Die Gartenlaube (1871)/Heft 31
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No. 31. | 1871. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Das Haideprinzeßchen.
Er ist ein einsamer Wanderbursch, der kleine Fluß, er läuft durch die stille Haide. Seine schwachklingenden Wellchen kennen nicht das tolle Jauchzen thaleinwärts stürzender Wasser; sie trollen sich gemächlich über widerstandslose, flachgewaschene Kiesel, zwischen seichten, mit Weiden und Erlen bestandenen Borden. Das Gebüsch aber verschränkt seine Zweige so undurchdringlich, als dürfe nicht einmal der Himmel droben wissen, daß die kleine Ader voll rieselnden Lebens in der verrufenen Haide klopfe. Und das ist so recht im Sinn vieler böser Zungen, die draußen in der Welt diese weiten Flächen germanischen Tieflandes verlästern.
Lieber, sieh dir einmal das vielgeschmähte Proletarierweib, die Haide, im Hochsommer an. Freilich, sie hebt die Stirn nicht bis über die Wolken, das Diadem des Alpenglühens oder einen Kranz von Rhododendron suchst du vergebens; – sie trägt nicht einmal die Steinkrone des Niedergebirges; auch schmiegt sich nicht der breite funkelnde Stahlgürtel eines gewaltigen Wasserstromes unter ihren Busen; aber die Erica blüht; ihre lila- und rothgemischten Glockenkelche werfen über die sanften Biegungen des Riesenleibes einen farbenprächtigen, mit Myriaden gelbbestäubter Bienen durchstickten Königsmantel – und der hat einen köstlichen Saum.
Weit drüben schwillt die humusarme, sandige Fläche, die allerdings nur für das genügsame Haidekraut einen Nahrungsquell hat, zur mäßigen Anhöhe empor; in dem Boden steckt Kraft und Mark; der lange dunkle Streifen, mit welchem er die rothflimmernde Ebene plötzlich abschneidet, ist Wald, tiefer, majestätischer Laubwald, wie er seines Gleichen sucht. Stundenlang schreitest du durch die dämmernden Säulenreihen, die der verachtete Haideboden gen Himmel treibt. In dem Geäst, hoch über deinem Haupte, nisten Finken und Drosseln, und aus dem Dickicht äugt das fliehende Wild scheu nach dir herüber. Und wenn endlich der Hochwald in niedriges Kiefergestrüpp ausläuft und dein Fuß zögert, auf die Waldbeeren zu treten, die hier, wie vom Himmel niedergeschüttet, in Scharlach und bläulicher Schwärze den Abhang färben, während von der Bodensenkung draußen liebliches Wiesengrün und das blasse Gold reifender Getreidefelder heraufschimmern – wenn aus dem mitten d’rin liegenden Dorf, das seine urgemüthlichen Wohnhäuser um den ziegelgedeckten Kirchthurm schaart, menschliches Leben und Treiben und das Gebrüll stattlichen Hornviehs herüberschallt, dann denkst du wohl lächelnd der trostlosen, gottverlassenen Sandwüste, wie sie „in den Büchern steht“.
Das Flüßchen freilich, mit welchem diese Niederschrift beginnt, durchmißt eine der dürftigsten, menschenleersten Strecken. Es läuft lange parallel mit der Waldlinie am Horizonte, und erst nach reiflichem Ueberlegen macht es eine selbstständige Schwenkung nach ihr hinüber. Bei aller Sanftmuth nagt und wühlt es doch am weichen Uferboden, und einmal sogar gelingt es ihm, ein Miniaturbecken zu bilden, in welchem die langsam rinnenden Wasser scheinbar rasten. Hier weiß man nicht, wo die Luft aufhört und das Wasser beginnt, so klar abgezeichnet liegen die weißen Kiesel drunten, und so wenig bewegt schwimmt das Nixenhaar darüber hin. Das kleine Rund treibt die Erlenbüsche auseinander; eine lichtbedürftige Birke hat sich um einen Schritt hinausgeflüchtet und steht da wie ein holdes Sagenkind, dem die Sommerlüfte unaufhörlich blinkende Silberstücke aus den Locken schütteln.
Es war in den letzten Tagen des Juni.
In dem kühlen Wasser des kleinen Beckens standen ein Paar brauner Mädchenfüße. Zwei ebenso sonnverbrannte Hände zogen das schwarze, grobwollene Röckchen fest und vorsichtig um die Kniee, während sich der Oberkörper neugierig vornüber bog. Schmale, mit weißen Linnen bedeckte Schultern und ein junges, braun angehauchtes Gesicht – in der That, es war wenig und winzig genug, was der Fluß zurückwarf; immerhin – den zwei Augen im Wasser war sehr gleichgültig, ob das Gesicht, in welchem sie saßen, griechische Regelmäßigkeit oder den Hunnentypus zeigte. Hier auf dem einsamsten Fleck der Haide gab es keinen Maßstab für weibliche Schönheit, keine Anregung zum Vergleich; nur, daß Alles, was im unverfälschten Tageslicht „natürlich“ und altgewohnt erschien, aus dem Wasserspiegel so fremd heraufsah, das machte ihn verlockend.
Draußen im Sonnenschein, im sausenden Haidewind flatterte das ziemlich kurz verschnittene Lockenhaar lustig um Stirn und Nacken – hier unten wurde es zu schwer niederhängenden Rabenflügeln, unter denen hervor die kleinen rothen Glasperlen der Halskette wie dunkelglühendes Blut tropften, und das grobe derbe Leinenhemd gar leuchtete geschmeidig und seidenweich, als schwimme eine einzige große, schneeweiße Glockenblume drunten im Wasser – es verwandelte sich eben Alles wie in der allerschönsten, alten Zaubergeschichte.
Meist füllte ein Stück dunkler Himmelsbläue die Bresche der Büsche; das gab der Wasserfläche eine harte Stahlfarbe und dem Mädchenbild einen eintönigen Hintergrund. In diesem Augenblick [514] jedoch liefen plötzlich glühende Dunstgebilde über den Spiegel – es war unglaublich, aber trotz alledem quollen sie unmittelbar aus den Haarspitzen des Lockenkopfes. Das kämpfte durcheinander und glühte immer höher auf, als solle allmählich die ganze Welt von Purpur triefen. Nur das heimliche Düster um die Wurzeln des Buschwerks vertiefte sich zur finsteren Höhle, aus der einzelne Zwerge wie schwarze Stalaktitenzacken in das schwimmende Feuer hereinragten – eine neue, blitzschnelle Wendung der alten Zaubergeschichte. Aber sie erzeugte einen heillosen Schrecken. Nahm doch selbst der Schatten, den das vorgeneigte Mädchen warf, Brunnentiefe an, aus der herauf zwei übergroße, entsetzte Augen glitzerten.
Die braunen Füße gehörten zu keiner Heldenseele: mit einem wilden Satze sprangen sie an das Ufer – welch eine lächerliche Flucht! Draußen über der Haide entzündete sich der Abendhimmel in rothen Flammen; eine feurige, sanft zerfließende Wolke zog über die Bresche hin, das war der gespenstige Nimbus – und die Augen? Hatte wohl je die Welt solch einen Hasenfuß wie mich gesehen? Solch ein kindisches Ding, das vor seinen eigenen Augen davonlief?
