Die Gartenlaube (1871)/Heft 32
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No. 32. | 1871. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Das Haideprinzeßchen.
„Sieht das aus, als ob schwachsinnige Troglodyten dort hausten?“ fragte lächelnd der Professor. „Und kommen Sie in einem Monat wieder, wenn die Haide blüht, wenn sie purpurn flimmert und schimmert! Dann ist sie märchenhaft! Noch später aber trieft sie von flüssigem Gold, von dem Golde des Honigs – und was wollen Sie? Das ‚ausgestoßene Kind Gottes‘ schmückt sich wie ein Königstöchterlein – viele der kleinen dunkeln Haidebäche, wie Sie dort drüben einen sehen, haben Perlen.“
„Ja, Milliarden Wasserperlen, die in’s Meer fließen!“ lachte der junge Herr.
Der Professor schüttelte ungeduldig den Kopf. Ich hatte ihn auf einmal herzlich lieb, den Mann, trotz seines vertrockneten Gesichts, seiner vielen Fremdwörter und der häßlichen, rasselnden Blechbüchse auf dem Rücken. Er vertheidigte ja meine Haide, er hatte mit wenigen Worten den ganzen Zauber und Segen, den sie athmete, zur Geltung gebracht. Der junge Spötter mit dem verächtlich lächelnden Munde aber, der mir mit jedem seiner Worte auf das Herz trat, er mußte beschämt werden. Ich weiß noch heute nicht, woher ich den Muth nahm, aber ich stand plötzlich an seiner Seite und hielt ihm schweigend die Hand hin, in der fünf Perlen lagen.
Mir war, als sei ich auf glühende Kohlen getreten; ich fühlte, wie mir die Lippen zitterten vor Scheu und Angst, und meine Augen hingen fest am Boden. Es wurde dunkel um mich her, man umringte mich; der Herr, der inzwischen vom Hügel niedergestiegen war, die Arbeiter, alle kamen heran, und neben mir sah ich Heinzens riesenhafte Schuhe.
„Na, nun sehen Sie ’mal, Herr Claudius, das Kind da will Sie überführen! … Brav, mein Töchterchen!“ rief überrascht und vergnügt lachend der Professor.
Der junge Herr sagte kein Wort. Vielleicht war er erstaunt über die Dreistigkeit, mit der sich das Kind der Haide im groben Leinenhemd und kurzen Wollröckchen neben ihn stellte. Langsam, ich meinte, mit Widerwillen griff er herüber – und jetzt erschrak ich erst recht bis in’s Herz und schämte mich. Unter diesen elfenbeinweißen schlanken Fingern mit den mattglänzenden Nägeln erschien meine sonnenverbrannte Hand völlig kaffeebraun; sie zuckte unwillkürlich zurück, und um ein Haar hätte ich die Perlen verschüttet.
„Wahrhaftig, sie sind noch nicht durchbohrt!“ rief er und ließ zwei der winzigen Kügelchen über seine Handfläche rollen.
„Form und Farbe lassen freilich viel zu wünschen übrig – sie sind sehr grau und unregelmäßig,“ entschuldigte der Professor. „Es sind eben kleine Baroqueperlen ohne sonderlichen Werth; aber sie bleiben immerhin eine interessante Erscheinung.“
„Ich möchte sie gerne behalten,“ sagte der junge Mann; das klang wie eine höfliche Bitte.
„Nehmen Sie,“ antwortete ich kurz, ohne aufzusehen; ich meinte, man müsse in jedem Wort mein Hasenherz klopfen hören.
Er las behutsam die übrigen Perlen von meiner Hand auf, und jetzt sah ich, wie der Herr im braunen Hut, der vor mir stand, ein glänzendes Gewebe, in welchem es leise klirrte, aus der Tasche zog.
„Hier, mein Kind,“ sagte er und legte mir fünf große, runde, hellglänzende Stücke in die Hand.
Zu ihm schlug ich die Augen auf. Ich sah eine breite Hutkrempe, die das halbe Gesicht verdeckte, dann kam eine große blaue Brille, von der ein leichenhafter Schein auf die Wangen fiel.
„Was ist das?“ fragte ich, bei aller Befangenheit doch ergötzt durch das Geflimmer und die Form der fremdartigen Dinge.
„Was das ist?“ wiederholte der Herr erstaunt. „Wissen Sie denn nicht, was Geld ist, kleines Mädchen? Haben Sie noch keinen Thaler gesehen?“
„Nein, Herr, das weiß sie nicht,“ antwortete Heinz mit wahrhaft väterlicher Autorität für mich. „Die alte Frau leidet kein Geld im Hause; was sie findet, wirft sie ohne Gnade in den Fluß.“
„Wie! … Und wer ist denn diese seltsame alte Frau?“ fragten die drei Herren fast zugleich.
„Nu, dem Prinzeßchen seine Großmutter.“
Der junge Herr lachte laut auf. „Diesem Prinzeßchen?“ fragte er und zeigte auf mich.
Ich ließ die Silberstücke auf den Boden hinrollen und entfloh. … Böser, böser Heinz! … Aber warum hatte ich ihm auch die Geschichte von der überaus zarten und feinen Prinzessin auf dem Erbsen-Prüfstein erzählt! und warum hatte ich’s gelitten, daß er mich seitdem „Prinzeßchen“ titulirte, weil er sich einbildete, es gäbe nichts Kleineres und Feineres, als das leichtfüßige Menschenkind, das an seiner Seite die Haide durchstreifte!
Ich lief wie gehetzt heimwärts. Das Spottgelächter des jungen Mannes jagte mich, und ich hatte das dunkle Gefühl, [530] als würde es mir nicht mehr in den Ohren klingen, wenn ich meinen Kopf unter das Dach des Dierkhofes stecken könnte.
Unter dem Hausthor stand Ilse und schaute offenbar nach mir aus; denn Mieke war ja allein heimgekommen. Meine Blicke klammerten sich schon von ferne förmlich an die Gestalt, die in harten, eckigen Umrissen aus dem Dämmerdunkel der hinter ihr sich lang hinstreckenden Tenne hervortrat. … Wie hatte ich den blonden Kopf dort so lieb! Er war genau so strohgelb wie Heinzens ausgedörrte Schläfenhaare, und die Scheitellinie entlang strebte stets eine eigensinnig krause Wolke aufwärts. Ilse hatte auch dieselbe scharfkantige Nase wie ihr Bruder, und das gesunde, frische Blut, das ihr die Backenknochen schön roth lackirte, aber die Augen, die scharfen Augen, die Bruder Heinz so ängstlich respectirte, sie waren anders, und als ich näher heran kam, gefielen sie mir nicht.
„Bist Du toll geworden, Lenore?“ rief sie mir in ihrer gewohnten knappen Kürze zu – sie war böse, so böse, wie sie bei ihrem außerordentlich festen inneren Gleichgewicht überhaupt werden konnte, – denn sie nannte mich beim Namen, und das geschah nur, wenn sie zürnte. Dann schwieg sie und zeigte nur streng auf den Fleck, wo ich stand. Mein Blick glitt hinab, und da sah ich allerdings Etwas, das auch mir äußerst fatal war, nämlich meine nackten Füße.
„Ach, Ilse, Schuhe und Strümpfe liegen noch am Fluß!“ sagte ich niedergeschlagen.
„Unverstand! … Gleich holen!“
Sie schwenkte um und schritt nach dem Herd zurück, der, zwar nach moderner Art als Sparherd eingerichtet, doch seine altgewohnte Stelle im echt niedersächsischen Hause, nämlich am hintersten Ende der Dresch- oder Viehdiele, siegreich behauptete. Ilse hatte Speck auf dem Feuer, er prasselte und duftete kräftig herüber, und in dem brodelnden Kartoffeltopf stiegen die großen Wasserblasen auf.
Das Abendbrod war nahezu fertig, ich mußte eilen, wenn ich rechtzeitig zurück sein wollte. Allein aus dem Hausthor trat ich nicht um die Welt wieder. Verließ ich das Haus durch eine der rückwärts gelegenen Thüren, dann war ich gedeckt durch den Dierkhof selbst und konnte den Fluß erreichen, ohne daß die drüben am Hügel mich bemerkten.
Ich schritt nach der Seitenthür, die zwischen der Dreschdiele und den Wohnungsräumen in’s Freie, in den sogenannten Baumhof, führte. Allein Ilse vertrat mir den Weg und hob abmahnend den Zeigefinger.
„Da hinaus kannst Du nicht, da steht die Großmutter!“ sagte sie mit unterdrückter Stimme.
Die Thür stand offen, und ich sah, wie meine Großmutter den Arm des Pumpbrunnens in rasender Geschwindigkeit auf- und niederschleuderte – ein Schauspiel, das mich sonst nicht befremdete, ich hatte es täglich vor Augen.
Meine Großmutter war eine große, starkbeleibte Frau mit einem Gesicht, das von den Scheitelhaaren an bis auf den breiten Hals hinab zu allen Zeiten eine gleichmäßig brennende Röthe überlief. Diese Färbung der ohnehin starken und auffallend gebildeten Züge über der wuchtigen Gestalt mit den weitausholenden Schritten und den energischen, kraftvollen Armbewegungen machte sie zu einer wilden, furchtbaren Erscheinung, und wenn ich sie mir jetzt noch vergegenwärtige in jenen Augenblicken, wo sie unversehens an mir vorüberschoß, und ich höre wieder das Kreischen und Schüttern der Dielen unter ihren Füßen und fühle ein Wehen, als sei ein Windstoß vorbeigebraust, dann muß ich, trotz ihrer schwarzen Augen und der streng orientalischen Profillinie, doch an jene gewaltigen Cimbernweiber denken, die, das Thierfell um den Leib geschlagen und die Streitaxt in der Hand, sich mitten in den wogenden Kampf der Männer warfen.
Sie hielt den Kopf unter den dicken Wasserstrahl; er schoß ihr über das Gesicht und an den außerordentlich starken, grauen Zöpfen hinab, die in den Brunnentrog hingen. Das that sie immer, auch im eisstarrenden Winter; es schien ihr diese Erfrischung so unentbehrlich wie die Lebenslust zu sein. Heute aber befremdete mich ihre Gesichtsfarbe mehr als je; selbst unter dem kalt niederströmenden Wasser spielte sie in ein tiefes, beängstigendes Braunroth hinüber, und als die gewaltige Frau, die Arme weit ausgebreitet, den Kopf schüttelnd in den Nacken warf und in dem wohligen Gefühl der Erquickung mit geöffnetem Munde einige Mal kräftig ausathmete, da hoben sich die Lippen bläulich dunkel von den großen, weißen Zähnen.
Ich sah Ilse an; sie blickte wie selbstvergessen hinüber, und ihre hartblauen, strengen Augen schmolzen in dem Ausdruck tiefster Bekümmerniß und Trauer.
„Was ist mit der Großmutter?“ fragte ich beklommen.
„Nichts – es ist schwül heute,“ antwortete sie kurz. Es war ihr sichtlich fatal, auf dem schmerzvollen Blick ertappt worden zu sein.
„Giebt’s denn kein Mittel gegen diesen furchtbaren Blutandrang nach dem Kopfe, Ilse?“
„Sie nimmt nichts – das weißt Du. … Gestern Abend hat sie mir das Fußbad vor die Füße geschüttet. … Jetzt geh’, Kind, und hole Deine Sachen.“
Damit schritt sie nach dem Herd, und ich verließ pflichtschuldigst das Haus durch eine zweite Seitenthür. Ich sprang nach dem Fluß, der kaum dreißig Schritte hinter dem Dierkhof hinlief, und versuchte, durch das Ufergebüsch zu schlüpfen. Das war nicht so leicht in dem engen Geflecht, das unberührt von Menschenhand wachsen durfte, wie es Lust hatte. Aber ich wand mich unverdrossen weiter, denn die zähen Weiden, wenn sie auch nach mir zurückschlugen und meine nackten Füße schmerzend rieben, schützten mich doch vollkommen vor den fremden Blicken, und nachdem ich bereits eine bedeutende Strecke zurückgelegt hatte, segnete ich diesen Schutz doppelt; denn schräg über die Haide her kamen die Herren, Heinz voran, und schritten direct auf den Fluß zu. Nun hoffte ich, vor ihnen die kleine Bucht zu erreichen, wo ich meine Fußbekleidung abgelegt hatte, allein ich kam bei aller Anstrengung nicht so rasch vorwärts, wie die Fremden, und kauerte mich resignirt, ziemlich nahe am Ziele, im Gebüsch auf dem Boden nieder.
Was sie hierher führte, konnte ich mir denken, Heinz zeigte ihnen den schmalen, neben dem Ufergebüsch hinlaufenden Grasstreifen. Da ging sich’s freilich anders, als im spröden, starren Haidekraut, der Weg war sammetweich, wie geschaffen für verwöhnte Füße. Die Herren kamen dicht an mir vorüber, ich hörte das Knistern ihrer Tritte, und leise wurden die Zweige gestreift, die auch meinen Arm berührten. An der Birke blieben sie stehen.
„Aha, hier hat das Haideprinzeßchen Toilette. gemacht!“ rief der junge Herr. Mir stockte der Athem. Ich bog mich vor und sah, wie er einen der Schuhe vom Boden aufnahm. Nun wußte ich, bei aller Unberührtheit von Welt und Leben, dennoch recht gut, wie ein zarter Frauenschuh aussehen mußte. Ich hatte im Märchen von silbergestickten Pantöffelchen, von kleinen rothen Schuhen gelesen, und das Papier, auf welchem diese reizvollen Zaubergeschichten standen, erschien mir noch viel zu dick und grob als Sohle dieser ätherischen Kunstgebilde aus Sammet und Seide. Das Unförmchen aber, das der Fremde dort lachend in die Höhe hielt, war vom stärksten Kalbleder – o Ilse, Dir wäre Holz noch nicht „derb und haltbar“ genug für meine unruhigen Füße gewesen!
Heute Morgen hatten die Schuhe vor meinem Bette gestanden, nagelneu und begleitet von zwei steifen Strümpfen, die Ilse selbst aus Haidschnuckenwolle gesponnen und gestrickt hatte – ihr stolzes Geburtstagsgeschenk für mich. Ich war glücklich, und Ilse hatte sehr zufrieden mit dem Kopfe genickt, denn der Schuhmacher hatte in liebender Fürsorge ein wohlgeordnetes Bataillon blitzblanker Nägelknöpfe über die fingerdicken Sohlen hinmarschiren lassen – jetzt funkelten diese gepriesenen Reihen förmlich feindselig zu mir herüber.
„Je – über das Kindchen! Hat richtig die Schuhe stehen lassen! – Ganz neue Schuhe!“ rief Heinz kopfschüttelnd. „Na, na, ich möchte Ilse hören!“ setzte er ängstlich besorgt hinzu.
„Wem gehört denn das Kind, das wir am Hügel gesehen haben?“ fragte der alte Herr im braunen Hute mit seiner weichen Stimme.
„Es gehört auf den Dierkhof, Herr.“
„Nun ja – aber wie heißt es?“
Heinz schob den Hut auf die rechte Seite und kraute sich hinter dem Ohr. Ich sah sie kommen, seine schlaue Antwort – er erinnerte sich offenbar jenes entsetzlichen Augenblicks, wo ich mit dem Fuß gestampft hatte, und – o, Heinz wußte sich zu helfen!
„Je nu, Herr, Ilse ruft sie ‚Kind‘, und ich sage –“
„Desgleichen Prinzeßchen,“ ergänzte der junge Herr in demselben gravitätischen Ton wie mein pfiffiger Freund. Wie vorhin [531] das Fundstück aus dem Hünenbett, so wog er jetzt das kleine Scheusal von einem Schuh auf der Hand: diesmal jedoch mit jener schwerfälligen Armbewegung, die etwas Gewichtiges ironisirt.
„Ah, die Damen der Haide belieben mit Nachdruck aufzutreten!“ sagte er zu dem Herrn im braunen Hute. „Charlotte müßte dieses feenleichte Prachtstückchen sehen, Onkel! … Ich hätte gute Lust, es ihr mitzubringen –“
„Keine Possen, Dagobert!" unterbrach ihn der Angeredete streng; Heinz aber schrie fast auf.
„Ei beileibe nicht, Herr! … O je – was würde Ilse sagen! – ganz neue Schuhe!“
„Brr – diese Ilse scheint mir der Drache zu sein, der das barfüßige Prinzeßchen bewacht! – – voilà!“ lachte der junge Mann und ließ den Schuh auf den Boden fallen. Darauf schlug er die Hände gegeneinander, um die etwaigen Staubreste von seinen Handschuhen zu entfernen.
Sie grüßten Heinz und schritten weiter, während mein alter Freund die Unglücksschuhe eifrig in seine weiten Rocktaschen packte. Er ließ ihnen auch die Strümpfe folgen, die er kopfschüttelnd eben noch auf einem Zweige entdeckte; dann trabte er eiligst nach dem Dierkhofe.
