gekommen, daß ein wildfremder junger Mensch, eine feindliche Einquartierung, sich einfallen lassen könne, so sofort mit einer Art Liebeserklärung zu beginnen. Sie, die Französin, hatte mir offenbar diese Fadheit zugetraut, und geärgert dadurch, setzte ich rasch und scharf hinzu: „Denn wenn Sie mit solcher Beredsamkeit fortfahren, alle meine Voraussetzungen über den Haufen zu werfen und mir zu zeigen, welch’ böse Hunnen oder Gothen wir sind, in das arme friedfertige Frankreich einzubrechen und es zu hindern, als das große Weltlicht die Strahlen der Gesittung auszuströmen und über die Völker der Erde zu ergießen, so muß ich mich wohl entwaffnen und zu Ihnen hinüberziehen lassen …“

Ihr Gesicht erhellte sich, sie sagte, ohne sich durch meine Ironie gereizt zu zeigen, lächelnd: „Es scheint doch, meine Behauptungen haben Sie ein wenig erregt, und so müssen sie doch wahr sein, denn nur die Wahrheit macht Eindruck auf uns!“

„Wollen Sie mir nicht böse werden, Fräulein,“ sagte ich, „wenn ich widerspreche? Nicht die Wahrheit macht in Frankreich Eindruck, sondern nur der Schein. Wir Deutsche mit unserm einfach nüchternen Verstande stehen hier betroffen, völlig erstarrt darf ich sagen, vor dem psychologischen Räthel: ‚wie ist es möglich, daß eine ganze gebildete und edle Nation so durchaus blind für die Wahrheit sein kann!‘“

„In der That, und welche ist diese Wahrheit?“ fragte sie ein wenig spöttisch.

„Die, daß Frankreich geschlagen ist und nicht einsieht, wie sehr es wohl thäte, das Schauspiel, wie es fortwährend geschlagen wird, durch einen raschen Frieden zu enden; daß es so hartnäckig darauf besteht, diese Tragödie seines Unterliegens in’s Endlose zu verlängern – das ist eine Politik, ob der uns der Verstand stille steht!“

„Und Sie haben keine Erklärung dafür in unseren Hoffnungen, daß das Blatt sich wende?“ fiel jetzt der Geistliche ein.

„Diese Hoffnungen beruhen eben auf der Verkennung der Wahrheit, die uns so räthselhaft ist. Doch,“ fuhr ich fort, „würde ich eine Erklärung dafür wagen, wenn ich nicht fürchtete, bei Ihnen zu sehr als Ketzer in Mißcredit zu kommen.“

„O bitte, reden Sie immerhin,“ sagte der Geistliche mit einem nachsichtigen Lächeln.

„Frankreich ist in dem Dogma aufgezogen, es sei ein unbesiegliches und alle Nationen übertreffendes Volk, ganz so wie in dem Dogma von der Unfehlbarkeit seiner Kirche; solche Dogmen bilden seine Staatsreligion. Wo aber das Dogma herrscht, da ist die Frage nach dem Was, Wie und Warum Sünde; der Glaube ist das Gute, der Zweifel das Böse; auf dem Katheder der Kritik ist der Teufel Professor. Wenn man liest, wie die Kirche ihre Geschichte darstellt, so hat die Kirche immer die Wahrheit; wenn man hört – ich habe es von Ihnen gehört, Fräulein – wie Frankreich seine Geschichte darstellt, so hat Frankreich immer Recht und – den Sieg! Nur die Gottlosen und die Verräther zweifeln daran! An dieser kirchlichen und politischen Orthodoxie, an diesem Dogma des Besserseins als andere Kirchen und Völker geht Frankreich unter.“

Das Fräulein sah mich höchst verwundert an; was ich sagte, machte sie offenbar betroffen. Dann rief sie lebhaft aus: „Ich kann Ihnen auf dies Alles nicht so antworten, wie ich es möchte, ich bin nicht gelehrt genug dazu – Sie müssen das thun, Etienne,“ wandte sie sich zu dem Geistlichen.

Dieser hatte still mit seinen unterschlächtigen Blicken mich beobachtend gesessen; das blasse ascetische Gesicht mit dem über die Mitte des Kopfes laufenden Scheitel zeigte dabei ein ziemlich lebendiges Mienenspiel.

„Mein Gott, was kann ich darauf antworten!“ sagte er; „diese Herren, scheint es, wollen Frankreich seine Kirche nehmen, wie sie ihm den Kaiser genommen haben, und wir müssen geduldig abwarten, wie sie bei diesem Unternehmen fahren werden.“

„Es ist nicht so schlimm gemeint, hochwürdiger Herr – wir sind weit davon entfernt, so böse Absichten zu hegen – wir gehen, wie ich Ihnen sagte, blos auf moralische Eroberungen, nicht auf dogmatische aus!“

„Haben Sie Michelet’s Geschichte von Frankreich gelesen?“ fragte das Fräulein mich.

„Nein,“ versetzte ich.

„Ich möchte wissen, was Sie darüber sagen.“

„Ah, wie können Sie ein so abscheuliches Buch empfehlen?“ rief der Geistliche mit einem strahlenden Blick auf Fräulein Kühn.

„Ich empfehle es nicht – ich möchte nur wissen, was dieser Herr darüber sagt. Mich entzückt das Buch an vielen Stellen, wenn es auch an andern mich abstößt. Sie möchten es verbannt wissen. Ist es nicht natürlich, daß ich Jemand darüber reden hören möchte, der ganz anders denkt, als ich, und ganz anders, als Sie?“

Er zuckte die Achseln, und ich äußerte mein Verlangen, ein [24] Buch zu lesen, das Fräulein Kühn so interessirte. Sie besaß es und wollte es mir in mein Zimmer senden. Wir sprachen dann – ich benützte die Anknüpfung, um auf ein harmloses neutrales Gebiet zu kommen – von anderen Werken. Sie kannte manches deutsche Werk, doch nur ältere; die meisten Dramen Schiller’s, Callot-Hoffmann natürlich, Töpfer, den Genfer – bei einer Reise, die sie mit ihrem Vater nach Süddeutschland gemacht, hatte sie einige deutsche Schauspiele kennen lernen; über alles das sprach sie sich lebhaft aus, frisch und originell, oft sehr paradox und wunderlich freilich – aber mit einer innerlichen Theilnahme und liebenswürdigen Wärme, die zeigte, wie sehr solche Dinge ihr Interesse erregten; es war gar nicht möglich, davon nicht angesteckt, nicht auch warm zu werden, in einen heiligen Eifer zu gerathen, die paradoxen Ideen zu berichtigen, die Sachen in das rechte Licht zu rücken – und so kam es, daß das Gespräch sich gerade so verlängerte, wie es sich erwärmt hatte. Der Geistliche, der einsilbig zuhörte, schien dabei innerlich immer aufgeregter zu werden, er mochte weniger durch meine Ketzereien als durch den Gedanken geärgert sein, daß Fräulein Kühn das Alles nicht allein anhöre, sondern auch in sich aufnehme und in sich verarbeite, so daß er eine entsetzliche Last bekommen werde, ihr das Alles wieder zu nehmen und ihre Seele von diesem Gräuel zu reinigen! Zuweilen lag in dem unwilligen Ausdruck, mit dem sein Auge auf ihr haftete, etwas von leidenschaftlichem Aufflammen – zuweilen, und dann öffnete sich weit und ganz sein Auge, sah er sie mit einem träumerischen Blicke, fast wie schmachtend an – wie nur ihre Erscheinung in sich saugend, ohne zu hören, was sie sagte, ohne Anderes zu vernehmen, als den Klang ihrer wohltönenden Stimme. Mir kam der Gedanke, daß der arme Abbé eine Leidenschaft für seine schöne Cousine, oder was sie war, gefaßt habe!

Ich mußte mich, so umstrickt ich auch war und so wenig das Fräulein von unserer Debatte ermüdet schien, losreißen; ich ging und hatte die Genugthuung, daß man mir erlaubte, am andern Morgen zu kommen, um den Faust, den ich immer im Felleisen bei mir führte, als Revanche für den in Aussicht gestellten Michelet zu bringen.

In der gehobensten Stimmung, es war mir zu Muthe als habe ich mich in eine Art von Rausch hineingesprochen, kam ich in mein Zimmer und nahm den Faust zur Hand. Ich blätterte darin mit dem Gedanken an all die Anknüpfungen zu hundert Versprechungen, die dies wunderbare Buch bieten, an all die Aufklärungen und Erläuterungen, die das Fräulein, wenn sie nur mit ein wenig Ernst die Lecture beginne, von mir werde verlangen müssen. Gleich darauf trat mein Bursche ein.

„Wir müssen den Leuten hier in diesen Zimmern sehr störsam sein, Herr Wachtmeister,“ sagte er … „vorhin kam ein recht sauberes Dienstmädchen, das ein wenig Deutsch spricht, zu mir und meinte, sie hätten oben im ersten Stock noch viel schönere Fremdenzimmer, die sollten wir doch beziehen. Ich sagte, daran wär’ nicht zu denken, Sie müßten unten bleiben, denn wenn es einen Alarm gäbe, müßten Sie zur Hand sein und ich auch, und wir wollten auch die Herrschaft da oben und die kranke Madame nicht stören, und da meinte sie, die würde sich nicht stören lassen, und wenn ich hinaufziehen wolle, solle es mein Schaden nicht sein, ich solle ein gutes pour boire haben; die Herrschaft sehe nicht gern, daß diese Zimmer bewohnt würden, es schlafe immer der Herr Bischof von Autun darin, wenn er zum Besuche komme …“

„Und darum,“ fiel ich lachend ein, „dürften keine Ketzer darin schlafen?“

„Ich glaub’ nicht, daß es das ist,“ entgegnete Friedrich kopfschüttelnd, mit einem leiseren Tone. „Sie haben irgend etwas da hinten in der letzten Stube …“

„In welcher Stube?“

„In der letzten hinter meiner Kammer. Eine Tapetenthür führt hinein. Aber die ist verschlossen mit einem großen und schweren Vorhängeschloß; und als ich heute Morgen aufgewacht war und noch ein wenig in den guten warmen Kissen liegen blieb und dabei so recht träge und lässig meine Augen auf Alles richtete, was in meiner Kammer war, da sah ich auch auf den Boden und nahm den Schmutz von Fußstapfen wahr, die von Ihrem Zimmer her durch meine Kammer auf die Tapetenthür zu geschritten sein mußten, es mußten recht schmutzige Füße gewesen sein, die da hergeschritten waren; und das mußte gestern Abend gewesen sein, unmittelbar bevor wir in diesen Zimmern Quartier nahmen, denn sonst wären sie wohl weggefegt gewesen – es ist ja sonst Alles so sauber hier im Hause, und Dienstvolk ist genug da! Sagen Sie nicht, ich selber sei der Schmutzfink gewesen; das kann nicht sein, wir haben ja gestern den Tag über die Stiefel im Steigbügel gehabt, und eh’ ich in die Zimmer ging, hab’ ich mir die Sohlen an der Kratzbürste draußen im Flur jedesmal gewissenhaft gereinigt; also, wer kann gestern Abend noch mit diesem schmutzigen, lehmigen Schuhwerk hier gewesen und in die Stube hinter der Tapetenthür mit dem Vorhängeschloß gegangen sein? Haben Knechte da Etwas hineinzuschleppen gehabt, oder sind es gar die Franctireurs gewesen, die, was sie auf ihrem Wagen hatten, hineingerettet?“

Friedrich legte mit diesen Folgerungen seine scharfe Beobachtungsgabe und den ganzen durch diesen Krieg bei unseren Leuten geweckten Spürsinn an den Tag, und daß er zu combiniren verstand, zeigte er dadurch, daß er hinzufügte: „ich habe anfangs nicht weiter viel daran gedacht – als mir aber das hübsche Zöflein mit so freundlichem Lächeln und ihr Köpfchen drehend just wie ein junger Kreuzschnabel im Nest, den Vorschlag machte, wir sollten die Zimmer räumen … Sie wissen, Herr Wachtmeister, uns so freundlich zuerst anzureden, pflegt die Sorte sonst nicht … da dämmerte mir Etwas!“

„Es ist möglich,“ sagte ich, „daß sie da Etwas verwahrt haben, dessen Entdeckung durch uns sie nicht wünschen. Wer weiß, welche Schätze! Vielleicht ihren Wein – ihr Silber. Was geht es uns an? So lange Du das große Vorhängeschloß dort hängen siehst, kannst Du sicher und ruhig sein, daß wenigstens Nichts aus diesem Versteck hervorbrechen wird, was Dir etwas anhaben könnte!“

„Ich habe schon daran gedacht, ob die verfluchten Franctireurs vielleicht ihre Waffen dahinein geborgen!“

„Wenn das wäre, könnten wir uns ja damit zufrieden geben, daß sie dann unter Verschluß liegen.“

Damit endete die Unterredung. Als ich eine Weile nachher über den Hof zu den Pferden ging, warf ich einen Blick auf die Fensterreihe der von mir und Friedrich bezogenen Zimmer; ich sah, daß nach dem Fenster der Kammer, in welche ich meinen Putzcameraden logirt, noch ein Fenster, das letzte der Reihe, kam, und daß dieses vergittert war. Es war also ein Eckcabinet und mußte schon früher entweder zu etwas wie einer Schatzkammer oder einem Gefängniß für einen Verrückten gedient haben.

[37] Als ich am andern Tage mich nach oben begab, meine kleine Ausgabe des Faust in der Hand, fand ich nur den Abbé.

Er nahm mich mit einer gezwungenen Höflichkeit auf, entschuldigte zu meiner großen Enttäuschung Fräulein Kühn, die bei ihrer Mutter, welche eine schlechte Nacht gehabt, sei, und fragte dann, nachdem er mich gebeten Platz zu nehmen: „Sie haben da ein Buch von Goethe – ich meine, Sie sprachen gestern davon? – für Fräulein Kühn.“

„So ist es; den Faust, den Fräulein Kühn nicht kennt.“

„Den Faust … ach ja – ich habe davon gehört; er hat sich dem Teufel verschrieben und dann die Buchdruckerkunst erfunden … es liegt eine gute Moral in der Sage … aber werden Sie Fräulein Kühn das, wie ich sehe, ziemlich starke Buch so lange lassen können, bis sie es ausgelesen hat? Sie wirft sich gewöhnlich mit solchem Eifer auf eine solche Lectüre, daß dieselbe nicht beenden zu können ihr eine vollständige Qual ist …“

„Ich kann Sie darüber beruhigen,“ sagte ich; „oder richtiger gesprochen, ich muß Sie leider mit der Erklärung beunruhigen, daß ich voraussetzen darf, unser Aufenthalt hier wird ganz so lange währen, um in vollkommener Ruhe einmal den Faust, den ersten wie den zweiten Theil, durchzulesen, und auch, ihn ein wenig zu studiren – denn ein kleines Studium erfordert er freilich, namentlich für eine Dame, ein junges Mädchen.“

Meine Antwort machte die Züge des geistlichen Herrn nicht heller. Seine Frage war offenbar geschehen, um eine Andeutung über die Dauer unseres Aufenthalts zu erhalten. Doch fuhr er sogleich fort:

„Ist es für junge Mädchen geschrieben?“

„Für eins wie Fräulein Kühn – weshalb nicht?“

„Sie haben Recht,“ versetzte der Geistliche. „Meine Cousine hat sich das Privilegium genommen, so ziemlich Alles zu lesen! Mein Gott, was ist dagegen zu machen! Man kann ihr die Bibliothek nicht verschließen, und sie ist so allein hier; wegen der Mutter auch die langen Wintermonate hindurch. Wenn sie noch die Musik hätte zu ihrer Beschäftigung! Aber sie behauptet, sie habe kein Talent dafür. Sie ist eine vortreffliche Haushälterin – das ganze Hauswesen steht unter ihrer Leitung; sie beaufsichtigt auch die Verwaltung des Gutes, überwacht den Regisseur, hat ihre Kranken und Armen, nimmt sich mit Rath und That der Communal-Angelegenheiten an – unser Regisseur hier ist der Maire der Gemeinde und so macht sich das so gleichsam wie von selbst; aber das Alles füllt ihre Zeit nicht aus, die Winterabende nicht; sie hat immer noch ganze Stunden, um sich einer Lectüre hinzugeben, die uns nicht besser macht.“

„Wenn sie belehrt, macht sie auch besser!“

„Das mag Ihre Anschauung sein, die meine ist es nicht, mein Herr! Aber da Sie ein halber Gelehrter sind und, wie Sie eben versicherten, Ihre Angelegenheit hier eine Dauer haben kann, die Ihnen wünschenswerth machen muß, eine Unterhaltung zu haben, so erlauben Sie mir, Ihnen die Bibliothek zur Verfügung zu stellen. Wenn Sie mich begleiten wollen, so will ich sie Ihnen zeigen.“

Er stand auf und ich folgte ihm. Während wir den Salon verließen, sagte er:

„Die Bibliothek stößt an unsere eigentlichen Fremdenzimmer – ich will Ihnen auch diese zeigen, überzeugt, daß Sie vorziehen werden, sich da einzuquartieren, wo Sie die beste Unterhaltung so dicht zur Hand haben. Die Zimmer sind wohl ausgestattet und sehr freundlich; Sie werden da nicht allein wie unten den Ausblick auf den vordern Hof, wo Sie Ihre Leute beobachten können, sondern auch nach der andern Seite eine reizende Aussicht auf den Garten, den Park und das ganze schöne Oignonthal haben. Eine Kammer für Ihren Burschen findet sich auch da …“

„Ich bin Ihnen sehr verbunden,“ unterbrach ich ihn, „aber ich danke für Ihre Güte; ich will Sie hier oben nicht belästigen.“

„Das thun Sie nicht, gewiß nicht,“ fiel er eifrig ein; „ich werde Ihnen die Zimmer zeigen und ich bin überzeugt …“

„Ich habe meine Gründe, das Quartier unten vorzuziehen.“

„Ihre Gründe?“ rief er aus, indem er mir, wie um in meinen Zügen zu lesen, das Gesicht zuwandte.

Offenbar hatte meine Aeußerung etwas, das ihn stutzig oder betroffen machte.

„Ich bin unten der Hausthür und meinen Leuten näher und ziehe das vor,“ sagte ich.

„So, so … es steht ganz bei Ihnen!“ erwiderte er, eine Flügelthür vor mir öffnend; sie führte in einen hellen schönen Saal, der der Eingangsthür gegenüber ein großes mit farbigen, gemalten Scheiben verglastes Fenster hatte. Unter diesem Fenster stand ein mächtiger runder Tisch und an diesem Tische, über eine aufgeschlagene Mappe gebeugt, stand Fräulein Kühn. Die Sonne warf eine Fülle vollbunten Lichts durch die farbigen Scheiben auf ihre in graue Seide gekleidete Gestalt – sie war in der That [38] eine „blendende Erscheinung“ in diesem Augenblick, und dies kann die einzige Entschuldigung für die plötzliche Betroffenheit und Verwirrung sein, in die ich gerieth, als ich sie so unerwartet vor mir sah.

Sie konnte nicht anders als dies wahrnehmen; meine Anrede war zu stockend hervorgestottert – ich hatte meinen Faust völlig vergessen und ja auch im Salon liegen lassen; es war sehr liebenswürdig von ihr, so rasch meiner Verlegenheit durch die Worte ein Ende zu machen:

„Sie verschmähen also nicht, unserer kleinen Büchersammlung einen Besuch zu machen, obwohl Sie hier in’s Herz Frankreichs gelangen? Dies Alles rundum sind französische Bücher …“ sie deutete auf die dunklen Eichenholzschränke an den Wänden – „das Herz Frankreichs ist nicht Paris, sondern es ist da, wo die Gedanken der großen Geister unseres Landes in ihren besten Werken vereinigt sind. Sie können Paris nehmen, aber auf dieses Herz Frankreichs können Sie die Hand nicht legen; es wird immer mit derselben Kraft und Wärme schlagen, durch alle Zeit und Zukunft, wie der Pendel an der Weltenuhr, deren Zeiger den Völkern zeigt, wann die Stunde einer neuen großen Entwickelung zum Schönen, eines neuen mächtigen Fortschritts zur Freiheit gekommen!“

Ich mußte sie wohl mit einem eigenthümlichen Mienenspiel angesehen haben; anfangs imponirten mir ihre Worte, im nächsten Augenblicke mußte ich auflachen.

Sie sah mit einem bitterbösen Blick zu mir auf.

„Weshalb lachen Sie? … scheint Ihnen das auch ein falsches ‚Dogma‘?“

„Werden Sie mir darum nicht böse,“ versetzte ich – „aber ich konnte nicht anders. Was Sie sagten, war sehr schön, schwunghaft, sonor – es war eines jener Worte, die in Ihrer Presse, in Ihren Volksversammlungen, Ihren Kammern zünden; bei denen das Gemüth eines Franzosen von einer edlen und schönen Regung für sein Vaterland ergriffen wird und sich auf’s Erhabenste erweitert fühlt, – und bei denen sich solch eine kalte kritische Seele, wie sie in uns Deutschen steckt, nur sofort fragt: ist das auch wahr?“

„Nun, ist es nicht wahr?“

„Nein! Weder Italien, als es Dante, Rafael, Michelangelo hervorbrachte, noch England, als es Shakespeare der Welt gab, noch Deutschland, als es die Buchdruckerkunst erfand, die Reformation vollzog, Kant und Goethe gebar, haben nach der französischen Uhr gesehen, ob dazu die Stunde gekommen!“

Sie wurde roth, ich ebenfalls, in der Furcht, sie erzürnt zu haben.

„Ach,“ sagte sie, „ich glaube gar nicht, daß solcher an alte abgethane Geschichten und Namen sich klammernder Widerspruch etwas just nur Deutsches sei … man kann ihm hier in Frankreich auch begegnen … es ist eben nur Widerspruchsgeist, männlicher Widerspruchsgeist; im Grunde fühlen Sie doch, daß ich Recht habe. Und so bin ich weit entfernt,“ setzte sie den Kopf aufwerfend hinzu, „Sie in diesem Augenblick als das, wofür Sie sich ausgeben wollen, den Repräsentanten der deutschen ‚Kritik‘ gelten zu lassen, die jeden Schwung, jeden schönen Enthusiasmus todt macht!“

„Desto besser,“ sagte ich, „die Kritik hat selten das Glück zu gefallen!“

„Etienne,“ wandte sie sich zu dem Geistlichen, „Sie müssen jetzt unserem Gast die einzelnen Abtheilungen der Bibliothek zeigen; sehen Sie, dort,“ sagte sie auf einen der großen Schränke deutend, „finden Sie die geschichtlichen Werke.“

Ich näherte mich dem bezeichneten Schranke und las den Rückentitel der darin aufgestellten Bücher. Neben dem Schranke hing ein schmaler Wandspiegel über einem halbrunden kleinen Marmortische, auf dem eine schöne Bronzebüste stand; als ich darauf hinsah, fiel mein Blick in den Spiegel und ich sah, wie der Abbé eilig dem jungen Mädchen eine leis geflüsterte Mittheilung machte, die etwas wie einen Zug von Aerger oder Verlegenheit in ihren schönen Zügen hervorrief.

Sie sahen sich eine Weile schweigend an – der Geistliche flüsterte dann rasch einige Worte, Fräulein Kühn senkte wie nachdenklich den Kopf – er sprach wieder in sie hinein, endlich nickte sie, wie einwilligend. Der Abbé verließ sie nun und kam zu mir, wie um dann wieder den Führer im Saale zu machen.

Nach einigen flüchtigen Blicken in die nächsten Schränke machte ich mich von ihm los und ging zu Fräulein Kühn zurück, die noch über ihre Mappe gebeugt stand. Sie blätterte jetzt darin und brachte ein Heft zum Vorschein, das sie aufschlug. Es enthielt eine Reihe landschaftlicher Scenerien in Farbendruck.