Zunächst schämte ich mich vor mir selber und dann vor meinen zwei besten Freunden, die Zeugen gewesen waren.
Meine gute Mieke zwar hatte sich weiter nicht stören lassen – sie war der weniger intelligente Theil. Die schönste schwarzbunte Kuh, die je über die Haideflächen gelaufen, stand sie breitspurig unter der Birke und riß und zupfte schwelgend an dem Grase, das der feuchte Uferboden in einem dünnen Streifen emportrieb. Sie hob den langen, schmalen Kopf, kaute mit unverkennbarem Appetit weiter an den fetten Halmen, die ihr zu beiden Seiten des Maules niederhingen, und sah nur einen Moment dummverwundert nach mir hin.
Spitz dagegen, der sich faul und schläfrig unter das kühle Gebüsch geduckt hatte, nahm die Sache tragischer. Er fuhr wie besessen in die Höhe und bellte in das zurückklatschende Wasser hinein, als sei mir der böse Feind auf den Fersen.
Er war nicht zu beschwichtigen; die Stimme sprang ihm über vor Alteration und Kampfeswuth – und das war urkomisch. Lachend sprang ich in das Wasser zurück und secundirte ihm, indem ich mit beiden Füßen den lügnerischen Spiegel in hochaufspritzende Atome zerstampfte.
Es war aber auch noch ein dritter Zeuge hinzugetreten, den weder ich, noch Spitz bemerkt hatten.
„Nu, was macht denn mein Prinzeßchen da?“ fragte er in jenen knurrenden, halbzerrissenen Tönen, wie sie aus einem Munde kommen, dem die unzertrennliche Tabakspfeife wie festgemauert zwischen den Zähnen sitzt.
„Ach, Du bist’s, Heinz?“ – Vor dem schämte ich mich nicht; er lief selber wie ein Hase vor Allem, was nicht ganz geheuer. Freilich, das glaubte Keiner, der dies alte, gewaltige Menschenkind sah.
Da stand er, Heinz, der Imker[1] auf Sohlen, so massiv und wuchtig, daß sie den Erdboden schüttern machten. Sein Scheitel rührte an Aeste, die für mich himmelhoch hingen, und der breite Rücken verschloß den Ausblick nach der Haide so vollkommen, als habe sich plötzlich eine Granitwand zwischen die Außenwelt und meine kleine Person geschoben.
Dieser Riese gab Fersengeld vor dem ersten besten weißen Laken im dämmernden Zwielicht – und das machte mir Vergnügen. Ich erzählte ihm so lange haarsträubende Sagen und Spukgeschichten, bis mich selber eine Gänsehaut überlief, und ich allen Muth verlor, auch nur in den nächsten dunklen Winkel zu sehen – – wir fürchteten uns prächtig um die Wette.
„Ich zertrete ein Paar Augen, Heinz,“ sagte ich und stampfte noch einmal fest auf, so daß die sprühenden Wassertropfen an seinem mißfarbenen Drellrock hängen blieben. „Du, da d’rin ist’s nicht richtig –“
„Ei beileibe – am hellen Tage?“
„Ach, was fragt denn die Wasserfrau nach dem hellen Tage, wenn sie böse ist!“ – Mit einer wahren Wonne sah ich, wie er halb ungläubig, halb mißtrauisch nach dem rothgefärbten Wasser schielte – „Wie, Du glaubst es nicht, Heinz? … Ei, da wollt’ ich doch, sie hätte Dich so angesehen, so schlimm –“
Jetzt war er überwunden. Er zog die Tabakspfeife aus dem Munde, spuckte heftig aus und richtete in einem lächerlichen Gemisch von Triumph und Besorgniß die zerkaute Pfeifenspitze gegen mich.
„Was hab’ ich immer gesagt, he?“ rief er. „Ich thu’s aber auch nicht wieder – nein, ich thu’ es ganz gewiß nicht wieder! … Meinetwegen können die Dinger haufenweise da d’rin liegen, ich rühre sie nicht wieder an – beileibe nicht!“ –
Da hatte ich ja etwas Schönes angerichtet mit meiner Neckerei.
Der kleine Fluß, der Wanderbursch, der so einsam durch die Haide lief, war reicher, als so mancher stolze Strom, der an Palästen und Menschengewühl vorüberrauschte – er hatte Perlen in der Tasche, allerdings in nur geringer Anzahl und bei weitem nicht brillant genug, um ein Königsdiadem, oder auch nur einen eleganten Ring zu schmücken. Aber was verstand ich davon! Ich liebte die kleinen mattglänzenden Dinger, die so rund und beweglich über meine Handfläche liefen. Stundenlang watete ich durch das Wasser und suchte nach Muscheln; ich brachte sie Heinz, der sich auf das Oeffnen der Schalen verstand – wie er das machte, war sein Geheimniß. Nun aber kündigte er mir kurz und bündig den Dienst, weil er sich steif und fest einbildete, die Wasserfrau werde uns als Spitzbuben den Proceß machen.
„Geh’, Heinz, es war ja nur ein dummer Spaß!“ sagte ich kleinlaut. „Lasse Dir doch nichts weis machen!“ – Ich bog mich über das Wasser, das bereits anfing, sich wieder zu glätten. „Da sieh selber – was guckt da herauf? … Nichts, weiter gar nichts, als meine zwei eigenen schauderhaften Augen. … Warum sie nur so unmenschlich weit offen sind, Heinz! Bei Fräulein Streit war es nicht so schlimm und bei Ilse auch nicht.“
„Nein, bei Ilse auch nicht,“ gab Heinz zu. „Aber Ilse hat scharfe Augen, Prinzeßchen, scharfe.“
Er hatte mir anfänglich mit seiner furchtbaren Faust gedroht, allerdings unter einem gutmüthigen Schmunzeln – Heinz konnte nicht böse werden – bei seiner letzten unleugbar weisen und schlagenden Bemerkung aber kniff er wichtig die Lippen zusammen, zog die borstigen Augenbrauen bis unter den Hut und fuhr sich in die Haarbüschel, die strohgelb und dürr von den Schläfen starrten – sie knisterten förmlich in der heißen Abendsonne.
Darauf blies er eine mächtige Rauchwolke vor sich hin, zum Entsetzen der spielenden Mückenschwärme, die sich eiligst aus dem Staube machten; auch daheim die Ilse „mit den scharfen Augen“ behauptete stets empört, das sei ein Kraut zum Umbringen – nur ich hielt Stand, und wenn ich hundert Jahre erreichen sollte, der übelberufene Duft wird mich zu allen Zeiten sofort in die warme dunkle Ofenecke versetzen, mit dem ganzen Wonnegefühl des heimischen Geborgenseins neben Heinz auf der Holzbank kauernd, während draußen der heulende Schneesturm über die weite Haidefläche braust, und ganze Batterien Eissplitter gegen die Fensterscheiben tosen.
Ich sprang zu ihm an das Ufer, und da kam auch gerade Mieke heran und rupfte zutraulich an einigen Quecken, die halbzertreten unter Heinzens Schuhen hervorguckten.
„Je – wie sieht denn die aus?“ lachte er auf.
„O, ich bitte mir’s aus, da wird nicht gelacht!“ schalt ich.