Ich verharrte noch eine kurze Zeit in meinem Versteck und horchte auf die Schritte der Fremden, die sich bald auf dem weichen Rasen verloren. Ich war sehr aufgeregt; damals wußte ich die Empfindung nicht zu bezeichnen, die mir den Hals zuschnürte und die mich mit verhaltenen Thränen ringen ließ, und der ich mich nichtsdestoweniger mit einer Art von leidenschaftlicher Genugthuung erst recht hingab – es war Groll, rachsüchtiger Groll. … „Wie einfältig!“ hatte ich bei Heinzens diplomatischer Antwort zwischen den Zähnen gemurmelt – jetzt konnte er getrost sagen, daß Doctor von Sassen mein Vater sei; aber nein, er hatte gesprochen, wie der weise Salomo, und ich war ihm gram, ich war bitterböse auf ihn.
Ich verließ das Gebüsch. Von dem Dierkhof stiegen keine Rauchwolken mehr auf; Ilse hatte längst die Kartoffeln in die Schüssel geschüttet; auf einem Teller lagen sicher die schönsten, abgeschält und goldgelb, und daneben stand ein Becher voll süßer Milch – Ilse verzog mich, wenn auch mit dem allerstrengsten Gesicht … Und jetzt wartete sie jedenfalls auf mich; aber heim ging ich noch nicht; ich mußte erst sehen, in welchem Zustande die Fremden den armen zerstörten Hügel zurückgelassen hatten.
Der Hügel sah besser aus, als ich erwartet hatte. Der Block war wieder in seine alte Stelle eingefügt worden, auch die zertrümmerte Erdschicht hatte man darüber hingeworfen, und die Scherben der Urne waren verschwunden. Nur das herausgerissene Gesträuch lag verschmachtend umher; über die schmale Sandblöße am Fuße des Hügels breitete sich noch ein bleicher Hauch der verstreuten Menschenasche, und unter einem Ginsterzweige halb versteckt lag ein feines, schwarzgebranntes Knöchelchen, für immer getrennt von den anderen, die man jedenfalls dem Grabe zurückgegeben hatte.
Ich nahm es behutsam auf – der junge Herr hatte Recht, es waren keine Riesen gewesen, die der Hügel deckte. Das zarte Gebild in meiner Hand mochte ein Fingerglied sein, einst vielleicht von rosigem Fleisch umhüllt, schlank gebaut, von so weißer, atlasglatter Haut bedeckt, wie die Hand, die ich heute gesehen, geliebt und bewundert und von köstlichem Metall schmeichelnd umschlossen, und an einer einzigen seiner Bewegungen hatte vielleicht das Wohl und Wehe vieler anderen Menschenkinder gehangen. Ich stieg auf den Hügel und grub es unter der Föhre ein. Der gute, alte Baum reckte beschirmend seine üppigen Zweige darüber hin – wer wußte, ob er heute nicht selbst den Todesstreich empfangen hatte!
Den Arm um seinen Stamm legend, sah ich da hinüber, wo der kleine Fluß sich nach dem Walde zu krümmte. … Wie seltsam war es, daß sich Menschen dort bewegten! Menschen auf der feierlich stillen, eintönig braunen Fläche, über der höchstens der Raubvogel in schwindelnder Höhe seine Kreise zog, um plötzlich lautlos wieder zu verschwinden – mir war, als müßten die Dahinschreitenden Fußstapfen für immer hinterlassen.
Sie eilten in die Welt zurück – in die Welt! … Ich war ja auch schon dort gewesen. Für mich hatte sie freilich nur in einer großen dunklen Hinterstube und einem feuchten Gärtchen zwischen vier himmelhohen Häusern bestanden, und aus dem Menschengewimmel, das man auch „die Welt“ nennt, waren mir nur wenige Gesichter nahe getreten. In jener Hinterstube hatte ich meine drei ersten Lebensjahre verbracht. … Graublonde, dürftige Löckchen schwebten um das eine Gesicht, das am festesten in meiner Erinnerung haftete – ich hätte den grünlich blassen Schimmer der schmachtenden Augen, das plumpe Stumpfnäschen und den grauen, leblosen Teint noch malen können. Das war Fräulein Streit, meine Erzieherin gewesen. Ein anderes Gesicht flog nur wie ein bleicher Schein an dem dunklen Hintergrund dieser frühesten Erinnerungen auf – ich hatte es zu selten gesehen, aber wenn ich später Seide knistern hörte, da tauchte es wie ein Schemen ohne eigentliche Umrisse vor mir empor, und ich hörte eine geärgerte Stimme sagen „Kind, du machst mich nervös!“ Zürnen und nervös sein war dadurch für mich identisch geworden. Diese seidenrauschende Gestalt, die nur durch die Hinterstube huschte und höchstens einmal eine weiche, heiße Hand auf meinen Scheitel legte, nannte Fräulein Streit gnädige Frau, und ich mußte Mama sagen.
Dann wachte ich einmal auf – nicht mehr in der dunklen Hinterstube. Ich saß auf dem Arme eines großen Mannes, dem gelbe Haare an den Schläfen standen und der mich mit einem „Hä, hä, hä – Ausgeschlafen?“ anlachte. Neben ihm ging Fräulein Streit im schwarzen Hut und Schleier; die dicken Thränen liefen ihr über das Gesicht, und ich sah, wie sie leise die Hände rang. … Ganz nahe vor uns lag das Haus mit dem Storchennest und den vier Eichen und als ich in das erhitzte Gesicht des Mannes sah und mich erschrocken zurückbäumte, um aus voller Kehle zu schreien, da rief er: „Kommt, Putchen!“ und aus dem Hausthor rannte eine Schaar bunter Hühner auf ihn zu.
Dort stand auch die Frau mit dem rothen Gesicht; sie streckte Fräulein Streit die Hand entgegen und küßte mich weinend, worüber ich heftig erschrak; aber das war schnell wieder vergessen. Im Hofraum tollte ein Kalb herum, es sprang plump auf alle vier Füße und blieb lächerlich breitspurig und blökend vor dem Manne stehen. Droben auf dem Dache klapperte der Storch, und Ilse – die Ilse mit den schwarzen Augen – hielt mir ein kleines Thier hin, auf dessen seidenweiches Fell ich zaghaft meine Hand legte – es war ein miauendes junges Kätzchen. … und überall lag Sonne, goldener, glänzender Sonnenschein, und die Blätter an den Bäumen plapperten und rieselten ohne Ende im würzigen Haidewind. Ich jubelte und kreischte auf vor Lust, während Fräulein Streit unter herzbrechendem Schluchzen über die Schwelle des Hauses schwankte.
So hielt ich auf Heinzens Arm meinen Einzug auf dem Dierkhof, und von diesem Augenblicke an begann erst mein Leben – ich war über Nacht ein glückliches Kind geworden, während die Menschen mich beweinten. … Hussah, ging es auf Heinzens Rücken Tag für Tag im lustigen Trabe über die Haide hin! Und da stand auf dem allereinsamsten Flecke eine kleine Lehmhütte mit einem niedrigen Strohdach; der große Heinz mußte sich tief bücken, wenn er unter die Thür trat. Aber drinnen war es wohnlich. Tisch und Stuhl blinkten schneeweiß, und hinter den zwei großen Schrankthüren an der tiefen Wand lagen federnstrotzende Betten im saubern buntgewürfelten Ueberzug. Heinz und Ilse waren Besenbinderkinder gewesen. Der alte Besenbinder hatte mit seinen beiden eigenen Händen die Hütte gebaut, die zwei Kinder waren darin geboren, und an einem anderen Orte wollte Heinz auch nicht sterben. Im Juli fuhr er das Bienenvolk der umliegenden Höfe in die Haide und behielt sie unter Aufsicht, sonst arbeitete er wöchentlich einige Tage als Knecht auf dem Dierkhofe.
In der Lehmhütte war ich so schnell heimisch geworden wie im Hause meiner Großmutter. Ich half Heinz seine Buchweizengrütze essen, und war dabei, wenn er Streuhaide für den Dierkhof hieb und einfuhr. Er hob mich hoch über seinen Kopf nach den alten, pensionirten Bienenkörben, die an den Balken der Tenne hingen und von dem Hühnervolk als Nester benutzt wurden, und ich reichte unter Jubeln und Jauchzen die schönen glatten weißen Eier der neben ihm stehenden Ilse hinab.
Fräulein Streit saß währenddem in der großen Wohnstube und stickte den ganzen Tag und weinte dazu. Damals mag wohl die alte traute Stube recht lächerlich ausgesehen haben; denn ihre Wände waren nur weiß gestrichen, hinter dem Ofen lief die braune, abgenutzte Holzbank hin und die Tische standen grob und ungeschlacht umher. Aber Fräulein Streit zu Ehren hatte die Großmutter ein gepolstertes Sopha aus der Stadt kommen lassen [532] und Ilse hatte blau- und weißgestreifte Vorhänge aufgesteckt. Fräulein Streit zog diese Vorhänge meist zu und klagte, sie fürchte sich vor der endlosen, todtenstillen Haide, wenn die Sonne so darüber hinbrenne, und wenn der Mond schien, da fürchtete sie sich auch … In meinem fünften Jahre begann sie, mich zu unterrichten, da brachte Ilse ihre Arbeit herbei und hörte auch zu. Sie war, fünfzehn Jahre alt, in die Stadt, in den Dienst meiner Großmutter gekommen, und die hatte sie ein wenig im Lesen und Schreiben unterrichten lassen – trotzdem fing die alte Ilse noch einmal mit mir an. Oft, wenn ich Abends, müde getollt und gelaufen, mich auf ihrem Schooß zusammenschmiegte und meinen Kopf an ihre Brust lehnte, da kam auch Heinz heran, natürlich mit der kalten Pfeife, und Fräulein Streit wurde lebendig; ihre schmalen Wangen rötheten sich, und die blonden Löckchen flogen und flatterten alterirt um das Gesicht. Dann erzählte sie von dem Leben und Treiben in meinem elterlichen Hause und dabei wurde es mir allmählich klar in meinem Kopfe. Ich erfuhr, daß mein Vater ein berühmter Mann sei, und meine verstorbene Mutter war eine Gelehrte und Dichterin gewesen. Viele berühmte und vornehme Leute waren in dem Hause aus- und eingegangen, und wenn Fräulein Streit seufzend erzählte: „Ich hatte ein weißes Kleid an und rosa Bänder in den Haaren, es war Leseabend bei der gnädigen Frau“, da dämmerten auch allerlei unliebsame Erinnerungen in meiner Kinderseele auf. Ich hörte wieder das aufregende Trippeln und Hin- und Hergehen vor der Thür meiner Hinterstube – meine Abendmilch wurde mir eiskalt gereicht, und wenn ich aus dem ersten Schlaf auffuhr, da war ich mutterseelenallein in dem weiten, unheimlichen Zimmer. Ich fürchtete mich und schrie auf, und dann kam Fräulein Streit in ihrem weißen Kleide wie ein Gespenst hereingeflogen, schalt mich, steckte mir ein Bonbon in den Mund, deckte mich zu bis über die Nase und schlüpfte wieder hinaus.
Außerdem berührten mich die „himmlischen Erinnerungen“ meiner Erzieherin sehr wenig; ich schlief meist darüber ein und erwachte erst wieder, wenn ich unbarmherzig an den Haaren gezogen wurde. Mit derselben Consequenz, wie die graublonden Löckchen, wurden auch meine langen, schwarzen Haare allabendlich aufgewickelt und dann mußte ich für meinen fernen Vater beten, auf dessen Gesicht ich mich bei aller Anstrengung nicht besinnen konnte.
So vergingen einige Jahre, und Fräulein Streit wurde von Tag zu Tag unruhiger und weinte immer herzbrechender. Sie stand auch wohl draußen im Baumhof, breitete ihre Arme weit aus und rief mit zärtlich dünner Stimme gen Himmel:
„Eilende Wolken! Segler der Lüfte!
Wer mit euch wanderte, mit euch schiffte!“ –
und als ihr eines Tages ein Zahn ausfiel – er polterte bei Tische auf ihren Teller nieder und war zu meiner starren Verwunderung kein leibhaftiger, sondern ein eingesetzter Zahn – da wusch sie ihre Hände und packte schleunigst den Koffer.
„Ich bin es mir selbst schuldig, gute Ilse – man hat hier so gar keine Aussichten!“ verabschiedete sie sich von Ilse, während Thränenströme ihr ältliches Gesicht überrieselten.
„Gar keine Aussicht in der weiten, weiten Haide!“ Ich war wie versteinert bei dieser Anschuldigung meiner vergötterten Heimath. Heinz fuhr den Koffer bis in’s nächste Dorf, und ich ging auch ein Stück Weges mit. Nach dem Abschied blieb ich stehen und sah der Fortziehenden nach, bis ihr wehendes Kleid weit, weit drüben im Walde verschwand. Nun nahm ich den Hut vom Kopfe und warf ihn hoch in die blaue Luft, dann streifte ich das enge, drückende Jäckchen ab, ohne welches Fräulein Streit mich nie in’s Freie entlassen hatte … Ei, wie wonnig der laue Wind über Nacken und Arme hinstrich! … So kam ich heim. Da hatte Ilse schon das gepolsterte Sopha in die anstoßende Kammer geschoben und der Schonung wegen mit Decken überhangen, und die blau- und weißgestreiften Vorhänge faltete sie eben fein säuberlich zusammen, um sie im Kasten aufzuheben.
„Ilse, abschneiden!“ sagte ich und hielt meine langen unbequemem Locken hin. Und sie schnitt hindurch mit kreischender Scheere, daß es eine Lust war. Die Lockenwickel flogen in’s Feuer, das Jäckchen paradirte im Schranke, und ich ging von da an in Rock und Mieder wie Ilse.
Das glitt mir Alles durch die Seele, während ich unter der Föhre stand und unverwandten Auges die drei forteilenden Gestalten verfolgte. Es dämmerte bereits, ich konnte sie kaum noch von dem dunklen Buschwerk unterscheiden; auch waren sie schon so weit entfernt, daß ich ihr Weiterschreiten nicht mehr bemerkte; aber ich wußte ja, daß sie sich ebenso sputeten, wie einst Fräulein Streit, die mißachtete Haide möglichst schnell im Rücken zu haben … Was hätte der junge Herr wohl gesagt der Thatsache gegenüber, daß die alte Frau mit dem rothen Gesicht auf dem Dierkhof einst eine volkreiche Stadt verlassen hatte und in die Haide gegangen war, um nie wieder zurückzukehren! Fräulein Streit meinte freilich immer, meine Großmutter sei tiefsinnig, und fürchtete sich unsäglich vor ihrem scheuen Blick; für mich aber war das wunderliche Wesen der alten Frau bis zu diesem Augenblick unzertrennlich von ihrer ganzen Erscheinung gewesen, und wenn es sich später verschärft und verstärkt hatte, so war es ebenso leise und allmählich geschehen wie ich in die Höhe wuchs – ich hatte immer gemeint, so seien eben alle Großmütter. Wie kam es doch, daß ich jetzt nachdenklich wurde über Dinge, die mir bisher als selbstverständlich gegolten halten? Das maßlose Erstaunen der Fremden über die „seltsame alte Frau, die kein Geld im Hause litt“, hatte mich aufmerksam gemacht … Und war es nicht auch seltsam, daß meine Großmutter im Lauf der Jahre völlig verstummte? Daß sie jeder Begegnung mit ihren Hausgenossen auswich und mir einen furchtbar strafenden Blick zuwarf, wenn ich ja einmal ihren Weg kreuzte? Daß sie nie auch nur einen Bissen aus fremder Hand aß? … Die Eier, von denen sie hauptsächlich lebte, nahm sie eigenhändig aus den Nestern; sie molk die Kuh selbst, damit keine andere Hand das Milchgefäß berühre, kein fremder Athem über den Trank hinstreiche, den sie genoß, und Fleisch und Brod rührte sie nie an … Nur im ersten Jahr hatte sie mich hie und da geliebkost – später schien sie ganz vergessen zu haben, wer ich sei.
Mein Vater schickte keine neue Erzieherin, für meine Großmutter existirte ich nicht, und der weit abseits wohnende Dorfschullehrer war kein Hexenmeister. Das sei zu schlimm für mich, meinte Ilse – sie schickte mich nicht in die Schule und setzte sich Abends selbst auf den Lehrstuhl – es wurde ihr sauer genug. Sie las mir meist einzelne Capitel aus der Bibel vor, aber stets mit gedämpfter Stimme, und es entging mir nicht, daß sie sich öfter jäh unterbrach und ängstlich gespannt nach dem Zimmer meiner Großmutter hinhorchte. Ich wurde auch vom alten Pfarrer des Kirchspiels confirmirt; denn ich hatte bei Ilse entsetzlich viel auswendig gelernt; damals stahl sie sich förmlich mit mir aus dem Dierkhof, während Heinz daheim Wache hielt, und ich knieete in der kleinen Dorfkirche und legte mein Glaubensbekenntniß ab, ohne daß meine Großmutter eine Ahnung davon hatte.