„Hier ist ein illustrirtes Werk, welches die am meisten malerischen Punkte der Franche Comté enthält,“ sagte sie, es mir zuschiebend. „Nicht wahr, es sind Landschaften von sehr großer Schönheit darunter?“

„Der Künstler hat jedenfalls ein großes Gefühl für Schönheit gehabt,“ versetzte ich, nachdem sie mir die ersten Blätter gezeigt, „aber doch auch wohl stark idealisirt. Ob diese Gegenden wirklich so großartig in ihren Linien und so farbenreich in ihren Einzelnheiten sind, kann ich freilich nicht beurtheilen.“

„Ah – Sie bewundern sie nicht, Sie bringen auch in diese Natur hinein Ihre deutsche Kritik,“ rief Fräulein Kühn gereizt aus. „In der That, das ist stark! Ich möchte Ihren Widerspruchsgeist beschämen, indem ich Ihnen eine dieser Partien zeigte, die wenig Kilometer von hier abwärts am Oignon liegt. Es ist diese hier,“ sie schlug in dem Hefte nach und schob das Bild, als sie es gefunden, vor mich hin. „Sie müssen gestehen, daß es ein reizender Punkt ist, und wenn wir Sie dahin führten, würden Sie sehen, daß der Künstler ihm nicht geschmeichelt, ihn nicht idealisirt hat! Was meinen Sie, Etienne?“

„Ganz gewiß, wir sollten Monsieur dahin führen,“ rief der Abbé mit einer auffallenden Lebhaftigkeit aus, „wir würden ihn da sicherlich beschämt sehen, wenn er an der Schönheit unserer Gegend zweifelt; Monsieur aber würde sich für die Mühe des Weges überreichlich belohnt sehen durch die seltenen Reize der Landschaft.“ …

Ich war ein wenig erstaunt, den geistlichen Herrn so bereitwillig auf einen solchen Plan, der etwas ganz überraschend Freundliches hatte, eingehen zu sehen. Es war mir ein leises Mißtrauen gekommen, daß er meinen Verkehr mit seiner Cousine mit mehr Widerwillen als Freude, ja vielleicht einem eifersüchtigen Gefühle ansehe. Darin, schien es jetzt, hatte ich mich gründlich getäuscht.

„Wenn der Ausflug nicht lange währt und mich nicht zu weit von meinem Posten hier entfernt,“ sagte ich zögernd und, wie ich fürchte, ein wenig roth bei dem Gedanken an solch eine kleine Partie in Gesellschaft des Schloßfräuleins werdend.

„Es ist eine Nachmittagspazierfahrt,“ fiel sie ein, „wir könnten sie gleich heute machen, wenn ich heute meine Mutter, die eine schlechte Nacht hatte, verlassen dürfte; also sei es morgen – nach dem Diner, etwa um vier Uhr …“

Ich verbeugte mich.

„Sorgen Sie für den Wagen Etienne,“ sagte sie; „und nun muß ich nach der Mutter sehen … adieu, mein Herr – bis morgen!“

Man konnte nicht graciöser und zugleich würdevoller mit einem leichten Kopfnicken grüßen, auch nicht anmuthigeren und elastischeren Schrittes dahinwandeln, wie es Fräulein Kühn that, als sie jetzt den Büchersaal verließ.

„Sie werden von Ihren Landsleuten nichts zu besorgen haben, wenn Sie sich in friedlichem Vereine mit einem Feinde in’s Land hinaus wagen?“ fragte ich, als auch ich nun ging, den Geistlichen.

„Darüber seien Sie ohne Sorgen,“ versetzte dieser mir folgend. „Unser Landvolk ist nicht sehr kriegerisch gestimmt. Die Franctireurs, welche vorgestern von Ihnen verfolgt wurden, waren, um es zu gestehen, Leute und ziemlich harmlose Leute aus unserer Gemeinde; diesen ist Fräulein Blanche eine geheiligte Person, und wer als ihr Gast kommt, ist es ebenfalls!“

„Und selbst wenn er ein Barbar aus dem Ulanenvolk von den fernen Grenzen des Dragonerlandes ist?“ sagte ich.

„Sie spotten mit Recht meiner Unwissenheit – meine Cousine hat mich aufgeklärt, wie dumm ich war! Aber wollen Sie jetzt nicht auch in unsere Fremdenzimmer hier nebenan einen Blick werfen?“ fragte der Geistliche.

„Ich danke Ihnen noch einmal für Ihre Güte – ich sagte Ihnen den Grund, weshalb ich sie ablehnen muß,“ versetzte ich.

Ich verbeugte mich und wir trennten uns.

„Du hast Recht,“ sagte ich zu Friedrich, als ich diesen wiedersah, „man will uns durchaus aus diesen Zimmern fortschaffen. Das muß uns wachsam machen. Halte Deine Tapetenthür ein wenig im Auge. Besonders morgen. Ich werde dann [39] am Nachmittage einen kleinen Ausflug mit der Herrschaft machen; verlaß unterdeß die Zimmer nicht.“

„Sie wollen einen Ausflug machen – und allein mit unseren Wirthen? Sie allein?“

„Weshalb nicht? Sind sie nicht die beste Escorte, wenn ich unter Feinde geriethe?“

„Sie müssen es wissen,“ sagte Friedrich kopfschüttelnd. „Sie sollten mich mit sich nehmen,“ setzte er nach einer Weile hinzu.

„Ich brauche Dich nöthiger hier – als Hüter, weißt Du.“

„Oder Herrn Glauroth …“

Der wäre der Letzte gewesen, den ich mitgenommen hätte.

„Nein, nein,“ sagte ich, „man hat Herrn Glauroth nicht geladen. Sprich nicht mit ihm darüber – der Ausflug ist eine Sache von ein paar Stunden und der Rede nicht werth.“

Trotzdem aber sollte ich Friedrich doch zum Begleiter auf unserem Ausfluge erhalten.

Der Geistliche machte mir am andern Morgen einen Besuch. Er kam, wie er sagte, mich daran zu erinnern, daß ich versprochen, am Nachmittage mit ihm und Fräulein Blanche eine Spazierfahrt nach dem alten Schlosse von Colomier aux Bois zu machen.

„Wie könnt’ ich eine so verheißungsvolle Fahrt vergessen haben – ich verspreche mir einen sehr großartigen Genuß davon,“ antwortete ich.

„Ich hoffe,“ sagte der Abbé lächelnd, „daß auch Fräulein Blanche den Genuß davon haben wird, Sie von ihrem Colomier ganz entzückt zu sehen.“

„Gehört es ihr?“

„Der Familie Kühn – das alte Castell und eine einträgliche Ferme am Fuße desselben.“

„Ah, desto besser,“ fiel ich ein. Diese Thatsache mußte mir mein Mißtrauen nehmen, wenn ein solches in mir über ein so außerordentlich freundliches Entgegenkommen aufgestiegen wäre. Es war so natürlich, daß man dem Fremden einen so schönen Besitz zeigen, ihm damit am Ende ein wenig imponiren wollte!

„Ich habe dabei eine Bitte,“ fuhr der geistliche Herr fort, … „wir haben ein kleines Vesperbrod mitzunehmen; um es zu hüten und zu serviren, fehlt der Bediente; der Diener von Madame Kühn ist unter die Zuaven gegangen, der Gärtner eignet sich zu solchen Diensten nicht – würden Sie Ihren Burschen nicht mitnehmen können?“

„Sehr gern!“ sagte ich bereitwillig. „Er hat mir schon den Wunsch ausgedrückt, mich begleiten zu dürfen!“

„Also um vier Uhr treten wir unsere Fahrt an?“

„Wann Sie befehlen!“

Nach einer kurzen Unterhaltung über gleichgültige Dinge empfahl sich der geistliche Herr.

„Ich soll Friedrich mit mir nehmen?“ sagte ich mir. „Merkwürdig! Was braucht man einen Diener bei einem kleinen ländlichen Vesperbrod, wie sie das nennen? Und haben sie ihren Kutscher nicht, wenn der Bediente fehlt? Es scheint, auch Friedrich soll aus diesen Zimmern fortgeschaft werden! Nun wohl, ich will dafür sorgen, daß es nichts hilft, uns überlisten zu wollen. Warum sagt dieser geistliche Herr nicht offen, was da hinten steckt? Wenn sie irgend etwas in dem Versteck da hinten aufbewahren, was sie verstecken wollen, weshalb reden sie nicht, und weshalb fürchten sie uns als Diebe und Plünderer?“

Ich ging in die Bibliothek zurück und nahm aus einem der Schränke ein Exemplar des Chevalier von Faublas, das ich vorhin gesehen. Bei unserem gemeinschaftlichen Essen sagte ich zu Glauroth:

„Mein lieber Camerad – Sie werden den Nachmittag Dienst haben.“

„Und welchen?“

„Sie werden, da ich mit Friedrich eine Recognoscirung vornehmen will, bei der Fräulein Kühn unsern Wegweiser machen wird …“

„Das Fräulein – das haben Sie als Führer requirirt … wahrhaftig, das ist stark … hüten Sie sich, daß sie Sie mir nicht verführt, oder gar entführt …“

„Eben weil das möglich ist, und damit unsere Heeressäule nicht ohne Haupt bleibe, vertraue ich Ihnen unterdeß den Oberbefehl an. Der Dienst soll aber nicht schwer für Sie sein. Sie werden sich in meinem Zimmer in einen beliebigen Lehnstuhl setzen und eine Cigarre entzünden; Sie dürfen auch die Romanze vom einsamen Zecher in Scene setzen; dürfen aber unter keiner Bedingung die Zimmer verlassen, bis ich zurückgekommen bin. Das ist meine strenge Ordre; wenn Sie sie übertreten, thu’ ich Ihnen ein Leids an oder ich lasse Sie gar vor ein Kriegsgericht stellen. Da Sie aber ein leichtsinniger Mensch sind und ich mich nicht im Geringsten auf Sie verlasse, so habe ich ein besonderes Mittel ersonnen, Sie an Ihren Posten zu fesseln. Ich habe Ihnen den Chevalier von Faublas heruntergeholt.“

„Den Chevalier von Faublas? Wer ist das? Was soll ich mit ihm? Heißt der geistliche Herr etwa so, und sollen wir einen kleinen Tempel zusammen machen?“

„Was denken Sie … ich rede von einem Buch – haben Sie nie davon gehört?“

„Nein – ich erinnere mich nicht, daß in unserem Maturitäts-Examen die Kenntniß desselben verlangt wurde.“

„Um so mehr wird es Sie freuen, den Chevalier von Faublas jetzt kennen zu lernen; er ist eine so bewundernswürdige, so glänzende Vereinigung von niederträchtiger Lüderlichkeit und lauterer Schönheit der Form, daß er einen Mann wie Sie während der Stunden, in welchen ich Sie gefesselt wissen will, sicher nicht losläßt!“

„Ah – es ist sehr schön, daß Sie so zu meiner Bildung beitragen wollen.“

„Gut,“ versetzte ich; „ich baue darauf, daß Sie die Zimmer, was auch kommen mag, nicht verlassen!“

„Das lautet ja fast geheimnißvoll!“

„Nehmen Sie an, es berge sich ein Geheimniß dahinter – Sie werden mir desto gewissenhafter diesen Dienst leisten!“

Ich stand auf, rief Friedrich, und wir rüsteten uns zur Abfahrt. Auf dem Hofe fuhr ein leichter offener Wagen vor, bespannt mit zwei ziemlich schweren Rossen, die auch wohl, wenn sie nicht zu solchen Diensten gebraucht wurden, den Ackerwagen zogen. Derselbe Mensch, mit dem wir am Abend zusammengestoßen waren, lenkte sie; er mußte eine Art Factotum im Hause sein; aber als Kutscher sollte er nicht fungiren; als Fräulein Blanche heruntergekommen und sich auf die vordere Bank des Wagens geschwungen, reichte er ihr die Zügel. Ich eilte, nicht warten zu lassen, und als ich die Treppe niederstieg, wurde ich gebeten, meinen Platz neben dem Fräulein zu nehmen; der Geistliche und Friedrich nahmen die zweite Bank ein. Die Pferde zogen an, das Fräulein lenkte mit vollkommener Sicherheit. Wir rollten durch Ackerfluren dahin, in südlicher Richtung, auf guter fester Straße; nach einer halben Stunde waren wir in einem von zur Rechten ziemlich schroff, zur Linken sanft ansteigenden Bergen eingeschlossenen Flußthal, das sich mehr und mehr verengte; zu unserer Linken schlängelte sich durch Wiesen und Weidendickicht der Oignon. Auf der ganzen von einem heitern Himmel überspannten Landschaft lag Sonnenschein und tiefer Friede.

„Es ist seltsam,“ sagte ich, „der Krieg ist’s doch allein, was mich hierher, in diese mir fremde Welt gebracht hat. Und doch ist’s mir in diesem Augenblick unmöglich, an den Krieg zu glauben. Wenn wir von verstorbenen Freunden oder Angehörigen träumen, so erscheinen sie uns stets als lebend; die Thatsache des Todes ist etwas, wofür unser Seelenleben kein Organ, sie zu fassen, hat; so ist mir jetzt die Thatsache des Krieges etwas Unfaßbares; in diese Welt gehört nicht der Krieg, die Seele stößt den Begriff von sich; Tod und Krieg sind zwei gleich absurde Dinge, dem Urmenschenwesen völlig fremd!“

„Weshalb,“ antwortete Fräulein Blanche, „bringen Sie den Krieg, das nach Ihren eigenen Worten Unmenschliche? Sie sagen: Ihr habt begonnen, Ihr habt in unser Land einbrechen wollen. Aber rechtfertigt ein Frevel, den ein Anderer beginnt, mich, wenn ich den Frevel überbiete?“

„Denken wir, um nicht darüber selbst in Krieg zu gerathen,“ entgegnete ich, „daß es ein Verhängniß sei, wie ein Sturm, ein furchtbares Wetter, das ja auch plötzlich über solch eine friedliche Welt ausbrechen kann! Von wie viel solcher Mächte und verhängnißvoller Kräfte, die als Schicksale über uns kommen, muß sich der Mensch nicht erfassen und beherrschen lassen, und kann sie nicht ändern! Erfassen uns die Leidenschaften nicht just so?“

„Nein,“ sagte sie fast heftig, „die Leidenschaften müssen wir zu beherrschen wissen!“

„Gut,“ erwiderte ich; „musterhafte Menschen können das, wenn sie die Einsicht haben, zu sehen, die Leidenschaft führt sie [40] in’s Verderben. Aber es giebt Leidenschaften, in welchen wir nichts als die Führung zum Glück sehen. Die Liebe ist solch eine Leidenschaft.“

„Wie könnte etwas zum Glück führen, was Sie selbst mit Krieg, Sturm, Wetter und verhängnißvollen Schicksalsmächten zusammenwerfen?“

„Die Verhängnisse drücken uns nur, so lange wir uns gegen sie stemmen. Sobald wir uns ihnen unterwerfen und hingeben, können sie das Glück bringen.“

„Die Unterwerfung,“ rief Fräulein Blanche aus, „ist nicht Jedermanns Sache. Ein besonnener und starker Mensch hütet sich vor der Hingebung und führt den Zügel seines Schicksals selbst.“

„Frauen nicht immer mit dem Geschick, womit ich Sie in so fester Hand die Zügel lenken sehe!“ warf ich ein.

„Doch könnte es jede. Man muß es nur lernen wollen und man kann es!“

„Unsere Straße ist sehr glatt und eben, eine vortreffliche Vicinalstraße,“ sagte ich lächelnd; „vielleicht kommt noch eine schmale Brücke, ein Ausweichen, eine schwierige Stelle, wo ich die Genugthuung habe, Ihnen helfen zu müssen.“

„Es wäre sehr thöricht, wenn ich Ihre Hülfe erbäte, ehe ich weiß, ob Sie dann fahren können.“

„Das ist wahr, ich muß nach einer Gelegenheit suchen, um es Ihnen zu beweisen und ich wünsche nichts mehr als das!“

„Da ist Colomier aux Bois!“ sagte jetzt der Geistliche, auf eine Burgruine in der Nähe deutend.

Wir hatten längst eine Wendung gemacht und waren in ein höchst romantisches Seitenthal, das ein dem Oignon zuströmendes Gewässer bildete, eingefahren. Schroffe Felsen und pittoreske Klippenbildungen engten rechts und links die Thalsohle ein. Das Gewässer rauschte nahe unter uns in einem tief durch das Gestein gewühlten Bette – oft schoß es schäumend in heftigen Stromschnellen dahin; zuweilen zog sich unser dem Ufergestein abgewonnener Weg in steilen Erhebungen empor; dann hatten wir das tosende Gewässer in einer abgrundtiefen Schlucht unter uns und erhielten prachtvolle Ueberblicke über das romantische kleine Flußthal. Die Burgruine mit dem Belfried, die im Süden vor uns, wo das Thal vollständig abgeschlossen schien, von einem höheren Rücken herüberblickte, hatte ich längst in’s Auge gefaßt; Fräulein Blanche hatte bis jetzt nicht daran gedacht, mich auf dies unser Ziel aufmerksam zu machen. Sie war überhaupt nicht so liebenswürdig, wie sie es gestern gewesen; es war etwas Gereiztes in ihrem Wesen; sie warf wie Vorwürfe die Worte hin, die sie mir antwortete, mit dem schmollenden Aufwerfen der Lippen, durch das uns Frauen ihre Ungnade an den Tag legen. Was hatte sie? Reute sie die große Freundlichkeit, die in dieser unserer Fahrt für mich lag? Sie selbst hatte sie doch vorgeschlagen!

Mich, ich muß es gestehen, beunruhigte es. Ich war von Fräulein Blanche nach jener ersten abendlichen Unterhaltung schon bezaubert – aber auf dieser Fahrt verliebte ich mich in sie. Es sah so edel, so schön, so stolz und vornehm aus, dies Profil des vorwärts gerichteten, in die Ferne blickenden Kopfes, das ich neben mir hatte. Ihr dunkles Auge hatte einen so seelenvollen Blick; es sprach so fesselnd von der räthselvollen Gemüthstiefe, die der Deutsche in den Augen sucht, in die er sich verliebt; es hatte so gar nichts von dem Wechsel von trügerischem Sanftmuthsschlummer und leidenschaftlichem Feuer der Südländerinnen; in all ihrem einfachen natürlichen Wesen sprach sich eine solche Klarheit eines starken, sich selbst bewußten und tüchtigen Charakters aus; und ich, ich war vollständig von dieser schönen und fesselnden Erscheinung befangen … ich hätte so im leichten Gefährt neben ihr immer weiter rollen mögen in diese schöne sonnige Gotteswelt hinein, ohne Ziel, ohne Ende – in ihren Händen die Zügel unseres Fahrzeuges!

Wir kamen an einen kleinen Weiler; die Bergwände traten an einer Stelle unseres Weges zurück; der offene Raum war dazu benutzt, eine Mühle zu erbauen, in deren Räder sich ein dünnes, über blank gewaschenes Gestein niederrauschendes Gewässer stürzte; umher standen kleine auf Wohlhabenheit deutende Häuser mit Blumengärtchen nach der Straße hin. Die Reihe dieser Häuser zog sich, zwischen Bergwand und Chaussee liegend, unsern Weg entlang. Als unser Wagen an diesen Wohnungen vorüberrollte, stürzten aus mehreren derselben die Einwohner heraus; auf ihren Schwellen stehend, starrten sie die preußischen Uniformen an, stießen auch Rufe aus, die ich nicht verstand. Ein Paar Bursche, die uns entgegenkamen, blieben inmitten des Weges stehen, als ob sie Lust hätten, unser Gefährt aufzuhalten. Es war nicht unmöglich, daß sie auf den Gedanken geriethen, Fräulein Kühn werde eben von diesen Deutschen entführt … war das der Fall, so wurden sie bald beschwichtigt, denn das Fräulein rief ihnen einige Worte entgegen, worauf sie grüßend die Mütze zogen und bei Seite traten, um uns doch mit sehr zornigen und haßerfüllten Blicken nachzuschauen.

[57] „Diese Fahrt mit uns wird Sie um Ihre Popularität im Lande bringen, Fräulein Kühn!“ sagte ich. „Und wenn unglücklicher Weise unsere Truppen bei weiterem Vorrücken dieses Thal hinaufziehen würden, wird man Sie beschuldigen, uns den Weg gewiesen zu haben … fürchten Sie das nicht?“

„Nein,“ sagte sie kurz, „meine Landsleute kennen mich.“

Der Geistliche mischte sich in’s Gespräch, und Fräulein Blanche verhielt sich schweigsam, bis wir Colomier erreicht hatten. Dies war wirklich ein Punkt von großer Schönheit. Es war ein rundum fast ganz abgeschlossener Bergkessel, dessen Grund smaragdgrüne Wiesenmatten bildeten. Im Hintergrunde lag ein Gehöft, dicht an eine Felswand geschoben. Rechts davon schoß der Fluß aus einer schmalen Felsenspalte hervor, tosend und schäumend; von dem Gehöft führte eine hochgeschwungene Brücke über ihn fort auf eine Waldwiese, die von dunklen Tannen umstanden war, und von diesem Hintergrunde hob sich ein hübscher geräumiger Pavillon mit seinem hohen, spitzen Schieferdach ab. Ein kleiner, auf den Fluß hinaus sich erstreckender Altan mit einer von Reben umrankten Veranda vollendete das hübsche Architecturbild, das dies schmucke kleine Gebäude bildete.

Die rings umher malerisch gelagerten Felsmassen waren bis zur halben Höhe von einer reichen Vegetation überzogen und verhüllt; sie waren gekrönt von den mächtigen grauen Mauern des alten Schlosses von Colomier, auf dem einst – der geistliche Vetter, der in der Geschichte bewanderter schien, als in der Geographie, hatte es behauptet – die alten Herzoge von Hochburgund zeitweise ihren Sitz gehabt.

Wir fuhren auf den Hof der „Ferme“, in welchem die sinkende Nachmittagssonne bereits sehr tiefe Schlagschatten warf. Bei einer kleinen Berathung, welche entstand, ob wir zuerst in den Pavillon einkehren oder gleich den Weg zur Burg hinauf antreten sollten, bat ich dringend um das Letztere, da der Weg die beträchtliche Höhe hinauf viel Zeit in Anspruch zu nehmen und der Abend zu kommen drohte. Man gab mir nach und wir begannen die Wanderung, während Friedrich mit seinem das Vesperbrod enthaltenden Korbe den Auftrag erhielt, sich den Pavillon von den Leuten der Ferme öffnen zu lassen und dort vorsorglich Alles herzurichten.

Ich brauche unsern Weg nicht zu beschreiben; man weiß, daß alte Burgruinen mit einiger Anstrengung der Kniemuskeln und der Lungen genommen sein wollen. Ich sage nur, daß es ein ganz heilloser Ziegenpfad war, den wir zu erklimmen hatten; desto heiterer war die Stimmung, welche er hervorrief; ich wagte es, Fräulein Blanche den Arm zu bieten, und sie nahm ihn ohne Zögern. Als wir endlich oben im Bereich der Ruine angekommen waren und durch das noch wohlerhaltene Portal, welches die ehemalige Vorburg von der Hauptburg geschieden, in den Hof traten, eröffnete sich uns ein prachtvoller Ausblick über das dunkle tannenumhegte Thal, den sich windenden Flußlauf tief zu unseren Füßen, die nächsten Höhen und ein gutes Stück des alten schönen und reichen burgundischen Landes.

Ich war in einer ganz eigenthümlichen Erregung, in etwas von einem seligen Rausch; daß Blanche mit einer Art von Hingebung, welche vielleicht nur Folge der Ermüdung war, ihren Arm in dem meinen ließ, hatte sicherlich seinen Theil daran. Wir standen lange stumm, jeder wie mit dem schönen Bilde vor uns beschäftigt, von ihm erfüllt und entzückt; aber ich muß gestehen, daß ich im Grunde nur an sie dachte, nur von ihr erfüllt war.