Mieke hatte sich prächtig herausstaffirt. Zwischen den weitabstehenden Hörnern hing ihr eine Guirlande von strahlendgelben Ringelrosen und Birkenlaub – ich fand, sie trüge diesen Schmuck so majestätisch und ungezwungen, als sei er mit ihr auf die Welt gekommen – eine Kette aus den dicken Stengelröhren der Hundeblume umschloß ihren Hals, und selbst an der Schwanzspitze baumelte ein Haidesträußchen; es kollerte lustig über den tonnenförmigen Leib herab, sobald Mieke den Wedel hob und nach den Stechmücken auf ihrem Rücken schlug.
„Sie sieht sehr feierlich aus – aber das verstehst Du nicht,“ sagte ich. „Nun paß auf und rathe, Heinz: Mieke hat sich geputzt, und auf dem Dierkhofe ist heute Kuchen gebacken worden – also, was ist los?“
Aber da hatte ich an seine allerschwächste Seite appellirt; rathen war nicht Freund Heinzens Sache. In solchen Momenten stand er stets hülfsbedürftig und bänglich vor mir, wie ein zweijähriges Kind – auch in diese Situation brachte ich ihn um Alles gern.
„Schlaukopf, Du willst mir nur nicht gratuliren!“ lachte ich. „Aber das wird Dir nicht geschenkt! … Lieber, allerbester Heinz, heute ist mein Geburtstag!“
[515] Da flog es wie Freude und Rührung über das gute, dicke Gesicht; er hielt mir die ungeschlachte Hand hin, in die ich herzlich einschlug.
„Und wie alt ist denn meine Prinzessin geworden?“ fragte er mit consequenter Umgehung jedweder Glückwunschrede.
Ich lachte ihn aus. „Weißt Du das wieder nicht? … Merk’ auf: Was folgt, auf sechszehn?“
„Siebzehn – was? Siebzehn Jahre? … Ist nicht wahr – solch ein kleines Kind! – Ist ja nicht wahr!“ – Er hob protestirend beide Hände.
Dieser tiefe Unglaube empörte mich. Allein mein alter Freund, der es sich bis zu seinem zwanzigsten Jahre hatte angelegen sein lassen, mit der himmelstürmenden Tanne um die Wette zu wachsen, er war nicht so ganz im Unrecht. … Seit bereits drei Jahren reichte mein Ohr genau so hoch, daß es Heinzens starkes Herz pulsiren hören konnte – nicht um eine Linie höher war es in dieser langen Zeit gerückt. Ich war und blieb ein kleines Wesen, das sich gezwungen sah, auf Kinderfüßen durch das Leben zu huschen; und das nahm mir, nach Heinzens Begriffen von einem normalen Menschenkind, offenbar auch die Berechtigung, mit jedem Jahre älter zu werden.
Trotz alledem zankte ich ihn tüchtig aus; aber diesmal half er sich als Politikus – er wechselte das Thema. Statt aller Antwort zeigte er mit dem Daumen über die Schulter zurück und sagte schmunzelnd: „Da drüben giebt’s einen extra Geburtstagsspaß, Prinzeßchen – sie graben den alten König aus!“
Mit einem Sprunge stand ich außerhalb des Gebüsches.
Ich mußte beide Hände schützend über die Augen halten, so überwältigend flimmerten und brannten die rothen Abendgluthen. Drüben hinter der fernen Waldlinie schossen sie spießartig durch dünne Dunst- und Wolkenschichten – dort umritten die alten Recken der Vorzeit die weite Haide und rührten mit den funkelnden Speeren an den Himmel.
Noch blühte die Erica nicht – glatt, wie über einen Tisch, breitete sich die grünlichbraune Pflanzendecke hin; nur fünfmal hob und wölbte sie sich in jäher Anschwellung über fünf Hünenbetten, über ein großes und vier kleinere. Sie deckten Riesenleiber, wie der Volksmund sagte, ein verschollenes Geschlecht, unter dessen Schritt einst die Erde seufzte, und das mit mächtiger Faust Felsblöcke wie Kiesel umherwarf. Auf dem Rücken des großen Hügels hatte sich Wachholdergebüsch eingenistet, und an den Flanken herab stand gelbblühender Ginster. Ob ein Vogel das Samenkorn hierhergetragen, oder ob Menschenhand die einsame alte Föhre gepflanzt hatte, genug, sie stand da, seitwärts auf dem Grat des Hügels, dünn benadelt und windzerzaust, und im Wachsthum unterdrückt durch die Schneelasten des Winters; aber doch stolz als einziger, unbeschützter Baum inmitten der weiten Ebene, der mit jedem Sturm um sein Leben ringen mußte.
„Da liegt der alte König begraben; denn der Baum steht da, und es blühen gelbe Blumen – das haben die anderen nicht,“ sagte ich als Kind zu Heinz, wenn wir auf dem Hügel saßen. Und ich wußte, da, wo der Baum stand, lag das gewaltige Königshaupt mit dem Goldreifen über der Stirn, und der lange, lange Weißbart fiel auf die Purpurdecke, die sie über seine Glieder gebreitet hatten. Die tiefste Einsamkeit webte um das schlafende Geheimniß; aber die Vögel, die vom Walde herüberkamen und auf dem Wipfel der Föhre rasteten, die um Ginster und Haide taumelnden, blauglänzenden Schmetterlinge und die summenden Bienen, sie alle waren meine Mitwisser. Und still athmend, die Hände unter dem Kopf verschränkt, lag ich im Gebüsch und sah die Ameisen in die Erdlöcher schlüpfen und wieder hervorkommen – sie wußten noch mehr als wir Anderen, sie hatten Alles drin gesehen und waren wohl gar über die Purpurdecke gelaufen. Ich beneidete sie und fühlte heftige Sehnsucht nach den verborgenen Wundern.
Bis zu dieser Stunde war der große Hügel mein Garten, mein Wald, mein unbestrittenes Eigenthum gewesen. Der Dierkhof, meine Heimath, lag mutterseelenallein in der Haide; ein selten betretener Weg, der sie mit der Außenwelt verband, lief vom Walde her und ließ die Hünengräber weit abseits liegen – nie, so lange ich denken konnte, war ein fremder Menschenfuß in ihr Bereich getreten. … Nun stand auf einmal dort ein Trupp unbekannter Leute; sie rissen große Erdbrocken aus dem Leib des Hügels. Ich sah die hochgeschwungene Hacke – wie ein feiner, schwarzer Strich hob sie sich vom flammenden Himmel ab, und so oft sie niedersank, war es mir, als schneide sie in das lebendige Fleisch eines geliebten Körpers.
Ohne Besinnen lief ich querfeldein, erfüllt von unsäglichem Mitleiden, aber auch getrieben von dem brennenden Verlangen, zu sehen, was dort an das Tageslicht treten würde. Spitz lief kläffend neben mir her, und als ich athemlos an Ort und Stelle Halt machte, da trabte auch Heinz in seinem Siebenmeilenschritt heran.
Jetzt erst überkam mich das Gefühl der Scheu, jener kindische Schrecken, den mir ein fremdes Gesicht stets einflößte. Ich wich zurück und griff beklommen nach Heinzens Rockzipfel – das gab mir wenigstens einigermaßen das Bewußtsein von Halt und Schutz.