So war ich aufgewachsen, wild und lustig, wie die unberührten Weiden drüben am Fluß, und wie ich so dastand unter der Föhre, barfüßig, im kurzen groben Rock, und der Abendwind blies in mein flatterndes Haar, da lachte ich, lachte laut auf über den jungen Herrn, der so sorgsam den weichen Rasenweg für seine feinen Sohlen aussuchte und schützendes Leder über die weißen Hände zog – und das war meine Rache.
Tausende von Leipziger Meß- und anderen Fremden unter unseren Zeitgenossen haben, wenn wir auf etwa zehn Jahre zurückgehen, das Bild vollständig vor Augen gehabt, welches unsere Illustration ihnen heute vorführt, sowohl hinsichtlich der hervorragendsten Gebäude, als der Staffage. Sie erinnern sich noch der „Heuwage“ an der Ecke des Brühls und der Ritterstraße, eines Baues aus dem Reformationszeitalter, der schon wegen seiner Holzconstruction zwischen den Steinbauten, die ihn von allen Seiten umgaben, auffiel. Weniger düster, ja sogar stattlich in seiner Ausdehnung, präsentirte sich der Heuwage
[534] gegenüber das „Georgenhaus“; um so düsterer aber war der Inhalt und Zweck desselben, welchen die „eisernen Vorhänglein“ an vielen Fenstern nur leise andeuteten; denn sah es nicht viel zu respectabel und ehrbar aus für eines der ältesten deutschen Zuchthäuser? – Und doch versteckte sich hinter dem Ritter St. Georg des Hauptthores solche profane Bestimmung! – Zwischen beiden Gebäuden und in den angrenzenden Straßen findet der Reisende heute noch die Staffage unserer Abbildung; dagegen wird der Meßfremde, welcher diesen Herbst den altgewohnten Gang den Brühl entlang nach dem Schwanenteich hinschlendert, nun, wie schon seit Jahren rechts die Heuwage, auch das stattliche Georgenhaus vergeblich suchen. – Es ist von der Erde verschwunden, um einer verbreiterten Straße und einem Neubau Platz zu machen.
Ebendeßhalb glaubten wir den unzähligen jährlichen Gästen Leipzigs, zu welchen Tausende unserer Leser gehören, nach Wunsch zu handeln, wenn wir die Erinnerung an dieses alte Stück Leipzig durch unser Bild unterstützen und dabei einen Einblick in die Vergangenheit dieser verschwundenen Bauten und des noch blühenden Straßenlebens eröffnen.
So lange Leipzigs Name genannt wird, kommt es als eine Stätte rühriger Thätigkeit vor. Urkundlich erscheint es zuerst als slavisches Dorf. Es soll nämlich schon im zehnten Jahrhundert eine Art Handelsplatz gewesen sein, wohin man von den umliegenden Niederlassungen Vieh, Getreide und aus der Saalgegend Salz brachte. Dies wird um so wahrscheinlicher, als Leipzig, im Norden, Westen und Süden von undurchdringlichen Sümpfen und Waldungen umgeben, ein durch sein festes Schloß geschütztes Magazin bildete, zu welchem man nur aus östlicher Richtung gelangen konnte.
Als das Christenthum die Slavengötter gestürzt hatte, trat für Leipzig der Zeitpunkt ein, wo es mit raschen Schritten seiner Blüthezeit entgegenging. Die geistlichen Herren ließen durch Waldungen und Sümpfe hindurch neue Straßenverbindungen herstellen, bauten stattliche Kirchen und Klöster und verbreiteten, unterstützt durch den lebhaften Handelsverkehr Leipzigs mit ganz Mitteleuropa, eifrig Cultur und Gesittung. Zu ihren Schöpfungen gehörte auch das Hospital zu St. Georgen, welches im Jahr 1222 gleichzeitig mit dem Thomaskloster zum Besten armer Pilger und Wandersleute, die vormals auf den Straßen lagen und die Niemand aufnehmen wollte, erbaut und von den Mönchen über zweihundert Jahre hindurch verwaltet, dann aber auf die Bitte der Bürgerschaft an diese verkauft wurde. Noch lange fanden hier arme, kranke Fremdlinge liebevolle Pflege und Erquickung um Gottes willen, und fromme Herzen bereicherten die Stiftung durch Gaben und Vermächtnisse. Aber mit der Veränderung des allgemeinen Verkehrs und besonders durch größere Bequemlichkeit beim Reisen wurden derartige Asyle überflüssig, und man beabsichtigte, aus dem Georgenhospitale ein Versorgungshaus für alte dürftige Männer und Frauen zu machen. Diesen Plan vereitelte die Brandfackel des dreißigjährigen Kriegs. Das Georgenhospital wurde niedergebrannt, um mit seinen festen Mauern dem gegen Leipzig heranziehenden Tilly bei Belagerung der Stadt keinen Stützpunkt zu gewähren.
Jetzt begann für das ehrwürdige Barmherzigkeitsstift seine zweite, culturhistorisch höchst interessante Periode. Es waren nämlich bei dem Rathe der Stadt viele Klagen eingelaufen, daß sich eine Menge „unsinnige, muthwillige und ungerathene Leute“ herumtrieben und der Bürgerschaft beschwerlich fielen. Man dachte also an ein Mittel, die Unbändigen zu bändigen, und gerieth auf den Gedanken, das Georgenhospital in eine Zwangsanstalt umzuwandeln. Hierdurch erlangte das in der Nähe des Johanniskirchleins neu aufgebaute Gebäude die Ehre, eines der ersten deutschen Zuchthäuser zu werden. Der Rathsherr und Kaufmann Ulrich Welsch, nach dem heute noch die Ulrichsgasse in Leipzig ihren Namen führt, übernahm „zur Ehre Gottes und zur Bestrafung des Bösen“ die ihn als originellen Kauz bezeichnende innere Einrichtung. Sämmtlichen Räumen für Wohnung und Arbeit der Gefangenen und selbst den Kerkern gab er Namen italienischer Städte, so daß die ganze verwahrloste Gesellschaft in Rom, Verona, Mailand, Padua und noch sechszehn andern berühmten Ortschaften des schönen „Welschlands“ wohnte, Ueber dem Eingange sah man einen mit Ketten und einem Klotze am Beine belasteten Gefangenen, der Holz raspelte und über dessen Rücken ein Zuchtmeister die Geißel schwang. Bezeichnend für die „gute alte Zeit“ ist es, daß man neben diesem schlimmen Gesindel auch die vater- und mutterlosen Waisen hier unterbrachte und außerdem – ein „Pensionat“ würde es unsere moderne Ausdrucksweise bezeichnen – damit verband, in welchem „ungerathene und ungehorsame Manns- und Frauensleute, welche das Ihre durchbrächten und verzehrten und also zuletzt an den Bettelstab kämen und, wenn ihnen nicht geholfen würde, wohl dem Henker in die Hände gerathen und an ihrer Seele Schaden und Schiffbruch leiden möchten, von Eltern, Vormündern und Verwandten angeklagt und gegen Geld durch Zucht und Zwang bändig gemacht und zu Gottesfurcht und fleißiger Arbeit angehalten werden sollten.“
Schon nach dreißig Jahren war jedoch dieses Georgenhaus zu enge geworden für seine Bewohnerschaft, und man mußte an einen Neubau denken. Hierzu wählte man den Platz, auf welchem bis zur Reformation die uralte Frauenkirche und neben ihr die berühmte Klosterschule der Zellaischen Cisterzienser, dann ein Kornhaus und Reithaus gestanden hatte, und sich seit 1693 das – Opernhaus befand. In Leipzig spielte schon 1672 auf dem Boden der Fleischbank in der Reichsstraße Magister Johann Veltheim mit seiner aus Studenten geworbenen, für jene Zeit ziemlich regelmäßigen Truppe Tragödien und Harlekinaden. An den Höfen hatte sich damals die italienische Oper eingeschmeichelt und Leipzig muß ebenfalls Geschmack daran gefunden haben, da man ein Opernhaus baute, das am 8. Mai mit „Daphne“, componirt von den kurfürstlichen Capellmeistern Peranda und Bontempi, eröffnet wurde. Was aufgeführt werden sollte, verkündeten keine Zettel, sondern gemalte Schilder, die man an quer über die Straße gezogenen Leinen aufhing und welche den Namen und Inhalt der Oper und die Zeit ihres Anfangs enthielten. Am 1. October 1699 besuchte König August der Starke mit seinem ganzen zahlreichen polnischen und sächsischen Hofstaate und vielen fürstlichen Gästen das Opernhaus, und fanden die Leistungen der Sänger und Musiker großen Beifall. Wenige Monate später siedelte die Oper nach dem Börsengebäude über, und auf der Stätte, wo zuerst die Mönche gesungen, dann Kornmäuse gezwitschert und Rosse gewiehert, und zuletzt die Opernsänger ein kunstsinniges Publicum entzückt hatten, ertönten die Hämmerschläge, unter denen sich die Mauern des neuen Georgenhauses erhoben. –
Jetzt, gerade hundertsiebenzig Jahre nach ihrer Entstehung, sind dieselben abgebrochen worden. Der gewaltige umfangreiche Bau mit seinem hohen Glockenthurme und seiner bunt durcheinander gewürfelten Bevölkerung – Versorgten, Geisteskranken und arbeitsscheuen Subjecten, welche letztere sich mit drastischem Humor in Bezug auf das steinerne, speerbewehrte Bild des Ritters Georg über dem Hauptthore als „Brüderschaft von Sanct Stich“ zu bezeichnen pflegten – ist nun verschwunden, um der Leipziger Credit-Anstalt Platz zu machen.
Dieses weitbekannte Bankinstitut hätte aber auch für seinen Geschäftspalast nirgends classischeren Boden finden können, als am Brühl, der vielhundertjährigen Stätte des lebhaftesten Meßverkehrs. Es gab hier kein Haus, in dem nicht der Handel herrschte, und zweiundzwanzig Gasthöfe in dieser einen Straße bezeugten, daß der Brühl auch reiche Einkehr genoß. Das altehrwürdige Wagegebäude mit seinen wunderlichen Einfahrten und unheimlichen Gängen stand, für das Abwägen der Waaren in bequemer Nähe, am Eck der Ritterstraße, und um diese alte Wage drehte sich der lebendigste Meßverkehr, insbesondere der jüdischen Kleinhändler, die hier aus allen Winkeln der Welt zusammenströmten. War doch der Brühl die eigentliche alte Heimath des auserwählten Volks. Schon sechshundertjährige Urkunden nennen die Juden als Schöpfer und Pfleger unseres Handels, indem sie durch Geschäftigkeit und Eifer die Bürgerschaft auf die Handlung aufmerksam machten. Merkwürdig ist, daß trotz des steten Verkehrs der Juden mit Leipzig man hier keine Judengasse, wie in andern Städten und selbst Städtchen findet, daß denselben folglich hier keine bleibenden Wohnsitze gestattet waren. Ihr steter Aufenthalt während der Meßzeit war der Brühl. Im Jahre 1502 wurde der Jude Levi auf einen Scheiterhaufen gesetzt und verbrannt, weil er falsches Geld gemacht hatte. Während des 16. und 17. Jahrhunderts kommen in Leipzig bisweilen Judentaufen vor, wobei die Täuflinge fast immer auf das Taufgeld speculirten und, wenn es ihnen nicht vor der Taufe eingehändigt wurde, wohl gar heimlich davonliefen. Ungerechte [535] Beschränkungen scheinen erst im 17. Jahrhundert eingeführt worden zu sein. So hatte man ihnen früher im Brühl ungehindert ihren Gottesdienst gestattet, der 1704 untersagt und erst später wieder erlaubt wurde. Ferner mußten sie auf ihren Geleitszetteln nachweisen, daß sie auf der Reise nach Leipzig nicht von den Stapelstraßen abgewichen waren. Ihre Weiber, Diener und selbst die Rabbiner mußten einen Leibzoll entrichten, wovon man nur Kinder und trotz der eifrigen Verwendung ihres Bevollmächtigten, des braven Elias Berend Lehmann, nicht einmal die armen Betteljuden und ihre Weiber befreite. Außer den Judenpässen sollten den israelitschen Handelsleuten keine Freizettel ertheilt werden und nur Pässe gültig sein, die königliche Majestät eigenhändig unterschrieben hätte, oder welche sich im Besitz von Münzjuden oder Kammerjuden befänden. Offene Verkaufsgewölbe waren ihnen nicht gestattet, sondern sie durften ihre Waaren nur in Wohnungen oder Kammern verkaufen, mit Ausnahme der Federjuden, welchen eine nothdürftige Verkaufsstätte vergönnt blieb; Spuren von Humanität gegen das bedrückte Volk findet man erst in der Mitte des vorigen Jahrhunderts, wo die Beamten bei der Wage, der Post, der Accise und den Zollstätten angewiesen wurden, die Juden mit Glimpf zu behandeln, und man ihnen gestattete – seit 1764 – sich auch außer den Messen in Leipzig aufzuhalten, jedoch nach bestimmten Verordnungen, darunter auch, daß sie im Brühl wohnen mußten. Die treue Anhänglichkeit der Juden an den Brühl, wo ihre Voreltern schon vor länger als einem halben Jahrtausend Geschäftchen machten, haben sie einmüthig bewahrt bis auf den heutigen Tag, und namentlich der Platz zwischen der alten Wage und dem Georgenhause blieb das Geschäftseldorado, die gefeierte Ecke, wo noch immer Milch und Honig fleußt!
Noch muß einer Sage gedacht werden, welche sich an das nunmehr verschwundene Georgenhaus knüpft und bezeugt, wie leicht das Volk eine solche zurechtzulegen weiß. Ueber dem Portale befand sich, wie bemerkt, eine Kampfscene des zu Rosse sitzenden Ritters Georg mit dem Drachen, welche man auch in bunter Schilderei über der Thür eines Hauses auf dem Thomaskirchhofe antrifft, und die bekanntlich eine Allegorie der siegenden christlichen Kirche über das Heidentum darstellen soll. An einer Kelleröffnung der Nicolaikirche sieht man an dem Eisengitter ein mächtiges Hufeisen, muthmaßlich das Erinnerungszeichen an einen vor Jahrhunderten hier begrabenen frommen Schmied. Das Volk aber erzählt, im schlammigen Wallgraben der Pleißenburg habe der Ritter Georg den Drachen aufgestöbert und ihn vor sich hertreibend auf dem Thomaskirchhofe die erste Wunde beigebracht. Beim Nicolaikirchhofe sei seinem Pferde ein Hufeisen abgeflogen, das man an jenem Kellergitter befestigte, und am Georgenhause habe er endlich den Drachen eingeholt und, wie das Steinbild verewige, getödtet. Mit dem Hause wird auch diese naive Sage verschwinden, es wäre denn, daß sie ebenfalls in den großartigen Neubau mit übersiedelte. Die Volkspoesie ist hartnäckig!
Anfangs lebte Scott mit seiner jungen Frau im Hause seiner Eltern, schon im nächsten Sommer jedoch richtete er sich sein eigenes kleines Nest ein, einige Stunden von Edinburgh zu Laßwade am Esk. Wohl selten ist einem Dichter ein lauschigeres Asyl bescheert worden, und poetisch und geistig beschwingt war auch das Leben, welches hier den beiden Glücklichen aufging, wiewohl neben dem Dichter und Schriftsteller auch dem Cavalier und Weltmann die Rechte nicht geschmälert wurden. Mit eigenen Händen baute Scott sich Haus und Garten aus und that sich vielleicht mehr zu Gute auf die Laube, die er sich im Schweiße seines Angesichts zusammengezimmert, als auf das erste große Dichterwerk, welches er von seinem süßen Tusculum am Esk in die Welt sandte. Denn hier in dem grünen bergumsäumten und wellenumspülten Laßwade reisten die Schöpfungen ihrer Vollendung entgegen, die seinen Namen zuerst in die Öffentlichkeit trugen.
Den Reigen führte ein im Stillen schon lange vorbereitetes Werk an, eine Sammlung alter Balladen seines geliebten Grenzlandes unter dem Titel „Border Minstrelsy“. Ihm folgte „das Lied des letzten Minstrel“, dann „Marmion“ und zuletzt „die Jungfrau vom See“. Obwohl allen diesen Epen Walter Scott noch nicht den Preis der Unsterblichkeit verdankt, so war doch ihr Erfolg ein ungeheurer. Binnen wenigen Tagen (bei der „Jungfrau vom See“ schon in den ersten vierundzwanzig Stunden) erschöpften sich die in Tausenden von Exemplaren abgezogenen ersten Prachtausgaben, und ohne eine Zeile davon gesehen zu haben, wetteiferten schottische und englische Verleger, dem Poeten enorme Honorare für jedes neue Werk anzubieten. Keines derselben wurde indeß mit einem solchen Enthusiasmus aufgenommen, wie „die Jungfrau vom See“.