Nach einer Pause sagte sie: „Nun, geben Sie mir Recht?“

„Recht? Worin? Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß ich in einer so tiefen Friedensstimmung bin, daß ich allen Krieg vergessen habe und Jedermann Recht geben möchte? Sind wir in Etwas verschiedener Meinung?“

„O, in tausend Dingen, denk’ ich,“ versetzte sie mit einem weichern mildern Tone, als ich ihn noch von ihr vernommen.

„Und doch könnt’ ich über kein einziges mehr mit Ihnen streiten. Wenn ich auch tausendmal Recht dabei hätte, was nützte es mir? Sie wissen, daß Macht vor Recht geht – und die Macht haben Sie!“

„Die Macht hätte ich?“ sagte sie rasch und erglühte dann in jenem mädchenhaften Erröthen, in jener Verlegenheit, über ein zu rasch gesprochenes Wort, das eine Antwort hervorlocken kann, die man durchaus nicht hervorlocken möchte.

Der Abbé hatte das Zwiegespräch, das ich gern fortgesetzt hätte, gestört; wir sprachen von anderen Dingen; der Geistliche nannte die einzelnen Punkte und Orte, welche wir in der Ferne erblickten. Er wurde dabei sehr beredt und ausführlich; ich sah zu meiner Beunruhigung, wie die Sonne dem Horizont zusank und ihr unterer Rand beinahe schon die blaue Wellenlinie der fernsten Höhen im Westen berührte.

Endlich unterbrach ich ihn, um an die Rückkehr zu mahnen. Blanche schien sich nicht losreißen zu können; sie stand noch lange [58] wie gefesselt von dem Anblick des vor uns ausgebreiteten Bildes, dem der Sonnenuntergang mit seinen magischen Tinten eine wunderbare Schönheit gab. Als wir endlich den Rückweg antraten, dämmerte es bereits; das schwierige Niedersteigen auf unserem Bergwege, wobei sich Fräulein Blanche mit einer gewissen Zerstreutheit oder, um es so auszudrücken Traumverlorenheit ganz meiner Führung überließ, nahm eine geraume Zeit in Anspruch. Als wir endlich unten angekommen waren, flammte uns Licht aus dem Pavillon entgegen; durch die offene Eingangsthür sahen wir eine brennende Lampe, die einen gedeckten Tisch beleuchtete. Friedrich, schien es, hatte das Alles ganz hübsch arrangirt; der Einfall, ein hellprasselndes Kaminfeuer in dem kleinen Salon anzuzünden, rührte jedoch wohl von den Pächtersleuten her. Jedenfalls erhöhte es bedeutend die Behaglichkeit des hübschen, mit einer bescheidenen, aber zum Bewohnen völlig hinreichenden Einrichtung versehenen Raumes. Wir nahmen an dem runden Tische in der Mitte Platz, der Abbé machte die Honneurs des kleinen Mahls und schenkte mir dabei von einem feurigen Burgunderwein ein, der nach unserer mühsamen Fußwanderung doppelt verführerisch war. Fräulein Blanche aß und trank wenig; sie wandte sich bald ab, der Flamme zu, in deren Flackern und Prasseln sie blickte; sie überließ uns Männer unserer lebhaften Unterhaltung, die der Abbé mit großer Redseligkeit im Schwunge hielt; es schien, als ob der feurige Burgunder ihn völlig aufgethaut habe. Nur zuweilen streifte mich Fräulein Blanche mit einem wie forschenden Blicke, der nichts dazu beitrug, das Gefühl von innerem Glücke zu mindern, das ich in dieser meiner traumhaften Situation empfand. Denn war es nicht in der That, als ob ich mich in einem Traume befinde – hierher in dies stille ferne Felsenthal gezaubert, wo das Rauschen der Tannen im Abendwinde und das Schäumen des nahen Berggewässers und das Prasseln der Kaminflamme sich zu einem eigenthümlichen Liede von dem Zauber der fernen Fremde verband, und Fräulein Blanche mit ihrer hinreißenden Schönheit als die Zauberin dasaß, mit der der bewegte Schein der Kaminflamme im neckischem Spiele scherzte, der das Tannenrauschen seine geheimnißvollen Weisen vorsang, der das Gurgeln und Schäumen des Gewässers dunkle Kunde zurief vom Leben und Weben da draußen im tiefen Gestein, von Allem, was sich berge in den dunklen Felsklüften?

Ich muß gestehen, ich hatte nie in meinem Leben eine Stunde, in welcher ich das Herz so erfüllt fühlte von der Poesie romantischer Schwärmerei, von so süßer Traumseligkeit, von solchem Glückvertrauen.

Ach, weshalb mußte so bald Friedrich in der Thür erscheinen und mir Blicke voll stummer Mahnung zuwerfen? Aber freilich, er hatte Recht; es war sicherlich sehr spät; ich sah nach der Uhr; sie zeigte Zehn und ein Viertel! Das war freilich mehr, als ich erwartete!

Der Abbé füllte mein Glas und reichte auch Friedrich eines, als ich an den Aufbruch gemahnt; dann sah er nach seiner Uhr und sagte:

„Es wird halb elf Uhr werden, bevor die Pferde eingespannt sind und wir abfahren können. Wir haben bis nach Hause zwei Stunden zu fahren; wir würden also erst um halb ein Uhr ankommen. Was denken Sie dazu, Blanche?“

„Wenn es so spät ist, können wir nicht mehr heimfahren,“ versetzte sie. „Wir dürfen nicht mitten in der Nacht die Mutter stören … sie hatte gestern eine so üble Nacht, wir dürfen ihr den stärkenden Schlaf der jetzigen nicht rauben!“

„Sie haben Recht, Cousine,“ fiel der Abbé eifrig ein, „wir sind ja hier wohl aufgehoben. Wozu noch heimkehren?“

„Aber ich darf nicht über Nacht meinen Posten verlassen,“ warf ich ein wenig erschrocken über diesen Entschluß ein.

„Ihr Posten ist in vollständiger Sicherheit in Chateau Giron,“ antwortete der Abbé; „ich gebe Ihnen mein Wort darauf, daß ihm Nichts geschehen wird. Deshalb unterwerfen Sie sich ruhig der Entscheidung unserer Dame. Wir haben wohl eingerichtete kleine Schlafzimmer hier, genug für eine größere Gesellschaft, als wir drei bilden; sehen Sie hier das Ihre!“

Er stand auf und öffnete eine Seitenthür; es war ein ganz hübsches Schlafcabinet, mit einem Bett in einer Mauervertiefung, worin er mich blicken ließ.

Ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich schon viel zu sehr im Bann meiner Zauberin lag, um lebhaften Protest zu erheben. Wer hätte auch eine solche Stunde abkürzen mögen, ehe es nöthig; wer das Motiv, daß die leidende Mutter so spät nicht gestört werden dürfe, bekämpfen können. Ich ließ mich bereden, ich leerte das neugefüllte Glas; ich nahm, da Fräulein Blanche zuredete, auch die Cigarre, die der Abbé mir bot. Wir begannen von Neuem zu plaudern; aber sehr bald schon erhob sich Fräulein Blanche, um uns gute Nacht zu wünschen und sich in das Mansardenstockwerk nach oben zurückzuziehen, wo ihre Gemächer lagen; der Abbé hatte für sich ein ähnliches Cabinet wie das meinige und diesem gegenüber zur Seite des Salons liegend.

Blanche warf, als sie an mir vorüberging und mir mit einer Verbeugung gute Nacht wünschte, einen ganz eigenthümlichen Blick auf mich.

Seltsam – es lag etwas von Mißvergnügen, Unzufriedenheit, fast möchte ich sagen Verachtung in diesem Blick und den dabei leise aufgeworfenen Lippen … was hatte ich verbrochen?

Der Zauber der Stunde war verschwunden, als sie gegangen; ich ward still, ich ließ den Abbé reden, und als er mich aufforderte, ebenfalls die Ruhe zu suchen, beeilte ich mich, ihm zu gehorchen. Friedrich, der sich in der Nähe der Thür aufgehalten, war sofort zur Hand, mir beim Auskleiden behüflich zu sein, und wir waren bald in meinem Schlafcabinet allein.

„Die haben’s gleich darauf angelegt, uns hier zu halten!“ sagte Friedrich.

„Glaubst Du? Und woran siehst Du das?“

„Sehen Sie’s nicht … das Bett ist ja aufgemacht, die Spreite abgenommen; das muß die Pächtersfrau, schon ehe wir kamen, gethan haben.“

Ich setzte mich und blickte das aufgemachte Bett mit der fortgenommenen „Spreite“, wie Friedrich das nannte, sehr tiefsinnig fragend an.

„Was denkst Du, Friedrich?“ sagte ich.

„Daß man uns aus unserer Wohnung forthaben wollte und daß dort jetzt etwas geschieht, was wir, wenn wir da wären, vielleicht nicht geschehen ließen.“

„Glauroth wird die Zimmer nicht verlassen!“

„Ob auch über Nacht nicht? Wer weiß! Und er ist allein!“

„Ah bah!“ sagte ich, „ich bin überzeugt, daß dies Mädchen nicht daran denkt, mich betrügen zu wollen! Ich möchte die Hand darauf in’s Feuer strecken, daß sie nicht so arge Perfidie begehen kann …“

„Und bauen Sie so auch auf die Ehrlichkeit des Herrn Abbé?“

„Der Herr Abbé ist kein großes Licht, Friedrich, und thut, was das Fräulein will. Im Uebrigen kommt es ja auf das Alles nicht im Mindesten an. Meine Dienstpflicht verlangt, daß ich nicht über Nacht von meinem Posten fort bin; also mag dies Bett aufgemacht sein, wann und wozu es will, es ist sicher, daß ich nicht darin schlafen werde; wir müssen marschiren, Friedrich, und das sogleich.“

„Wir werden heimkehren?“ rief Friedrich aus.

„Hast Du daran gezweifelt?“

„Herr Vicewachtmeister, es ist ein sehr langer Spaziergang durch die Nacht!“

„Freilich; aber die Nacht ist ziemlich hell und der Weg gut. Also komm!“

„Ohne Abschied?“

„Sollen wir sie stören und erschrecken und am Ende gar zwingen, aus Höflichkeit auch heimzukehren, was sie doch ungern thun? Geh’ hinüber, sag’ den Leuten auf dem Pachthofe, wir seien gezwungen, heimzukehren; bring’ mir bei dieser Gelegenheit meinen Ueberzieher, der im Wagen liegt, und folge mir damit. Ich gehe vorauf.“

Ich nahm Mütze und Handschuhe und verließ möglichst geräuschlos den Pavillon. Friedrich eilte davon und hatte mich sehr bald, nachdem er meinen Auftrag ausgeführt, wieder eingeholt.

Wir schritten rüstig vorwärts. Es war kein Mondenschein, der Himmel auch nicht wolkenfrei, doch sternenhell genug, daß wir unsern Weg und die nächsten Umgebungen deutlich erkannten. Die Kühle der Nacht erleichterte das Gehen; so wanderten wir in einem wahren Attaquenschritt voran, die Säbel in den Scheiden um des leichteren Gehens willen geschultert, mit den Sporen auf dem Chausseepflaster, das bis in das Felsenthal von Colomier sich [59] erstreckte, klirrend. Der Bergfluß rauschte rechts neben uns, unter uns; von links her verdunkelten die Felswände unsern Weg; – ein leiser Zugwind, der das Thal durchstrich, flüsterte in den Bäumen, Stauden und dem Gestrüpp auf den Bergwänden oben.

So waren wir eine halbe Stunde geschritten; wir näherten uns dem Weiler mit der Mühle, dessen ich erwähnt habe; er lag friedlich, lautlos, wie in den tiefsten Schlummer begraben da; aber zu meiner Ueberraschung sollten wir nur zu bald den Beweis erhalten, wie sehr wir uns über diesen Schlummer täuschten. Als wir die Mühle passirt hatten und bereits dem Ende des Ortes nahe gekommen waren, wo die Chaussee eine Wendung machte, sahen wir einen breiten Streifen Licht auf unsern Weg fallen. Er kam aus einem größeren, dem letzten oder vorletzten Hause, dessen Thür offen stand; wir hörten laute, durcheinander eifernde wie trunkene Stimmen; zugleich stürzte sich ein Bauernhund aus der offenen Thür uns mit wüthendem Gebell entgegen; dies lockte ein paar Männer in blauen Blousen mit den Ledergürteln der Franctireurs auf die Schwelle; wir mußten durch die Lichtzone vor ihnen an dem Hause vorüberschreiten; sie erkannten uns, sie erhoben ein Geschrei, stürzten in’s Haus zurück, in dem ein unbeschreiblicher Lärm folgte – wir beschleunigten natürlich auf’s Aeußerste unsern Schritt, im Gehen unsere Säbel, die einzigen Waffen, die wir führten, lockernd; aber wir waren nicht vierzig Schritte weiter gekommen, als ein Schuß fiel, eine Kugel über uns dahin pfiff – dann noch eine, dann zwei, dann ein halbes Dutzend – mir war, als erhielte ich eine flüchtige Berührung am linken Oberarm; im Uebrigen waren die Kugeln harmlos, sie pfiffen weit über unseren Köpfen in die Luft dahin.

Friedrich’s Fortbewegung war längst aus dem Schritt in den gestrecktesten Trab übergegangen – in der That war an Widerstand wider einen solchen Haufen Menschen mit Feuerwaffen nicht zu denken; ich sprang ihm nach, und wieder an der Seite meines Begleiters, rief ich ihm zu:

„Am Ende werden wir doch getroffen, wenn wir ihnen sichtbar auf der Chaussee bleiben – wir müssen uns trennen – lauf’ Du rechts, ich will mich links durch die Weinberge da oben retten!“

Wir hatten eben ein links von der Chaussee zwischen dieser und den Bergwänden schräg auflaufendes Terrain erreicht – ich warf mich da hinein und eilte zwischen den hindernden Rebenpfählen, durch Rankenwerk, über kleine Scheidemauern der Weingärten, über hundert Hindernisse fort … ich hatte wenigstens die Sicherheit, daß ich nicht gesehen wurde und so dem weitern Feuer der Verfolger nicht ausgesetzt sei; aber ich hatte freilich die schwierige Aufgabe, trotz aller meiner Hindernisse schneller zu sein als sie, die die freie Chaussee vor sich hatten – ich hörte sie mit Schreien, und Rufen da unten laufen und rennen.

„Schießt – schießt – schießt auf die Hunde – schießt – Tod den Prussiens!“ hörte ich sie unter mir brüllen; nach einer Weile fielen wieder zwei Schüsse, die aber, wenn sie nicht etwa auf Friedrich gezielt worden waren, völlig in’s Blaue gingen; ich vernahm wenigstens nichts von den Kugeln; das Alles jedoch war völlig hinreichend, um mich mit dem äußersten Aufgebot meiner Kräfte über den fatalen Boden von Kies und Geröll, der gar keinen festen Schritt thun und mich alle Augenblicke wider die Rebenpfähle anfahren ließ, weiter zu rennen. Ich mußte, um mich zu retten, durchaus das Ende dieser Weinpflanzungen eher erreichen als meine Verfolger; kam ich später als sie an, mußte ich vor ihren Augen wieder auf die Chaussee hinunter, so war ich verloren.

Es war eine entsetzliche Jagd. Ich war zuweilen, wenn ich das wüste Gerufe der Franctireurs hörte, nahe daran, das Wettrennen aufzugeben und mich niederzuwerfen, mit der Hoffnung, daß sie mich da ruhig liegen lassen würden, um weiter zu rennen. Aber ich hörte hinter ihnen dann den Hund bellen; die Bestie würde mich gewittert haben; ich mußte weiter, mit schon halbgebrochener Kraft, mit geschwundenem Athem, vorwärts, so lange meine Kniee mich trugen!

Zum guten Glück war die von Weinbergen bedeckte Terrainstrecke lang – vielleicht eine Viertelstunde und noch länger; als ich das Ende erreicht hatte und nun einen steilen Hang, der zur Chaussee niederführte, hinab mehr stolperte oder flog als lief, hatten meine Verfolger die Jagd aufgegeben; ich hörte nichts mehr von ihnen als nur dann und wann das Anschlagen des Hundes – es schien, sie kehrten zu ihrem Weiler, ihrer Schenke zurück, und ich konnte aufathmen!

Vergebens sah ich mich nach meinem Burschen um. Ich lauschte … dann rief ich halblaut – lauter … aber nichts war zu hören. Ich schritt eine Weile langsam fürbaß; dann rief ich wieder – endlich antwortete mir ein leifer Pfiff, der unser Signal „Sammeln!“ nachahmte. Erfreut antwortete ich; ein „Ich komme!“ schallte von drüben des Flusses herüber. Rasch ging ich zum Gewässer hinab; als ich den Rand erreicht, sah ich von der andern Seite her Friedrich tapfer hineinstapfen, – das Wasser reichte ihm bis an die Kniee und schäumte um seine Schenkel; ich streckte ihm meine Säbelscheide entgegen; er ergriff das Ende, und im nächsten Augenblicke war er glücklich an meiner Seite.

„Gott sei Dank, daß Sie heil und lebendig geblieben,“ sagte er aufathmend. „War das ein Dauerlauf! Ich habe mich, als wir auseinanderliefen, gleich durch das Wasser gestürzt; ich wußte schon, die Kerle würden’s mir nicht nachmachen! Das Franzosenzeug hat etwas von der Katzennatur, durch’s Wasser geht es nicht, und wenn’s regnet, läßt es die Ohren hängen! Diese verfluchte Spitzbubenbande! Ich danke nur dem Himmel, daß ich Sie so bald wiedergefunden habe; Sie haben wohl heillos Fersengeld gegeben! Sie waren mir im Nu aus den Augen, als unser Rennen anging; ich machte mir schon bittere Vorwürfe, daß ich Sie verlassen habe, als ich Sie oben nicht gleich wiederfand; wenn Ihnen etwas zugestoßen wäre … aber Gottlob, wir sind heiler Haut diesem tückischen Räubergesindel entkommen.“

Friedrich sprudelte das Alles in großer Aufregung hervor, während wir von dem Bachufer aufwärts gingen, um die Chaussee wieder zu erreichen.

Ich sagte, im Gehen ein wenig hinter ihm zurückbleibend, weil ich mich plötzlich furchtbar ermüdet fühlte: „So heiler Haut bin ich, fürcht’ ich, nicht davongekommen … ich fühle einen schändlichen Schmerz an meinem linken Oberarm; ich glaube, daß es weniger ein harmloser Rheumatismus in Folge der Nachtkühle als die Wirkung einer Chassepotkugel ist, die ich ganz ohne Absicht und bösen Willen in der bekannten ‚rasanten Flugbahn‘ gestört habe!“

„Ah … Sie sind doch nicht verwundet? Lassen Sie mich sehen!“ rief Friedrich erschrocken aus.

Ich lauschte, bevor ich stehen blieb; es war nicht das mindeste Geräusch mehr zu hören … nur ganz in der Ferne das Bellen des Hundes noch, und unter uns das Rauschen des Flüßchens. Wir konnten ruhig innehalten und uns die Zeit gönnen, meinen Arm zu untersuchen.

Die Entfernung meiner Kleider bereitete mir einen doppelt heftigen Schmerz; Friedrich führte Zündhölzer in der Westentasche; als er ein paar entzündet, nachdem ich das Hemd von der Schulter niedergezogen und langsam vom Oberarm gelöst hatte, entdeckten wir eine Streifschußwunde, die nach Allem, was ich fühlte, durchaus nicht tief gehen konnte, aber recht häßlich aussah und schmerzte. Friedrich stürzte fort, um in seiner Mütze Wasser zu holen und mir damit den Oberarm zu waschen; dann diente mein Taschentuch zum Verband; ich zog die Kleider darüber, Friedrich ließ sich nicht nehmen, aus seinem Taschentuch mir eine Binde zu machen, in welcher ich den linken Arm tragen mußte; den rechten schob er unter den seinen, damit ich mich darauf stützen und von ihm führen lasse … und nun schritten wir auf’s Neue in die dunkle Nacht hinein.

Friedrich war ein anstelliger und gewandter Mensch, der aber wie eine Million Anderer so ziemlich roh und unbekümmert in den Tag hineinlebte. Und doch war er plötzlich wie ein Bruder für mich, doch entwickelte er eine Theilnahme, einen Eifer, zu helfen, eine Sorge, die mich mit einem Gefühle der Rührung erfüllte. Wie viel Güte, Brüderlichkeit, aufopfernder Hülfseifer und warme Theilnahme schlummert für uns in den Herzen von Tausenden, nein, von fast allen, von der großen Mehrzahl der Menschen, und ist hier immer und fortwährend vorhanden, wenn sie auch nur sich verrathen und erwachen in dem Augenblicke, wo es sich ihnen aufdrängt, wie sehr wir ihrer bedürfen! Und weil der Krieg Tausende solcher Augenblicke schafft, ist er, der roh macht und verwildert, auch wieder ein großes Apostolat des Gemüthes, eine Aussaat der Brüderlichkeit und Menschenliebe, wie es keine stärkere auf Erden giebt. Ich habe in der That nirgendwo mehr Fähigkeit gefunden, weicheren Gemüthseindrücken nachzugeben, als unter – Soldaten!

Wir erreichten das Ende unseres Felsenthales und gelangten in das weitere Thal des Oignon. Das kalte Wasser hatte meine [60] Schmerzen gelindert, ich suchte meine Müdigkeit zu vergessen und so gelangten wir weiter; sehr mühsam freilich und, je mehr wir uns Chateau Giron nahten, desto weniger rasch; aber wir nahten ihm und wir erreichten es auch glücklich; erleichtert athmete ich auf, als wir ein mattes Licht durch die Fenster meiner Zimmer schimmern sahen.

„Glauroth ist auf seinem Posten geblieben!“ rief ich aus. „Gottlob! ich hätt’ es ihm kaum zugetraut!“

Wir erhielten gleich darauf einen weiteren Beweis von Glauroth’s Diensteifer und Umsicht. Er hatte eine Streifpatrouille von zwei Mann nach uns ausgeschickt, die beim Zurückkommen in der Allee vor dem Schlosse auf uns stieß. Als ich dann mein Zimmer betrat, fand ich Glauroth nichtsdestoweniger in meinem Bett tief in den Armen des Morpheus – vorausgesetzt, daß sein entsetzliches Schnarchen nicht den Gott längst veranlaßt, sein Amt irgend einer unglücklichen Untergottheit zu übergeben. Auf dem Nachttisch brannte eine flackernde Lampe; der Chevalier von Faublas lag, von der Decke niedergeglitten, auf dem Teppich. Glauroth fuhr, als wir ihn schüttelten, mit dem Gurgeln einer Wasserorgel in die Höhe und behauptete, keinen Augenblick geschlafen zu haben. Ich drückte ihm meine völlige Gläubigkeit in Beziehung auf diesen Punkt aus und bat ihn nur, mir sein Lager zu überlassen. Zehn Minuten nachher lag ich mit einem Gefühle tiefer Dankbarkeit für meinen Schöpfer mich auf den Kissen ausstreckend, hatte Glauroth kurz die Situation erklärt und sandte ihn von dannen, alle Hülfsleistungen ablehnend. Was mir noth that, was meine Natur gebieterisch erheischte, war nichts als Ruhe, ungestörte Ruhe, das große Heilmittel Schlaf!

Ich fand ihn sehr bald trotz der Schmerzen, die ich noch immer fühlte, diesen heilkräftigen Schlaf, einen Schlaf, so fest und tief, daß der Tag sehr weit vorgerückt sein mußte, als ich am andern Morgen erwachte. Es war wohl kaum Morgen mehr, sondern fast Mittag. Es wurde mir schwer, mich zu besinnen, was geschehen, wo ich sei, und ob es ein Traumbild oder wirklich Fräulein Blanche sei, was mir gegenüber auf einem Sopha saß, über ein Buch gebückt, und jetzt, wo ich erwachte, sich erhebend, einem Klingelzuge in der Ecke zuschreitend und, nachdem sie diesen gezogen, auf mein Bett zukommend, um sich in den Sessel am Fußende niederzulassen.