Am Hügel standen drei Herren in schweigender Erwartung, während mehrere Arbeiter gruben und schaufelten. Auf den gräulichen Lärm hin, den Spitz machte, wandten sich die Fremden einen Augenblick nach uns um, und Einer, anscheinend der Jüngste, unter ihnen, hob den Stock gegen das Thier, als es Miene machte, ihm näher zu kommen. Dann ließ er seine Augen kalt musternd über Heinz und mich hingleiten und kehrte uns wieder den Rücken.
Es war unter der Föhre eingeschlagen worden. Das herausgerissene Ginstergebüsch lag weithin zerstreut; da, wo es gestanden, klaffte eine weite Oeffnung, und oben aus dem Bruch, aus dem elenden Gemisch von Lehm und gelblichem Sande, hingen dicke Wurzeln, Ausläufer der Föhre, herab – sie zeigten das weiße Fleisch, die Hacke hatte sie unbarmherzig zerschnitten.
„Da wären wir auf dem Stein,“ sagte einer der Herren, als die Werkzeuge klirrend aufschlugen.
Man räumte die letzten Erdschollen hinweg, und es wurde ein mächtiger, roher Felsblock sichtbar.
Die Herren traten seitwärts, indeß die Arbeiter sich anschickten, den Stein wegzuwälzen. Heinz aber rückte gespannt näher; die Männer machten ihm die Sache offenbar nicht praktisch und handlich genug. Das rechte Bein weit vorgestreckt, hob und senkte er in stillschweigender Mitwirkung die geballten Fäuste; und die Tabakspfeife feierte mittlerweile auch nicht – ich sah plötzlich die Köpfe der Fremden nur noch durch einen bläulichen Nebel. Das aber machte einen Effect, einen Effect, den Ilse hätte sehen müssen.
Der junge Herr, hinter welchem mein guter Freund stand, fuhr herum, als habe er unversehens einen Schlag erhalten. Er maß den unglücklichen Raucher mit einem langen, vernichtenden Blicke und fuhr voll Abscheu mit seinem seidenen Taschentuch durch die Luft, um die Rauchwolken zu zerstreuen.
Heinz nahm wortlos das Corpus delicti aus dem Munde und ließ es schlaff an der Seite niedersinken – er war über die Maßen verblüfft. Einen solchen Eindruck hatte sein Tabak doch noch nicht gemacht. Mich aber hatte das Benehmen des Fremden tief erschreckt und eingeschüchtert; ich schämte mich und hob eben den Fuß, um das Weite zu suchen, als der Stein aus dem Gefüge wich und unter dumpfem Gepolter einige Schritte vorwärts gerollt wurde.
Das fesselte mich sofort wieder an den Boden.
Im ersten Augenblick konnte ich nichts sehen; denn die Herren umdrängten die Oeffnung; aber ich wollte auch plötzlich gar nicht mehr. Das Blut stieg mir beängstigend nach den Schläfen, und unwillkürlich wandte ich die Augen weg, denn ich meinte, jetzt müsse etwas Ueberwältigendes kommen.
„Potztausend – das wär’s?“ rief Heinz mit dem Ausdruck überwältigender Ueberraschung.
Ich sah hinüber – und da war es mir für einen Moment, als seien alle Farben und Lichter der Haide erloschen, als falteten alle die blauglänzenden Schmetterlinge die Flügel und sänken zusammen und die funkelnden Speere am Horizont, wo waren sie hin? Dort ging nur noch die Sonne unter. … Im Hügel lag nicht der greise König mit dem lang herabfließenden Silberbart, die Riesenglieder unter die Purpurdecke gebettet – eine dunkle, leere Höhle gähnte mich an.
Die Fremden schienen dies Ergebniß ganz in der Ordnung zu finden. Einer, der eine Brille trug und auf dem Rücken eine lange Blechbüchse hängen hatte, kroch in die Oeffnung, und der [516] junge Herr folgte ihm, während der Dritte, ein großer, schlanker Mann, die innere Fläche des fortgewälzten Granitblockes untersuchte. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, er wandte mir den Rücken; aber ich hielt ihn für alt; denn er hatte langsame Bewegungen, und der schmale Streifen kurz verschnittenen Haares, der unter dem braunen Hut hervorsah, war entschieden grau.
„Der Stein ist bearbeitet,“ sagte er, indem seine Hand leicht über die Fläche glitt.
„Die anderen Träger auch!“ rief eine Stimme aus dem Hügel. „Und welch einen riesigen Deckstein haben wir über uns! Ein wahres Prachtstück von einem erratischen Block!“
Der junge Herr erschien wieder in der Oeffnung. Er mußte sich tief bücken, und dabei entfiel ihm der Hut. Bis dahin hatte ich wenige Männer gesehen – außer Heinz, dem alten Pfarrer des nächsten, ziemlich zwei Stunden entfernten Dorfes und einigen dort ansässigen grobknochigen und wortkargen Hofbesitzern war mir nur hier und da ein schmutziger Besenbinderjunge über den Weg gelaufen. Ich hatte mithin keine Gelegenheit gehabt, mich mit dem Begriff von Männerschönheit zu beschäftigen. Aber auf dem Dierkhofe hing ein Bild Karl’s des Großen; an das mußte ich denken, als die unbedeckte Stirn dort aus der schwarzen Höhle auftauchte; wie ein breiter, weißer, fleckenloser Schild glänzte sie unter den aufbäumenden kastanienfarbenen Haarmassen, die mit einem energischen Zurückwerfen des Kopfes zurückgeschüttelt wurden.
Der junge Mann hielt ein großes Thongefäß von gelblich-grauer Farbe in den Händen.
„Vorsicht, Herr Claudius!“ mahnte der Herr mit der Brille, der ihm folgte und selbst verschiedene fremdartige Geräthschaften in der Linken trug. „Im ersten Augenblick sind diese Urnen sehr zerbrechlich; sie erhärten aber schnell an der Luft –“
Dazu kam es nicht. In demselben Moment, wo die Urne auf den Granitblock gestellt wurde, zerbarst sie; eine Wolke von Asche stiebte auf, und halb verkohlte menschliche Gebeine flogen und rollten nach allen Seiten hin.
Der Brillenträger stieß einen Laut des Bedauerns aus. Er ergriff mit der zart zugespitzten Rechten behutsam eine der Scherben, schob die Brille auf die Stirn und besah die Thonmasse an dem frischen Bruch.
„Ah bah, der Schaden ist nicht groß, Herr Professor!“ sagte der junge Mann. „Da drin stehen noch mindestens sechs Stück, und die Dinger gleichen sich wie ein Ei dem andern.“
Der Herr Professor verzog das Gesicht, als habe er Essig geschluckt.
„Ei, ei, das klingt ja recht – laienhaft!“ meinte er scharf.
Der Andere lachte auf, und das war ein wunderschönes Lachen. Es klang hell und übermüthig, und doch so wohlthuend beherrscht. Er schien es übrigens sofort zu bereuen, sein Gesicht wurde sehr ernst.
„Ich bin ja auch nur ein Laie, wenn auch ein passionirter,“ entschuldigte er sich. „Deshalb müssen Sie schon Gnade für Recht ergehen lassen, wenn der Neuling hier und da die strengen Zügel der Wissenschaft verliert und ein wenig querfeldein galoppirt. … Mir lag hauptsächlich daran, mich über den innern Bau dieser Grabdenkmäler zu informiren, und – ah, wie prächtig!“ unterbrach er sich und nahm eines der seltsamen Geräthe, die der Professor mittlerweile auf dem Steine ausgebreitet hatte.