Scott selbst sagt in der Einleitung zur letzten von seiner eigenen Hand herrührenden Ausgabe dieses Buchs: „Der Erfolg meiner Jungfrau war ein so merkwürdiger, daß ich fast wähnte, das rollende Rad Fortuna’s jetzt festgehalten zu haben; der Ruhm, der mir wurde, ein so großer, daß ich unmöglich noch größeren erhoffen durfte, vielmehr einen Rückschlag befürchten mußte.“
Und dennoch sollte er seinen eigentlichen und eigensten Ruhm erst noch ernten!
Schon Marmion war nicht mehr in dem reizenden Poetenwinkel am Esk gedichtet worden. Durch die Gunst seines Clanchefs, des Herzogs von Buccleugh, eines der reichsten Grundherren Schottlands, hatte Scott das ehrenvolle und einträgliche Amt eines Sheriffs der Grafschaft Selkirk erhalten, welches ihm volle Muße ließ, seinem Dichterberufe zu leben. Da es ihm aber doch wünschenswerth erschien, inmitten seiner Pflegebefohlenen zu wohnen, so ließ er sich zuerst auf einem von den Erben eines Onkels erpachteten Landsitze nieder. Allein schon wenige Jahre darauf, einige Monate nach der Veröffentlichung seiner „Jungfrau vom See“, kaufte Scott das unweit der pittoreskesten aller schottischen Ruinen, des Klosters Melrose, gelegene Abbotsford und erbaute sich hier ein Schlößchen, welches von den Grundmauern bis zu der geringfügigsten Zimmerdecoration als das eigenste Werk des Poeten bezeichnet werden muß, eine köstliche Dichtung in Stein und Mörtel, jedenfalls nicht die schlechteste Schöpfung des Meisters.
Noch heute ist Abbotsford, obschon nicht mehr im Besitze eines Scott, voller Reliquien des unsterblichen Dichters, die mit andachtsvoller Verehrung gehütet werden. Da steht noch der hohe gothische Lehnstuhl, in welchem der unermüdliche Schriftsteller gesessen; da hängen noch die alten schottischen Schwerter und Schilde, die hochländischen Taschen und Dolche, die er gesammelt hat; da erblicken wir noch die Bilder und Portraits aus der schottischen Geschichte, auf welchen sein Auge zu ruhen pflegte, während er sann; da ist fast jeder Baum der ausgedehnten Forsten ringsum von dem Poeten gepflanzt oder doch an seinen Platz gewiesen; da rauscht vor den Fenstern noch der raschströmende breite Tweed, der Grenzfluß zwischen den beiden Schwesterreichen, dessen Wellengesang Scott so sehr geliebt hat; da ist weit umher jeder Zoll breit Erde durch seinen Fuß zu classischem Boden geweiht.
Ehe Scott sein Domicil auf dieser neuen Scholle aufschlug, was im Mai des Jahres 1812 geschah, bekleidete er neben seinem Sheriffthume länger schon noch ein zweites öffentliches Amt. Er war zum Secretär am höchsten Gerichtshofe des Landes, zum sogenannten Clerk of Session ernannt worden und sah sich durch diesen hochangesehenen Posten alljährlich mehrere Monate an die Hauptstadt gefesselt. Dafür bezog er das stattliche Gehalt von dreizehnhundert Pfund Sterling – beinahe neuntausend Thaler – und konnte die übrige Zeit ganz nach seinem Gefallen verwenden. Rechnen wir zu diesen amtlichen Einnahmen den reichen Gewinn, der ihm aus seiner schriftstellerischen Thätigkeit erwuchs, so dürfen wir Scott wohl einen auch äußerlich vom Glücke in ungewöhnlichem Maße begünstigten Poeten nennen. Leider sollte jedoch auch an ihm der Spruch in Erfüllung gehen, daß „mit des Geschickes Mächten ist kein ew’ger Bund zu flechten!“
Die Uebersiedelung nach Abbotsford selbst trug ein so eigenthümliches Gepräge, daß wir ihrer mit ein paar Worten erwähnen zu müssen glauben. Vierundzwanzig Wagen, die mit dem absonderlichsten Gepäcke beladen waren, mit Schwertern, Bogen, [536] Spießen und Schilden, mit allen Helmen, in welchen man den mitumziehenden Hühnern ein provisorisches Lager bereitet hatte, führten den Dichter mit seiner Frau und seinen vier Kindern nach Abbotsford hinüber, während neben der seltsamen Karawane eine Schaar von Bauerjungen mit Lachsspeeren, mit Fischnetzen und Angelruthen einhertrottete und Ponies und Hundemeuten geleitete und sogar das Rindvieh mit hochländischen Bannern und Waffen aufgeputzt war. Mit einer solchen Masse von Curiositäten und Alterthümlichkeiten hatte die rastlose Sammellust den Dichter bereits umgeben!
Walter Scott war ein eifriger Freund jedweden nationalen Sports und namentlich der Kunst der Fischerei in ihren mannigfaltigen Gestalten ergeben. Einst wollte er zu einer Angelpartie ausziehen und suchte in einem längere Zeit nicht geöffneten Pulte nach einer passenden Schnur. Diese fand er nicht, wohl aber etwas weit Wichtigeres, was ihm seit Jahren aus den Augen und völlig aus dem Gedächtnisse gekommen war, – das schon 1805 begonnene Manuscript einer Erzählung, die er hatte liegen lassen, weil er sie der Fortsetzung nicht für werth hielt. Als sei sie das Werk eines Fremden, so vertiefte er sich sofort in die Handschrift und fand sich jetzt von der Lectüre derselben so angezogen, daß „er Lust bekam, das Ding zu vollenden“. Ohne Verzug setzte er sich an die Arbeit, und „in weniger als drei Wochen waren die beiden letzten Bände des Romanes geschrieben“. Im Juli 1814 erschien derselbe und hatte einen solchen Erfolg, daß sogar die Aufnahme, welche die „Jungfrau vom See“ gefunden, dadurch in den Schatten gestellt wurde.
Die Erzählung war – die Leser haben es schon errathen – der berühmte Roman „Waverley“, das erste einer langen Reihe von Meisterwerken, welche Walter Scott’s Weltruhm begründeten und seinem Namen die Unsterblichkeit sichern. Alle diese Erzählungen sind anonym veröffentlicht worden, und der Dichter legte einen solchen Werth darauf, sein Incognito zu bewahren, daß die Manuscripte sämmtlicher dieser Romane – die „Romane vom Verfasser des Waverley“, wie sie auf dem Titel genannt wurden – von der eigenen Hand des Verlegers copirt werden mußten, damit auch das Druckereipersonal über die Autorschaft in Ungewißheit blieb. Nur eine kleine Zahl der nächsten Freunde Scott’s war in das Geheimniß gezogen worden, und von ihnen hat keiner je den Schleier desselben gelüftet. Wer freilich zu dem Poeten in genaueren Beziehungen stand, der konnte keinen Augenblick im Unklaren sein, daß sich hinter dem „großen Unbekannten“ – so hieß man jetzt den Dichter der Waverley-Romane, wie man früher dem Verfasser der famosen „Juniusbriefe“ diesen Namen gegeben hatte – kein Anderer verbarg als Walter Scott. Sind doch alle seine Romane voller Anekdoten, Einfälle und Einzelheiten, die man, und meist ganz in der nämlichen Fassung, von den eigenen Lippen des unvergleichlichen Erzählers vernommen oder diesem wohl gar erst selber hinterbracht hatte. Erst lange danach, bei einem im Februar 1827 in Edinburgh veranstalteten Festessen, bekannte sich Walter Scott zur Autorschaft der berühmten Werke und erklärte zugleich, um den in dieser Hinsicht umlaufenden Gerüchten zu begegnen, daß er allein ihr Verfasser sei. „Vielleicht war es eine bloße Laune, was mich zu meinem Incognito bewog,“ sprach er bei dieser Gelegenheit. „Jetzt habe ich nur zu bemerken, daß alles Gute und Schlechte, was in diesen Schriften ist, ausschließlich mir allein zur Last fällt. – – Jene ausdrücklich als Citate aus anderen Werken bezeichneten Stellen ausgenommen, steht in diesen Erzählungen kein Wort, das nicht meiner Erfindung oder meinen Studien entstammte.“
Natürlich lief dies literarhistorisch so bedeutsame Geständniß alsbald durch die gesammte Presse des In- und Auslandes und brachte den Namen „Walter Scott“ von Neuem in Aller Mund. Der „große Unbekannte“ stand jetzt erkannt vor den Augen der ganzen civilisirten Welt, welche seine Feder so lange schon entzückt hatte.
„Waverley“ ist vielleicht die populärste aller Scott’schen Schöpfungen, womit indeß nicht gesagt sein soll, daß die dieser ersten mit einer fast fabelhaften Schnelligkeit folgenden vielen anderen historischen Erzählungen hinter ihr zurückbleiben. Im Gegentheil ist das stoffliche und dramatische Interesse in mehreren der übrigen Romane Walter Scott’s ein größeres, und manche sind mindestens der Theilnahme des deutschen Lesers noch näher gerückt als der während der letzten schottischen Erhebung spielende „Waverley“, wenn auch die darin entworfene Zeichnung des gälischen Hochlandlebens als Charakter- und Sittenbild in der Literatur keiner Nation übertroffen, vielleicht auch in keiner nur erreicht ist. Was wir schon im Allgemeinen als Kennzeichen der Scott’schen Poesie hervorhoben, die gleichmäßige Vollendung aller ihrer Erzeugnisse ohne eine stufenmäßige Entwickelung vom Anfängerthume zur Meisterschaft, das gilt ganz besonders von den Romanen Walter Scotts: „Waverley“ ist nach Composition und Ausführung, in Erfindung wie in Gestaltung, in der Darstellung der Charaktere wie in der Naturmalerei, in Form wie Diction so vollendet wie „Kenilworth“ oder „Quentin Durward“ etc. Mit Einem Worte: jede dieser Erzählungen, welche theils hochtragischer, theils heiterer und launiger Natur sind, theils reiner Fiction entstammen, theils sich an historischen Hintergrund lehnen, trägt den Stempel der Vollendung an sich, und wir glauben nicht zu viel zu behaupten, wenn wir Walter Scott, wo nicht als den ersten aller Romandichter, so doch als den König der Erzähler bezeichnen, der sich Cervantes zur Seite stellen kann und im Fache des historischen Romans seinen Meister noch nicht gefunden hat. Mangelt ihm auch das höchste Pathos, das nur einem tief leidenschaftlichen Gemüthe entspringt, so entzückt er uns dafür durch den unerschöpflich sprudelnden Born seiner Erfindung und eine Kunst der Darstellung ohne Gleichen. Finden wir an ihm etwas zu mäkeln, so ist es seine oft allzu große epische Breite, die zumal in der Exposition einiger seiner Romane die Geduld des nach schneller Entwickelung drängenden Lesers einigermaßen auf die Probe stellt. Auch die Detailmalerei möchte man bei nebensächlichen Dingen und Personen, Localitäten, Geräthschaften, Trachten etc. wohl etwas weniger minutiös wünschen, obgleich diese Einzelschilderungen überall die vollendete Meisterhand verrathen und durch ihre Anschaulichkeit wesentlich dazu beitragen, daß wir die Scott’schen Erzählungen nicht zu lesen, sondern ihren Inhalt, ihre Bilder und Scenen zu sehen und zu erleben glauben. –
Es würde um Vieles die Grenzen dieser Skizze überschreiten, sollte der Leser Scott’s Schriftstellerlaufbahn von Roman zu Roman begleiten. Auch die einzelnen Namen derselben sollen nicht aufgezählt werden; ihr Katalog ist ein allzu umfangreicher und würde hier zur bloßen Nomenclatur herabsinken müssen. Nur bemerken wollen wir noch, daß der Dichter sich auch nicht ein einziges Mal selbst wiederholt hat. Bei einer so bändereichen Literatur muß dies sicher als ein eigenthümlicher Vorzug anerkannt werden, den sich nicht alle Novellisten beimessen dürfen, am allerwenigsten unsere Novellistinnen, in deren Erzählungen wir so häufig denselben Helden und Heldinnen, nur mit andern Titeln und Kleidern, wieder zu begegnen pflegen. Scott’s Phantasie war buchstäblich ein unerschöpfliches Füllhorn, und nur seine zwei oder drei letzten Romane bekunden, daß langwieriges Körper- und Seelenleiden, verbunden mit einer durch viele Jahre fortgesetzten übermenschlichen Thätigkeit, endlich die Schöpferkraft des Dichters gelähmt hatte.
„Waverley“ war in drei Wochen vollendet worden. Am Weihnachtstage desselben Jahres 1814 schreibt Scott, der inzwischen eine neue epische Dichtung, „der Lord der Inseln“, verfaßt und täglich durchschnittlich achtzig bis hundert Verse auf’s Papier geworfen hatte, an seinen Edinburgher Verleger und Drucker: „Jetzt fahre ich nach Abbotsford, um meine Maschine wieder aufzufrischen,“ d. h. er setzte sich von Neuem an’s Pult, und noch war kein voller Monat in’s Land gegangen, so lagen die beiden ersten Bände eines neuen Romans, „Guy Mannering“ oder „der Astrolog“, nicht blos im Manuscript, sondern im Druck fertig da! Und abermals war die englische Literatur um ein classisches Werk reicher. Dergestalt arbeitete und – erholte sich Walter Scott! Wer vermöchte auch hierin es ihm gleich zu thun? Um dem an dergleichen Ziffern auch heute noch nicht gewöhnten Leser eine Vorstellung zu geben, welche hohen Honorare die englischen Verleger ihren Autoren schon vor länger als einem halben Jahrhundert zahlten, erwähnen wir, daß „Guy Mannering“ mit einem Ehrensolde von mehr als vierzehntausend Thalern belohnt wurde. Ein Gewinn von vierzehntausend Thalern innerhalb sechs Wochen – denn am 24. Februar ward der Roman versandt – bietet uns von Neuem einen Maßstab dar, das Einkommen abzuschätzen, welches Walter Scott aus seiner Feder zog. Wie sein Schwiegersohn Lockhart in seiner ausführlichen Lebensbeschreibung Walter Scott’s, einem neunbändigen Werke, berichtet, [537] beliefen sich die Einnahmen, welche dem Dichter jährlich aus seinen Schriften zuflossen, nie unter siebenzigtausend Thalern; oftmals stiegen sie noch beträchtlich höher. Denn jeder seiner nun folgenden Romane – „Rob Roy“, „der Kerker von Edinburgh“, „die Braut von Lammermoor“, „Ivanhoe“, „das Kloster“, „der Abt“, „Kenilworth“, von denen die vier letzteren im Laufe eines einzigen Jahres entstanden – wurde immer noch höher honorirt, als der vorhergehende, und manche schon bezahlt, ehe der Dichter selbst noch einen Buchstaben daran geschrieben, ja ehe er noch eine Scene derselben ersonnen hatte. So schloß er, nach der Veröffentlichung von „Nigel’s Schicksalen“, wovon in einigen Vormittagsstunden allein siebentausend Exemplare abgesetzt wurden, mit einem Edinburgher Buchhändler den Contract ab, binnen zwei Jahren vier weitere große Romane zu schreiben, und empfing dafür im Voraus eine Summe von mehr als vierzigtausend Thalern. Der Vertrag ward getreulich erfüllt, und die gelieferten Erzählungen waren wiederum Meisterwerke, darunter die beiden an spannendem Interesse so reichen „Quentin Durward“ und „St. Ronan’s Brunnen“.
Das äußere Glück des Poeten stand auf seinem Gipfel, nachdem demselben von seinem hohen Gönner König Georg dem Vierten noch die Würde eines englischen Baronets verliehen worden war, die dem Taufnamen ihres Trägers bekanntlich das „Sir“ vorsetzt und seine Gattin zur „Lady“ erhebt. Schon lange nagte jedoch der Wurm, das Glücksgebäude zu zerstören, und es währte nicht mehr lange, so brach dieses jäh und schrecklich zusammen. Walter Scott hatte sich nämlich als stiller Theilhaber mit seinem Drucker und Verleger, einem seiner ältesten Jugendfreunde, verbunden, und als dieser in Folge der allgemeinen Geldkrisis Anfang des Jahres 1826 stürzte, war Scott selbst finanziell vollständig zu Grunde gerichtet und für eine Schuldenlast von achtmalhunderttausend Thalern mit haftbar.