„Sie sind es?“ sagte ich verwirrt zu ihr aufschauend.

„Wie fühlen Sie sich?“ fragte sie erregt. „Gottlob, daß Sie erwacht sind – daß man Sie verbinden kann, ich wollte nicht zugeben, daß man Ihren Schlaf unterbreche, und nun wurde mir doch Angst bei diesem langen Schlaf.“ …

Ehe ich meine Gedanken so weit sammeln konnte, um zu antworten – wußt’ ich denn selbst schon, wie ich mich fühlte?! –, trat der Abbé ein, gleich nach ihm Friedrich.

„Verstatten Sie mir, daß ich Ihre Wunde untersuche,“ sagte der Abbé; „ich bin ein Stück von einem Arzt, von einem Wundarzt wenigstens – ich hoffe das Nöthigste thun zu können, bis der Hausarzt kommt, der wohl vor morgen, wo er ohnehin Madame Kühn besucht, nicht anlangen wird – er muß den Weg aus Noroy herüber machen und ist so schwer zu haben!“

Dabei und während Fräulein Blanche verschwand, machte sich der Abbé, wie mir schien mit ziemlich geschickten Händen, an die Entblößung meiner Wunde von ihrem Nothverbande; Friedrich schleppte Wasser und das Verbandzeug, welches schon im Zimmer bereit lag, herbei – ich unterwarf mich schweigend der Behandlung.

„Ich glaube, es ist nichts Gefährliches,“ sagte der Abbé; „es ist eine reine Fleischwunde, die bald heilen wird … der Blutverlust hat Sie wohl ein wenig erschöpft?“

„Der Blutverlust oder der Weg!“ entgegnete ich, „oder beides zusammen – ich fühle wenigstens, daß es mich sehr glücklich machen würde, wenn in den nächsten vierundzwanzig Stunden Niemand von mir verlangte, daß ich ein Glied rühren solle!“

„Gewiß wird das nicht der Fall sein!“ versetzte der Abbé, seine Waschung fortsetzend; dann legte er Charpie auf und begann meinen Arm zu verbinden.

„Sie können den Arm frei bewegen?“ fragte er, als es geschehen.

Ich erhob den Arm; ein heftiger Schmerz zog durch die oberen Muskeln, aber die Bewegung war nicht gehindert.

Fräulein Blanche kam zurück und setzte sich in den Sessel, den sie zuerst eingenommen.

„Ich werde Ihre Pflegerin sein,“ sagte sie mit einer eigenthümlichen harten Bestimmtheit. „Ihr Diener hat mir Alles erzählt, was sich ereignet hat, nachdem Sie Colomier verlassen. Ich bin es gewesen, die an diesem Unfall die Schuld trägt – und ich will Ihnen zeigen, wie schwer das auf mir liegt, wie sehr ich Alles thun möchte, es wieder gut zu machen und die Folgen desselben für Sie zu lindern …“

„Und wenn Sie nicht die Schuld trügen?“ fragte ich, langsam meine Gedanken sammelnd.

„Was meinen Sie?“

„Würden Sie dann auch – vorausgesetzt, ich bedürfte einer weiblichen Pflege – mir diese mit derselben Güte bieten?“

Sie sah mich an, ohne zu antworten.

„Sie begreifen,“ fuhr ich lächelnd nach einer Pause fort, „daß das mich sehr glücklich machen würde; wenn Sie mir jetzt jedoch sagen, daß blos das Bewußtsein, schuld an meinem Unfall zu sein, blos das Bedürfniß, dies wieder gut zu machen, Sie zu so viel Selbstverleugnung führt, so antworte ich Ihnen: ich danke Ihnen; die ganze Sache ist nicht so ernst und ich werde sogleich aufstehen, um Ihnen zu zeigen, daß ich wirklich eines so aufopfernden Dienstes nicht bedarf, daß Ihre ‚Schuld‘ in der That nicht sehr groß ist, daß Sie auf das, was mir zugestoßen, durchaus kein Gewicht zu legen brauchen!“

Sie fuhr fort mich schweigend zu betrachten. „Ich verstehe Sie nicht,“ sagte sie dann, wie aus Gedanken auffahrend; „was Sie sagen, ist unfreundlich …“

„Ich will nur sagen, daß ich lieber einen Beweis Ihrer Güte sehen möchte als einen Beweis Ihrer Gewissenhaftigkeit. Doch genug. Lassen Sie mich Ihnen sagen, daß ich nicht begreife, wie Sie sich die Schuld meines Unfalls zuschreiben können!“

Sie senkte tief ihre Blicke in mein Auge und sagte dann:

„Sie sind nicht aufrichtig jetzt! Ihr Herz strömt über von einem häßlichen, giftigen Verdacht – doch nein, einem Verdacht, der nur zu natürlich ist! Sie sind überzeugt, daß wir Sie haben in einen Hinterhalt locken wollen; aus den Angaben Ihres Dieners habe ich entnommen, wie die Beobachtung, daß wir von vornherein Sie in Colomier über Nacht halten wollen, Sie aufgeschreckt und veranlaßt hat, im Stillen auf und davon zu gehen! Beweist das nicht Ihr Mißtrauen hinlänglich?“

[73] Friedrich hatte sich längst mit den gebrauchten Sachen entfernt und konnte nicht von mir zum Zeugen aufgerufen werden, daß Blanche sich irre; der Abbé hatte mit ihm das Zimmer verlassen, um mir, wie er sagte, zu essen bringen zu lassen; wir waren allein.

„Ich ging, weil es meine Pflicht war, nicht über Nacht von meinem Posten zu bleiben,“ sagte ich. „Blos und allein deshalb!“

„In der That?“ rief sie mit besonderer Lebhaftigkeit aus. „Ist das wahr!“

„Gewiß – können Sie daran zweifeln?“

„Ich zweifle immer daran, daß ein Mann sich aus bloßem Pflichtgefühl eine große Anstrengung zumuthet, während er soviel Gründe oder Vorwände hat, sich die Nothwendigkeit derselben wegzuleugnen!“

„Sie haben keine große Achtung vor männlichem Pflichtgefühl!“ bemerkte ich.

„Nein!“ sagte sie trocken.

„Und doch war es blos das, was mich gestern Abend veranlaßte, mich loszureißen aus einer Situation, die – glauben Sie es mir – einen sehr großen Zauber für mich hatte; was mich verzichten ließ auf das Vergnügen, heute an Ihrer Seite heimzufahren …“

„So danke ich Ihnen,“ sagte sie lebhaft und mir wie unwillkürlich die Hand hinstreckend … „ich danke Ihnen, und will Ihnen obendrein noch gestehen, daß es mich freut …“

Sie stockte mit einem leichten Erröthen.

„Freut? Was?“

„Daß Sie fester gewesen sind, als ich gestern, wo ich Sie sehr nachgiebig fand, glaubte!“

„Aber, wenn ich Sie nun auch noch von aller und jeder Schuld an meinem Unfall freispreche, fällt auch für Sie die Pflicht fort, sich meiner Pflege anzunehmen und die barmherzige Schwester bei mir zu spielen.“

„Sie scheinen darauf auszugehen, mir dies schwer zu machen!“

„Nein, gewiß nicht! Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie glücklich es mich machen würde, wenn Sie bei mir – über die Pflicht hinaus – blieben …“

„Ah,“ fiel sie, wie um meine Versicherungen über diesen Punkt rasch abzuschneiden, lächelnd ein, „wir Frauen vermögen allerdings noch mehr, als was Pflicht ist, zu thun; aber es ist sehr viel verlangt, daß ich Ihnen einen Beweis davon geben soll.“

„Sie haben Recht, der Fremde, der ‚Feind‘, verdient das nicht um Sie. Wie müßte der Mann sein, um den Sie so viel thun könnten, etwas Schweres, etwas Außergewöhnliches, weit über die gewöhnliche Christenpflicht Hinausgehendes …“

„Er müßte ein außergewöhnlicher Mann sein, ein Charakter, der seine Leidenschaften zu besiegen und zu beherrschen verstände.“

„Doch mit Ausnahme der Leidenschaft für Sie!“ sagte ich.

Sie sah mich an, wie um den leisen Ton von Spott zu bestrafen, mit dem ich gesprochen.

„Nein,“ antwortete sie scharf, „er müßte auch die Leidenschaft für mich mit unerschütterlicher Kraft zu beherrschen und zu unterdrücken wissen, wenn die Vernunft oder die Pflicht es von ihm verlangten.“

„So weiß ich doch, auf was ich meine Wünsche richten muß – auf die Gelegenheit, vor Ihnen erscheinen zu können als solch eine Art Hercules, der die Lernäische Schlange seiner Leidenschaft, als eine Art Thierbändiger, der die Tiger seiner bösen Neigungen zu Boden ringt!“

„Ich spreche mehr im Ernst, als Sie zu glauben scheinen!“

„Und in meiner Seele, Blanche, ist ebenfalls mehr Ernst, als meine Worte verrathen mögen!“ sagte ich, ihre Blicke suchend.

Sie sah mich wie betroffen über die vertrauliche Anrede an, wandte dann rasch die Augen zur Seite und sagte:

„Ich muß Ihnen doch den Ueberfall, dessen Opfer Sie wurden, erklären. Ich vernahm Alles bereits in der ersten Morgenfrühe von dem Pächter in Colomier. In dem Weiler, durch welchen wir fuhren, hatte Ihre Erscheinung ein großes Aufsehen, eine bedeutende Aufregung hervorgerufen; man hatte sich am Abend in der Schenke zusammengefunden; dort hatten sich die Köpfe erhitzt, unter dem Einflusse unseres feurigen Landweins war man in eine Erregung gerathen, in welcher die Worte und Reden nicht mehr genügten, sondern sich durch irgend eine That austoben mußten – und die That, welche man beschloß, war eine allgemeine Bewaffnung und ein Recognoscirungsmarsch auf Colomier gewesen, um zu erfahren, was aus den Herren Preußen, die nicht von dort zurückkehrten, geworden, was sie dort begännen und ob sie nicht etwa mich oder den Abbé, die sich zu ihrer Begleitung hergegeben, erwürgt oder von dannen geführt. Ein Haufe von ein Dutzend oder mehr Burschen setzte sich also in Bewegung und trabte mit den Waffen, die man an einen Theil der Bevölkerung vertheilt hat, durch den dunkelnden Abend gen Colomier. Etwa zehn Minuten vor unserm Gute stießen sie auf unsern Pächter, der eben heimkehrte; dieser hatte Mühe, ihren kriegerischen Eifer zu dämpfen und ihnen deutlich zu machen, daß die preußischen Soldaten [74] von seiner Herrschaft als Gäste behandelt würden und in bester Eintracht die Nacht unter ihrem Dache zubringen würden; er beschwor sie, ruhig heimzukehren; er drohte ihnen mit den Nachtheilen, welche es für sie haben würde, wenn sie einen Ueberfall der fremden Soldaten ausführten, und so gelang es ihm, sie zu überreden, heimzugehen. In ihrem Weiler daheim müssen sie jedoch zuerst wieder die Schenke aufgesucht haben, und das Unglück hat gewollt, daß sie Ihrer ansichtig geworden sind, als Sie durch das Dorf wanderten. Ich brauche Ihnen nicht zu schildern, wie fürchterlich ich erschrak, als der Pächter heute Morgen in der Frühe mir den ganzen Hergang erzählte. Was aus Ihnen geworden, wußte er nicht; so eilen wir, mein Vetter und ich, in größter Eile hierher – Ihr Diener war, als wir kamen, bald zur Hand und konnte wenigstens die Beruhigung geben, daß Sie lebend heimgekommen – aber es blieb die Angst um Ihre Verwundung und – über das, was Sie von uns denken konnten!“

„Ich sollte Ihnen dankbar sein für diese Sorge,“ erwiderte ich; „ich wäre es auch aus tiefster Seele, wenn Sie nicht diesen Zusatz machten! Es liegt darin für mich etwas furchtbar Kränkendes!“

„Mein Gott, Ihr Argwohn wäre so natürlich gewesen …“

„Nein; Argwohn, Mißtrauen, der Glaube an eine abscheuliche Heimtücke in meiner Brust gegen Sie wäre das Unnatürlichste, was es geben kann. Fühlen Sie das nicht? Sie müssen sehr blind, sehr taub gewesen sein, wenn Sie nicht wahrgenommen hätten, daß das nicht möglich ist!“

Ich sagte das sehr bestimmt, fast, fürchte ich, mit einem Ausdrucke des Zorns – wenigstens antwortete sie lächelnd:

„Und das erbittert Sie so? Wenn ich blind und taub war, so war das ja nur desto schlimmer für mich, die sich deshalb unnütz ängstigte, und es ist sehr undankbar von Ihnen, mir vorzuwerfen, daß der Gedanke mich geschmerzt habe, ich könne von Ihnen falsch beurtheilt werden!“

„Und doch ärgert mich furchtbar, daß Sie es denken konnten. Es giebt eben Gefühle, welche ihre eigene Logik haben!“

Sie erröthete wieder flüchtig – einer Antwort wurde sie überhoben, denn Glauroth trat ein. Er hatte von Friedrich gehört, daß ich erwacht und verbunden sei, und wollte sich jetzt selbst von meinem Ergehen überzeugen. Blanche benutzte die Gelegenheit, um stumm zu verschwinden.

Ich mußte Glauroth mein Abenteuer, obwohl er es längst von Friedrich gehört, noch einmal erzählen; die Conjecturen, die er machte und die viel von dem Mißtrauen enthielten, das Fräulein Blanche bei mir vorausgesetzt, schnitt ich ab, indem ich ihn nach seinen Erlebnissen am gestrigen Tage fragte. Er versicherte, ohne Unterbrechung meine Zimmer gehütet zu haben; sein Souper habe er sich hereinbringen lassen; der Gärtner, der es ihm servirt, sei nachher noch unter allerlei Vorwänden mehrmals hereingekommen – er sei endlich zwischen neun und zehn Uhr noch mit einem Mädchen zurückgekehrt, und dieses habe, offenbar in der Absicht, Glauroth zum Fortgehen zu bewegen, begonnen, aufzuräumen und auszukehren – der Gärtner habe ihm dabei bedeutet, die Zimmer müßten jetzt, da ich jeden Augenblick zurückkommen könne, endlich aufgeräumt, ausgestäubt, die Betten gemacht werden, was, da Glauroth den ganzen Tag darin geblieben, bis jetzt nicht habe geschehen können; mein Stellvertreter hatte darauf sehr freundlich genickt, wie er sagte, und war geblieben, war auch vor dem furchtbaren Lärm und Staub, den die Beiden machten, nicht geflohen – er war im Zimmer geblieben.

„Daß sie mich um die Welt gern hinausgehabt hätten,“ sagte Glauroth, „war mir durchaus klar. Aber ich wich nicht!“

„Tugendhafter Mensch!“ rief ich aus. „Und der Chevalier von Faublas?“

„Köstlich!“ versetzte er, „ganz köstlich! Muß sich unser Eins auf den Schulbänken jahrelang mit Cicero’s Reden und Xenophon’s Anabasis herumschlagen, und unterdeß giebt es solche Bücher in der Welt!“

Glauroth verbreitete sich in einer längeren Rede über die fesselnde Lectüre, die ich ihm verschafft; dann kam er zu der Sorge, die er um mich gehabt und die ihn doch nicht gehindert, sehr fest einzuschlafen, zu der Vorsicht, die wir gegen unsere Quartiergeber zu beobachten hätten, und den Fragen zurück, welche sich an die Absicht derselben, mich in Colomier zu halten und ihn aus den Zimmern fortzubringen, für uns knüpften. Ich beruhigte ihn, so weit ich konnte, um auf andere Gesprächsgegenstände zu kommen; ich beschrieb ihm unsere Fahrt und Colomier; es war mir peinlich, die argwöhnische und spöttische Weise, wie er von unseren Wirthen sprach, anzuhören; ich mochte ihn überhaupt nicht von Blanche reden hören, es gab mir jedesmal einen Stich.

Und doch war ich selbst ja nicht frei von Argwohn. Ich wußte, daß sie völlig unschuldig war an dem Ueberfalle; dagegen war es klar, daß man ein Geheimniß in meinen Zimmern berge und daß man mich und Friedrich daraus über Nacht fortzuhalten gesucht und daß die vorgeschlagene Partie nach Colomier keine Freundlichkeit war, sondern daß sie eine sehr berechnete Absicht hatte. Zwar in der Kammer da hinten konnte schließlich doch nichts Anderes verborgen sein, als etwa eine Anzahl guter neuer Repetirgewehre, welche jene flüchtigen Freischärler, die wir vor uns hergetrieben, da untergebracht, und die nun hinter unserm Rücken fortgeschafft werden sollten … ich hatte das gleich gedacht und hätte jetzt darauf geschworen! Und daß ich das so bitter empfand, war sicherlich sehr thöricht!

Aber es kam eben etwas hinzu, was mich innerlich stachelte und quälte, und obwohl es ein sehr garstiges Mißtrauen war – ich ward es nicht los! Ich hatte mit einer gewissen soldatischen Keckheit, mit der Art übermüthiger Verwegenheit, wie solch wildes Kriegsleben sie hervorruft, Blanche sehr unumwunden den Eindruck erkennen lassen, den sie auf mein Herz gemacht; sie hatte diese nicht sehr verhüllten Geständnisse mit einer großen Güte aufgenommen; aber, fragte ich mich nun, ist das auch nur ein Theil eines Spieles, das sie glauben, mit dir führen zu können? Wird auf diese Vertraulichkeit und Güte der volle Hohn der Zurückweisung folgen, wenn der Zweck erreicht ist?

Jedenfalls wollte ich in’s Klare darüber kommen, und um so entschiedener, als das Mißtrauen etwas meiner Natur Fremdes, mich unsäglich Quälendes ist. Aber mußte ich nicht seine Pein doppelt fühlen noch nach wenig Stunden, da Blanche zu meiner Ueberraschung wieder in mein Zimmer trat? … ich hatte ihr das Wiederkommen durch mein Benehmen am Morgen gewiß nicht erleichtert. Und dennoch kam sie.

„Ich komme um zu erfahren, ob Sie wohlverpflegt sind und Alles haben, was Sie bedürfen,“ sagte sie, „oder, um aufrichtiger zu sein, eigentlich in der Spannung, zu erfahren, ob Sie Wundfieber haben oder nicht?“

„Wollen Sie meinen Puls fühlen, so werden Sie sich, glaube ich, überzeugen, daß ich kein Wundfieber habe,“ versetzte ich.

„Den Puls versteh’ ich nicht zu fühlen,“ sagte sie, „aber es beruhigt mich sehr, wenn das Fieber Sie bis jetzt verschont hat; es wird dann hoffentlich ganz ausbleiben.“

„Auch mich freut es,“ versetzte ich, „ich habe dann die Gewißheit, schon morgen wieder auf sein zu können, um jene Gelegenheit zu suchen, von der wir heute Morgen redeten.“

„Welche Gelegenheit?“

„Die Gelegenheit vor Ihnen in der Rolle des moralischen Hercules aufzutreten …“

„Sie spotten,“ erwiderte sie, „und glauben, ich leide an einer überspannten und romantischen Idee, wie sie so oft die Träume junger Mädchen beherrscht. Sie haben Unrecht. Was ich Ihnen gestanden, ist mir tiefer und heiliger Ernst. Ich darf sagen, ein sehr schmerzlicher Ernst, denn eine schmerzliche Lebenserfahrung hat ihn mir eingegeben.“

„Eine schmerzliche Lebenserfahrung?“

Blanche hatte sich wieder in den Sessel am Fußende meines Bettes gesetzt; nach einer Pause sagte sie:

„Weshalb sollte ich es Ihnen nicht erzählen? Sie werden dann einsehen, daß Ihr Spott mir Unrecht thut. Es war ein Jahr vor dem Tode meines Vaters, als dieser mich mit dem Sohne eines Geschäftsfreundes verlobte. Sie wissen, es ist das mehr Sitte in Frankreich, als in Ihrem Deutschland, bei solchen Verbindungen weniger die Herzen als die Interessen zu fragen …“

„Sie sind verlobt, Blanche?“ rief ich erschrocken aus. „Sie waren es! Sagen Sie mir, daß Sie es waren!“

„Hören Sie meine Erzählung an. Ich liebte meinen Verlobten, den ich früher wenig gesehen, nicht; aber er gefiel mir, er flößte mir Vertrauen ein, ich war von den ehrlichsten Gefühlen für ihn erfüllt; ich malte mir die Zukunft, wie er sie mir gestalten würde, als eine glückliche und rosige aus. Er war aufmerksam gegen mich, er war wohlerzogen und von großer Gutmüthigkeit, gefällig gegen Jedermann. Nur begann nach einer längern Zeit

[75] in meinen Traum sich eine ängstliche Sorge zu mischen: Adolph reiste viel, und wenn er heimkehrte, entging mir jedesmal eine gewisse Spannung nicht, welche zwischen ihm und seinen Eltern herrschte, bei denen ich längere Zeit zum Besuche war. Ich fand ihn selbst dann verstimmt, kleinmüthig, geneigt zu einer Selbstironie und Selbstverachtung, die mich in ihm, in dem ich nur Stärke und Selbstbewußtsein erblicken und verehren wollte, jedesmal ganz unglücklich machten und empörten. Mein Vater hatte die Zeit unserer Verbindung, die schon festgesetzt war, aus Gründen, welche mir mehr Vorwände, als wirkliche Gründe schienen, hinausgeschoben; kurze Zeit nachher wurde uns mein Vater durch den Tod nach kurzer Krankheit entrissen. Nachdem ich ihn verloren, mußte sich mein Gemüth desto weicher und inniger an meinen Verlobten schließen … aber ach, dieser kam erst nach Wochen, kam in einer seltsamen Verfassung – es war, als habe er eine Krankheit überstanden; er war bleich, matt, schweigsam, energielos in Allem, was er that und sagte; es war, als habe ihn aller Jugendschwung, aller Lebensmuth verlassen. Ich litt darunter, ich verlangte eine Aufklärung von ihm, von meiner Mutter – umsonst! Er kehrte zu den Seinigen heim, und ich quälte mich vergeblich, zu ergründen, was mit ihm geschehen. Da kam mir Etienne, mein Vetter, zu Hülfe. Er sagte mir eines Tages, als ich ihm meine Unruhe klagte, weil ich seit Wochen keinen Brief von Adolph erhalten:

‚Es wäre am besten, wenn Du nie wieder einen Brief von ihm erhieltest. In der That, Du bist Dir selbst schuldig, mit diesem Menschen zu brechen, und es ist nicht recht von Deiner Mutter, daß sie nicht längst den ersten Schritt dazu gethan. Die Hoffnung, daß er sich bessern werde, ist so thöricht, so kindisch …‘

‚Sich bessern werde? Wovon, von welchen Fehlern?‘

‚Von seinen Leidenschaften, deren jämmerlicher verachtungswürdiger Sclave er ist. Er ist ein Trunkenbold, ein Spieler und weiß Gott was Alles. Er hat tausendmal seinen Eltern die besten Versicherungen gegeben, sich selbst, wie ich nicht zweifle, die heiligsten Schwüre abgelegt, der Versuchung nicht wieder zu unterliegen. Aber so oft ihm sein Vater getraut und ihn aus seiner Aufsicht entlassen hat, ebenso oft ist er zurückgekehrt in der elendesten Verfassung von Paris, von Lyon, von Frankfurt, aus den deutschen Bädern – er hatte Unsummen verzecht, verspielt, im Saus und Braus weniger Tage verbraucht, und was heimkehrte, war – ein erbärmlicher armer Sünder!‘

Das war der Kern dessen, was Etienne mir enthüllte. Was bei allem Dem in mir vorging, brauche ich Ihnen nicht zu schildern, Sie werden selbst sich sagen können, wie es mich bei all’ der redlichen und heiligen Herzensstimmung traf, mit der ich mein Leben diesem Menschen hatte opfern wollen, und wie tief es mich jetzt schmerzte und innerlich vernichtete, seitdem ich meinen Vater verloren und auf den Blick in die Zukunft an der Seite Adolph’s alles Leben meiner Seele so zu sagen concentrirt hatte!“

„Und was thaten Sie?“ unterbrach ich sie voll Spannung.