Der gelehrte Herr hörte augenscheinlich die Entschuldigung des jungen Mannes gar nicht. In tiefes, man hätte sagen können peinliches Nachdenken versunken, hielt er einen kleinen Gegenstand prüfend bald gegen das Licht, bald dicht unter die Augen.
„Hm, hm, eine Art Filigranarbeit von Silber! Hm, hm!“ murmelte er vor sich hin.
„Silber in einem vorgeschichtlich germanischen Grabhügel, Herr Professor?“ fragte der junge Mann nicht ohne spöttische Betonung. „Sehen Sie hier dies köstliche Bronzestück!“ Es war ein Dolch oder Messer, was er ergriffen hatte. Er hob und senkte wie zum raschen Stoß die Waffe, dann wog er sie lächelnd auf den Fingerspitzen. „Einer Germanenfaust hätte dies zierliche Ding da sicher nicht genügt – sie hätte es im ersten Augenblick zerdrückt,“ sagte er. „Und ebensowenig hat sie den zarten Silberschmuck geschaffen, den Sie da in der Hand halten, Herr Professor. … Schließlich behält Doctor von Sassen doch Recht, wenn er diese sogenannten Hünengräber als Begräbnißstätten phönicischer Anführer bezeichnet.“
Doctor von Sassen! Wie mich’s durchfuhr bei diesem Namen! Hatte der Sprecher dort nicht mit dem Finger auf mich gezeigt? Und richteten sich nicht sofort Aller Augen auf meine arme, kleine erschrockene Person? … Alle diese Augen! Ich hätte mich in die Erde verkriechen mögen! … Ach, welcher Kindskopf war und blieb ich doch! Man kümmerte sich so wenig um mich, wie vorher auch – ich wollte aufathmen; aber o weh, an ihn hatte ich nicht gedacht! Dort stand er, Monsieur Heinz, der Pfifficus, nickte mir mit überaus schlauer Miene zu und schrie hinter der hohlen Hand: „He, Prinzeßchen, die Leute sprechen von –“
„Still, Heinz!“ fuhr ich ihn an – zum ersten Mal in meinem Leben, und zum ersten Mal auch trat ich heftig mit dem Fuße auf.
Er sah mich einen Moment wie versteinert an, dann wandte er scheu die Augen nach der andern Seite. Die Arbeiter aber waren aufmerksam geworden; sie schienen jetzt erst zu finden, daß der Gegenstand da hinter ihnen nicht ein Dornbusch oder dergleichen, sondern ein kleines furchtsames Mädchen war. Sie starrten mich mit einer Art von lächelnder Neugier unverwandt an; ich wäre am liebsten auf und davon gelaufen; allein es hielt mich Etwas unwiderstehlich fest, und ich war damals der unumstößlichen Ueberzeugung, es sei einzig und allein der Wunsch, noch Etwas über den Träger jenes Namens zu hören.
Zudem beruhigte es mich, daß die fremden Herren Heinzens Bemerkung nicht gehört hatten. Mit den „phönicischen Anführern“ waren zwei zündende Funken in die Seele des Professors gefallen. Offenbar ein Gegner dieser Hypothese, verfocht er seinen Standpunkt in leidenschaftlich heftiger Rede, welcher der junge Mann mit pflichtschuldiger Aufmerksamkeit folgte.
Der Herr im braunen Hut dagegen betheiligte sich weniger an den gelehrten Auseinandersetzungen. Ruhigen Schrittes wandelte er auf und ab. Er sah lange in das aufgebrochene Hünengrab; später bestieg er den Hügel und übersah die weite Ebene.
Inzwischen war die lodernde Abendröthe erblaßt und sank am Horizont in tiefvioletten Tinten zusammen; nur an dem langen dünnen Wolkenstreifen, der sich wie ein dräuender Arm über die entweihte Todtenstätte reckte, lief noch ein röthlicher Hauch hin. Der falsche Flitter eines vergänglichen Schauspiels verflog, und droben breitete sich wieder der ernste Himmel in verdunkeltem Blau. Nun trat auch die bleiche Mondsichel, dieser scheinbare Nebelfleck, den das allgemeine Gluthmeer völlig verschlungen hatte, wieder hervor und fing an, sich schwach golden zu färben.
Der Herr auf dem Hügel zog seine Uhr hervor.
„Es ist Zeit zum Aufbruch!“ rief er hinab, „Wir brauchen eine volle Stunde, ehe wir den Wagen erreichen!“
„Ja, Onkel, leider Gottes eine starkgemessene Stunde!“ antwortete der junge Mann. „Ich wollte, wir hätten dies verwünschte Haidegestrüpp bereits hinter uns,“ sagte er mit einem Blick auf seine feinbekleideten Füße mißmuthig zu dem Professor, der seine Rede unter einem nachdrücklichen „Eh, wir werden ja sehen!“ eiligst geschlossen hatte. „Müssen wir wirklich auf dem heillos schlechten Wege wieder zurück?“
„Ich weiß keinen besseren!“ versetzte achselzuckend der Gelehrte.
Der Andere ließ seine Augen finster über die weite Fläche hingleiten.
„Es ist so still, die Haide liegt
Im warmen Mittagssonnenstrahle“ –
recitirte er mit spöttischem Pathos. „Ich begreife nicht, wie man die Haide besingen kann. Mir würde der poetische Gedanke im Gehirn, das schildernde Wort im Munde erstarren. … Ist es Ihnen wirklich Ernst mit Ihrer Vorliebe für diese furchtbare Einöde, Herr Professor? Ich bitte Sie, dann zeigen Sie mir etwas Anderes, als Haide und abermals Haide, dieses entsetzliche braune Gespenst! Hören Sie auch nur einen Ton aus einer Vogelkehle? Und wohin verkriecht sich das menschliche Leben und Treiben, das doch durchaus existiren soll? Steckt es unter der Erde? … Ich kann mir nicht helfen, Ihre Haide ist das ausgestoßene Kind Gottes in brauner Kutte!“
Der Professor sagte kein Wort. Er schob nur den jungen Mann um einige Schritte seitwärts, dahin, wo die Lehne des Hügels rasch abfiel, faßte ihn an den Schultern und ließ ihn über den Hügel hinweg nach Süden sehen.
Dort lag der Dierkhof. Sein festes schweres Dach, mit der [517] Haidegarnitur unter jeder Ziegelreihe, hob sich stattlich inmitten vier mächtiger Eichen. Kräftige Rauchwolken, an brodelnde Töpfe auf dem wohlbesetzten Herd erinnernd, wirbelten durch die Aeste und zerflossen in der weichen Sommerluft, hoch über der schwarzweißen Frau Störchin, die, die nackten Beine im Reisernest, nachdenklich den rothen Schnabel über die helle Brust hängen ließ. Es war noch hell genug, daß man das tiefe Grün der sorgfältig gepflegten Rieselwiesen und ein schwaches Glimmen hinter der Garteneinhegung erkennen konnte – es sah aus, als sei dort ein Widerschein des farbensprühenden Abendhimmels liegen geblieben – das waren Ilse’s Lieblinge, die dickköpfigen orangegelben Ringelblumen. … Und da trabte eben auch Mieke, jedenfalls sehr satt und sehr gelangweilt, auf eigene Faust heimwärts. Sie blieb einen Augenblick dumm und faul vor dem gastlich offenen hochgewölbten Hausthor stehen und besann sich, ob sie hineingehen solle, – dies prächtige Thier vervollständigte das Bild ländlicher Wohlhabenheit.