Nun aber zeigte sich die ganze Seelengröße des Mannes. Er berechnete, daß, wenn er fortfahre, mit dem unermüdlichen Fleiße zu schaffen wie bisher, es ihm möglich sein werde, noch diese ganze ungeheure Summe zu tilgen. Die Gläubiger waren in der Mehrzahl hochherzig genug, Scott’s desfällige Vorschläge anzunehmen, und bis zu seinem letzten Athemzuge hat der edle Dichter kein anderes irdisches Ziel mehr im Auge gehabt, wenn es auch völlig zu erreichen ihm nicht vergönnt war. Beispiellos ist die Thätigkeit, die er fortan entwickelt. Vom Morgen bis zur Nacht schreibt er ohne Unterbrechung, in vier Tagen einmal den halben Band eines Romans; wie ein Sclave arbeitet er, seine Gläubiger zu befriedigen, obschon ihm diese nicht blos alle nur erdenkliche Rücksicht zu Theil werden lassen, sondern rührende Beweise ihrer Hochachtung und Bewunderung geben. Und wie ergreifend ist die Resignation, mit welcher der an allen Luxus des Lebens gewöhnte Dichter sein Loos ertrug! Sein schönes Haus in Edinburgh verkaufte er und miethete sich, wenn er während der Gerichtssitzungen in der Hauptstadt weilen mußte, ein einfaches, ja ärmliches Zimmer, doch auch hier war jede freie Minute der Ausführung seines ehrenhaften Vorsatzes gewidmet. Dabei lag Scott’s Gattin auf ihrem Sterbebette und siechte sein Enkel dem Tode entgegen! Das brach dem Manne das Herz, der mit so unendlicher Liebe an all den Seinigen hing, den Verlust seines Reichthums trug er mit bewundernswerther Gelassenheit.
„Die Eiche kann ihre welken Blätter nicht mit größerem Gleichmuthe fallen sehen, als ich mich von dem getrennt habe, was man wohl großen Wohlstand nennen konnte,“ zeichnet er in sein Tagebuch ein. Und trotz diesem Ueberschwange von Leid weisen die währenddem geschaffenen Werke kaum eine Spur auf von dem Seelenschmerze des Dichters. Die „Erzählungen eines Großvaters aus der schottischen Geschichte“, welche unter Anderem in dieser traurigen Periode entstanden, sind unbedingt dem Vorzüglichsten beizurechnen, womit uns seine rastlose Feder beschenkt hat. Das Buch, ein Volksbuch im besten Sinne des Wortes, fand auch eine selbst für ein Kind der Scott’schen Muse ungewöhnliche Aufnahme, und noch ehe zwei Jahre seit der Katastrophe abgelaufen waren, hatten bereits mehr als dreimalhunderttausend Thaler von der Schuld des Poeten abgetragen werden können, so daß die Gläubiger sich veranlaßt sahen, Scott ihren Dank auszusprechen für seinen ihrem Interesse gewidmeten Eifer. Wie unermüdlich Walter Scott arbeitete, aber auch wie außerordentlich groß seine Arbeitskraft war, mag den in dergleichen Dingen Erfahrenen die Thatsache bezeugen, daß er manchen Morgen schon bis zum Mittagsessen vierzig Druckseiten niederschrieb. So brachte er die herrliche Erzählung „das schöne Mädchen von Perth“, welche Goethe in seinen Gesprächen mit Eckermann für einen der vortrefflichsten Romane erklärt, den er jemals gelesen, in den beiden ersten Monaten des Jahres 1828 zu Stande. Und neben all diesen schöpferischen Arbeiten redigirte er noch eine Gesammtausgabe seiner Werke, voll welchen im Durchschnitt monatlich fünfunddreißigtausend Bände verkauft wurden!
Auf die Dauer freilich ließ sich eine solche übermäßige Anstrengung nicht aushalten, und so sehen wir unsern Dichter in den letzten achtzehn Monaten seines Lebens körperlich und leider auch geistig zusammenbrechen, nachdem ein schmerzhaftes Magenübel schon früher seine Gesundheit geschwächt hatte. Eine auf den Rath der Aerzte unternommene Reise nach Italien vermochte keine Heilung mehr zu bringen; ein Sterbender kehrte der Kranke nach England heim, und am einundzwanzigsten September 1832 schloß er seine müden Augen im Beisein aller seiner Kinder, von denen die zweite, unvermählt gebliebene Tochter Anna seine treue Pflegerin gewesen war. Mit ihm verlor die Erde einen der edelsten Bürger, welchen sie jemals getragen hat. Die ganze gebildete Welt klagte um ihren unvergeßlichen Walter Scott, und als man seine sterblichen Ueberreste an einem milden Herbstnachmittage zur letzten Ruhestatt in der Abtei von Dryburgh trug, der Erbgruft der Scott, wo fünf Jahre früher schon seine Gattin ihren Schlummerplatz gefunden hatte, folgten ein unabsehbarer Wagenzug und Tausende von Menschen der Leiche, und in den Ortschaften, durch die sich das Trauergeleite bewegte, stand Alt und Jung mit entblößtem Haupte vor den Thüren der Häuser, dem geliebten Sheriff die letzten Ehren zu erweisen. Alle waren von Schmerz ergriffen, Viele schluchzten laut, denn der Verstorbene war nicht blos ein großer, er war auch ein guter Mensch gewesen ein treuer Freund des Volkes, wenn auch kein Demokrat in der modernen Bedeutung des Wortes, sondern Royalist vom Scheitel bis zur Zehe und unerschütterlicher Tory.
Die äußere Gestalt des unsterblichen Dichters ist uns durch verschiedene Bildnisse und Büsten erhalten. Das vorzüglichste Portrait, welches wir von ihm besitzen, verdanken wir dem berühmten englischen Maler Sir Thomas Lawrence. Es zeigt uns ein frisches rundliches Gesicht – eher das Gesicht eines behäbigen Landjunkers als eines genialen Dichters – mit röthlichem Backenbart, während in auffälligem Contrast damit den Kopf schon graues Haar umkränzt; die Beweglichkeit seiner Züge aber, welche auch die leiseste Empfindung, die seine Brust erregte, mit der unverkennbarsten Wahrheit widerspiegelten, den wunderbaren Glanz seiner Augen und das hinreißende Lächeln, welches seine vollen Lippen umspielte, wenn er einer Rede lauschte, die sein Interesse in Anspruch nahm, oder eine der Hunderte von Anekdoten erzählte, „von denen er beständig überströmte“ – das hat auch der Pinsel eines Lawrence nicht wiederzugeben vermocht, viel weniger noch das Marmorstandbild in der Princes’ Street zu Edinburgh, welches der Mittelpunkt sein wird für das in wenigen Wochen heraufziehende große „Jubelfest im Norden“, zu dem diese Mittheilungen ihr bescheidenes Scherflein beisteuern wollen – denn Walter Scott war auch „unser“.
„Da hängt vor mir das Bild meiner Großmutter,“ schreibt mein wackerer Gewährsmann. „Die liebe alte Frau in der blüthenweißen gestreiften Nebelkappe, die ihr einziger Luxusartikel war, mit dem alten Schmolke in den Händen, der sie durch so manche Trübsal der Pirmasenzer Nothjahre treu begleitet hatte und deshalb trotz der soliden Messingbeschläge sein hohes Alter ebensowenig verleugnen konnte, als die achtzigjährige Matrone selbst. Dieses theure Bild, das mir die liebe Aeltermutter so lebhaft vor
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die Augen und die Seele stellt, weckt auch die Erinnerung an die Zeit des alten Regimes, wo es auch in Pirmasenz hieß: ‚L’etat c’est moi!‘ Das Wort fand unter Landgraf Ludwig dem Neunten hier seine volle Anwendung und weitere Erläuterungen in des ‚seligen Herrn‘ Schlag und Lieblingswort: ‚Coûte qui coûte, je le veux absolument!‘ (Koste es was es will, ich will es um jeden Preis haben!) Er war jedoch zu originell, als daß ihm eine nachgebetete welsche Phrase genügt hätte. Für seine lieben Pirmasenzer hatte er noch einen andern Kraft- und Kernspruch, mit welchem er seinem absolutistischen Princip Eingang verschaffte: ‚Und der Deiwel, und der Deiwel!‘ Das war sein Refrain, das die letzte und höchste Instanz, das entschied über Glück und Unglück, Leben und Tod, Gut und Blut, Karren und Spießruthen und was sonst noch das arme Menschenherz bewegt, soweit in einer Militärcolonie des achtzehnten Jahrhunderts, wo der Mensch Soldat und der Soldat Puppe war, vom Herzen überhaupt die Rede sein konnte. Doch, meine Geschichte läßt gerade das Gegentheil vermuthen.
„Als nämlich meine liebe Großmutter sechszehn Frühlinge zählte – Pirmasenzer Frühlinge, denn von unsers Herrgotts Lenz außerhalb der Stadtmauer wußte man damals in der Residenz Ludwig’s des Neunten sehr wenig –, da schlug auch ihr Herz in Liebe und Sehnsucht, denn sie war die glückliche Braut eines Müllerssohnes aus der Nähe. Sie gab somit das Beispiel, daß auch in der Stadt der Grenadiere, wo der Schnurrbart und Zopf, wie der Werth des Menschen, nur nach Zoll und Linien bemessen wurde, sich doch die Natur nicht ganz unterdrücken lasse. Bald jedoch sollte sie in Schmerz und Leid inne werden, daß unter dem väterlichen Regiment des ‚Herrn‘ nur eine Liebe das Recht hatte, sich geltend zu machen: die zum Kalbfell. Seit der Confirmation des Mädchens war ein junger Soldat täglich in’s Haus gekommen, ohne jedoch irgend welche Absicht merken zu lassen. Er mochte wohl meinen, bei sechszehn Jahren habe die Sache noch keine Eile. Als aber der junge Müller erschien, da mochte der stumme militärische Anbeter denken, der Weizen sei nun reif zur Ernte, brauche aber deshalb nicht gerade in die Mühle zu kommen. Kurz, der Soldat ging zum General, der General ging zum ‚Herrn‘, und der ‚Herr‘ sprach: ‚Und der Deiwel, und der Deiwel! Coûte qui coûte, je le veux absolument!‘
„Eines schönen Morgens werden dem Vater, der Mutter und der bräutlichen Tochter die Pässe abgefordert. Ohne einen solchen Paß durfte in Pirmasenz Niemand vor das Thor. An eine heimliche Entfernung war in der wohlbewachten Stadt für die besorgten Eltern und ihr Kind nicht zu denken, und was weiter kam, läßt sich vermuthen. Der ‚Herr‘ hielt nach wie vor seine Parade ab und schlug an den Fensterscheiben seine selbst componirten Märsche dazu – was wußte er von einem gebrochenen Herzen! Der General maß nach wie vor die regelrecht aufgesetzten gewichsten Schnurrbärte – in seinem Reglement stand auch nichts vom Herzen. Dem Elternhause meiner Großmutter gegenüber stand eine der großen Casernen, und was die bedrängte Braut da fast täglich sehen konnte, war ganz geeignet, einem jungen Mädchen von damals die romantischen Grillen zu vertreiben, wenn sie ja daran gedacht, mit Mutter und Vater der Soldatenstadt und dem Machtbereiche des Landgrafen zu entfliehen und sich der früheren Heimath zuzuwenden. Denn das Spießruthenlaufen, das im Casernenhofe stattfand, war ein Radicalmittel gegen das Heimweh.
„Wenn nämlich einen armen Burschen die Lust anwandelte, ohne Paß und Urlaub nach den Seinigen zu sehen, nachdem er vielleicht in seinem sechszehnten oder siebenzehnten Jahre aus der Scheuer und Bodenkammer seines Vaters in der Wetterau, am Vogelsberge oder sonst anderswo hergeholt worden war; wenn er dabei, um die Thorwache nicht zu belästigen, sich die undankbare Mühe gegeben hatte, einen Abzugsgraben zu benützen, und, ohne Weg und Steg zu kennen, einem gewinnsüchtigen Bauern in die Hände fiel, der des Fanggelds wegen den Armen einlieferte: dann verschrieb dem heimwehkranken armen Tropfe der Doctor ein Recept, dessen Apotheker der Profos war. Der hatte in seinem Laboratorium allzeitig einige Schock frische, eingeweichte Weidenruthen. Baumlange Riesen bildeten eine Allee, welche die schlechteste Perspective von der Welt zeigte. Zwischen den Bajonnetspitzen zweier Grenadiere mußte der arme Sträfling mit entblößtem Rücken so und so viel Mal hin- und herlaufen, und wehe dem, der etwa aus Mitleid seine Ruthe mit dem Daumen eingebogen oder nicht nach Vorschrift tüchtig ausgezogen hätte. Es konnte ihn leicht in dieselbe Gasse bringen. Wenn nun ein solcher Delinquent mit zerfleischtem Rücken in das Haus meiner Urgroßeltern herübergebracht, mit frisch ausgelassener Butter eingerieben wurde und dabei bis an die Decke sprang, geschah dies wohl schwerlich aus Vergnügen.
„Im Angesichte solcher Scenen mag es einem jungen Mädchen nicht zu verübeln gewesen sein, wenn sie ihren Eltern kein Wagniß zumuthete und sich dem allergnädigsten Willen ihres Landesvaters gehorsamst fügte. Die Ehe meiner lieben Großeltern scheint aber doch im Himmel geschlossen worden zu sein, denn sie war eine friedliche und glückliche. Der Respect der jungen Frau vor ihrem octroyirten Eheherrn war so groß, daß sie ihn im ersten Jahre ihrer Verbindung nur per ‚Er‘ anredete, was übrigens in der guten alten Zeit nichts Seltenes war.
„Aus dem Gesagten möchte vielleicht Mancher schließen, das Regiment des seligen Herrn sei ein sehr strenges gewesen. Dieser Schluß wäre ein falscher. Der selige Herr war in der That ein guter Herr, der Absolutismus und das Spießruthenlaufen an der Zeit. Seine Casse war allzeit in gutem Stande, seine Hofhaltung einfach, jedoch nicht knickerisch, so daß viele Familien aus seiner Küche lebten, und z. B. ihren guten Theil von den in Asche gebratenen Kartoffeln erhielten, deren er täglich zu verzehren gewohnt war. Den Künsten war er nicht abhold, und man findet noch manches treffliche Portrait aus seiner Zeit von dem Hofmaler Etienne. Freimüthige Aeußerungen, soldatische Geradheit liebte er und war kein Freund von Kriecherei, wenn er auch im Dienst pedantisch strengen Gehorsam forderte. Bei allem Eigensinn, bei aller aufbrausenden Heftigkeit und mißtrauischen Eifersucht auf seine Schöpfung und die Leistungen seiner Grenadiere, war er dennoch ein zwar schnurriger, aber herzensguter und gerechter alter Herr, ohne sonstige verderbliche Vorurtheile und Leidenschaften und von großer religiöser Toleranz, – so lange all diese guten Eigenschaften eben nicht mit seiner Schwäche für das Soldatenwesen in Widerstreit geriethen. Geschah dieses, so gab es keine weiteren Rücksichten für ihn, und er schritt über jedes Hinderniß eigenwillig hinweg in der Richtung, nach welcher alle seine Passionen gingen, wovon Manches zu erzählen wäre.
„Halbe Tage lang trieb er sich unermüdlich, mit wackelndem Zopfe und rasselnden Sporen auf dem Exercirplatze umher und war wie der Satan hinter den Evolutionen seiner Grenadiere her. Waren die Wachtparade und Exercitien zu Ende, so vergnügte er sich an seinen in Pappe ausgeschnitzten Soldaten, mit denen er auf einer großen Tafel im Schlosse Manöver anstellte. Dann ging es wohl noch im Exercirhaus los, wo gewöhnlich ein gewaltiges Rumoren stattfand. Das Treiben in demselben hätte beinahe einmal ein rasches und unerwartetes Ende gefunden. Einer der Heizer, welcher die vierundzwanzig Oefen des Exercirhauses mit zu besorgen hatte, fand das Eisen des Hängewerks unterm Dache so werthvoll, daß er einen großen Theil desselben entwendete und verkaufte. Der ganze kolossale Bau konnte so eines Tages dem Landgrafen und seinem Heere überm Kopfe zusammenfallen. Doch der Frevel wurde rechtzeitig entdeckt, der Kerl zum Strang verurtheilt. Nun war jedoch der Landgraf willens, ihn zu begnadigen. Da aber der Feldprediger seine Frage, ob ein Dieb nach der Schrift den Tod verdiene, kurzweg bejahte, so hieß es: ‚Und der Deiwel, und der Deiwel, der Kerl muß hängen.‘“
So mein Pirmasenzer Gewährsmann. Weniger pietätvoll ergingen sich die Zeitgenossen, die dem Landgrafen aufbrachten, er drehe die Zöpfe, wickle, messe die Schnurrbärte und setze sie seinen Grenadieren selbst auf. Am meisten wunderte man sich über den wunderlichen Landgrafen, daß er sich sein ganzes Leben lang am schlechtesten Orte seines sonst so schönen Landes in der unaussprechlichen Atmosphäre seines Exercirhauses bei uniformirten Riesen wohlfühlte und zuletzt hatte denn diese Abneigung gegen die Hauptstadt des Landes, dieses Fernbleiben vom Schlosse seiner Ahnen, diese fortwährende Unsichtbarkeit wirklich etwas Mysteriöses, das die Phantasie reizte und den „alten Pirmasenzer“, trotz aller Beschwerden gegen ihn, zur volksthümlichen Figur machte, an welche sich Sagen und Märchen knüpften.