„Ich schrieb seinem Vater, um mein Verhältniß zu lösen; sein Vater war ehrenhaft genug, um mit einer gewissen resignirten Würde mein Recht zu diesem Schritte gelten zu lassen. Adolph blieb stumm während dieser Verhandlung, und ich habe ihn nicht wiedergesehen!“

Die kurze Erzählung hatte mich tief bewegt; ich fand jedoch kein Wort, dies auszudrücken und sah sie schweigend an. Dann sagte ich: „Dieser Adolph war ein Deutscher?“

„Ja, sein Vater war aus dem Lande drüben, aus Baden; er besaß Etablissements im Elsaß und wohnt in Frankreich.“

„Und nach diesem einzigen Beispiel eines halbdeutschen jungen Mannes beurtheilen Sie nun die Deutschen und die Männer sammt und sonders?“

„Nein, ich bin nicht so thöricht. Aber ich habe durch diese Lebenserfahrung zu beobachten und zu sehen gelernt. Ich habe gelernt, Dinge zu sehen, für die ich früher blind war, und es zu meinem Glücke war; und zu diesen Dingen gehört eine bedauernswerth schwache Widerstandskraft aller Männer gegen ihre Neigungen, gegen die leichteste Versuchung, die an sie herantritt, eine, ich möchte behaupten, völlige Ohnmacht gegen ihre Leidenschaften!“

„Wenn ich bei einer Sache, welche Sie mit solchem Ernst erfüllt, scherzen könnte,“ sagte ich, „so würde ich sagen: um Sie mit uns Männern zu versöhnen, müßte man also damit beginnen, seine Leidenschaft für Sie zu bezwingen und Ihnen zu entsagen. Würden Sie das für einen Kraftbeweis nehmen, der uns in Ihren Augen rehabilitire?“

„Lassen wir diese Debatte fallen,“ versetzte sie, „ich habe Ihnen das Alles nur gesagt, weil ich nicht wollte, daß Sie mich für thöricht hielten. Lassen Sie mich zu etwas Anderem übergehen, das mir schwer auf dem Herzen liegt.“

„Und das ist?“

„Sie sind in jenem Weiler überfallen worden, es sind Schüsse auf Sie gefallen, Sie sind dadurch verwundet … Ihr Kriegsbrauch ist in solchen Fällen so barbarisch; Sie legen schwere Contributionen auf die feindlichen Orte; die Häuser, aus denen geschossen wurde, werden niedergebrannt …“

„Ah – und Sie fürchten, ich würde jenen Weiler so bestrafen lassen?“

„Wie sollt’ ich es nicht?!“

„Ist es nicht meine Pflicht, die Sache zur Anzeige zu bringen? Und wenn ich im Eifer, nur Ihren Wunsch, der Schonung jener Menschen von mir verlangt, zu erfüllen, diese Pflicht verletzte – würden Sie mich nicht wieder mit demselben Blick der Verachtung ansehen, der mir gestern Abend von Ihnen zu Theil wurde, weil ich mich so leicht von meinem Posten fern zu halten schien?“

„Sie sind grausam,“ antwortete sie lächelnd. „Nein, ich würde nur denken, Sie hätten über die Dienstpflicht eine höhere Pflicht, die der Menschlichkeit gestellt!“

„Und Sie würden mich gütig, sehr gütig ansehen, Blanche, trotz dieser Auswechslung der einen rauhen und sehr grimmig aussehenden schnurrbärtigen Pflicht gegen die andere, die so viel liebenswürdiger aussieht, mit ihren schönen Augen mich anblickt und mir Glück verheißt?“

„Gewiß würde ich es,“ antwortete sie mit unnachahmlicher Anmuth bittend die Hände zusammenlegend.

„Sie werden sich selber untreu,“ sagte ich, „indem Sie mir einen Lohn in Aussicht stellen für etwas, das Ihnen doch ein neuer Beweis für Ihre Theorie über Männerschwäche wäre.“

„O, Sie wollen so abscheulich grausam, so barbarisch sein …“

„Nichts von dem will ich sein – beruhigen Sie sich; Ihr Weiler bleibt ungehärmt. Ich bin nicht im Dienst dort gewesen, nicht von meinen Obern hingesandt, nicht als Soldat, nur als Ihr Gast. Wie Sie das Dorf für die Behandlung, die es Ihren Gästen zu Theil werden läßt, strafen wollen, bleibt Ihre Sache!“

„Ah,“ sagte sie aufathmend und mir in lebhafter Bewegung die Hand reichend, „Sie sind gut!“

„Wenn Sie das glauben, weshalb vertrauen Sie mir dann nicht ganz?“

„Thu’ ich das nicht? Sie flößen mir jedes Vertrauen ein.“

„Wie würde mich das erfreuen, wenn es wahr wäre!“

„Was beweist Ihnen, daß es nicht so ist?“

„Sie haben mich geflissentlich in Colomier über Nacht halten wollen. Wozu? Was sollte geschehen in dieser Nacht, wenn ich nicht heimgekehrt wäre?“

Blanche veränderte plötzlich ihre Farbe; es war ein scheuer Blick der Verlegenheit, den sie auf mich warf; dann aber sah sie mich fest und offen an und sagte: „Ich kann nicht unwahr sein und es würde mir am Ende nicht nützen, wenn ich leugnete. Sie würden mir nicht glauben. Nun wohl denn, es ist so!“

„Und was bezweckten Sie durch diese kleine List, in der für mich so viel Demüthigendes liegt? Ich war froh über Ihre Güte, über diesen Beweis von Freundschaft, mich zu Ihrem romantischen Besitzthum zu führen, über das Glück, so lange in Ihrer Nähe sein zu dürfen; wie tief es mich kränkte, die Entdeckung machen zu müssen, daß Sie einen besondern und geheimen Beweggrund dabei hatten, will ich Ihnen nicht schildern.“

Sie sah zu Boden und legte die Hände in den Schooß.

„Ich that es nicht gern!“ sagte sie mit einem Tone, der tief aus ihrer Seele zu kommen schien, wie überhaupt Alles, was sie sagte, heute einen so ganz andern Ton hatte, als gestern; gestern war etwas Feindseliges, Spöttisches in ihrem Tone, wenigstens bis zu unserer Wanderung auf die Burgruine – sie schien über das Bewußtsein, daß in mir ein Feind ihr gegenüberstehe, nicht fortzukommen und wie mit sich selbst im Hader zu sein, daß sie diesen Feind anhöre, und ihn mit anscheinender Güte anhöre; heute dagegen war sie, wohl durch das Ereigniß der Nacht umgewandelt, in einer eigenthümlichen Weise milde und ernst, als ob eine Bewegung [76] des Gemüths sie beherrsche, und sie viel zu sehr beherrsche, um daran denken zu können, es zu verbergen.

„Weshalb thaten Sie es denn?“ sagte ich. „Machen Sie meinen großen Schmerz und Kummer, daß ich dupirt werden sollte, wieder gut, indem Sie mir anvertrauen, was Sie dazu bewog! Sie bergen mir irgend ein Geheimniß; Sie haben irgend eine Sorge, die Ihnen durch meine Anwesenheit in Ihrem Hause, in diesen Zimmern erwachsen ist. Sagen Sie mir, was es ist und wie ich Ihnen helfen kann! Glauben Sie mir, daß ich Alles thun werde, was ich irgend vermag, um Ihnen Ihre Sorge zu nehmen.“

Sie schüttelte stumm den Kopf.

„Mein Gott,“ fuhr ich eifrig und warm fort, „sehen Sie denn nicht, welches Gefühl Sie mir einflößen und wie Sie von diesem Alles, was Sie wollen, verlangen können. Sie selbst sind ja überzeugt, daß ein Mann einer solchen Leidenschaft jedes Opfer bringt. Bauen Sie auf diese Leidenschaft, verlangen Sie von ihr, werfen Sie Ihre Sorge auf sie – o wie glücklich würde es mich machen, wenn Sie mir vertrauten!“

Sie sah mich mit gerunzelten Brauen scharf an; ihre Lippen bewegten sich, und doch sprach sie nicht; sie verschluckte, was sie sagen wollte. War es vielleicht eine Frage, die ihr auf den Lippen lag, die Frage: „Lügen Sie mir dies Gefühl, diese Leidenschaft nicht vor, um mir mein Vertrauen zu entlocken, und dann es als Feind zu mißbrauchen?“ – Vielleicht war es das, was sie jetzt sich selber fragte; und konnte ich es am Ende ihr verdenken, ich, der das ganz gleiche Mißtrauen in die Güte gesetzt, welche sie mir bewiesen? Solche Gegenseitigkeit des Argwohns, solch eine Wiedervergeltung, die ihre Gedanken gegen die meinen übten, hätte doch etwas sehr Verzeihliches gehabt. Und doch hätten sie mich empört, und ich glaube, ich wäre in eine wahre Verzweiflung gerathen, wenn sie dieselbe mir gestanden. Ein ehrliches Herz ist so reizbar gegen Verkennung, und ein verliebtes ist oft so ungerecht!

Nach einer Pause beruhigte sie mich mit den Worten: „Ich vertraue Ihnen gern – ich gäbe Ihnen sehr, sehr gern einen Beweis meines Vertrauens; diesen kann ich Ihnen nur nicht geben; wir bergen gar kein Geheimniß vor Ihnen in diesem Hause …“

„Und weshalb sollte ich die Nacht über dann in Colomier gehalten werden? Sie müssen gestehen, daß ein Zweck damit verbunden war.“

„Es ist hart von Ihnen, daß Sie mich drängen, es zu gestehen,“ versetzte sie tief erröthend, „vielleicht wollte ich Sie nur auf die Probe stellen und erfahren, ob ich so viel Einfluß auf Sie üben könne, oder ob Sie Ihrer Pflicht untreu zu machen seien wie alle Anderen!“

Es lag etwas in diesem Bekenntniß, was auch mich erröthen ließ und mich glücklich machte. Und doch war es sehr thöricht von mir, mich dadurch beglückt zu fühlen. Denn war der Argwohn in mir begründet, daß Blanche’s ganze Freundschaft für mich nur ein listiges Spiel sei, dann waren ja auch diese Worte nur ein schlaues Betrügen! O gewiß waren sie das; ich wußte ja, daß man ganz andere Motive hatte, mich in Colomier zu halten!

Es war eine verzweifelte Situation und ich wußte nicht, wie sie enden und wie herauskommen! Sollte ich noch weiter gehen, als ich schon gethan, noch unumwundener Blanche meine Leidenschaft gestehen? Mein Gott, ich hatte es schon so offen und klar gethan – und war nicht klüger dadurch! Und doch war etwas in mir, was mich unwiderstehlich drängte, auf diesem selben Wege noch weiter zu gehen; es kam ein stürmisches, leidenschaftliches Gefühl über mich, das mich nicht schweigen ließ; als ob ich das Peinliche der Situation enden könne, wenn ich diese einer Katastrophe zudrängte, rief ich aus:

„Mag das wahr sein, was Sie da sagen, Blanche, oder mag es nicht wahr sein, Sie gestehen mir ein Interesse damit ein, und dies Geständniß giebt mir den Muth, ganz ohne Rückhalt zu Ihnen zu reden. Ihre Erscheinung hat vom ersten Augenblicke an einen Zauber auf mich geübt, wie ich ihn nie empfunden; seitdem ist aus diesem Gefühl eine Leidenschaft geworden, die ich nie werde besiegen können. Sie haben Recht, darin bin ich ein Mann, und ich fühle, daß ich dieser Leidenschaft Sclave von jetzt an bis an meines Lebens Ende sein werde. Ich werbe jetzt – denn ich weiß, wie wenig der Augenblick dazu da ist – nicht um Ihr Herz; ich bin nicht blind gegen Alles das, was heute noch zwischen uns steht. Aber der Friede wird zurückkommen; wenn das Allgemeine des Einzelnen nicht mehr bedarf, wird der Einzelne sein Leben für sich wieder beginnen können; ich werde dann zu Ihnen in einem andern Kleide als meinem jetzigen, das Sie an die Kluft, die zwischen uns liegt, erinnern muß, zurückkehren – nur für die Zeit, Blanche, lassen Sie mir die Hoffnung, daß Sie mich alsdann freundlich aufnehmen und anhören werden, was ich sagen kann, um Ihr Herz zu gewinnen … o bitte, gehen Sie nicht, wenden Sie sich nicht so erschrocken ab – was ich Ihnen sage, kann Sie nicht überraschen, und Sie selbst tragen die Schuld, wenn ich schon jetzt es Ihnen so offen sage! Ich möchte damit ein Verhältnis des Vertrauens und der rückhaltlosen Offenheit gewinnen, ich möchte das Mißtrauen in Ihnen, das mich mehr peinigt, als ich es Ihnen sagen kann, enden … nur das möcht’ ich für heute, für diesen Augenblick schon: ich will, ich muß den unseligen Argwohn aus meinem Herzen reißen können, der mich quält!“

Ich hatte nicht den Muth, weiter zu reden; nicht den Muth, ihr diesen Argwohn geradezu auszusprechen; denn war mein Argwohn unbegründet, waren die Beweise von Freundschaft, die Blanche mir gegeben, wirklich nur der Ausdruck eines Interesses, die Folgen einer keimenden Neigung, so würde ich sie zu grenzenlos beleidigt, ihr das ganze Herz umgekehrt und mir für immer entfremdet haben!

Sie war erschrocken beim Anfang meiner Rede aufgesprungen – jetzt setzte sie sich wieder und sagte mit einer Stimme, die leise zitterte: „Von welchem Argwohn reden Sie? Mein Gott, haben Sie mich nicht versichert, daß Sie nicht den geringsten Argwohn hegten?“

„Nicht den geringsten, daß Sie mich in Colomier den Franctireurs in die Hände liefern wollten; aber Sie werden einräumen, daß wir ein verstecktes Spiel gegen einander treiben; und dies Spiel, das uns alle offene Unbefangenheit nimmt, wird mir unerträglich.“

„Welches Spiel meinen Sie?“

„Sie wünschen mich aus diesen Zimmern fortzubringen, und ich, dies durchschauend, halte fest darin.“ –

„Wenn das so wäre,“ entgegnete sie, während ihr wohltönendes Organ sich eigenthümlich wie mit einem leichten Schleier von Heiserkeit bedeckte, „dann könnte ich ja gerade in Argwohn verfallen und denken, alle die schönen Sachen von Ihrem Gefühl und Ihrer Leidenschaft seien nur gesagt, um ein leichtgläubiges Mädchenherz zu umgarnen, um mich zu bethören und mir den Grund zu entlocken, weshalb ich Sie nicht eben so gern in diesem wie in jenem andern Zimmer des Hauses wohnen sähe!“

„Sehen Sie, sehen Sie,“ rief ich leidenschaftlich aus, „das ist das Gräßliche, was mich foltert – dieser Spielraum, den der Argwohn zwischen uns Beiden hat; o lassen Sie das aufhören zwischen uns – ich bitte Sie, Blanche, nur um das Eine!“

„Sie haben Recht,“ versetzte sie nachdenklich; „enden wir es; ich will Ihnen ja gestehen, daß es auch mich quält. Enden Sie es.“

„Ich?“

„Ja, Sie. Es liegt ja nur an Ihnen!“

„Und wie an mir?“

„Verlassen Sie diese Zimmer!“

Ich sah sie erschrocken an.

„Wollen Sie es?“ fuhr sie fort.

„Nein,“ sagte ich. „Ich darf es nicht. Nur dann, wenn Sie mir die heilige Versicherung geben, Ihre Versicherung auf Ehre und Gewissen, daß ich durchaus nichts thue, was wider meine Dienstpflicht ist.“

Sie blieb stumm. Ihre Gesichtszüge waren sehr blaß geworden.

„Ich kenne Ihre Dienstpflicht ja nicht,“ versetzte sie dann nach langer Pause. „Was weiß ich davon! Nein, nein, da Sie es nicht wollen, diesem ‚Spiele‘ ein Ende machen,“ setzte sie gezwungen lächelnd hinzu, „so will ich es; ich werde morgen weiter mit Ihnen davon reden, wenn Sie versprechen, jetzt recht ruhig zu sein und durch einen tiefen Schlaf diese Nacht Ihrer Wunde Zeit zur Heilung zu geben!“

Damit stand sie auf und verschwand.

[89] Recht ruhig zu sein empfahl mir Blanche! Ich war durchaus nicht ruhig. Das Ende der Unterredung, die mir Ruhe und Klarheit geben sollte, hatte mir durchaus keine Ruhe, aber wenigstens die Klarheit gegeben, daß meine Pflicht mir gebot, jetzt das schwere Schloß in Friedrich’s Kammer zu sprengen und mich zu überzeugen, was dahinter verborgen sei. Blanche hatte mir zu augenscheinlich verrathen, daß meine Dienstpflicht es gebiete; und nun mußte ich, und ging all mein Glück darüber zu Scherben, in dies Geheimniß blicken, ich mußte mir mit Gewalt den Weg dazu bahnen! Schon morgen wollte ich es, sobald ich die Kraft hatte zu solch einer Untersuchung. –

Der Abbé kam nach einiger Zeit. Er fand meinen Puls sehr erregt und glaubte, es werde in der Nacht das Wundfieber kommen. Ich hätte ihm den erregten Puls erklären können, zog aber vor, ihn bei seinen Wundfieberideen zu lassen. Er hatte oben bei Frau Kühn Pulver, welche dieser bei fiebrigen Zuständen eine ruhige Nacht verschafften, wie er sagte, und ging, mir eines zu holen, das ich gegen zehn Uhr nehmen sollte. Er kam damit zurück, mischte es mir selber und stellte es unter vielen Anpreisungen seiner Tugenden in einem Glase Wasser auf den Nachttisch. Dann leistete er mir Gesellschaft, während ich etwas von meinem Nachtessen, das Friedrich brachte, verzehrte. Gegen neun Uhr ging er. Friedrich räumte ab, Glauroth kam noch, um mir Bericht über sein dienstliches Walten als Vicehaupt unseres kleinen Corps zu erstatten, und als er gegangen, um mir Ruhe zu lassen, bat auch Friedrich um Urlaub, sich zurückziehen zu dürfen; er fühlte sich von den Anstrengungen der vergangenen Nacht her ganz entsetzlich müde, wie er sagte, und so schläfrig, wie er in seinem Leben nicht gewesen. Ich entließ ihn, schraubte das Licht meiner Lampe niedriger und streckte mich zum Schlafen aus – ich vergaß über all den Gedanken, die, sobald ich allein war, auf mich einstürmten, des Abbé Pulver und all seine Tugenden vollständig. Für’s Erste war es mir durchaus nicht darum zu thun, mich diesen Gedanken zu entziehen und schlafen zu können.

Doch mußte mir der Schlummer nach einer Weile gekommen sein, ein halbwacher Traumzustand wenigstens; aus einem solchen fuhr ich auf, als ich die Schläge der Schloßuhr von draußen her vernahm, wie sie heiser durch die stille Nacht schwirrten. Ich lauschte auf das leise Versummen der ehernen Töne; eine Weile darauf glaubte ich über mir oder doch in der Nähe das leise Oeffnen eines Fensters zu vernehmen; vielleicht bewegte der Wind eine Jalousie. Von drüben, von den Ställen her, kam eben das Wiehern eines unserer Pferde; wahrscheinlich kehrte eine Streifpatrouille zurück, wie wir sie Nachts aussenden mußten. Ich legte mich zurück, um einzuschlafen; aber es gelang mir nicht; mir fiel des Abbé’s Pulver ein; ich dachte daran, es einzunehmen und schob den Docht der vor mir brennenden Lampe höher; in diesem Augenblick hörte ich ganz unfern von mir ein Geräusch, wie wenn langsam und leise ein Holz splittert; wäre das Geräusch stärker gewesen, so hätte man es ein Krachen nennen können – so aber kann ich es nur beschreiben, indem ich es dem möglichst leisen Aufbrechen irgend eines Holzverschlags ähnlich nenne.

Dies Geräusch kam wie aus Friedrich’s Zimmer, dessen Thür geöffnet stand, damit ich ihn anrufen könne. Seltsam, daß Friedrich nicht davon erwachte; doch schlief er wohl zu fest, ich hörte seine lauten und tiefen, oft sehr unmelodischen Nasaltöne und wähnte sogar einen Augenblick, er habe eben zur Abwechselung statt einen Mann, der ein Brett sägt, einmal einen Mann, der das Brett, zerbricht, nachgeahmt … aber es war nicht das, ein leiseres Nachkrachen überzeugte mich davon. Was konnte es sein? Flüsterte nicht auch auf dem Hofe jetzt eine Stimme? Es war wie ein heimliches Raunen, das aufhörte, als ich hinlauschte, und dann wieder ein paar flüchtige Augenblicke vernehmbar wurde, um sogleich wieder zu ersterben.

Betroffen sprang ich auf; es mußte Etwas vorgehen – der Gedanke, daß es mit dem Geheimniß der Tapetenthür in Verbindung stehe, durchzuckte mich wie ein Blitz; ich machte die wenigen Schritte, um einen Blick in Friedrich’s Kammer zu werfen. Das Erste, was mein Auge traf, war ein ganz schmaler, kaum sichtbarer Lichtschimmer, der unter der Tapetenthür herdrang. Im Augenblick war ich zurück und hatte meine Kleider gefaßt; der Schmerz, die Wunde am Arme waren vergessen; ich war innerhalb zwei Minuten in die nöthigsten Kleider geschlüpft, hatte mit einer Hand meinen Revolver erfaßt, mit der andern die Lampe und stand gleich darauf vor dem Bette Friedrich’s; ich stellte rasch die Lampe auf den nächsten Tisch, schüttelte Friedrich gewaltsam an der Schulter, raunte ihm zu: „Auf, folg’ mir augenblicklich!“ – und eilte weiter, der Tapetenthür zu.

Das schwere Hangschloß – ich hatte das schon beim ersten Eintritt wahrgenommen – hing geöffnet vor der Thür; darunter steckte ein Schlüssel, der früher nicht dagewesen – ich drehte ihn [90] im Schloß, die Thür öffnete sich, und ich stand in dem geheimnißvollen Zimmer.

Es war ein mittelgroßer Raum; links das vergitterte Fenster – jetzt weit geöffnet; rechts an der Wand erhoben sich Repositorien mit Papieren, Handlungsbüchern, Acten gefüllt; im Hintergrunde, mir gegenüber, ein großer Schreibtisch. Ueber das Alles glitt nur mein Auge, um in den zweiten anstoßenden Raum zu dringen, der rechts sich öffnete; denn hier rechts war die Wand nur halb so weit wie die Wand links, worin sich das Fenster befand, vorgezogen; dann sprang sie im rechten Winkel ein; um es deutlicher zu machen, das ganze Zimmer war in seiner hintern Hälfte doppelt so breit wie in seiner vordern. In diesem hintern zurückliegenden Raume sah ich zwei eiserne Geldschränke an den Wänden; zwischen ihnen, auf dem Boden eine Anzahl von vielleicht einem Dutzend oder mehr kleiner neuer Fässer; und mitten dazwischen stand Fräulein Blanche, einen Leuchter in der Hand und mich anstarrend, als ob sie ein Gespenst sähe! Ein anderes brennendes Licht stand oben auf einem der eisernen Schränke.

„Fräulein Blanche!“ rief ich überrascht aus – „mein Gott, Sie … und was beginnen Sie hier?“

Sie schien in einer Weise über mein plötzliches Auftauchen vor ihr erschrocken, daß sie keine Worte fand, daß das Licht in ihrer Hand schwankte, als ob sie es fallen lassen wolle.