Ein Jubelfest im Norden.
Mit gehobenem Muthe und frischer Kraft haben wir Deutschen die von dem aufgezwungenen Waffentanze unterbrochene Culturarbeit wieder aufgenommen, und darum wird der Jubeltag eines Geistesheroen, welcher der Welt in wenigen Wochen, am 15. August, bevorsteht, nicht gleich dem vorjährigen Beethoven’s unbeachtet verloren sein inmitten der Sorgen und Nöthe einer schweren Zeit, sondern lauten und freudigen Widerhall wecken überall, wo gebildete Menschen leben. Zwar mögen wir den zu feiernden Genius nicht auf eine Linie stellen mit unserm unvergleichlichen Meister Ludwig, auch ein Deutscher ist er nicht, ein Sohn vielmehr des uns weitabgelegenen Schottland, aber er ist ein Dichter recht von Gottes Gnaden, welchen als solchen nicht blos sein kleines nordisches Heimathsland, auch nicht Großbritannien allein, nein, den die gesammte Menschheit den Ihren nennen darf, wie sie ein Anrecht hat auf Homer und Sophokles, auf Dante und Ariost, auf Shakespeare und Cervantes, auf Goethe und Schiler. Der Poet, welchen wir meinen, trägt einen Namen unverbleichenden Glanzes – es ist Walter Scott, der noch heute unübertroffene Novellist, der eigentliche Vater des lange Zeit die Lesewelt beherrschenden historischen Romans, das Vorbild unsers Hauff, Spindler, Alexis, Storch und Anderer und der König aller Erzähler. Noch ehe sie niedergeschrieben, ja, ehe sie nur erdacht waren, legten schottische und englische Buchhändler zu Preisen, die dem deutschen Federhelden auch heute noch wie golkondische Märchen erscheinen, Beschlag auf seine Werke, und kaum hatten die Originale in Edinburgh oder London ihre Pressen verlassen, so stürzte sich das
Corps der Uebersetzer in Deutschland, Frankreich, Italien, Holland um die Wette über sie her, sie ihren Völkern zu dolmetschen. Kein Autor, weder vor- noch nachher, ist so heißhungrig verschlungen worden, wie unser schottischer Dichter vor fünfzig Jahren, welcher lange blos „der große Unbekannte“ hieß, weil er bis über den Höhepunkt seines Ruhmes hinaus die Urheberschaft seiner Romane in geheimnißvolles Dunkel zu hüllen beflissen war. – Wie sich die Gunst der Lesewelt im Allgemeinen vom geschichtlichen Romane abgewandt hat, so sehen wir heute freilich auch die Scott’schen Dichtungen von unseren Tischen verdrängt; unsere vielbeschäftigte, hetzende und abgehetzte Zeit findet keine Ruhe und Sammlung mehr, sich der epischen Breite und Behaglichkeit hinzugeben, welche Walter Scott kennzeichnen. Unser blasirter Geschmack begehrt die pikanteren Reizmittel, mit denen uns bisher überrheinische Hypercultur und Londoner Sensations-Novellistik in unerschöpflicher Fülle versorgt haben. Andererseits sucht man im Romane mehr und mehr das psychologische Interesse, den Spiegel der eigenen Gegenwart und ihres inhaltschweren Lebens. Die Geistes- und Herzensconflicte, die Fragen und Tendenzen, die Menschen und Erscheinungen unserer Tage will man dargelegt, verkörpert, geschildert sehen, nicht Begebnisse und Persönlichkeiten, Denken und Empfinden längst verrauschter Jahrhunderte. Die Romantik und ihre Schule, der auch Scott angehört, zählt zu den vielen im Laufe der Zeit überwundenen Standpunkten, wir von der älteren Generation aber gedenken in süßer Rückerinnerung der genußvollen Stunden, welche uns der [518] schottische Erzähler bereitet hat, und die Gestalten einer Jeanie Deans, eines Waverley, eines Rob Roy, einer Meg Merrilis, eines Ivanhoe, einer Rebekka – sie sind uns nicht blos Gebilde der Dichterphantasie, sie sind uns Menschen von Fleisch und Blut gewesen, die wir geliebt oder gehaßt, verehrt oder verabscheut haben je nach ihrem Thun und Trachten, deren Lust und Leid, deren Sehnen und Hoffen, deren Bangen und Härmen uns die Herzen schlagen machte, als entquöllen Freude und Weh unserer eigenen Brust. Gewiß, verdient irgend ein Dichter aus dem Staube der Bücherschränke in die Hände der Leser zurückgeführt zu werden, so ist es Walter Scott, und wir sind überzeugt, daß das unser wartende Jubel- und Gedenkfest, zu welchem seine Landsleute seit Monaten schon umfassende Vorbereitungen treffen, zu dieser seiner Rehabilitirung beitragen wird.
Mit nur wenigen Ausnahmen ist das schottische Heimathland der locale Boden von Scott’s vollendetsten Dichtungen. Er ist es gewesen, der uns das alte Caledonien erst erschlossen hat. Denn was wußten wir vor ihm von dem Lande hinter den fernen „grauen Nebelbergen“, nach welchen unser Schiller seine Marie Stuart sich sehnen läßt? Mythisch und schemenhaft wie Ossian selbst und seine gaelischen Helden blieb, was er uns von schottischer Sitte und Scenerie gesungen hat. Erst der große Edinburgher Poet hat uns Land und Leute seiner Heimath in lebensvollen und greifbaren Bildern veranschaulicht. Er ist für uns gleichsam der Columbus Schottlands gewesen.
Auch bei den Engländern selbst hat Walter Scott sein Geburtsland erst in Aufnahme und Mode gebracht. Bisher eine halbe Terra incognita, höchstens vom birkhuhnjagenden Nimrod oder vom Lachs- und Forellenangler durchstreift, ward es fortan ein beliebtes und hochfashionables Lustreiseziel. Alles wollte die Oertlichkeiten der Jungfrau vom See, der Marmion, der Chronik von Canongate, der „Erzählungen meines Wirthes“ und zumal das normannisch-gothische Schlößchen, jenes lauschige Abbotsford, schauen, welches sich der Dichter im „Grenzlande“ – dem „Border“ – an den Ufern des Tweed erbaut und wo er im Kreise der Seinen, mit seinen Pferden und Hunden und Dienern das patriarchalisch-aristokratische Leben eines alten schottischen „Laird“ geführt hat.
Es ist bekannt, daß auf den in Edinburgh Ankommenden Lage, landschaftliche und architektonische Scenerie gleich überwältigend eindringen, mag er, wie ich es that, auf dem großen nordenglischen Schienenwege oder über Leith und Granton, die beiden Haupthäfen der mit sauberen Ortschaften und weißblinkenden Villen wie mit einer Perlenschnur eingefaßten Meeresbucht, sich dem imposanten Edinburgh nahen.