Schon Campe, der 1785 auf der Reise nach der Schweiz durch Darmstadt kam, hörte hier als Ursache der beklagenswerthen [539] langjährigen Abwesenheit des Landgrafen die Klage, daß dieser, „durch schreckhafte Eindrücke in der Kindheit verwöhnt, das große Schloß zu Darmstadt bei Nachtzeit zu graulich gefunden habe.“ Es ist dies nämlich eine der Geisterresidenzen der weißen Frau, die hier auch als Hüterin des vergrabenen Schatzes eines Baumeisters auftritt, welcher vor der Vollendung des Schlosses die Flucht ergriffen habe. Da soll nun des Landgrafen Vater, Ludwig der Achte, zu Protokoll gegeben und beschworen haben, daß der Geist ihm den Schatz gezeigt, jedoch bedeutet habe, erst sein Sohn könne denselben heben. Auf unsern Pirmasenzer als ihren Erlöser und Heber des Schatzes berief sich die Erscheinung mit großer Beharrlichkeit immer wieder. War es ihm geglückt und hatte er mit dem gewonnenen Schatze sein Pirmasenz geschaffen, oder fürchtete er sich vor der Rolle, zu welcher ihn die weiße Frau berufen hielt? Die Volkstradition in Darmstadt scheint Letzteres annehmen zu wollen, denn sie behauptet: ihm habe des Vaters Entschlossenheit, dem Geiste zu folgen, gefehlt, und da er von den Erscheinungen gewußt, habe er niemals eine Nacht im Darmstädter Schlosse zubringen wollen, sondern in Pirmasenz seinen Wohnsitz aufgeschlagen. – Was an dieser Begründung einer schwer empfundenen Idiosynkrasie Wahres sein mag, bleibe dahingestellt. Mein Pirmasenzer Gewährsmann theilt mir eine beglaubigte Anekdote mit, welche den Landgrafen in ganz anderem, helleren Lichte erscheinen läßt.
Als das einfache Schloß zu Pirmasenz fertig war, stellte sich auch bald die Ahnfrau der Landgrafen dort ein. Das Gerücht, daß sich Abends in den Corridoren die weiße Frau sehen lasse, war bald allgemein. Wachen hatten beobachtet, wie sie den Gang entlang schwebte, Lakaien schworen darauf, daß sie im Schlosse spuke. Auch dem Landgrafen kam die Sache zu Ohren, und er nahm sie schweigend hin. Nach einiger Zeit jedoch äußerte er bei der Tafel, daß er nun auch Gelegenheit gehabt habe, die weiße Dame zu sehen, und erbot sich zugleich, den Geist seinen Kammerherren und Höflingen zu zeigen. Zu dem Ende wurden diese von dem Landgrafen für den Abend eingeladen. Nachdem Alle versammelt waren, führte er sie mit geheimnißvoll schauriger Miene auf den langen Corridor und deutete nach dem entgegengesetzten Ende desselben, indem er Jeden einzeln herbeiwinkte.
„Sehen Sie? Sehen Sie?!“
„Ja, Eure Durchlaucht, ja!“ war die Antwort.
So hatte Jeder zugegeben, den Geist genau gesehen zu haben, den ihnen ihr Herr gezeigt, bis dieser auch zu dem alten stotternden Hauptmanne Menert kam. Der sprach trocken:
„Durchlaucht, isch kann nischt sehen! Isch kann immer nischt sehen!“
Drauf klopfte ihm der Landgraf[1] auf die Schulter und sagte:
„Ich auch nicht, lieber Menert. Diese Herren sind lauter Jabrüder!“
Seitdem ließ sich die weiße Frau im Schlosse zu Pirmasenz nicht wieder sehen. Entweder war sie damit von Landgraf Ludwig dem Neunten wirklich erlöst, oder sie hatte ihren Zweck erreicht an dem Orte, wo die Dinge rasch ihrem Ende entgegenreiften.
Die Vorgänge im benachbarten Frankreich machten dem alten Herrn, der eben noch den Beginn der neuen Epoche erlebte, mancherlei Beklemmungen und er war scharfsichtig genug, eine weitergehende Bedeutung in ihnen zu finden.
„Da kochen sie jetzt in Frankreich eine Suppe, die ich nicht mitessen möchte,“ pflegte er zu seiner Umgebung zu äußern.
Der Tod meinte es gut mit dem alten Herrn und löste ihn im April 1790 von der Wache dieses Lebens ab. Wäre er von den nachsetzenden französischen Chasseurs aus seiner lieben, selbstgebauten Residenz verjagt worden, wie sein Nachbar, Herzog Karl von Zweibrücken, und hätten die Neufranken seinen Grenadieren die Zöpfe abgeschnitten, so würde ihm das Herz darüber gebrochen sein, geschweige denn, daß er die Empörung seiner Dörfer südlich von Pirmasenz, welche sich vor allen anderen der französische Republik anschlossen, und dann die Noth seiner Soldatenstadt hätte überleben können.
Zu der heißen Revolutionssuppe wurde also Ludwig der Neunte nicht mehr geladen, aber seine verwaisten Pirmasenzer mußten sie mitessen. Die Residenz der Landgrafen war wieder nach Darmstadt verlegt, während in den Aemtern des Elsasses die Revolution ihren Fortgang nahm und die landgräflichen Wappen entfernt wurden. Jetzt setzten auch die Gebirgsbauern südlich von Pirmasenz Freiheitsbäume, steckten die dreifarbigen Cocarden auf, theilten sich in das Holz der Forste und kamen vierhundert Mann stark nach Pirmasenz, wo sie unter mancherlei Gewaltthaten ebenfalls den Freiheitsbaum aufpflanzten. Das waren aber nur die Anfänge der Leiden, welche die unglückliche Stadt treffen sollten. Nach vorübergehendem Erfolg der Preußen kamen die Franzosen wieder, Plünderung auf Plünderung folgte, und man muß den Bericht des Volksrepräsentanten Becker in den Acten des Convents nachlesen, um einen Begriff von den Drangsalen zu erhalten, die Pirmasenz mit seinen pfälzischen Schwesterstädten von der Ausleerungscommission zu Landau erduldete.
Es lag in den Verhältnissen, daß der Krieg Pirmasenz härter mitnahm als jede andere Stadt, denn sobald der Born ihres Glückes und Glanzes mit dem Leben des Landgrafen versiecht war, versagten all die seitherigen Hülfsquellen, da sie keine in sich selber hatte. Sie mußte ihre gleichsam unmotivirte Existenz jetzt schwer büßen, wenn nicht gar einbüßen. Nicht gestählt durch anstrengende Arbeit mußten die verwöhnten Schoßkinder fürstlicher Laune durch den jähen Wechsel von unverdientem Glücke zu unverdientem, tiefstem Elende gelähmt und betäubt werden, aller Kraft ermangeln, der hereinbrechenden Noth zu steuern. Die Hälfte der Bevölkerung stob noch schneller davon, als sie gekommen war. Die Zurückgebliebenen schleppten ihre großen Grenadierleiber hungernd in den verödete Straßen umher, wo das Schloß und das Exercirhaus abgebrochen worden waren, während auf dem Exercirplatze die Gänse weideten, wie noch heute. Und dann vollendete das Hungerjahr 1817 das Elend. Um jene Zeit sandte die heruntergekommene Landgrafenstadt so viel bettelndes und vagabundirendes Gesindel über die Pfalz aus, daß Pirmasenz in den übelsten Ruf kam. „Pirmasenzer“ war ein Schmähwort geworden, wie es heute noch der Name „Matzenberger“ aus ähnlichen Gründen ist, da das weithin auf einer Berghöhe zerstreute Dorf Matzen- oder Carlsberg eben auch eine unglückliche Schöpfung des vorigen Jahrhunderts und zwar die eines Leininger Grafen ist.
Aber heute ist „Pirmasenzer“ kein Schimpfwort mehr, und das ist das alleinige und ureigene Verdienst der Bevölkerung selbst. Nach einem schweren, harten Verzweiflungskampfe um’s Dasein ist es ihr, auch ohne die natürlichen Hülfsquellen anderer Städte und heute noch fern von jeder Bahnlinie, dennoch gelungen, auf eigenen Füßen zu stehen. Im Laufe eines halben Jahrhunderts haben die Pirmasenzer nicht blos einen sterilen in einen wohlbebauten ergiebigen Boden verwandelt, sondern sich auch industriell reichlich fließende Nahrungsquellen eröffnet und eine Existenz geschaffen, die nicht mehr von der Gunst eines Einzelnen abhängt und die Stadt hinter keiner ihrer Schwesterstädte mehr zurückstehen läßt.
Jedermann kennt die Pirmasenzer Schuhe. Der Handel mit ihnen begann etwa im Jahre 1809 oder 1810 auf Anregung eines gewissen Joß, der später nach Straßburg übersiedelte. Er hatte einige Schuhpaare fertig und konnte sie in der heruntergekommenen Vaterstadt nicht verwerthen. So schickte der Arme denn seine Frau mit denselben in die preußische Rheinprovinz, und als sie bald mit schönem Gelde zurückkehrte, wurde der Handel auch ferner und etwas eifriger betrieben. Nun griffen auch andere Schuhmacher die Sache auf, bezogen die Messen zu Mannheim, Frankfurt am Main, Darmstadt, Karlsruhe, Heidelberg und hatten schönen Erlös. Sobald der Handel ein wenig im Gange war, ersahen auch Andere, die nicht des ehrsamen Handwerkes waren, den Vortheil und ließen Schuhe in den Häusern machen. An arbeitenden Kräften fehlte es nicht, die Kunst war leicht und schnell erlernt, und so gab es im Anfange der zwanziger Jahre schon eine Menge Schuhmacher in der Stadt. Das Geschäft wurde nicht fabrikmäßig, sondern von einzelnen Meistern, welche die zugeschnittenen Schuhe in die Häuser gaben, betrieben. Darauf gründeten sich nun allerlei neue Nahrungszweige. Die Einen nähten, Andere bändelten die Schuhe ein, wieder Andere trugen sie auf die Jahrmärkte, während der Ausverkauf ebenfalls durch eigene Händlerinnen besorgt wurde. Damals fielen schon auf allen Messen am Rhein die lebhaft dreinblickenden, sonnverbrannten oder sommersprossigen Pirmasenzer Schuhmädchen durch ihre schlanken, hohen Gestalten auf, wie denn auch der Kleinhandel meist heute noch in weiblichen Händen liegt.
Es kann hier nicht der Ort sein, die Entwicklung des Pirmasenzer Schuhhandels, wie er sich allmählich über die großen baierischen [540] und Schweizer Märkte, über Warschau, Kopenhagen, Amsterdam, Petersburg, Stockholm und Edinburgh ausdehnte, zu schildern. Im Laufe der fünfziger Jahre trugen die Pirmasenzer ihre Schuhe auch über den Ocean und knüpften Handelsverbindungen mit den atlantischen Städten sowohl als mit den Emporien des Mississippi und der Seen an. Gewöhnlich gingen dabei Sendungen von je tausend Dutzend über’s Wasser, bis auch die Damen der Hinterwälder immer lieber ihre Füße mit dem bieg- und schmiegsamen Pirmasenzer Fabrikat bekleideten.
Denn dieses sind keine unverwüstlichen Bergschuhe oder Jagdstiefel, sondern leichte Waare für Parquet und Estrich, Haus und Hof: Damenstiefel, Morgenschuhe, Pantoffel für trockene Witterung und zarte Füße und in aller Welt ob ihrer Eleganz und Preiswürdigkeit beliebt.
Daneben fordert aber heute auch noch der Pirmasenzer Bilderhandel alle Beachtung, d. h. das Hausiren mit jenen lithographischen Erzeugnissen des Herrn „Wentzel de Wissembourg“, welche sich heute in den katholischen Alpenländern allüberall eingenistet und schon unserm Ludwig Steub im bairischen Hochlande ästhetisches Grauen erregt haben. Auch der Orgelleute und der „Morithatenmänner“, der Herren Schartenmaier u. Comp., dürfen wir nicht vergessen. Es ist wahrscheinlich, daß der Orgelmann, welcher von Gerstäcker in Chili getroffen worden, ein Pirmasenzer war, wenn er nicht ein Matzenberger gewesen sein sollte.
So sind die Pirmasenzer, welche unter ihrem Landgrafen von aller Welt abgeschlossen der Soldatenspielerei lebten, ein flügges Völkchen geworden, das die halbe Welt durchwandert. Die Nachkommen der Grenadiere des alten Pirmasenzers handeln mit Pantoffeln, Bildern und „Morithaten“ und befinden sich nicht übel dabei. Bei sparsamem Leben draußen kommen sie mit ihren Errungenschaften zu flottem Leben in die Vaterstadt auf den Vogesen zurück, erzählen bei Bier und Wein von ihren Erlebnissen in den großen Städten draußen, und bei den häufigen Tanzbelustigungen, welche den Pirmasenzer Schustern zum Bedürfniß geworden sind, treten dann Paare in die Reihe, die, eben erst von den zwei entgegengesehen Enden Europas kommend, sich hier jubelnd begrüßen. Wie lebhaft dann die Unterhaltung geführt wird, mag der ermessen, der je ein Pirmasenzer Stadtkind „auf dem Handel“ schwatzen hörte und also einen Begriff davon hat, was der Mund auch außer dem Essen und Trinken noch zu leisten vermag.
So wechseln jetzt in derselben Stadt, wo einst eine abgesperrte [541] Soldatencolonie in der Einförmigkeit des Gamaschendienstes eine langweilige, unnütze, ja gemeinschädliche Existenz führte, Arbeit und Lohn, Handel und Wandel, Anstrengung und heiterer Lebensgenuß in natürlicher und gedeihlicher Weise. Man gedenkt wohl noch der Landgrafenzeit, aber Niemand sehnt sie zurück. Eigenes Verdienst giebt der Stadt eine ruhige Sicherheit für die Gegenwart und Vertrauen in die Zukunft, und solchen Gesinnungen gehört auch die Zukunft. Zum Schlusse können wir nichts Besseres anregen, als den alten Spruch, der für die Stätten des Fleißes, also auch für Pirmasenz gilt:
An allem Ort und Ende
Soll der gesegnet sein,
Den Arbeit seiner Hände
Ernähret still und fein.
Ehe wir die in der heutigen Nummer der Gartenlaube abgebildete „Ungarische Gerichts- und Folterscene“ mit erklärenden Worten begleiten, schicken wir die Bemerkung voraus, daß die ungarischen Justizzustände nicht nach dieser einen ausnahmsweisen Scene beurtheilt werden dürfen. Ungarn ist eben auf dem besten
Wege, binnen kürzester Zeit im Criminalwesen wie in allen Zweigen der Rechtspflege sich auf gleiche Linie mit den anderen civilisirten Staaten zu erheben, und selbst die im Augenblick noch bestehenden Uebergangszustände lassen, Dank den in den letzten Jahren getroffenen theils provisorischen, theils definitiven Verfügungen, jene „Romantik“ weit hinter sich zurück, in welcher Motive gefunden werden konnten, wie dasjenige, das der abgebildeten Scene zum Grunde liegt.
Für diese steht übrigens ein Künstler ein, der schon viele Stoffe zu Genrebildern aus dem ungarischen Volksleben geschöpft hat und auch kürzlich wieder mit reich gefüllter Mappe sich bei seinen Freunden in Pest einstellte. Als wir den Inhalt derselben besichtigten, legte er plötzlich die Hand auf eines der Blätter und gewährte uns den Anblick desselben nur gegen das Versprechen, das betreffende Bild für das gelesenste Blatt Deutschlands mit erklärenden Worten zu begleiten, und die verlangte Zusage wurde natürlich bereitwilligst gegeben; war doch hiermit Gelegenheit geboten, irrigen oder übelwollenden Anschauungen vorzubeugen.