Ich trat zurück und legte meinen Revolver auf den Schreibtisch; dann mich wieder zu ihr wendend, rief ich:

„Sprechen Sie, Blanche, was bedeutet dies, bei welchem Werke finde ich Sie hier …?“

Ich sah, daß ihr Busen wogte, als ob das Herz ihn sprengen wolle … noch starrte sie mich mit demselben entsetzten Blicke an, blaß wie eine Leiche, aber kein Wort rang sich von ihrer Lippe los.

Ich trat einen Schritt näher – jetzt plötzlich erhob sie den Fuß und trat auf eines der aufrecht stehenden kleinen Fässer – ich sah nur noch, daß der Deckel davon gesprengt war; im nächsten Augenblick hatte sie den obern Theil desselben mit dem Saum ihres Kleides bedeckt.

„Nicht näher,“ schrie sie dabei mit einem Angstschrei auf – „keinen Schritt näher, oder Sie, wir Alle sind Kinder des Todes …“

„Weshalb … wodurch?“ rief ich stehenbleibend aus … „Blanche, ich muß wissen, was Sie hier thun, weshalb mein Erscheinen Sie zu Tode erschreckt, was in diesen Fässern ist …“

„Gehen Sie zurück, und Sie sollen es wissen, sollen Alles wissen,“ hauchte sie mühsam hervor … „nur zurück, bis an den Schreibtisch dort.“

„Wohl, so sprechen Sie,“ sagte ich, ein Paar Schritte zurücktretend.

„Sie wollen wissen, was in diesen Fässern ist? Es ist Pulver darin. Die Franctireurs, welche neulich von Ihnen verfolgt wurden, waren beauftragt, diesen Vorrath den Mobilgarden des Doubs zu bringen, denen es daran fehlt und die mit Schmerzen darauf harren. In der Angst, von Ihnen aufgehoben zu werden, flüchteten die Leute ihren Transport auf unsern Hof. Wir hatten eben die Zeit, die Fässer in diesen Raum zu bergen, den nächsten besten, der sich bot. Da kamen Sie mit Ihrer Truppe und zu unserm größern Erschrecken nahmen Sie diese Zimmer in Besitz; umsonst suchten wir Sie daraus zu entfernen, und doch verlangt das Bataillon stürmisch, in den Besitz seiner Munition zu kommen …“

„Ah,“ sagte ich, „das also ist das ganze Geheimniß; und Sie, Blanche, sind damit beschäftigt, jetzt dies Pulver zum Fenster hier hinauszulassen, während draußen Leute stehen, die es in Empfang nehmen? Sie glaubten, weil ich müde und verwundet, und Friedrich – wo bleibt er? – einen so festen Murmelthierschlaf hat, wäre die richtige Nacht dazu gekommen; Armes Fräulein Blanche … es thut mir unendlich leid, daß ich diese Berechnung zerstört habe, weil ich nicht schlief, sondern wachte, und daß die Mobilgarde des Doubs noch immer ihr Pulver nicht erhalten wird und sich nach einer andern Bezugsquelle umsehen muß; denn dies hier bin ich nun einmal gezwungen, als Eigenthum der französischen Regierung in Beschlag zu nehmen. Lassen Sie mich es sehen!“

Zusammenfahrend, mit einer heftigen Bewegung streckte sie den Arm vor.

„Keinen Schritt näher,“ sagte sie … „ich habe den Leuten, die es mir anvertrauten, mit meinem Worte dafür gebürgt; ich lasse dies Eigenthum meines Vaterlandes nicht in die Hände seiner Feinde fallen! Gehen Sie, vergessen Sie, was Sie gesehen, lassen Sie mich ungestört ausführen, was ich im Begriff war zu thun!“

„Aber Blanche,“ sagte ich mit bittendem Tone, „Sie können das nicht von mir verlangen … Sie wissen, daß es meine Pflicht ist –“

„Ach … Ihre Pflicht. Ihre Leute haben Munition genug … für uns handelt es sich um mehr als das … wenn das Bataillon keine Cartouchen zu seinen Waffen erhält, so wird es unwillig sich zerstreuen … deshalb gehen Sie, gehen Sie – ich flehe Sie darum an – ich bitte Sie darum – ich beschwöre Sie bei Allem, was Sie mir gesagt, ich fordere es als einen Beweis jener Leidenschaft, die Sie mir gestanden und deren Sprache ich angehört habe …“

„Blanche, es ist unmöglich, was Sie verlangen! Sie selber fordern von einem Manne die Stärke, seine Pflicht über seine Leidenschaft zu setzen. Nein, nein,“ rief ich nähertretend, „Sie können unmöglich mir darum zürnen, wenn …“

„Nun, wenn Sie denn unerbittlich sind,“ rief sie in einer ganz unbeschreiblichen Bewegung, mit einer barschen Stimme wie von Verzweiflung und Muth – so komme das Verderben über Sie und über mich und über uns Alle …“

Sie zog den Fuß von dem geöffneten Fasse zurück und senkte das Licht.

„Wenn Sie nicht im Augenblick gehen,“ rief sie dabei, „so entzünde ich das Pulver und wir fliegen sammt Allem im Hause in die Luft!“

Sie hielt das flackernde Licht dicht über der Oeffnung der kleinen Tonne.

„Was Sie meiner Liebe für Sie nicht abringen, werden mir Todesdrohungen auch nicht abringen,“ sagte ich ruhig, die Arme über der Brust verschlingend und sie fest ansehend. „Im Pulverdampf für seine Pflicht zu sterben, ist Soldatenloos. Werfen Sie das Licht in das Pulver, Blanche, wir sterben dann zusammen!“

Sie zitterte plötzlich so, daß es dieser Aufforderung gar nicht bedurfte; im nächsten Augenblick hätte sie das Licht ohnehin müssen fallen lassen … rasch trat ich näher und nahm ihr den Leuchter aus der Hand.

„Uebrigens, Fräulein Blanche,“ fuhr ich dabei fort, „täuschen Sie mich; in diesen Fässern ist gar kein Pulver, mit dem Sie uns Beide mitsammt Ihrer armen Mutter und Ihrem schönen Chateau-Giron in die Luft sprengen könnten, wenn Sie wirklich solchen Frevelmuth besäßen; es ist etwas Anderes darin, in diesen hübschen Tönnchen, und zwar Gold!“

Ich beugte mich zu dem Fasse, auf das ihr Fuß getreten, und von dem der Deckel abgehoben war … das gewaltsame Oeffnen mit einem langen eisernen Meißel, den ich neben dem Deckel am Boden liegen sah, hatte ohne Zweifel das Geräusch verursacht, das mich herbeigerufen. Es lagen obenauf in der kleinen Tonne mehrere Schichten grauen Papieres; als ich sie beseitigt, fand ich darunter jene kleinen pyramidenförmigen Pakete, zu denen man Geldrollen zusammenzupacken pflegt; sie waren an den Seiten mit großen amtlichen Siegeln verschlossen und der Betrag des Inhalts darauf geschrieben.

„Sehen Sie, Fräulein Blanche, Ihr Pulver ist Gold!“

Ich nahm den zerbrochenen Deckel auf und las darauf: 10,000 Frcs. en p. de 20 et de 5. Ein rascher Ueberblick zeigte mir, daß der kleinen Fässer achtzehn da waren, die ganze Summe konnte also hundertachtzigtausend Franken betragen.

Fräulein Blanche hatte sich mit dem Rücken an einen der eisernen Schränke gestellt; mit großen geisterhaften Augen, bleich, keinen Blutstropfen im Gesichte, sah sie mir zu.

„Es ist Gold,“ preßte sie mühsam hervor … „was werden Sie jetzt thun? Wenn Sie das Gold rauben, so bin ich unglücklich auf ewig!“

„Blanche,“ sagte ich mit zitternder Stimme, „glauben Sie nicht, daß, wenn dies wahr, auch ich unglücklich auf ewig sein würde … daß ich bis an’s Ende meines Lebens die Stunde verfluchen würde, in der ich dieses Gold finden und Sie verlieren mußte?“

[91] „Nun, beim Himmel, so sein Sie menschlich gegen sich und mich – lassen Sie dies entsetzliche Gold, wo es ist; denken Sie, es sei ein böser Traum Ihres Wundfiebers, dies Alles! Gehen Sie zurück und schlafen den Traum aus, während ich dies dämonische Gold mit all’ der Qual, die es mir gemacht hat, fortschaffe, durch’s Fenster werfe … und dann ist ja Alles gut!“

„Was wollten Sie thun?“ fragte ich.

„Das, was ich heute, als ich bei Ihnen war, versprach. Dies Geheimniß, welches zwischen uns stand und uns Beide so peinigte, beseitigen. Die Fässer lassen sich nicht durch die Fensterstangen dort zwängen; darum wollte ich die einzelnen Pakete hinauswerfen … unten stehen Etienne und der Gärtner, sie aufzufangen und fortzuschaffen. Nun wissen Sie Alles, und nun entscheiden Sie … über Tod oder Leben! Sind Sie hart, so sind wir getrennt auf ewig und ich bin – eine Bettlerin!“

„Sie sind entsetzlich, Blanche, mit dieser Versuchung … was nützt es Ihnen, mir so das Herz zu zerreißen … ist es so, wie Sie sagen, ist es wirklich so, so können Sie mich dahin bringen, nachdem ich meine Pflicht gethan, meinen Revolver zu nehmen und mir eine Kugel durch’s Herz zu jagen … das ist Alles. Dies Geld hier, französisches Staatsgut, die Kriegscasse irgend eines Corps, gehört meinem Kriegsherrn!“

Ich konnte nichts hinzusetzen, abgezogen durch den Lärm, den ich schon seit einiger Zeit vernommen und der jetzt immer stärker und heftiger wurde. Es schallte durch das Vorgemach, in welchem Friedrich schlief, herüber, ein Klopfen, Rufen und Thürenrütteln, anfangs sacht, dann stürmischer. Der Grund war leicht zu erklären. Wenn der Abbé und der Gärtner draußen unter dem Fenster gestanden, so mußten sie den Stimmenwechsel zwischen Blanche und mir vernommen haben – erschrocken darüber waren sie herbeigeeilt, Blanche zu Hülfe zu kommen; der nächste Weg war der durch eine Thür, welche vom Corridor durch Friedrich’s Zimmer führte … diesen Weg mußte auch Blanche gekommen sein und sie mußte die Thür hinter sich verriegelt haben. Ich hatte anfangs des Lärms nicht geachtet, in der Voraussetzung, daß Friedrich, den ich ja angerufen, aufgesprungen sei, und daß er jeden nächsten Augenblick die Verhandlung mit Denen, die so stürmisch Einlaß verlangten, übernehmen werde. Aber Friedrich gab kein Lebenszeichen von sich; aufhorchend vernahm ich sein fortwährendes Schnarchen; ich griff deshalb rasch zum besten Auskunftsmittel, um mir Beistand gegen einen Ueberfall herbeizurufen – ich ging, nahm meinen Revolver und feuerte zwei der Schüsse durch das offenstehende Fenster ab.

Blanche schlug dabei mit einem leisen Schrei ihre Hände vor’s Gesicht – sie sah ihre letzte Hoffnung, den Schatz zu retten, geschwunden – sie ging wankenden Schritts, ohne mich auch nur anzublicken, davon … durch Friedrich’s Zimmer zu der Thür, die in diesem Augenblicke mit splitterndem Krachen aufgesprengt wurde, rief den hereinstürzenden zwei Männern einige hastige Worte zu und war verschwunden in der Dunkelheit des Corridors.

Der Abbé und der Gärtner standen vor mir, Beide offenbar nicht wissend, was zu beginnen; der Gärtner trug eine Doppelflinte in der Hand – er hätte, wenn er seinem Instinct hätte folgen können, sie sicherlich auf mich abgefeuert – aber ein Rest von Besinnung, vielleicht auch ein Befehl Blanche’s, mochte ihn zurückhalten. Auch war der Abbé vor ihn getreten und schrie mir auf französisch entgegen:

„Herr, Sie sind ein Ehrenmann – Sie sind kein Räuber – Sie rauben das Geld nicht – Sie –“

„Herr Abbé,“ sagte ich, ihn an der Schulter zurückschiebend, „es thut mir leid, daß ich Ihnen als solcher Räuber erscheinen muß. Ziehen Sie sich zurück … meine Leute werden gleich hier sein – Sie können hier nichts mehr hindern, nichts retten, nichts ungeschehen machen!“

Mit einem furchtbaren, wie eine Kinderklapper rasselnden Seufzer erhob sich in diesem Augenblicke Friedrich; das Einbrechen der Thür schien doch über sein merkwürdig energisches Ruhebedürfniß den Sieg davon getragen zu haben. Mit einem tiefen Aufathmen fuhr er empor, setzte sich aufrecht und starrte die Scene, auf welche seine weit aufgerissenen Blicke fielen, an.

Der Abbé warf mir in großer Heftigkeit eine Antwort entgegen; Ausrufe und Flüche des Gärtners mischten sich darin – ich verstand den Abbé, der in seiner Erregung nur noch Französisch sprach, ebensowenig wie den Gärtner; sie mischten viel zu heftig und schnell dazu, doch gewann Friedrich währenddeß Zeit, aufzuspringen, zu seinem Carabiner zu greifen und schlaftrunken an meine Seite zu taumeln.

„Sie sehen,“ nahm ich wieder das Wort, „Sie können nichts mehr retten, Herr Abbé – wollten Sie einen Kampf mit uns Beiden wagen, Sie würden nichts erreichen, und meine Leute würden kommen und Sie überwältigen, wenn wir Zwei es nicht vermöchten. Gehen wir friedlich auseinander. Beugen Sie sich unter das Unvermeidliche, für Sie nicht mehr zu Aendernde, wie ich mich unter das Gebot meiner Pflicht beuge. Glauben Sie, es sei mir weniger schmerzlich und schwer?“

Er murmelte etwas, beide geballten Hände erhoben; dann wandte er sich, wie um aufzuhorchen … in der That wurden draußen auf dem Hausflur Schritte und klirrende Sporen laut. Einer der Ulanen, der vor den anderen bei der Hand war, kam hereingestürmt und rüttelte drüben an meiner verschlossenen Thür; Friedrich lief in mein Zimmer, ihm dort zu öffnen. Der Abbé und der Gärtner verschwanden unterdeß in der Dunkelheit des Corridors. Ich nahm nun die Lampe, um meinen, Einer nach dem Andern, herbeieilenden Leuten zu leuchten; bald aber war ein halbes Dutzend zur Stelle, unter ihnen Glauroth, mit ihren Fragen mich bestürmend; es war eine merkwürdige Gruppe, diese halbbekleideten Leute, Carabiner, entblößte Säbel in der Hand und – so mich, der, die Lampe in der erhobenen Rechten, mitten zwischen ihnen stand, anstarrend und umdrängend.

„Wo ist der Feind?“ rief Glauroth aus … „was ist geschehen? Auf wen haben Sie geschossen? Wahrhaftig, Sie sehen aus wie Wallenstein zu Eger in der Mitte seiner Mörder … blaß, gesträubten Haares, von blanken Schwertern umringt …“

„Ich will Euch den Feind zeigen, Cameraden,“ sagte ich – „es ist jedoch kein Feind von Fleisch und Blut – es handelt sich nur um den bekannten bösen Feind des Menschengeschlechts, der die Seele verdirbt, den ‚ungerechten Mammon‘!“

Ich wandte mich und ließ sie folgen. Als sie in den Raum, in den ich sie führte, gekommen, war das Erstaunen und der Jubel groß. Die Schwere der Fässer wurde geprüft, die einzelnen Geldpakete betrachtet, die Deckel der Fäßchen beleuchtet und die Aufschriften studirt; dazwischen wurde ich mit Fragen bestürmt; Glauroth berechnete mit großer Schnelligkeit die ganze Summe, und ein allgemeines Hurrah folgte seiner Erklärung, daß, wenn die auf die Fässer geschriebenen einzelnen Beträge richtig seien, das Ganze sich auf hundertfünfundneunzigtausend Franken belaufe! Ich sorgte dafür, daß Friedrich aus meinem Zimmer ein Blatt Papier bringe, auf das wir die Anzahl der Tönnchen und die einzelnen Summen schrieben; dies summarische Protokoll wurde von mir, Glauroth und zwei anderen Ulanen unterzeichnet; dann faltete ich das Blatt zusammen und gab es Glauroth.

„Sie müssen aufsitzen, Glauroth,“ sagte ich, „und sofort nach Noroy reiten, um dem Commandanten unsern Fund zu melden. Nehmen Sie einen Mann zum Begleiter mit. Der Major wird Ihnen Leute mitgeben, um den Schatz einzuholen; machen Sie ihn aufmerksam darauf, daß es ohne einen Wagen nicht gehen wird. Eilen Sie! Reden Sie nicht von meiner Verwundung! Hören Sie?“

Glauroth war durch den Fund viel zu erregt, um mit mehr als halbem Ohre zu hören.

„Ich werde ihn aufmerksam darauf machen, daß wir Alle mindestens das eiserne Kreuz verdienen für die Gefangennahme eines solchen Feindes,“ rief er.

Zwei von den Anderen stellte ich als Posten auf, den Einen im Hofe, den Andern in dem Corridor des Hauses; und dann war alles Nöthige gethan; Glauroth ging, sich zu seinem Ritt anzuschicken; die Uebrigen suchten ihr Lager wieder auf, und ich hieß Friedrich das Gleiche thun, um es dann ebenso zu machen, nachdem ich die Thür zu dem Geldzimmer abgeschlossen.

„Wie war es möglich,“ sagte ich dabei zu Friedrich, „daß Du so fest schliefst, ärger als ein Bär im Winterschlaf? Ich glaubte, Du seiest mindestens todt!“

„Ja – ich muß fest geschlafen haben,“ antwortete er, „und es liegt mir schwer in den Gliedern; ich glaube, ich brauche mich nur hinzulegen, und ich schlafe sofort wieder ein.“

„Du fühltest schon, ehe Du Dich legtest diese Schlafsucht?“

„Ganz merkwürdig, Herr Vice-Wachtmeister,“ sagte Friedrich; „just, als ob mir Einer einen Schlaftrunk in den Abendschoppen gegossen hätte …“ [92] Damit warf sich Friedrich wieder auf sein Lager, und ich suchte das meinige auf und fragte mich dabei, ob ich nicht sehr wohl gethan, des Abbé „beruhigendes“ Pulver nicht anzurühren!

Freilich, hätte ich es genommen, ich hätte schwerlich den Rest der Nacht so aufgeregt schlaflos, wie ich jetzt that, zugebracht. Solche peinvolle, unsäglich quälende, rastlose Stunden, in denen ich oft vollständig der Verzweiflung nahe war, daß gerade ich dies entsetzliche Gold hatte finden müssen … Ich hatte so innerlich glücklich, so im Stillen jubelnd die Zuversicht genährt, daß es mir glorreich gelingen werde, eine Brücke über den Abgrund zu bauen, der mich unleugbar von Blanche trennte … und nun kam dies verflucht schwere Gold und legte sich auf meine luftige phantastische Brücke, und unter dieser Last war sie zusammengebrochen und eingestürzt, und der Abgrund klaffte tiefer und weiter als zuvor, und aus der schwarzen Tiefe starrte mich die öde grauenhafte Hoffnungslosigkeit an. –

Endlich, endlich stieg der Morgen herauf. Die Sonne kam und stieg höher und höher; doch fühlte ich mich nicht versucht, mich zu erheben. Ich fühlte mich matt, hinfällig, wie an allen Gliedern gebrochen. Ein Mädchen brachte mir das Frühstück. Der Abbé, obwohl er sich mir zum Arzt aufgedrungen, erschien nicht. Von Blanche vernahm ich natürlich nichts. Auch der Arzt aus Noroy, den man mir für heute angekündigt, kam nicht. Friedrich hatte sich erhoben und ging verdrossen zwischen mir und meinen Leuten hin und her; er klagte über Kopfweh. Ich nahm mir endlich ein Herz und sandte ihn zum Abbé hinauf. Ich ließ diesen dringend ersuchen, sich zu mir herunter zu bemühen.

Der Abbé kam nach einer geraumen Weile.

Ich bat ihn, Platz an meinem Bette zu nehmen, und sagte mit einem Scherz, der freilich sehr gezwungen lauten mochte:

„Ich habe das Pulver, welches Sie mir gestern Abend verordnet, nicht genommen, und das hat Sie mit Ihrem Patienten so unzufrieden gemacht, daß Sie ihn aufgegeben haben. Ist es so? Ich würde es Ihnen nicht übel nehmen können. Ich will auch in der That Ihre Mühe und Sorge nicht weiter in Anspruch nehmen; meine Wunde heilt wohl ohnehin jetzt ohne viel ärztliche Behandlung und ist jedenfalls das Geringste von dem, was mich unglücklich macht … ah, weshalb thun Sie das?“

Der Abbé hatte mit einem eigenthümlich gedrückten und scheuen Wesen, während ich so sprach, meine Blicke vermieden und streckte jetzt die Hand nach dem Glase aus, in das er am gestrigen Abend sein Pulver gemischt und das noch gefüllt auf meinem Nachttische stand.

Er nahm es und leerte es rasch bis zur Hälfte.

„Weshalb thun Sie das?“ rief ich aus.