Dasselbe besteht eigentlich aus zwei abgesonderten Städten von durchaus verschiedenem Gepräge, einer Neustadt mit geradlinigen breiten und regelmäßigen Straßen und Plätzen, die noch kein volles Jahrhundert durchlebt hat, und einer Altstadt, welche schon unter Maria Stuart nicht mehr jung war. Letztere umschließt, wie viele monumentale Bauten, so natürlich auch manches ganz respectable Quartier, namentlich an ihrem Süd- und Westende. In einem der letzteren, auf dem mit weitschattenden alten Bäumen und umfänglichen Gärten geschmücktem „Georges’ Square“ wurde dem Sachwalter Scott am 15. August 1771 sein nachmals so hochgefeierter Sohn geboren. Es war ein milder Strandabend im September, als ich zum ersten Male den stillen Platz betrat und vor dem Hause stand, aus dem der Welt ein so reicher Genius aufgehen sollte – ein Bild friedlicherer und traulicherer Abgeschiedenheit inmitten einer volksbelebten Großstadt läßt sich kaum denken. Georges’ Square ist so recht ein Poetenwinkel. Unser Dichter aber hat ihn nur als Kind bewohnt.
Scott’s Vater war einer der renommirtesten Sachwalter Edinburghs. Ein Mann von makelloser, nicht selten freilich an das Starre streifender Ehrenhaftigkeit, genoß er der allgemeinen Achtung seiner Mitbürger und ward, selbst einem alten vornehmen Geschlechte Schottlands entstammend, namentlich von dem umwohnenden Adel mit Vorliebe zum Rechtsbeistande gewählt. Diesem wackern Manne, der sich, wenn man von den nationalen und localen Verschiedenheiten absieht, in mancher Beziehung mit dem Rath Goethe in Frankfurt am Main vergleichen läßt, wurde Walter als das neunte von zwölf Kindern geboren. In den schon erwähnten Lebensnachrichten bezeichnet er sich selber als „ein ungewöhnlich gesundes Kind“, – bis er – anderthalb Jahr alt, nach einem jähen Fieberanfalle plötzlich am rechten Beine erlahmte, um den Gebrauch desselben nie wieder zu erlangen. Ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß die beiden großen Zeit-, Landes- und Dichtergenossen, Walter Scott und Lord Byron, verdammt waren, durch Welt und Leben zu hinken!
Um das Gebrechen zu bekämpfen und den seit dem räthselhaften Unfalle fortwährend kränkelnden Knaben zu kräftigen, sandte man ihn, auf den Vorschlag seines Großvaters von mütterlicher Seite, eines der ersten Aerzte und Universitätsprofessoren Edinburghs, zu nahen Verwandten auf’s Land, die in Kelso, einer kleinen, nahe der englischen Grenze gelegenen Stadt, angesessen waren. Während des Aufenthaltes an diesem lieblichen Orte, welchen der Dichter lange nachher noch als den „schönsten und romantischest gelegenen von ganz Schottland“ preist, empfing Scott’s Geisteseigenthümlichkeit zuerst die ihr angemessene Nahrung. An Stadt und Landschaft knüpfen sich zahlreiche Reminiscenzen aus der schottischen Vorzeit, und buchstäblich kaum den Kinderschuhen entwachsen, brachte Walter diesen Ueberlieferungen schon eine begeisterte Theilnahme entgegen. Die Thaten und Kämpfe der alten schottischen Häuptlinge erregten ihm ein Interesse, das weit über seine Jahre hinausging, und die Balladen und Romanzen, welche diese Begebnisse verherrlichten, wurden die Lieblingslectüre des Knaben. Mit einem wunderbaren Gedächtnisse begabt, wußte derselbe schon in Kelso Hunderte solcher Volksdichtungen auswendig und recitirte sie mit einer dramatischen Lebendigkeit, welche Alles in Erstaunen setzte und darthat, wie sehr sein Gemüth davon ergriffen war.
„Der kleine Walter Scott,“ schreibt eine Dame aus jenen Tagen, „ist das merkwürdigste Genie von einem Knaben, das mir jemals vorgekommen. Als ich neulich in seinem Hause zum Besuche war, trug er den Seinigen eben ein Gedicht vor; es war die Schilderung eines Schiffbruchs. Seine Begeisterung stieg mit dem Unwetter. Er erhob Augen und Hände. ‚Da ist der Mast verloren. Sie werden Alle untergehen!‘ In dieser Aufregung wandte er sich zu mir. ‚Das ist zu traurig!‘ sprach er. ‚Ich werde Ihnen lieber etwas Unterhaltendes vortragen.‘ – Nun, für wie alt halten Sie den Knaben? – Er ist soeben sechs Jahre alt geworden! Nicht wahr, das ist kein gewöhnliches Gewächs?“
Eine seiner Tanten theilte und förderte seine Geistesrichtung. Mit einer bei Frauen seltenen Kenntniß der Specialgeschichte ihres Heimathlandes schwelgte sie förmlich in den Erinnerungen an die alten Clan- und Grenzfehden und saß oftmals Tage lang am Lager des nach ärztlicher Vorschrift in das warme Fell eines frisch geschlachteten Thieres eingehüllten kleinen Patienten, ihm von diesen wilden Kriegszügen zu erzählen. Ein begüterter Laird der Nachbarschaft besaß eine wohlversehene Bibliothek, und unermüdlich schleppte daraus die gute Dame Buch auf Buch, Poesie, Geschichte, Reisebeschreibungen, Märchen, für ihren Pflegling herbei, der, sowie er nur die Schwierigkeiten des ABC bemeistert hatte, von einer unersättlichen Lesegier verzehrt wurde. Im Hemde am Kaminfeuer sitzend, las er beim Lichte desselben manchmal bis in die Nacht hinein und schlüpfte erst dann in sein Bett, wenn ihm das Rücken der Stühle in dem unter seinem Schlafgemache gelegenen Speisezimmer verkündete, daß die Seinigen sich von der Abendtafel erhoben, um sich zur Ruhe zu begeben. „Ich glaube, kein Mensch in der Welt hat schon als Kind so viel buntes Zeug zusammengelesen, wie ich,“ sagt Scott an einer anderen Stelle seiner lebensgeschichtlichen Notizen, und wir haben keinen Grund, diesem Zeugnisse den mindesten Zweifel entgegenzusetzen.
Schon damals auch erwachte seine Lust am Sammeln der verschiedenartigsten vaterländischen Alterthümlichkeiten und Reliquien, um sich allmählich zu einer Leidenschaft zu steigern, die ihm später oft ernste Ungelegenheiten bereitete, allein bis zum letzten Hauche seines Odems im Vordergrunde seiner Gedanken und Bestrebungen stand. Gewiß ist es in hohem Grade charakteristisch für die Eigenart Walter Scott’s, daß derselbe schon als zehnjähriges Kind sich Bände voll alter handschriftlicher Balladen und Volkslieder gesammelt hatte.