Das Bild frappirte uns sofort ebensowohl durch die typische Wahrheit der Gestalten wie durch die Ungewöhnlichkeit der dargestellten Scene. – Zwei Verbrecher, ein Rumäne und ein Magyare, die im Verein mit Anderen einen Raubmord begangen haben, sind eben eingebracht worden und werden vom Stuhlgericht (Bezirksgericht) in’s Verhör genommen. Der Rumäne ist der Erste an der Reihe. Sein Verbrechen ist erwiesen, und die sittliche Entrüstung der Herren vom Gericht wird durch die Hartnäckigkeit gesteigert, mit welcher der Halbwilde die Namen der [542] noch unbekannten Mitschuldigen verschweigt. Die Zunge soll ihm jedoch gelöst werden, und dazu stehen die beiden Panduren zur Rechten und Linken des Mannes bereit. Vom Plafond hängt ein über einen eisernen Flaschenzug gelegter Strick hernieder, dessen eines Ende an einen eisernen Ring befestigt ist, und an diesen schließt sich wieder ein anderer gleichfalls eiserner Ring, mit welchem die beiden Daumen des Delinquenten zusammengeschraubt sind. Das andere Ende des Strickes hält der eine Pandure in der Hand, bereit, den Delinquenten in die Luft zu ziehen, während der andere die Peitsche bereit hält, mit welcher dem in der Luft schwebenden Verbrecher der nackte Rücken wund gegeißelt werden soll. Der doppelte Schmerz wird ihm schon die Zunge lösen. – Der Mitgefangene sieht der Procedur zu und hat Zeit zu überlegen, ob er, wenn die Reihe an ihn kommt, die Wirkung des Zwanges an sich erproben oder, ohne diesen abzuwarten, sprechen soll. –
„Das ist ja Folter! Das ist ja nicht möglich!“ riefen unwillkürlich Alle, die das Bild sahen. – Der Künstler aber ließ an der Wahrhaftigkeit seines Bildes nicht rütteln. Er versicherte, manchen ähnlichen Vorgang vor zehn Jahren selbst mit angesehen zu haben – also in einer Zeit, in welcher nach der Sprengung des Bach’schen Absolutismus im Ueberschwang der plötzlich eingetretenen nationalen Reaction gegen die Fremdherrschaft allerdings mancher Uebergriff vorgekommen sein kann. Nach raschem Uebergang wurden damals die verfassungsmäßigen Wahlen durchgeführt, mit welchen die Comitatsämter besetzt wurden; Justiz und Verwaltung waren nicht voneinander getrennt; der Willkür der Beamten war ein großer Spielraum gewährt; bei den damaligen Wahlen gab mehr der patriotische Eifer der Betreffenden als deren sonstige Qualification den Ausschlag – und so wirkten viele Umstände mit, daß hier und da sehr abenteuerliche Gerichtsscenen sich ereignen konnten. – Ja, selbst noch in der allerjüngsten Zeit circulirten in Pest, wie weiter unten erzählt wird, Torturgerüchte, deren Wahrscheinlichkeit im ungarischen Abgeordnetenhause auf der einen Seite mit ebenso großem Nachdruck behauptet, wie auf der andern in Abrede gestellt wurde. Der Erklärungsgrund hierfür liegt, obgleich in Ungarn die Tortur schon durch Maria Theresia abgeschafft wurde, lediglich darin, daß die ungarische Justiz, trotz aller gegentheiligen Bemühungen bis zum heutigen Tage die Wohlthat eines systematischen Strafgesetzbuchs entbehrend, sich nach wie vor mit einzelnen Gesetzen, mit der Autorität früherer gerichtlicher Entscheidungen und mit den „Statuten“ einzelner Municipalbehörden behelfen muß. Unter solchen Umständen ist es kein Wunder, daß Franz Deák in einem Rechenschaftsbericht an seine Wähler sagen konnte: „Unsere Gesetze bieten keine sichere Grundlage weder für die Art, noch für das Ausmaß der Strafen, und in mehreren Fällen sind je nach der Person der Richter bei demselben Verbrechen und unter den gleichen Umständen die Bestrafungen überaus verschieden und willkürlich.“
„Was wollen Sie!“ äußerte einmal ein Stuhlrichter in einem Gespräch über dieses Thema; „einem Burschen von der Pußta, der oft Jahre lang kein Dach über sich hatte und durch alle Wetter des Winters und des Sommers gestählt ist, der nie eine Schule besucht hat, und bei dem es eine Art point d’honneur ist, ein Pferd oder ein Schaf wegzuschnappen, das nicht sein ist, – einem solchen Burschen kann man nicht zu Gemüth reden, und selbst ein paar Stockstreiche sind ihm nur ein Mückenstich; – erst bei ‚fünfundzwanzig‘ dämmert in ihm vielleicht eine leise Ahnung auf, daß in der Welt etwas vorgehen müsse, wovon er sich bis dahin nichts hat träumen lassen.“
Nicht selten wurde über die gebräuchliche Zahl der „fünfundzwanzig“ Stockstreiche, ja über die Anwendung der Prügel weit hinausgegangen. Die Vereinigung von Justiz und Verwaltung, deren Trennung gerade erst in den nächsten Monaten durchgeführt werden wird, hatte zur Folge, daß der Stuhlrichter in seinem Bezirk als ein förmlicher Pascha walten konnte. Seiner Willkür war nur im Wappenbrief der Adeligen eine Schranke gesetzt; sonst konnte jeder Insasse seines Bezirks ein Object der Prügelstrafe sein, die der Stuhlrichter, sei es als Verwaltungs-, als Polizei- oder als Justizbehörde, dictiren konnte. Und wo es keine Untersuchungs-, keine Strafnormen giebt, da kann die Phantasie eines kleinen Machthabers, der den Blicken der Welt ohnehin nicht so ausgesetzt ist, wie die großen, die seltsamsten Blüthen treiben. Folgendes möge zur Illustration dieser „Blüthen“ dienen.
Ein Freund von mir entzog sich nach dem achtzehnhundertachtundvierziger ungarischen Freiheitskriege den Häschern der Reaction nicht durch die Flucht in’s Ausland; er wußte sich mitten im Lande zu verbergen, indem er bei einem Grundbesitzer unter angenommenem Namen als Landwirthschaftsbeamter diente. In dieser Eigenschaft wohnte er einige Jahre in einem einsam gelegenen Meierhofe, auf einer Pußta, und hatte da oft Gelegenheit, mit Räubern jener Sorte in Berührung zu kommen, welche man „szegény legény“ – „armer Bursche“ – nennt. Bei diesen Strauchrittern pflegten sich einsam wohnende Grundbesitzer oder Wirthschaftsbeamte die Sicherheit ihrer Person und ihres Eigenthums oder der ihnen anvertrauten Habe durch freiwilligen Tribut zu erkaufen, indem sie ihnen ab und zu ein Schaf, ein Schwein, eine Speckseite oder dergleichen preisgaben, und unter solchen Verhältnissen bildete sich nicht selten eine Art von Vertraulichkeit zwischen dem Räuber und seinem „Schützling“ heraus. So theilte denn auch ein Räuber meinem Freunde folgendes eigene Ergebniß aus der ersten Zeit seines Zerwürfnisses mit der gesellschaftlichen Ordnung mit. –
Er hatte einmal als junger Bursche in seinem Heimatsdorfe eine Kuh gestohlen und veräußert, der Verdacht aber fiel sogleich auf ihn. Der Eigenthümer, der sein auserlesenes Thier nicht verschmerzen konnte, war ein näherer Bekannter des Stuhlrichters, und dieser ging mit erhöhtem Eifer daran, das entwendete Gut zurückzuschaffen. Dem Diebe wurde von zwei Panduren mit einer Peitsche der Rücken wundgeschlagen, und als er trotzdem kein Geständniß ablegte, wurde er in einen finstern Keller gebracht, und daselbst einige Tage ohne Speise und Trank gelassen. Dann holte man ihn wieder heraus, und halbtodt und verschmachtet wie er war, setzte man ihn an einen Tisch, auf dem eine Schüssel Kraut mit Würsten für ihn dampfte. Gierig verschlang er das Lieblingsgericht und begehrte dann zu trinken.
„Erst sage, wo die Kuh ist, und dann bekommst Du Wein!“
Er schwieg. Wieder wurde ihm der Rücken wund gegeißelt, er schwieg aber dennoch. Die Freiheit und die Ehre seiner Standhaftigkeit galt ihm mehr als sein Leben, und er wurde freigelassen, – um nach Jahren, standrechtlich verurtheilt, sein Leben am Galgen zu beschließen. –
Solche Geschichten, wenn sie hie und da einmal auftauchen, hört man übrigens auch hier zu Land nur mehr mit Staunen, oder mit dem Kopfschütteln, mit welchem alte Märchen aufgenommen werden. Dank dem guten Willen und der Aufklärung vieler einzelnen Organe, Dank dem unermüdlichen Eifer des gerade in diesen Monaten leider zurückgetretenen Justizministers, Balthasar Horváth, und den Anregungen des ungarischen Juristentages, der vorigen Jahres zum ersten Male sich hier versammelte, sind die Begebungen, die ungarische Justizpflege auf das Niveau der Zeit und der Wissenschaft zu bringen, immer häufiger und erfolgreicher geworden. Die Prügelstrafe ist gesetzlich bedeutend eingeschränkt, und schon liegt ein Gesetzentwurf vor, welcher die gänzliche Abschaffung der Körperstrafe bezweckt, und der ohne die Saumseligkeit der Magnatentafel (des ungarischen Oberhauses) schon längst als Gesetz in Kraft getreten wäre. Die Empiriker in diesem Hause sträuben sich gegen die Neuerung, darauf sich berufend, daß es in Ungarn zu wenig Gefängnisse giebt, und daß die meisten der vorhandenen in einem zu schlechten Zustande sind, um ein sicheres Gewahrsam zu bilden, und einen wirksamen Ersatz für die Prügelbank zu bieten. – Diese Thatsache wird allerdings vielfach bestätigt, und das dadurch gegebene Dilemma veranlaßte einen findigen Stuhlrichter zu folgendem Auskunftsmittel. In seinem Bezirk kamen entsetzlich viel Sonntagsraufereien vor. Einsperren konnte er die Excedenten nicht lassen, weil ihm keine geeigneten Gefängnißlocalitäten zur Verfügung standen, – die Prügelstrafe konnte und mochte er auch nicht anwenden, – und so half er sich damit, daß er den ärgsten Raufbolden – den halben Schnurrbart abrasiren und sie dann laufen ließ. Das kam im vorigen Jahre vor, und das am Lippenschmuck der stolzen Bursche statuirte Exempel ist, wie die Zeitungen rühmten, mit dem besten Erfolg gekrönt worden.
Ist ein Todesurtheil rechtskräftig geworden, so werden dem Delinquenten zwischen der Verkündigung und Vollstreckung des Urtheils drei Tage Zeit gelassen, während welcher er Besuche empfangen darf. Heute kommt es selten mehr zur Vollstreckung von Todesurtheilen, und werden die allermeisten derselben durch königliche [543] Gnade in Kerkerstrafen umgewandelt; doch vor 1848 waren Hinrichtungen sehr häufig. „Es ist einer ausgesetzt!“ hieß es damals sehr oft; das heißt, ein zum Tod Verurtheilter genoß die erwähnte Galgenfrist von drei Tagen. Er saß in irgend einem geräumigen Zimmer des Comitats- oder Stadthauses, von Soldaten mit aufgepflanztem Bajonnet bewacht, an Händen und Füßen mit Eisenketten gefesselt, und festtäglich geputzt, vor einem Tische, auf welchem es an Wein und Backwerk nicht fehlte. Die Besucher – Jedermann hatte Zutritt – pflegten Kupfermünze auf den Tisch zu legen, damit der „Ausgesetzte“ sich in den letzten Tagen seines Lebens Labemittel anschaffen könne, und Groß und Klein staunte mitleidsvoll und verblüfft den Mann an, der heute noch gesund, zuweilen sogar auch lustig war, und dennoch übermorgen oder gar schon morgen todt sein sollte! – Scenen dieser Art kamen häufig vor, und prägten sich der Volksphantasie so tief ein, daß sie in Volksliedern besungen wurden, sowie in Volksdramen und in Romanen den Gegenstand wirksamer Scenen und Capitel bildeten. Und wie die Kunst gewöhnlich die von der Literatur geebneten Wege wandelt, so schuf auch der ungarische Maler Munkácsy nach der literarischen Durcharbeitung des erwähnten nationalen Stoffes sein berühmtes Gemäldes „Die letzten Stunden eines Verurtheilten“, das die Leser der Gartenlaube in einer trefflichen Wiedergabe bereits kennen gelernt haben.
Besondere Erwähnung verdient das Standrecht. – Zuweilen treten in einzelnen Gegenden die Verbrechen des Raubes oder der Brandlegung epidemisch auf, und in solchen Fällen verleiht die Regierung (jetzt der Minister des Innern nach Anhörung des Justizministers) den betreffenden Municipalbehörden auf eine bestimmte Zeit das Standrecht gegen Räuber, Raubmörder, gegen die Mitschuldigen, Theilnehmer an der Schuld, und Hehler. Die Standgerichte sind in ähnlicher Weise zusammengesetzt wie die Criminalgerichte, und der Angeklagte erhält einen Vertheidiger. Erklärt das Standgericht sich nicht als competent, oder kann die Schuld binnen acht Tagen nicht festgestellt werden, so wird die Angelegenheit dem ordentlichen Gericht zugewiesen. Ist der Delinquent standrechtlich zum Tode verurtheilt, so werden ihm drei Stunden Zeit gelassen, sich zum Tode vorzubereiten.
Schließlich muß noch einer auffallenden Erscheinung gedacht werden, die bestimmt ist, in der Geschichte der ungarischen Criminaljustiz einen der denkwürdigsten Abschnitte zu bilden. Die Sicherheit der Person und des Eigenthums wurde vor einigen Jahren in einem beträchtlichen Theile Ungarns in unerhörter Weise gestört. Im Bácser Comitat verbreitete der Räuber Max im Macsvánßky solchen Schrecken, daß die Militärmannschaften mehrerer Städte gegen ihn ausgeschickt wurden, und auch die konnten seiner nicht habhaft werden; in einem Orte desselben Comitats, in Pivnicza, herrschte vollständige Gesetzlosigkeit, und durchreisende Passagiere wurden selbst am hellen Tage ausgeraubt. Der Handelsminister fand sich im Jahre 1868 bewogen, die Geldpostsendungen auf gewissen Strecken einzustellen, weil mehrmals Postwagen geplündert und sogar Eisenbahnzüge von Räubern zum Stehen gebracht worden waren, welche es versuchten, die Eisenbahnpost und die Passagiere zu berauben.
Diese und unzählige andere mit unglaublicher Frechheit verübte Verbrechen, veranlaßten die Regierung, den Chef des Polizeidepartements des Ministeriums des Innern, Graf Gedeon Ráday den Jüngeren mit außerordentlicher Vollmacht als königlichen Commissär in die bedrohte Gegend zu entsenden. Er wählte aus verschiedenen Zweckmäßigkeitsgründen die Stadt Szegedin zu seinem Sitz, und seit den drei Jahren seiner Wirksamkeit hat er nicht allein in dem großen, über mehrere Comitate sich erstreckenden Rayon seiner Wirksamkeit die Sicherheit wieder vollkommen hergestellt, sondern auch vor zwanzig und mehr Jahren begangene Verbrechen entdeckt, über welche längst das Gras der Vergessenheit gewachsen war. In Folge dessen sitzen jetzt in den Szegediner Casematten vierzehn- bis sechszehnhundert Individuen gefangen, die wegen des Zusammenhangs einer zahllosen Menge noch zu untersuchender Verbrechen noch nicht abgeurtheilt werden konnten. Damit diese Häftlinge weder untereinander, noch mit anderen Personen sich verständigen können, müssen sie, so oft sie außerhalb ihrer Gefängnisse erscheinen, wenn sie spazieren geführt oder zum Verhör abgeholt werden, Masken tragen.
Der Beifall, den die erfolgreiche Wirksamkeit des Grafen Ráday fand, blieb indeß nicht ohne Schatten; – und als im Abgeordnetenhause in den letzten Tagen des vorigen Monats über einen Nachtragscredit für das königliche Commissariat in Szegedin verhandelt wurde, brachten Gegner der Vorlage vor, daß Graf Ráday willkürlich vorgehe und in einzelnen Untersuchungsfällen unmenschlich verfahre. Es wurde davon gesprochen, daß man die Häftlinge der Szegediner Festung je nach Umständen hungern, Durst leiden, sich berauschen oder sie nicht schlafen lasse, um ihnen auf die eine oder die andere Art Geständnisse abzunöthigen; ja man sprach sogar auch von einem Folter-Instrument, das „Ráday-Wiege“ genannt wird, über welches jedoch Niemand näheren Aufschluß zu geben wußte. Kurz, es waren Gerüchte im Schwange, die beinahe nicht minder staunenswerth sind, als der riesige Erfolg, mit welchem Graf Ráday einen großen Theil des Landes von weitverzweigten Verbrecherbanden befreit hat, und um so gewisser auf die Dauer befreit haben wird, als er den Hehlern bis in Kreise nachspürt, wo sie bisher durch Vermögen, mitunter sogar durch gesellschaftliche Stellung gedeckt waren.
Nehmen wir nun zu dieser wahren Augias-Stallreinigung die oben erwähnten Schritte zum Bessern, so dürfen wir hoffen, daß von der Romantik des ungeregelten ungarischen Criminalwesens bald nur die Erinnerung übrig sein wird, und Reminiscenzen, wie die heute von uns mitgetheilten, eben nur als Curiosa werden Platz finden können.
Ein Besuch beim Componisten der „Wacht am Rhein“. Wie aus den Tagesblättern bekannt, weilt gegenwärtig in dem lieblichen Elgersburg Wilhelm, der Componist der „Wacht am Rhein“, um von dem über ihn gekommenen schweren Leiden unter der sorgsamen Pflege des Dirigenten der dortigen Curanstalten, Dr. Schultz, Heilung zu suchen.