[105] „Sie haben das Mittel, durch das ich Ihnen Nachtruhe geben wollte, verschmäht,“ antwortete der Abbé, „damit es nicht unbenutzt bleibe, will ich selber es nehmen; nach der Scene der verflossenen Nacht wird mir die beruhigende Wirkung, die es übt, wohlthun!“

„Ah,“ sagte ich, „eine Beruhigung darüber hätten Ihnen auch meine Worte geben können; ich habe nicht daran gedacht, daß dieses Pulver nicht ein sehr harmloser Stoff sei: sogar ein sehr wohlthätiger Stoff; hätte ich ihn zu mir genommen, so würde ich sicherlich so gut und so fest wie Friedrich geschlafen haben, und Sie und Fräulein Blanche hätten ungestört Ihr Vorhaben ausführen können; ich fühlte jetzt nicht die Verzweiflung über den Kummer, den ich Fräulein Blanche habe zufügen müssen, diese helle Verzweiflung, die mich dazu trieb, Sie um eine Unterredung zu bitten. Ich möchte von Ihnen erfahren, wie Fräulein Blanche in dieser Stunde von der Sache denkt, ob ihre wilde und mir unerklärliche Aufregung sich gelegt hat; ich möchte Ihnen auseinandersetzen, daß es einer solchen Aufregung über die einfache Thatsache ja gar nicht bedarf, daß diese derselben nicht werth ist …“

Der Abbé zuckte die Achseln und sah trübselig zu Boden, während ich eifrig fortfuhr:

„Der kleine Schwarm von Franctireurs hat aus Furcht, von uns überrascht zu werden, den Geldtransport in Ihrem Hause in Sicherheit gebracht; wir haben den leidigen Schatz entdeckt und confisciren ihn nach Kriegsrecht; ich gebe Ihnen eine Bescheinigung darüber, die mein Schwadrons- und, wenn Sie wollen, mein Regimentschef bekräftigen und besiegeln wird – Sie sind damit aller Verantwortung los und ledig – es ist eine einfache vis major, der Sie gewichen sind – kein Mensch auf Erden kann Ihnen oder gar Fräulein Blanche einen Vorwurf darüber machen!“

„Sie kennen die ganze Sachlage nicht, mein Herr!“ erwiderte der Abbé. „Ich will sie Ihnen erklären, wenn Sie verlangen …“

„Ich bitte, reden Sie, sagen Sie mir Alles.“

„Jenes Geld,“ hub der Abbé an, „ist vom Präfecten des Departements der obern Saone zu Vesoul an den des Doubs nach Besançon abgeschickt worden und sollte zur Errichtung und Ausrüstung des Bataillons der Mobilen der obern Saone dienen, das zur Sicherheit nach Besançon geschickt ist, um sich dort im Schutze der Festung zu formiren. Da man jedoch die Straße von Vesoul auf Besançon nicht mehr für ganz sicher hielt – man hatte Nachricht, daß Ihre Vortruppen auf Vesoul marschirten, und mußte dann ihr weiteres Vordringen auf der Straße nach Besançon erwarten – so wurde der Transport ostwärts auf der Straße in’s Oignonthal geführt, um über Montbazon und Voray ungefährdet Besançon zu erreichen. Aber was sich in diesem heillosen Kriege so vielfach gezeigt hat, daß Sie die Schnelleren und wir die Langsameren sind … der Wagen mit dem Gelde wurde von Ihrem Detachement auf einer Straße, auf der man Sie gar nicht erwartete, eingeholt; der Gensd’arm und die Franctireurs, die ihn geleiteten, hatten, wie Sie ja selbst wissen, kaum die Zeit, den Schatz in dies Haus zu schaffen. Es war Fräulein Blanche, die ihn aufnahm, die ihn rasch in den Raum schaffen ließ, wo er am besten aufgehoben scheinen mußte, in das Zimmer, worin Herr Kühn seine Geldmittel und seine Werthpapiere aufbewahrte, das eiserne Schränke und Gitter vor dem Fenster hatte, dessen Thür durch zwei Schlösser zu sichern war … es war so natürlich, daß man in der Hast nur an diesen Aufbewahrungsort dachte. Nachdem die kleinen Fässer dorthin getragen und so für’s Erste geborgen waren, athmeten die Franctireurs auf; ihre Sorge war von ihnen genommen, ihr Muth kehrte zurück, und da sie Ihnen an Zahl ungefähr gleich waren, beschlossen sie, sich gegen die anrückenden Ulanen zu vertheidigen; wenn diese vor dem Hause ankamen, wollten sie ihnen durch das Gitter des Hofthores eine Salve geben und sich dann in unser Haus werfen, um die Feinde aus dem Fenster niederzuschießen. Sie können sich unser Erschrecken über dieses Vorhaben denken; auch wäre es sicherlich zu einer solche Scene gekommen, wäre nicht Blanche gewesen, die sie beschwor, abzuziehen, weil das Ende des Kampfes sein würde, daß unser Haus niedergebrannt werden, daß ihre Mutter von solch einem schrecklichen Ereigniß den Tod haben würde … sie stellte den Leuten vor, wie ein Blutvergießen ganz unnütz sein werde, wie die feindliche Streifpartie vorüberziehen werde, wie sie schon in der Nacht zurückkommen könnten, ihren Geldtransport weiter zu schaffen – sie setzte hinzu, daß sie, Blanche, mit Allem, was sie habe, den Leuten bürge für ihre Geldfässer – wenn sie nur rasch verschwänden und nicht an einen Kampf dächten, dessen Wirkung auf ihre kranke Mutter Blanche mehr fürchtete als Alles.“

„Und auf diese Bürgschaft hin ließen sich die Leute bereden?“ fiel ich erregt ein.

„Sie ließen sich beschwichtigen und durch Marc, den Gärtner, [106] durch unsere Gärten führen, durch welche sie verschwanden – es war Zeit, denn die Hufschläge Ihrer Pferde schallten bereits aus der Allee herüber. Sie kamen – und kündigten uns zu unserem Schreck an, daß Sie bleiben würden … zu unserm noch größern nahmen Sie und Ihr Diener diese Zimmer für sich, und durch diese Zimmer führten doch die einzigen Wege zu jenem Gelde!“

„Ah,“ rief ich aus, „wie unglücklich sich das Alles für Sie fügte! Sie kamen den Abend deshalb zu uns, um mich zu sondiren, wie lange wir bleiben würden! Und als ich Ihnen eine für Sie keineswegs beruhigende Antwort gab, entschoß sich wohl Fräulein Blanche zu jener Wanderung im Mondschein, auf der ich ihr begegnete … sie war gegangen, die Franctireurs zu bedeuten, daß sie nicht in der Nacht hoffen dürften, ihre Fässer abholen zu können …“

„So ist es – sie mußte diese Leute, die sich in den Gebüschen hinten am Oignonflusse verborgen hielten, entfernen – um sie zu beruhigen, gab sie ihnen ein Blatt, auf dem sie bezeugt hatte, daß sie die Geldsumme in Verwahr genommen und dafür einstehe. Damit gelang es ihr, die Leute fortzusenden, die ganz bereit und entschlossen waren, einen nächtlichen Ueberfall auszuführen und Sie Alle zu ermorden!“

„Wir waren ein wenig wider einen solchen nächtlichen Ueberfall auf der Hut,“ unterbrach ich ihn; „aber wer weiß, wenn auch Fräulein Blanche dies Alles nur gethan hat aus Rücksicht und Sorge für ihre Mutter – vielleicht hat sie doch mehreren von uns und besonders mir, der ich hier getrennt von meinen Leuten wohne, das Leben gerettet! – Also sie hat die Leute fortgeschickt … mit einer schriftlichen Bürgschaft …“

„Es ist ihr damit gelungen … der Gensd’arm ist nach Vesoul heimgeritten, um seinem Präfecten Bericht abzustatten und ihm Blanche’s Schrift einzuhändigen; die Franctireurs haben sich auf Besanoçon zurückgezogen. Wir hätten nun den Verlauf der Dinge abwarten können, wenn nicht die Sorge gewesen wäre, daß Sie unser Geheimniß, dem Sie so nahe waren, entdecken könnten … wenn Sie nicht selbst endlich Blanche erklärt hätten, daß Sie dies Geheimniß argwöhnten; dies ließ Blanche nicht Ruhe, nicht Rast mehr; wir mußten den Plan machen, dessen Ausführung in der vergangenen Nacht den unseligen Verlauf hatte, den Sie kennen!“

„Und Fräulein Blanche,“ sagte ich nach einer stummen Pause, „hält sich nun für verpflichtet, die ganze Summe zu ersetzen? Das wäre in der That schrecklich!“

„Sie haben Recht,“ entgegnete der Abbé, „es ist schrecklich! Was Herr Kühn den Seinigen vermacht hat, beträgt zweihunderttausend Franken für seine Wittwe und ebensoviel für seine Tochter; dies Haus, die Ferme von Colomier gehörten ursprünglich der Madame Kühn und sind einem Vorsohne derselben, einem älteren Halbbruder von Blanche, der in Liverpool als französischer Consul lebt, verschrieben. Sie sehen, daß es sich um das ganze Vermögen des Fräulein Blanche handelt!“

„Ah – unmöglich!“

„Was ist unmöglich?“

„Daß man von ihr verlangen wird, ihr Vermögen herzugeben, Alles, was sie besitzt, um den Staat zu entschädigen … der Staat muß die Verluste tragen, die der Krieg, den er gewollt hat, ihm bringt …“

„Sie kennen meine Cousine nicht!“ antwortete der Abbé trübe lächelnd.

„Nein, nein,“ fuhr ich in der tiefsten Erschütterung fort, „das kann nicht sein … es ist nicht möglich, daß man ihr das zumuthe, daß man sie zwinge, sich zu opfern!“

„Des Zwanges wird es nicht bedürfen. Sie selbst wird es nicht anders wollen … sie hat sich verbürgt und wird nun dafür einstehen; es gilt die Sache ihres Vaterlandes; und Frankreich ist heute nicht in der Lage, auf die Opferwilligkeit seiner Kinder verzichten zu können: es ist nicht die Zeit, wo seine Kinder ihre Pflichten gegen dasselbe leicht nehmen können!“

Ich war stumm. Der Kopf wirbelte mir bei dem Gedanken an das Unheil, das ich über Blanche gebracht; ich fühlte einen unwiderstehlichen Drang, zu ihr hinaufzueilen, sie zu beschwören … um was, das wußt’ ich freilich nicht, der Abbé hatte ja nur die Wahrheit gesagt, ich selbst fühlte ja nur zu gut, daß Blanche viel zu groß und edel denke, um nicht gerade so handeln zu wollen, wie er sagte.

Und doch erhob ich mich, ich vermochte es nicht, so ruhig da zu liegen; der Abbé saß gebeugt, die gefalteten Hände zwischen den Knieen und den Boden anstarrend da; ich bat ihn, Friedrich zu rufen, der mir helfen sollte mich zu kleiden; in diesem Augenblicke kam Friedrich, er meldete, daß ein Detachement unseres Regiments Chateau Giron nahe. Ich ließ mich, so rasch es bei meiner Verwundung ging, ankleiden. In kurzer Zeit ritt das Detachement auf dem Hofe auf; es war ein ganzer Zug unter Führung eines Officiers; ich ging diesem entgegen, um ihm meine Meldungen zu machen. Er war natürlich sehr erstaunt darüber, mich verwundet zu finden, wollte die Wunde, als wir in mein Zimmer gekommen, sehen, und sprach sehr bestimmt seine Meinung dahin aus, daß ich nicht weiter hier Dienst thun könne; um nicht von ihm sofort hinter die Front in ein Lazareth gesandt zu werden, wendete ich meine ganze Beredsamkeit auf, bis er einwilligte, daß ich in meinem trefflichen Quartier hier noch ein paar Tage der Ruhe pflege, und mich dann in Noroy bei unserem Commandeur melde, damit der Stabsarzt entscheide. „Sie können dann gleich das Lieutenantspatent dort in Empfang nehmen,“ sagte er; „es ist schon vorgestern beim Commandeur angekommen, wie mir dieser auftrug, Ihnen zu sagen; für Ihren Fang werden Sie nebenbei gehörig belobt werden; und nun zu unserm Geschäft, zu dem ich hierher commandirt bin. Wo ist das Geld?“

Ich führte ihn zu meinem Schatze; er zählte die Fäßchen, verglich sie mit dem Verzeichnis, das ich Glauroth mitgegeben, und übernahm den von mir gemachten Fund, um ihn auf einen Wagen bringen zu lassen, der der kleinen Truppe nachgekommen war. Nach einer Viertelstunde konnte ich, auf das Treppengeländer vor der Hausthür gestützt, sehen, wie die Kriegscasse des Bataillons der Mobilen der obern Saone, von unseren Ulanen umgeben, durch das Gitterthor des Hofes von Chateau Giron davongeführt wurde, und konnte nun gehen, die zwei Posten aufzuheben, die ich zur Sicherung meines Fundes hatte aufziehen lassen.

Zum Glück ließ mich Glauroth mit seiner Suada und dem Bericht über seinen Ritt und seine Erlebnisse im Stabsquartiere in Ruhe – er ging mit den Leuten zum Essen – mir wurde eben in meinem Zimmer servirt; ich dankte meinem Schöpfer dafür, daß ich eine Weile allein sein konnte!

Allein – mit der grenzenlos elegischen Stimmung, in der ich mich befand, und die ich mich geschämt hätte, irgend einer Menschenseele zu verrathen! Aber sie lag nun einmal auf mir; ich war nahe daran in Thränen auszubrechen … als der offene Bauerwagen mit dem Gelde durch das Hofthor geschwankt war, war mir zu Muthe, als ob nicht das elende Gold, sondern ein Sarg mit einem geliebten Todten davongeführt würde. Es that wohl meine Verwundung, meine Ermattung, der ganze fieberhafte Zustand, worin ich war, daß ich mich so weich, so schmählich, so vollständig muthlos und niedergeschmettert fühlte! Aber es war einmal so und ich konnte es nicht überwinden. Umsonst sagte ich mir selber: was ist dabei, was nicht Tausenden im Leben geschieht, daß sie einmal in einen Conflict von Pflicht und Neigung gerathen? Es ist das allgemeine Menschenloos! Die Moralisten haben dicke Bücher darüber geschrieben, unsere Romane und unsere Dramen nehmen ihre Motive von solchen Conflicten her, und wenn die Schicksale der Menschen zu Ereignissen werden, die in ihr Seelenleben greifen, dann drehen sie sich um diesen einen großen Punkt! Das ganze Leben ist eine große Lehre der Entsagung auf die Neigung um der Pflicht willen; das ganze Sittengesetz ist nur dazu da, um uns zu zwingen, in diesem Conflict die Pflicht über die Neigung siegen zu lassen, wenn wir’s nicht schon aus angeborener Sittlichkeit vermöchten. Und es ist ja auch nichts Großes … wer’s nicht vermag, ist eben ein verächtlicher Mensch, ein Schwächling, ein Lump, ein ehrloses Subject, ein Verbrecher … was freilich die Welt nicht abgehalten hat, die als Helden zu preisen, die großen Versuchungen widerstanden. Die Welt muß es also doch auch schwer, sehr schwer finden! – Das Bewußtsein, das innere Glück soll es lohnen. O mein Gott, ich fühle viel von Glück in mir!

In der That, das Bewußtsein, daß ich ohne alle Rücksicht auf Blanche gehandelt und unbeirrt meine Pflicht gethan, hinderte mich nicht, mich sterbenselend zu fühlen. Was half mir alles Philosophiren über die Sache, alles Denken und alles Raisonniren! Die Gründe der Vernunft und die Beispiele Anderer machen in solchen Lagen wenig Eindruck auf uns, wie ja auch die Erfahrung [107] Anderer uns nichts hilft. Das Besondere und Individuelle unserer Lage übt seine überwältigende Macht auf uns – wir haben immer das Gefühl, als sei diese Lage etwas ganz Apartes und nie Dagewesenes, uns ist, als hätten wir ein ganz besonderes Recht, uns wider das Schicksal zu empören.

Es mochten Hunderttausende wie ich um ihrer Pflicht willen ihrer Neigung haben entsagen müssen – es hatte doch noch Keiner deshalb auf ein Mädchen wie Blanche zu entsagen brauchen! Wie Blanche! O mein Gott, wie klammerten sich alle Fibern meines Herzens an dieses Mädchen – und doch sollte ich mein Herz losreißen von ihr; wie glaubte ich nicht mehr leben zu können ohne sie, und sollte doch von ihr gehen auf Nimmerwiedersehn! Wie war ich mir selbst ein Räthsel mit dem kecken Leichtsinn, dem heitern Uebermuth, der selbstgefälligen Scherzhaftigkeit, womit ich mich ihr genähert und die ich früher in den Verkehr mit ihr gelegt; ach, ich hatte mich so überlegen gefühlt, ich war endlich so übermüthig geworden, bei meiner Wahrnehmung eines Spieles, das sie mit mir treiben wollte … so kindisch übermüthig! Und jetzt hätte ich vor ihr hinknieen, sie anbeten mögen, dies hochherzige Mädchen mit ihrem edlen aufopferungsfähigen Herzen, ihrem starken und unerschrockenen Charakter.

Und ich hatte nicht einmal diesen Trost, ihr sagen zu können, wie ich sie bewunderte. War es ein Trost, daß ich mir sagen konnte, auch sie müsse wenigstens mich achten, sie könne mich hassen wegen dessen, was ich gethan, aber nicht verachten, sie müsse einsehen, daß ich stark und unerschütterlich meine Pflicht gethan? Nein, ich hatte nicht einmal diesen Trost, wenn es einer gewesen wäre. Unsere gegenseitige Situation war so unglückselig, daß ich ihn gar nicht haben konnte. Denn was Blanche sich jetzt sagte, was war es anders, als daß mein Handeln nur beweise, wie wenig ich die Wahrheit gesprochen, als ich ihr von meiner Leidenschaft für sie geredet? Was sie von den Männern hielt, hatte sie ja oft genug gesagt; wenn sie so urtheilte, konnte sie nicht anders glauben, als daß ich sie von Anfang an nur täuschen wollen, um ihr Vertrauen zu erschleichen, ihr Geheimniß ihr zu entlocken, daß es mir nur um dies verfluchte Gold zu thun gewesen. …

Er war zum Rasendwerden – gerade dieser Gedanke war mir entsetzlich. Ich konnte ihn nicht ertragen, ich mußte etwas thun, um ihn Blanche zu nehmen. Ich wälzte einen Plan nach dem andern in meinem Kopfe, um dahin zu gelangen; ehe ich mich für etwas entschlossen, wurde ich gestört: der Abbé kam mit einem freundlichen kleinen Herrn, den er als den Hausarzt vorstellte. Ich mußte mich ihm zur Untersuchung und zum neuen Verbinden meiner Wunde überlassen; auch er fand sie nicht bedenklich, aber er befahl mir, mich zur Ruhe zu begeben; er bestand darauf, daß ich wenigstens zwei Tage den Arm so wenig wie irgend möglich bewege. Mir war diese Vorschrift ganz willkommen; ich konnte mich darauf berufen, wenn ich auf die Anzeige des Officiers hin vielleicht doch schon früher von meinem Posten hier in Chateau Giron abberufen werden sollte, und war sehr entschlossen es zu thun, falls mein Commandeur sich anderer Meinung zeigen würde als der Premierlieutenant, der mir für’s Erste zu bleiben erlaubt hatte.

Nach dem Arzte kam Friedrich, nach ihm Glauroth mit dienstlichen Meldungen; dieser ließ sich dann nicht nehmen, mir die Unterhaltung zu machen – ich ward ihn auch, als ich mich zu Bette gelegt, nicht los … er hatte den Faublas ausgelesen und seine Cigarre rauchend erging er sich in Bemerkungen und in allerlei Kreuz- und Querraisonniren darüber. „Ich werde mich mehr auf die französische Literatur verlegen,“ sagte er; „es wachsen, scheint es, ungeheuer schmackhafte Früchte in diesem Garten … ein wenig faul, aber desto schmackhafter, wie die Mispeln. Wie diese Kriegsfahrt in Frankreich hinein überhaupt bildend auf den Menschen wirkt, ist ganz merkwürdig!“

„Ich hoffe,“ versetzte ich, „Sie bilden Ihren Geschmack nicht hier zu einer Liebhaberei für Mispelngenuß aus!“

„Wer weiß,“ sagte Glauroth; „die deutschen Eicheln mögen viel nahrhafter und gesünder sein, aber Sie müssen einräumen, daß man sie unverdaulich finden kann!“

„Sagen Sie, Glauroth,“ unterbrach ich ihn, „um von etwas Anderem zu reden. Ihr Vater ist Kaufmann, nicht wahr?“

„So ist es, er ist Kaufmann und arbeitet hauptsächlich für die Pflege des deutschen Gemüths mit wollenen Nachtmützen, Unterjacken, Kamisölern, er ‚macht‘ in Allem, was der Mensch sich dicht und warm an’s Herz legt … weshalb fragen Sie? wollen Sie die Firma Glauroth in Nahrung setzen? – etwa die Schwadron als großmächtiger Gönner mit den für den kommenden Winter willkommenen wollengewebten Wohlthaten beschenken?

„Nein nicht deshalb, sondern weil ich voraussetzte, daß Ihnen alsdann vielleicht der Name irgend eines großen und soliden Bankgeschäfts in der Schweiz, in Basel oder Bern bekannt sei!“

„In Basel oder Bern?“ sagte Glauroth nachdenklich. „Warten Sie … wer ist ist Basel? – ach, dort ist ja das alte Haus Gebrüder M. … und in Bern …“

„Genug,“ rief ich aus, „Gebrüder M. – der Name ist bekannt und genügt mir vollkommen!“

„Wollen Sie Geldgeschäfte machen?

Ich antwortete nicht, sondern sprach von anderen Dingen und sandte Glauroth endlich unter dem Vorgeben fort, daß ich nun ruhen wolle.

Ich ruhte auch: ich schlief gesund und lange in dieser Nacht, wie ein körperlich und seelisch ermüdeter Mensch schläft, wenn ein fester und starker Entschluß seiner Seele wenigstens Ruhe gegeben hat. Ich erwachte am andern Morgen erfrischt und gekräftigt. Ich konnte mich erheben und, nachdem Friedrich für meine Wunde gesorgt und den Arm hübsch in eine Schlinge gelegt, ausgehen, um nach meinen zwölf Paladinen aus dem arianischen Ulanenstamm und ihren Rossen zu schauen. Nachdem ich mit Glauroth den Dienst für den Tag besprochen, kehrte ich in mein Zimmer zurück und schrieb zwei Briefe. Den ersten an Fräulein Kühn. Daß er erst nach drei, vier wieder zerrissenen Entwürfen zu Stande kam, brauche ich nicht zu erwähnen. In den Brief schloß ich ein Document ein, welches mir weniger Mühe machte zu stilisiren, denn es war sehr kurz gefaßt.

Nachdem ich den Brief versiegelt, rief ich Friedrich herbei und sandte ihn ab, meine Depesche Fräulein Kühn selber zu überreichen. Das Herz klopfte mir, während er seinen Auftrag ausrichtete; ich fragte mich ängstlich, ob sie einen Brief von mir annehmen würde. … Friedrich kam zurück, mein erster Blick nach seinen Händen zeigte mir, daß sie leer waren, daß Blanche mein Schreiben angenommen.

Ich schrieb den zweiten längeren Brief an meinen Geschäftsmann und Verwalter daheim. Ich wollte den Arzt, der heute noch einmal zu kommen versprochen, bitten, ihn mitzunehmen und in Noroy der Post zu übergeben.

Ich war eben damit zu Stande gekommen, als der Abbé eintrat und mir mittheilte, daß Fräulein Blanche mich zu sprechen wünsche; daß, wenn ich noch zu schwach sei, zu ihr heraufzusteigen, sie sich gern herunterbegeben wolle, um zu mir zu kommen.

„Sie sehen mich gekräftigt und halbgenesen,“ unterbrach ich ihn, „darf ich mich sogleich zu Fräulein Blanche hinaufbegeben?“

Der Abbé machte mir eine Verbeugung – er war in all’ seinem Wesen und seiner Haltung förmlicher und gemessener als die Tage zuvor – und schritt vorauf. Ich folgte ihm in einer nicht leicht zu beschreibenden Gemüthsverfassung.

Oben führte er mich durch den mir bekannten Salon in das Cabinet, in welchem ich bei meinem ersten Besuche Madame Kühn hinter den herabgelassenen Portièren vermuthet hatte. Es war ein sehr hübsches Boudoir, in welches ich eintrat und mir gegenüber Blanche am Fenster sitzen sah, bleich, mit Augen, die Spuren des Weinens trugen. Doch waren die Thränen in diesem Augenblick verwischt, sie sah mich mit einem sehr trockenen und harten Blick an, als ich vor ihr stand und ihre Anrede erwartete. Meine Schreiberei lag vor ihr auf einem kleinen Arbeitstisch.

Ich hätte ihr mit einem Gefühl tiefer Rührung, das mich bei ihrem Anblick überkam, die Hand entgegenstrecken mögen; ihr Blick scheuchte dies Gefühl zurück und ich nahm den Sessel ein, auf den sie deutete.

Der Abbé war zurückgeblieben.