Ich mußte ihn aufsuchen, den Componisten des Liedes, das der nationalen Begeisterung dieser Tage Flügel geliehen, des ersten wahrhaft kernigen Volksliedes seit Jahrzehnten, ganz angethan, in den kommenden Geschlechtern das Bewußtsein brüderlicher Zusammengehörigkeit wach zu erhalten, sie fort und fort zu erinnern an die Thaten ihrer Väter, durch welche die lange genährte Sehnsucht der edelsten Nation ihre Erfüllung fand.
Die Dienerin öffnete mir den im Erdgeschosse der schmucken Villa des Dr. Schultz von lachendem Grün umrankten Salon. Bei meinem Eintritt erhob sich langsam vom Divan ein älterer Herr von freundlichen und doch schmerzlichen Gesichtszügen, mit einem Seufzer auf seinen Stab sich stützend, indem er mit klagender Stimme einige gebrochene Worte der Entschuldigung für seine, wie er glaubte, nicht gesellschaftliche Erscheinung mir entgegenbrachte.
Auf meine direct – wir waren allein – an ihn gerichtete Frage, ob er der Musikdirector Wilhelm sei, erwiderte er wehmüthig: „Dieser arme Mann bin ich.“ Mich an seine Seite ladend, reichte er mir mit thüringischer Treuherzigkeit die Hand und hielt die meinige bis zu meinem baldigen Weggange fest, nachdem er in mir einen Verehrer und Dilettanten seiner Kunst erkannt. Von seinen den unverkennbaren Stempel deutscher Tüchtigkeit an sich tragenden, vielfach von Thränen begleiteten Gesprächen werden mir die mit Innigkeit gesprochenen Worte, deren Zusammenhang sich von selbst erklärt, unvergeßlich bleiben: „Die schönste Frucht ist die Einheit.“ Hier wurden die matten Augen heller und die Wehmuth wich einer erkennbaren freudigen Erregtheit. Er wollte noch mehr zu sprechen sich überwinden, mir aber war es ein Gebot schuldiger Rücksicht, mich baldigst zu verabschieden, und ich durfte nur noch dem Kranken den traurigen Dienst erweisen, als er sich zu nochmaligem Händedrucke des Abschiedes erhob, ihm den entfallenen, leider unentbehrlichen Stab aufzunehmen.
Ein tragisches Geschick darf es wohl genannt werden, daß gerade in den Tagen, da das zweite Reich die Morgensonne seiner neuen Herrlichkeit über sich aufgehen sah, dieser deutsche Mann in Fesseln geschlagen ward durch die verstärkte Wiederkehr eines Schlaganfalles, der ihm die linkseitige Körperhälfte lähmte. Wilhelm’s Zustand ist indessen nicht so hoffnungslos, als er selbst sich ihn vorstellt. Seit jenem Besuche sind kaum zwei Wochen verflossen, und während ich dies schreibe, darf er selbstständig einen kleinen Spaziergang in Elgersburgs paradiesisch schöne Umgebungen auf seinen Stützen unternehmen. Auf seinem sonst so heitern harmlosen Gemüthe lastet freilich schwer der Jammer, daß es ihm nicht vergönnt ist, an der Sonne, die er nur durch trübe Wolken schimmern sah, sich mit den Millionen seiner Stammesgenossen freudig zu erwärmen; erklärlich daher, daß Wehmuth jetzt den Grundzug seiner Seelenstimmung bildet. Selbst die überraschende frohe Botschaft des Fürsten Reichskanzlers, die dem fünfundfünfzigjährigen nationalen Componisten die verdiente Sorgenfreiheit für seinen Lebensabend verbürgt, vermochte anfänglich nicht, ihn aufzurichten; er ließ das Dotationsrescript vierundzwanzig Stunden bei sich liegen, bevor er seinem Arzte und Pfleger oder sonst Jemandem davon Mittheilung machte.
[544] In den letzten Tagen erst, wo die Zunahme der physischen und geistigen Kräfte ihm den Glauben an die Unmöglichkeit benimmt, noch einige Weile sich einer ihm bis dahin unbekannten sorgenfreien Existenz freuen zu dürfen, hat er es vermocht, dem großen Staatsmann seinen Dank auszudrücken; er hat dies in einem mühsam zu Stande gebrachten Briefe gethan, dem ersten eigenhändigen, den er seit sechs Monaten schreiben konnte, und hin und wieder zeigt sich bei unserm Freunde, einem echt deutschen biedern Gefühlsmenschen, die Rückkehr seines natürlichen, stets bereiten treffenden Witzes und jenes Humors, der den Musikern so gern eigen zu sein pflegt. Wilhelm beabsichtigt, bevor er in seine stille Häuslichkeit zurückkehrt – er wohnt unverheirathet in seiner Vaterstadt Schmalkalden – die Elgersburger Cur bis in den Monat October fortzusetzen, also noch diejenige Zeit hindurch, in welcher nach kundigem Urtheile die berühmten Heilkräfte des wunderlieblichen, von einem kostbaren Rahmen duftender Tannenwälder und grüner Wiesen umgebenen Elgersburg vorzugsweise wirksam sind.
Unsere herzlichsten Segenswünsche lassen wir ihm zurück, der ungeahnt mit Kleinem so Großes für das verjüngte Vaterland gewirkt hat.Das Wunder in der Westentasche. Wohl selten hat der Besitzer einer Uhr den Leistungen der kleinen Maschine, die er in der Westentasche trägt, eingehend Beachtung geschenkt. Sowie der Pulsschlag beim Menschen ohne Pause vom ersten Lebensmoment bis zum Tode pocht, so soll die Uhr Tag und Nacht ohne Aufhören lebendig sein; sie soll bei jeder Bewegung, in jeder Lage, bei Hitze und Kälte gemessenen Schrittes äußerst kleine Zeittheilchen zählen und unserm Auge anzeigen, Monate und Jahre hindurch, ohne auch nur einmal den Dienst zu versagen.
Wenn man eine Cylinderuhr der am meisten üblichen Größe, deren Zifferblatt einen Durchmesser von achtzehn Linien hat, öffnet und einen Blick in das Werk thut, so sieht man ein sich flink hin und her drehendes Rad, die Unruhe. Läßt man durchweg mittlere Angaben gelten, so kann man bei guten Cylinderuhren jede einzelne Schwingung dieser Unruhe zu zweihundertsiebenzig Grad oder dreiviertel Umdrehung rechnen, ferner kann man annehmen, daß der Durchmesser der Unruhe sieben Linien, oder auch, daß der Umkreis einundzwanzig Linien beträgt. Der am äußern Umkreis befindliche kleine Stift, der Prellstift, legt also bei jeder Schwingung einen Weg von ¾ X 21 Linien zurück. Dies kann man abrunden auf sechszehn Linien, da man den stets waltenden kleinen Unregelmäßigkeiten Rechnung zu tragen hat. In einer Secunde thut nun die Uhr, wie jeder aufmerksame Beobachter nach einer Uebung am Secundenzeiger wahrnehmen kann, fünf Schritte oder Schwingungen. In einer Stunde also 18,000 und während eines Tages 432,000 Schwingungen. Der Prellstift legt also in vierundzwanzig Stunden einen Weg von 432,000 X 16 Linien zurück. Das sind zwei Meilen. Geht eine solche Uhr nun ununterbrochen zwei Jahre hindurch, was durchaus kein seltner Fall ist, so hat der Prellstift ohne Rast einen Weg von 1460 Meilen zurückgelegt.
Bei einer gleich großen Ankeruhr ist jede einzelne Schwingung doppelt so groß. Jeder angenommene Punkt am Umkreis ihrer Unruhe (denn einen Prellstift trägt sie nicht) legt also in vierundzwanzig Stunden einen Weg von vier Meilen und in zwei Jahren 2920 Meilen zurück. Sollte der ohne Pause zurückgelegte Weg 5400 Meilen, dem Umkreis der Erde gleichkommen, so müßte die Uhr ohne Reparatur ca. drei dreiviertel Jahre gehn, und auch dieser Fall kommt häufig vor.
Würde man es einem kleinen Wägelchen, dessen Räder einen Durchmesser von sieben Linien haben, wohl zutrauen, daß es auf ebener Bahn ohne Aufenthalt und Reparatur in drei dreiviertel Jahren die Erde umfahren könnte? – Die Uhr ist dieser Leistung nur fähig vermöge der Leichtigkeit, der Härte, und der nach Möglichkeit beseitigten Reibung der betreffenden Theile. Die Freiheit der Bewegung wird besonders durch das den Zapfen der Unruhe mitgetheilte Oel unterstützt. Die Feinheit der Zapfen bedingt ein so geringes Quantum Oel, daß von einem Tropfen desselben etwa zweihundertfünfzig Zapfen gespeist werden könnten, es muß aber von einer Güte sein, daß es auch in diesem geringen Maße jahrelang flüssig bleibt.
Eine andere Leistung der Taschenuhr, die kaum nach Würden beachtet wird, ist die Genauigkeit, mit der sie uns jederzeit dient.
Die Schwingungen der Unruhe werden durch die Spiralfeder isochronisch (von gleicher Dauer) gemacht. Der Gang der Uhr wird durch Verlängern und Verkürzen dieser Spiralfeder regulirt, und zwar geschieht dies vermittels des Rückers, denn dieser verleiht bei jedesmaliger Verschiebung nach retard oder avance der Spiralfeder eine andere Länge. Wir wirken also durch den Rücker auf die Dauer der einzelnen Schwingungen der Unruhe. – Wenn nun eine Uhr in vierundzwanzig Stunden zwei Minuten differirt, so heißt das, da in dieser Zeit vierhundertzweiunddreißigtausend Schwingungen stattfinden, ebensoviel als: jede einzelne Schwingung ist um den dreitausendsechshundertsten Theil einer Secunde zu lang oder zu kurz. Stellen wir nun etwa das Verlangen, daß die Uhr höchstens täglich eine halbe Minute differiren soll, so heißt das wünschen, daß jede einzelne Schwingung der Unruhe höchstens um den vierzehntausendsten Theil einer Secunde zu schnell oder zu langsam sein soll.
Wir unterstützen die Uhr nur durch die geringe Mühe des Aufziehens täglich einmal, und verlangen dann stillschweigend das, was wir hier einer Betrachtung unterzogen haben; aber es ist in der That staunenswerth, mit welcher Genauigkeit uns das an sich todte Metall dient, wenn es durch die Hand der Kunst, den Naturgesetzen gemäß, unsern Zwecken dienstbar gemacht wird.Wehrmanns-Denkmal. Den heimgekehrten Wehrmännern ist es eine Herzenssache, das Andenken ihrer gefallenen Cameraden durch öffentliche Denkmalsteine zu ehren und auf ihnen die Namen derselben auch auf die Nachwelt zu bringen. Für nicht wenige Bewohnerschaften ist freilich das Opfer für solch einen Denkstein zu groß; aber dennoch kann unmöglich für solche die Gartenlaube die nöthige Hülfe bringen; die Zahl derartiger Aufrufe würde bald die Möglichkeit ihrer einfachsten Mittheilung übersteigen und der Erfolg mit der Vervielfältigung der Ansprüche sinken. Hier muß jeder Ort in seinem nächsten oder weiteren Kreise selbst sorgen. So hat z. B. die Landwehrmannschaft von dem eben nicht wohlhabenden Ellrich am Harz den Beschluß gefaßt, ihren Antheil an der für die heimkehrenden Krieger gesammelten Unterstützungssumme als Zuschuß zu den Kosten eines solchen Denkmals zu verwenden. Auch sie sind der weitern Beihülfe benöthigt. Aber trotz alledem müssen wir uns darauf beschränken, den schönen Gedanken allen opferfähigen Vaterlandsfreunden recht warm an’s Herz zu legen. Vielleicht helfen auch in dieser Hinsicht unsere Deutschen jenseits des Oceans mit ihren reicheren Mitteln freudig nach.
Nach der Ansicht Eines unserer Mitarbeiter, H. J. in Eisenach, gehört das Denkmal der Gemeinde für ihre Todten des Krieges auf den Friedhof der Gemeinde. Die Gebliebenen sind dann gleichsam geistig unter den Ihren begraben, und die Angehörigen und Freunde, welche die Namen der geliebten Todten lesen, haben fast dasselbe Gefühl, als ruhten dieselben in heimathlicher Erde. Ein allgemeines Ruhmesdenkmal an einem öffentlichen Platze wird nie einen solchen Gefühlseindruck machen, nie das Herzensbedürfniß befriedigen.
Auf dem Dorfe genügt eine Steintafel mit den Namen der Gebliebenen an der Mauer der Kirche oder des Friedhofs befestigt; und sollte ein Dörfchen für den einzigen Gefallenen einen Stein nicht anwenden wollen oder können, so genügt es auch, wenn der Name an die Wand der Kirche geschrieben wird. In Preußen findet man von den Befreiungskriegen her in allen Kirchen eherne Tafeln, auf welchen die Namen der auf dem Bette der Ehre gefallenen Angehörigen der betreffenden Gemeinde eingegraben sind. Auch diese einfache Sitte verdient im übrigen Deutschland Nachahmung. Das Andenken an die Todten wird frischer erhalten, wenn nicht blos das Namensverzeichniß aufgefrischt, sondern wenn bei jedem Namen auch die Waffe genannt wird, in welcher der Mann diente, und Tag und Stätte des Kampfs, wo er fiel.
Sie jauchzten um ihr Meisterstück, um Deutschland, das getrennte,
Sie saßen lustig, Rock an Rock im deutschen Parlamente!
Sie sahen ihre alte Burg im Zeitensturm zerbrechen,
Doch ungetrübten Angesichts begannen sie zu sprechen:
„Ein schönes Reich, dies neue Reich! – Der Spott der Nationen,
Gewann es heute wunderbar die stolzeste der Kronen!
Sein junges Haupt verkündet Kraft, sein Lächeln eitel Wonne – :
Wie eine Sonne ging es auf – so sei es unsre Sonne!“
Ja wohl, Ihr seid die Alten noch, Ihr Söhne des Loyola,
Im schwarzen und im bunten Kleid, im Frack und in der Stola,
Und die im Vaticane sich zum Beutezuge rüstet,
Es ist die alte Schlange noch, die ’s wiederum gelüstet!
Es ist die alte Schlange noch – sie zischt die alte Weise.
Ihr Dürsten ist der Länder Raub, und Gold ist ihre Speise.
Sie hat Dämonen, schlau wie sie, zu Boten sich erlesen,
Und aller Boten trefflichste seid Ihr, wie Ihr’s gewesen!
In der Geschichte Blättern steht’s, ein traurig Blatt, geschrieben,
Wie gut Ihr Euer Amt gewußt, wie redlich Ihr’s betrieben,
Wie fleißig Ihr den Wind gesät und Euch des Sturmes freutet,
Und wie Ihr jeden frischen Trieb des Geistes ausgereutet!
Wie tückisch zum Despotenthum die Fürsten Ihr verführtet,
Und der Empörung Flammen dann im Völkerherzen schürtet,
Wie am Altar Ihr Mann und Weib um ihre Liebe brachtet,
Und Eures Herrn geweihten Leib zur Judasgabe machtet.
Ja wohl, Ihr seid dieselben noch, – Ihr züngelt und Ihr lauert,
Nur daß der Stachel Euch gebricht, wie sehr Ihr’s auch bedauert,
Nur daß hinfort kein Arbues aus flammendem Gebeine
Die junge Glorie sich webt zum künft’gen Heil’genscheine!
Nur daß kein Volk sich fürder krümmt, dem Ihr den Nacken streichelt,
Nur daß Ihr nicht der Herrscher Ohr wie weiland Euch erschmeichelt;
Das Salz der Erde nennt Ihr Euch – nur ist es dumm geworden,
Und jenem im Matthäus gleich – hinaus mit Eurem Orden!
Wenn Einer stirbt, die letzte Furcht im Angesicht, dem bleichen,
Dann mögt Ihr im Prophetenkleid zu seinem Lager schleichen,
Dann mögt Ihr an dem Schmerzenspfühl vom Anathema krächzen
Und zum Bekenntniß, das Ihr wollt, verdrehn ein fiebernd Aechzen.
Wenn Einer ungebeugten Geist’s von dieser Welt geschieden
Und lieber seinem Gotte sich befahl als Eurem Frieden,
Dann mag ihn Euer feiger Grimm noch bei den Schatten suchen,
Dann mögt Ihr seine Gruft bespein und – fluchen, fluchen, fluchen!
Die Todten und die Sterbenden, sie lassen mit sich handeln,
Doch nicht mit den Lebend’gen sollt Ihr eine Straße wandeln!
Im Frieden und im Kampfe nicht! – Kein Friede mit Euch Allen,
Und in der Tage letztem Kampf, da sollt und müßt Ihr fallen!
Wir sind das freie deutsche Volk, das Volk in Geisteswaffen,
Wir haben mit der Lüge nichts und mit dem Haß zu schaffen,
Wir werden Sanct Georgen gleich zertreten Euren Samen,
Den Samen, den die Hölle kennt! – Das helfe Gott uns, Amen!
- ↑ Vorlage: „Laudgraf“