„Ich habe Sie zu sprechen gewünscht,“ sagte sie mit jener Verschleiertheit, die sich über ihr so glockenhelles und sonores Organ zuweilen legen konnte, „weil ich eine Frage an Sie richten muß. … Versprechen Sie mir vorher, die volle Wahrheit zu sagen!“

„Ich verspreche es Ihnen,“ versetzte ich sehr beklommen. „Welche Frage ist es?“

„Eine sehr indiscrete und doch auch sehr natürliche! Sind Sie sehr reich?“

[108] „Ich reich?“ …

„Weshalb macht diese Frage Sie so bestürzt?“

„Weil sie mich in eine große Verlegenheit bringt.“

„In einige Verlegenheit … ja, das begreife ich,“ antwortete Blanche mit einem harten, fast zornigen Tone. „Sie müssen gestehen, daß Sie es sind, sehr, sehr reich – und dann auch gestehen, daß Ihr Schritt furchtbar taktlos und verletzend für mich ist. … Sie senden mir da eine Anweisung von hundertfünfundneunzigtausend Francs auf ein Baseler Bankhaus – Sie, mir! Und Sie glauben, ich würde solch ein Geschenk von Ihnen annehmen?“

„Ich dachte,“ fiel ich betroffen ein, „ich hätte Ihnen in meinem Briefe gesagt, daß ich nicht gemeint habe, Ihnen damit ein Geschenk zu machen! Es ist mir eine solche Kühnheit nicht eingefallen. Der Abbé hat mir gesagt, daß Sie diese Summe und damit Ihr ganzes Vermögen an den Staat hingeben müßten und würden; da ich aber der Unglückliche bin, der Sie in diese Nothwendigkeit gebracht, so habe ich nicht gezögert, Ihnen diese Summe wieder zu ersetzen. Sie sind bei der ganzen Sache doch unschuldig und Sie dürfen nicht darunter leiden! Vielleicht habe ich taktlos gehandelt. Es ist möglich. Ich kann es in meiner jetzigen Gemüthsverfassung nicht klar beurtheilen. Ich war in Verzweiflung über das, was mir der Abbé gesagt hatte, und ich wußte nicht, was Anderes thun!“

„Ich werde Ihre Anweisung wenigstens nicht annehmen!“

„Das betrübt mich mehr, als ich Ihnen sagen kann. Würden Sie sie annehmen, so würde ich denken, Sie verziehen mir, was ich hier thun mußte, Sie hätten keinen Argwohn irgend einer Art mehr gegen mich; Sie würden mich beruhigen, und ich würde Ihnen tief dankbar sein, daß Sie, wenn vielleicht auch mit Widerstreben, etwas gethan, um mir meine Ruhe wiederzugeben … thun Sie es, Fräulein Blanche, wenn es Ihnen auch schwer wird; haben Sie so viel Güte für mich, der sich sehr unglücklich fühlt, jetzt so von Chateau Giron scheiden zu müssen, und noch zehnmal mehr unglücklich sein würde, wenn Sie das zurückwiesen, womit er sich bei Ihnen wenigstens ein versöhntes Andenken erkaufen möchte!“

„Unglücklich?“ sagte sie mit verächtlich aufgeworfener Lippe, „wenn man ein junger Mann und solch ein Millionär ist wie Sie, so hat das Unglück nicht langen Bestand. Nehmen Sie Ihre Anweisung zurück.“

„Sie sind in der That sehr hart,“ versetzte ich mit zuckender Lippe. „Besinnen Sie sich, Blanche, ob es Ihnen nicht möglich ist, von mir wiederzunehmen, was ich Ihnen genommen habe.“ …

„Nein,“ sagte sie mit derselben Schärfe. „Gesetzt auch, Sie machten sich Vorwürfe, oder besser, es beunruhigte Sie, daß Sie ein Unheil über mich bringen mußten – so würden Sie doch gar zu verschwenderisch handeln, mit solch einem Geschenk eine kleine Unruhe von Ihrem Gewissen abschütteln zu wollen. Um eine Sache, die ihn ein wenig peinigt, von sich abzuschütteln, giebt kein verständiger Mann so viel Geld aus. Selbst für einen Millionär sind zweihunderttausend Francs eine große Summe, und ich will zu solcher Verschwendung nicht helfen!“

Sie sprach das mit einer außerordentlichen Bitterkeit.

„Hören Sie mich an, Blanche,“ versetzte ich. „Sie bedürfen des Vermögens. Eine junge Dame, in Verhältnissen aufgewachsen wie Sie, bedarf des Vermögens, für sie ist es eine Lebensbedingung! Für mich ist es ganz etwas Anderes. Wenn Sie diese Summe von mir annehmen, so bleibt mir noch völlig genug, um ein oder auch zwei Jahre lang bequem, ja glänzend leben zu können; mehr bedarf ich nicht, denn ich habe für Niemand zu sorgen und in einem oder zwei Jahren habe ich eine Anstellung im Justizdienste, und der Staat sorgt für mich!“

Sie sah fast erschrocken auf und mich an.

„Sind Sie denn kein Millionär?“ fragte sie hastig.

„Nein. Ich bin ein jüngerer Sohn; mein älterer Bruder hat von meinem Vater ein einträgliches Gut ererbt; ich von meiner Mutter beinahe sechsundfünfzigtausend Thaler. Die Anweisung dort beträgt ungefähr zweiundfünfzigtausend Thaler – Sie sehen, daß von Millionen bei mir nicht die Rede ist.“

Sie sah mich mit einem Blick unverhohlenster Bestürzung an, dann erblaßte sie noch tiefer und nahm langsam die Anweisung von ihrem Tische und begann diese ebenso langsam in kleine Stücke zu zerreißen. Ihre Hände zitterten dabei; die Muskeln ihres Gesichtes zuckten – es war ein eigenthümliches Spiel in ihren Mienen, dessen Bedeutung mir vollständig entging.

„Blanche!“ sagte ich mit flehender Stimme, und von einer plötzlichen Rührung übermannt, über deren Grund ich mir in diesem Augenblicke schwer hätte Rechenschaft geben können. Ich stand auf, um ihre Hand zu ergreifen.

Mit Heftigkeit entriß sie mir ihre Rechte und drückte beide Hände vor das Gesicht. Ich sah, daß sie weinte, daß die Thränen zwischen ihren Fingern hindurchquollen; sie brach in Schluchzen aus und wandte sich, um fortzueilen.

Ich hielt sie fest, indem ich meinen Arm um ihre Schulter legte und an mich ziehen wollte. Aber sie entzog sich mir mit äußerster Heftigkeit. „Nein, nein, gehen Sie, sagen Sie mir nichts, nichts!“ rief sie aus … „o, gehen Sie, gehen Sie!“

Dann eilte sie davon und war im nächsten Augenblick zum Zimmer hinaus.

[130] Ich stand meiner Sinne nicht recht mächtig. Meine Gedanken wirbelten mir durch den Kopf; ich wußte nicht recht, was geschehen und was die ganze Scene bedeute; ich fühlte mich selbst nur den Thränen nahe.

So ging ich hinab, in meine Zimmer, mit einer Art von Wuth die Thränen, die in mir aufstiegen, niederkämpfend. Die Wuth richtete sich gegen mich, den Soldaten, der den Kopf oben behalten und kaltblüthig bleiben muß, wenn er inmitten von Tod und Verderben steht und tausendfaches Elend rings um sich her sieht; und nun ließ ich mich übermannen und niederbeugen durch den Anblick von ein wenig Herzeleid, das ich über diese Französin, die doch obendrein noch eigentlich eine Deutsche war und es schmählich verleugnete, gebracht! Was war es denn, um was es sich handelte? Ich hatte ihr einen Haufen von dummem, ekelhaftem Geld nehmen müssen – und wollte ihn ihr ja noch obendrein ersetzen. Konnte sie den Ersatz nicht von mir annehmen? Warum nicht? Und wenn nicht, was that’s, was ging unsere Seelen der Mammon an? War es nicht arg genug, daß dieser verborgene Haufen Geld uns zu einem Spiele wechselseitiger Ueberlistung gezwungen? Und wenn ich dabei auch gesiegt, wenn ich ihn ihr genommen, hatte sie nicht seinetwillen die Komödie von Colomier mit mir gespielt, hatte sie nicht mich mit dem Schlaftrunk des Abbés unschädlich machen wollen, dessen Wirkungen ich an Friedrich hatte wahrnehmen können? Hatte ich nicht tagelang um dieses dummen eklen Mammons willen schon den Stachel und die Pein des bösesten Argwohns in mir wühlen gefühlt? War es nicht elend, klein und engherzig, solch einen Verlust als etwas zu betrachten, was uns auf ewig auseinanderiß? Was kann solch ein erbärmliches, äußeres Ereigniß dem Herzen, der Menschenseele anhaben, und wenn sie das nicht einsah, nicht fühlte, wenn sie nicht verzeihen und nicht begreifen konnte, daß ich ohne Schuld war, wenn sie sich nicht sagte, wie schwer ich selber unter dem litt, was ich aus Pflichtgefühl thun müssen – dann, nun dann mußte ich auf sie verzichten können!

Es war ein Raisonnement wie alle, welche sich Verliebte machen. Sehr logisch, sehr schlagend und von zweifelloser Richtigkeit in seiner Schlußfolgerung! Und doch zieht man nicht einen Tropfen Trost daraus, und in all seiner Logik liegt kein Atom von Beruhigung! –

Ich zerriß den jetzt unnützen Brief, den ich an meinen Geschäftsmann geschrieben, und warf mich auf einen Divan, um nachzudenken, was ich beginnen, ob ich noch bleiben oder mich von diesem Posten hier unter dem Vorwande meiner Verwundung zurückberufen lassen solle. Gewiß, das Letztere war das Beste, das Einzige, was ich thun konnte! Der Arzt kam nach einer Weile und nahm mir beinahe den Vorwand, indem er mir versicherte, daß ich, wenn ich nur noch zwei Tage lang fortfahre, meinen Arm in der Schlinge zu tragen und ihn ruhig zu halten, wegen der Wunde weiter keine Sorge zu haben brauche. Eigentlich war es mir angenehm, daß er mir den Vorwand abschnitt – im tiefsten Grunde meines Herzens zog ich daher vor – zu bleiben! Das Menschenherz ist ein widerspruchsvolles Ding! –

Es war eigentlich ein gesprächiger und gescheidter kleiner Mann, der Doctor aus Noroy; wenn er das erste Mal, wo er gekommen, ziemlich schweigsam seines Amts bei mir gewaltet, so war er heute schon vertrauter und zu Mittheilungen aufgelegter. Er begann vom Kriege zu reden, von den philosophischen Deutschen, die so unphilosophisch nicht lieber nachgäben, als sich mit einem so edlen Volke, wie die Franzosen, schlagen zu wollen; von der seltsamen Marotte Bismarck’s, „ce Monsieur Shylock“, wie er sich ausdrückte, zu wähnen: er könne aus dem lebendigen Fleische Frankreichs ein Stück herausschneiden, just wie der abscheuliche Jude von Venedig.

„Weshalb,“ rief der kleine Doctor aus, „haben die Deutschen nicht Frieden gemacht nach der Schlacht von Sedan, nachdem sie sich diesen Empereur, der ihnen den Krieg erklärt, cette ‚incapacité méconnue‘, eingefangen und uns davon befreit? Wir wären dann durch die Dankbarkeit für immer an sie gefesselt und Hand in Hand wären wir zwei große Völker auf der Bahn zu den gemeinsamen Zielen der Menschheit weiter geschritten!“

Ich war nicht sehr aufgelegt, auf eine Debatte darüber einzugehen, aber ich konnte mich nicht enthalten, lebhaft zu antworten:

„Freilich, Doctor, dann wäre Deutschland in seiner alten bescheidenen Rolle geblieben, die es dahin gebracht hat, daß es überall die Sympathien gegen sich hat; daß Holländer, Belgier, Schweden, Schweizer, all das kleine Völkergesindel, auf uns herabsehen, uns den Sieg mißgönnen und unseren Ruhm benagen. Deutschland, müssen Sie wissen, ist endlich durch Erfahrungen ein wenig klüger geworden. Es hat Frankreich schon einmal von einem Empereur befreit und es dann unverletzt gelassen und keinen Zollbreit von seinen früheren Grenzen verlangt, nicht einmal Straßburg, diesen Knotenpunkt deutschen Lebens! Wie dankbar Frankreich dafür war, haben wir im Laufe der Jahre zu empfinden bekommen; es hat fortwährend unsern Rhein verlangt und uns mit Krieg bedroht und mehr als einmal gezwungen, uns kriegsbereit zu machen, und jetzt hat es uns plötzlich die Kriegsfackel in’s Gesicht geschleudert. Nennen Sie das Dankbarkeit?“

„Das Frankreich von heute ist nicht mehr das von 1814 und 1840!“ warf der Doctor ein.

„Ich will Ihnen das Vergnügen machen, Doctor,“ versetzte ich, „Frankreich einen Löwen zu nennen, den wir friedlichen Deutschen nun einmal leider zum Nachbar bekommen haben. Den Löwen biß eine Hornis und machte ihn so wüthend, daß er uns anbrüllte und verschlingen wollte und seine Krallen wider uns ausstreckte. Nun haben wir ihn niedergerungen und ihm die Hornis nebenbei aus dem Fell gezogen. Sollen wir es nun machen wie der Sclave Androclus, und auf seine Dankbarkeit dafür bauen? Es wäre sehr thöricht! Sicherer ist, wir schneiden ihm die Krallen ab!“

Der Doctor zuckte mit den Achseln.

„Ich habe eine ganz andere Vorstellung darüber, wie wir zu recht aufrichtiger Freundschaft und Frieden kommen,“ fuhr ich fort. „Dann, wenn wir mit unerbittlicher Strenge zeigen, daß wir ebensoviel stolzes Selbstbewußtsein haben, wie die anderen Völker auch. Man wird dann anfangen, uns zu achten – und ohne Achtung, Doctor, dem werden Sie nicht widersprechen, giebt es keine Freundschaft und keine Liebe! Damit Frankreich uns lieben kann, müssen wir ihm zeigen, daß wir ihm ebenbürtig sind und nicht mehr der Diener des glänzenden, stolzen, aristokratischen Herrn! Die Diener der stolzen Herren Völker sind wir lange genug gewesen. Wir haben ihnen die Erfindungen gemacht, mit denen sie großthaten, wir haben wie Bedientenseelen, die sich mit ihrer Herrschaft Kleidern herausputzen, ihre Moden angenommen, ihre Sitten nachgeäfft, ihre Sprache nachgewälscht. Kann ein anderes Volk uns so achten, uns dankbar sein, wie Sie sich ausdrücken, als ob Völker je dankbar wären? Weshalb hat Frankreich immer gedacht, uns den Rhein nehmen und, wann es ihm nur einfiele, einen Spaziergang nach Berlin machen zu können? Weil es sich für vornehmer hielt. Wenn wir ihm zeigen, daß wir ebenso vornehm sind – Sie wissen, vornehm kommt her von [131] nehmen – wird es nicht mehr es unter seiner Würde halten, sich mit uns zu befreunden. Wollen wir Frankreichs Freundschaft, müssen wir ihm Elsaß und Lothringen nehmen. Wir haben ein Recht darauf, und ein ehrenhafter Mann, der etwas auf sich hält, läßt sich sein Recht nicht nehmen. ‚Nur die Lumpen sind bescheiden‘; nur die Lumpen achten das Ihre nicht und wissen es sich nicht zu erhalten.“

Der Arzt sah, daß er mit seiner Art, die Dinge anzuschauen, nicht aufkam. Doch nahm er’s gelassen auf, lächelnd in der stolzen Sicherheit, daß sehr bald Alles eine andere Wendung nehmen und die Republik die „eingedrungenen Horden“ vom „heiligen“ Boden Frankreichs fortkehren werde.

Als er gegangen war, fiel ich in meine schmerzlichen Grübeleien zurück. Der Mann hatte von der Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland geredet! War sie möglich, wenn zwei junge Herzen, die doch im Grunde nichts trennte, als daß der Krieg zwischen ihren Völkern ausgebrochen war, diese Versöhnung nicht einmal finden konnten?

Der Krieg! Er war wie ein böser Genius, den die Hölle ausgesandt hatte, um sein entsetzliches Gift auf Alles, was da lebte, blühte und gedieh, auszuspritzen, auf jede Frucht, auf jedes Glück, auf jeden frohen Menschenkreis und in jedes warm schlagende Herz!

Ich hatte es nie so gefühlt, nie hatte mich so ein Grauen darüber angewandelt – es war freilich sehr egoistisch, daß ich’s jetzt erst so im tiefsten Innern fühlte, jetzt, wo’s mich selber traf.

Es drängte mich in die frische Luft, in’s Weite; ich ließ mein Pferd satteln und ritt mit zweien von meinen Leuten, um über die Oignonbrücke hinaus eine Streiferei auf dem andern Ufer des Flusses zu machen.

Als ich nach einer Stunde heimkam, fand ich auf dem Tische in meinem Zimmer einen Brief liegen. Ich kannte die Hand nicht – aber es war offenbar eine Frauenhand, und in größter Aufregung erbrach ich das Couvert.

Der Brief trug die Unterschrift „Blanche“. Sie schriebt:

„Ich verstehe mich und was in mir ist, selbst nicht. Ich bin empört gegen Sie und bin es gegen mich selbst. Und wenn ich’s mir klar machen will, weshalb ich’s gegen Sie bin, so möchte ich aus Aerger darüber weinen, daß ich’s nicht kann. Ich muß mir gestehen, daß ich Ihnen großes Unrecht gethan; ich fühle, daß Sie mir große Demüthigungen zugefügt haben. Und doch läßt weder das Eine noch das Andere einen Stachel in mir zurück, wie es doch natürlich wäre; und dieses Zerbrochensein, diese Schwäche der – wie soll ich es nennen? der Rancune, der Empfindlichkeit in mir empört mich eben. Vielleicht auch ein wenig das Gefühl der Hülfslosigkeit, womit ich selbst nicht weiß, was ich will, was ich möchte. Jedenfalls haben Sie sich so stark gezeigt, daß es für mich keine Schande ist, die Besiegte zu sein. Als Besiegte will ich um Frieden bitten. Während ich Ihnen einräume, daß Sie mich von einer thörichten Verachtung der moralischen Kraft in einem Manne über sich selbst geheilt haben, verlange ich von Ihnen, daß Sie mir einräumen, ich habe nichts Schlechtes, nichts Unwürdiges gethan, als ich Sie zu täuschen suchte, als ich sogar in des Abbés Vorschlag, Ihre Wachsamkeit durch ein künstliches Mittel unschädlich zu machen, einwilligte! War das unrecht, so konnte ich doch nicht anders. Hätte es sich auch nicht um das anvertraute Gut gehandelt, welches ich meinem Vaterlande retten wollte, ich konnte dem Verlangen nicht widerstehen, der Situation voll wechselseitigen Argwohns, die mich unglücklich machte, ein Ende zu machen. – Durch Ihren Schritt von heute Morgen haben Sie mir bewiesen, daß mein Argwohn ein böser, völlig unbegründeter war, ich spreche es Ihnen offen aus – sprechen Sie auch mich in Ihrem Herzen von Vorwürfen frei, und wenn Sie von hier gehen, so denken Sie gütig und in Frieden an Blanche K.“

Ich brauche nicht zu sagen, wie glücklich diese offenbar in großer Hast hingeworfenen Zeilen mich machten. So glücklich, daß ich den Muth fand, zu ihr hinaufzueilen. Ich fand Blanche inmitten des Salons stehend, als ich in diesen eintrat. Sie sah mich ängstlich an, sie rührte kein Glied, als ich näher trat, sie war regungslos wie in dem Bewußtsein von einem Entscheidenden, über ihr Leben Bestimmenden dieser Zusammenkunft.

Dies Wesen dämpfte, ich muß es gestehen, ein wenig meinen Muth, und es mochte sehr beklommen lauten, als ich sagte:

„Blanche … können Sie denn glauben, ich hätte etwas Anderes als Bewunderung für Ihren Muth, Ihre Stärke, Ihre Geistesgegenwart, Ihre Hochherzigkeit? Etwas Anderes in mir als Verzweiflung über das, was ich Ihnen zufügen mußte? O ja, lassen Sie uns Frieden machen. Wir können es! Sie sagen, Sie haben gesehen, daß Ihr Argwohn ungegründet, daß mein Gefühl für Sie nichts Erheucheltes, sondern daß es stark, wahr und tief sei! Zeigen Sie mir, daß auch mein Argwohn ein Frevel war, zwingen Sie mich, ihn auf den Knieen Ihnen abzubitten …“

„Welchen Argwohn?“ sagte sie halblaut, zu Boden blickend.

„Den Argwohn, daß Ihre Güte, daß all’ Ihre Theilnahme für mich – Ihnen nur von Ihrem Patriotismus eingegeben sei und berechnet, mich willenlos zu machen und mich zu unterjochen!“

„Sie können das jetzt nicht mehr glauben!“ antwortete sie leise, aber rasch … „doch ja, Sie könnten es mit demselben Recht glauben, womit ich Mißtrauen gegen Sie hegte. Wohl denn, ich will Ihnen den Beweis geben, den Sie verlangen. Sie haben mich gebeten, nach dem Frieden zu uns zurückkehren zu dürfen … Sie hatten dann vor,“ setzte sie mit einem leisen Anflug von Lächeln hinzu, „mir allerlei zu sagen, ich weiß es nicht mehr, was! Ich erlaube Ihnen, wenn der Friede geschlossen ist, zurückzukehren!“

Ich ergriff voll inneren Jubels ihre Hand und drückte glühende Küsse darauf.

„Dank, Dank,“ sagte ich dabei – „und nun ist mir, als sei der Friede bereits geschlossen, ein voller, für beide Kämpfer gleich rühmlicher, seliger Friede! Soll ich Ihnen deshalb nicht jetzt schon alles das sagen dürfen, was Sie ‚vergessen‘ haben?“

Sie ließ ihre Hand in der meinigen, schüttelte aber heftig den Kopf und rief lebhaft aus: „Nein, nein, noch nicht, noch nicht! Sie sollen nicht von mir fordern, daß ich so rasch Alles vergesse, mich über Alles fortsetze! So lange der Krieg zwischen unseren Völkern wüthet, dürfen wir nicht egoistisch sein und nur unseren Gefühlen leben wollen. Verlangen Sie nichts mehr von mir. Es würde nicht gut sein, weder für Sie, noch für mich! Die Brücke,“ fügte sie anmuthig lächelnd hinzu, „welche Sie bauen wollten, darf nicht das Werk einer Stunde sein, wenn sie dauerhaft und fest werden soll …“

„Sie soll ja nur uns, nur uns Beide tragen, Blanche, und ich, was mich angeht, fühle mich so leicht, als ob mich Wolken trügen!“

Sie schüttelte wieder mit demselben Lächeln den Kopf und sagte dabei: „O nein, die Brücke muß auch sehr, sehr schwere Bedenken, sehr ernste Vorsätze und sehr wichtige Einwürfe, welche die Meinigen mir machen werden, tragen können!“ –

Ich brauche nicht zu erzählen, daß ich trotz dieses Verbots meiner Beredsamkeit keinen Zügel anlegte! Wie wäre das möglich gewesen, wenn das Herz von innerem Glück und Jubel überströmt? Im Uebrigen aber mußte ich mich Blanche fügen. Unser Bund mußte den Ihrigen geheim bleiben – sie gab mir zum Trost nur die Erlaubniß, täglich mehrere Stunden zu ihr kommen zu dürfen um ihr – den Faust auszulegen!

„In Gegenwart des Abbé?“ fragte ich.

„In Gegenwart des Abbé – vorausgesetzt, daß ihn Ihre deutschen Ketzereien nicht forttreiben!“ – –

Ich habe getreulich den Faust ausgelegt, aber ich fürchte, ich bin dabei sehr ketzerisch geworden und noch weit über den Ulanen-Arianismus Glauroth’s hinausgegangen. Vielleicht wär’s nicht einmal nöthig gewesen, denn der Abbé mied mich von nun an ohnehin. Weshalb? Ich glaube es zu errathen. Doch wenn der Friede da ist, wird auch er sich, hoffe ich, versöhnen lassen.

Ja, wenn nur erst der Friede da wäre! – Nicht eine Woche währte es und ich ward mit meinem Commando abgerufen von Chateau Giron. Das Regiment marschirte weiter südwärts; wir hatten uns bei Dijon zu schlagen, wurden bis Nuits vorgesandt, hatten zu recognosciren und zu fouragiren, wurden endlich als Deckung einer Batterie in dem blutigen Gefechte bei Nuits in einer sehr exponirten Stellung gebraucht … Glauroth traf dort ein Granatsplitter an der rechten Wade, der nebenbei sein Pferd unter ihm tödtete; ich bekam wenige Minuten nachher ebenfalls die mir bestimmte Kugel; sie ging durch den rechten Arm unmittelbar unter der Achselhöhle durch – Gottlob, ohne den Knochen zu verletzen; und so sind wir Beide denn auch zur Heilung in ein und dieselbe Stadt fernab vom Getümmel des Krieges gesandt, um hier mit den täglich wachsenden Kräften der Genesung das tägliche Stoßgebet zu sprechen: Wenn doch erst Friede wäre!



Anmerkungen (Wikisource)