Der Knabe ist der Vater des Mannes. Bei wenigen Menschen bewahrheitet sich dies in so ausgezeichneter Weise wie bei Scott. Nach der Aeußerung eines seiner frühesten und vertrautesten Freunde documentirte der Erstere bereits in den Kindertagen alle die besonderen Eigenthümlichkeiten, die nachmals das Wesen des großen Dichters ausmachten. Schon in jener Zeit that es ihm [519] Niemand gleich im Geschichtenerzählen, wie er schon damals in den Alterthümern seiner Heimath sich ein so ausgebreitetes Wissen angeeignet hatte, daß ihn der kundigste Antiquar um dasselbe hätte beneiden können. Selbst den oberflächlichen Beobachter ließ Scott der Knabe deutlich erkennen, wo die Neigungen und Leistungen Scott’s des Mannes zu suchen sein würden. Deshalb meinten wir auch, bei dieser Jugendperiode des Dichters etwas eingehender verweilen zu müssen, als es für die Harmonie unserer Skizze vielleicht statthaft erscheint.
Wir überschlagen jetzt eine Reihe von Jahren. Scott ist, nach wiederholtem Aufenthalte in Kelso, zur Stadt heimgekehrt, hat die High School, ein noch heute blühendes und auf dem Calton Hill prachtvoll gelegenes Gymnasium, durchlaufen, einige Collegien an der Edinburgher Universität gehört, eine förmliche Lehrzeit als Schreiber bei seinem Vater bestanden und ist schließlich zur höheren juristischen Laufbahn übergetreten, nachdem er von Neuem akademische Studien gemacht hat. Im Juli 1792 sehen wir denn auch den nun einundzwanzigjährigen Jüngling nach üblicher feierlicher Sitte mit Talar und Lockenperrücke des plaidirenden Advocaten geschmückt und damit an der Schwelle zu den höheren und höchsten Richterstellen des Landes angelangt. Der Lahmfuß ist er freilich geblieben. Das aber hat weder seinen jederzeit von den drolligsten Schwänken, Einfällen und Anekdoten überfließenden Humor beeinträchtigt, noch verhindern können, daß er in allen ritterlichen Künsten unter den Ersten glänzte. Wie er im Fußwandern eine überraschende Ausdauer entwickelt und die weitesten und beschwerlichsten Wege nicht scheut, wo es irgendwo ein altes verfallenes Schloß, eine durch Sage und Geschichte geweihte Ruine, einen Denkstein, einen geheimnißvollen Grabhügel und dergleichen zu beschauen giebt, so bringt er es auch in der Kunst der Rossebändigung zu einer bei stubenhockenden Federhelden nicht allzu häufigen Meisterschaft und ist Zeit seines Lebens wacker über Berg und Thal gekleppert. Bis in’s hohe Alter waren ihm die edlen Geschlechter der Pferde und Hunde nicht blos liebe Hausgenossen, vielmehr Unentbehrlichkeiten des Lebens wie Licht und Luft. Welcher deutsche Dichter hat sich jemals einer solchen „Nothdurft“ rühmen können?
Geschrieben, was man in diesem Sinne schreiben nennt, hatte der junge Anwalt noch nichts. Die mannigfaltigen Jugendreimereien, denen er sich gleich allen von einer leidlichen Phantasie bewegten Sterblichen zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig Jahren schuldig gemacht, sowie unterschiedliche Abhandlungen, welche er als Mitglied eines Juristenclubs statutenmäßig liefern mußte, kommen hierbei natürlich nicht in Betracht. Wohl keiner seiner Freunde besaß eine Ahnung von dem Dichtergenius, der in dem lustigen Cumpan mit dem gemüthlichen runden Gesicht und dem trockenen Witze schlummerte; seine geistige Ueberlegenheit erkannten indessen Alle an.
„Walter mochte erscheinen, wann und wo er wollte,“ berichtet einer jener Genossen, „immer übte er eine Herrschaft über uns aus, ohne daß er selbst daran dachte, das Scepter schwingen zu wollen. Instinctiv fühlten wir uns alle von der Gelassenheit und Festigkeit seines Charakters dominirt, während seine milde äußere Form Jedweden bezauberte.“
Noch bis zur heutigen Stunde ist Schottland ein Land, wo auch in der besseren Gesellschaft Trunk und Trunksucht keine kleine Rolle spielen. Vor siebenzig Jahren aber ward dort in einer Weise gezecht, daß unsere germanischen Vorväter ihre Freude daran gehabt haben würden. Punsch- und Weingelage, wie sie uns Hogarth malt, waren bei Jung und Alt allnächtliche Ordnung, und der Kreis, in welchem Scott verkehrte, bildete keine Ausnahme von der allgemeinen Regel. Unser junger Advocat zählte zwar zu den mäßigsten seiner Genossen, scheint aber doch Gott Bacchus ziemlich reichliche Libationen dargebracht zu haben. Wenigstens müssen wir dies daraus schließen, daß er dem aus dem Vaterhause zu seinem Reiterregimente abgehenden ältesten Sohne sich selbst als abschreckendes Beispiel eines allzu großen Durstes aufstellte. Auch bei dem wildesten Convivium behauptete er jedoch stets sein geistiges Uebergewicht. „Ein paar Worte von Walter Scott waren hinreichend, die leicht in Zwist gerathenden jungen Hitzköpfe wieder zu beruhigen.“
In all diesem stürmischen Treiben verlor aber unser Poet nie den Ernst des Lebens aus den Augen, nie das Ziel, dem er, vielleicht unbewußt noch, zustrebte. Wie er wacker trank, ebenso energisch konnte er auch arbeiten und studiren.
„War ich einmal im Geschirr,“ schreibt er selbst, „so zog kein Mensch braver als ich. Auf Einem Sitze habe ich einmal hundertundzwanzig Folioseiten geschrieben, ohne mir eine Minute Ruhe zu gönnen und einen Bissen über die Lippen zu bringen.“
Gesundheit der Seele und, bis auf den dienstuntauglichen Fuß, auch Gesundheit des Leibes, das war der solche Grund, auf dem sich die nun bald ihren Anfang nehmende unerschöpfliche Dichter- und Schriftstellerthätigkeit Walter Scott’s aufbaute. Wie wenig ihm sein Gebrechen die freie Körperbewegung verkümmerte, erhellt unter Anderem auch aus der Thatsache, daß er mehrere Jahre hindurch als Officier einem Corps von freiwilligen Reitern angehörte, welches man Anfangs des Jahres 1797 in’s Leben gerufen hatte, als die Angst vor einem feindlichen Einfalle der Franzosen ganz Großbritannien in Athem hielt. Scott war es, der bei den stundenlangen ermüdenden Exercitien alle seine Cameraden durch seinen Eifer mit fortriß.
Um dieselbe Zeit erschien das erste Erzeugniß seiner Feder schwarz auf weiß gedruckt, und wir dürfen es uns schon zur Ehre anrechnen, daß die deutsche Literatur es gewesen ist, die seine Dichterschwingen entfaltete. Deutsch zu lernen begann damals in England Mode zu werden. Auch Scott gab sich diesem fashionablen neuen Studium hin, welches rasch seine Seele gefangen nahm. Unter der Anleitung einer hochgebildeten und poetisch empfänglichen Deutschen, einer Gräfin Brühl, die einen seiner Verwandten geheirathet hatte, las er Goethe und Schiller – Werther, Götz, Don Carlos – ja, er wagte sich sogar an Kant heran. Vor Allem gefesselt aber fühlte er sich von Bürger. Das war eine ihm verwandte poetische Natur. Der Volkston, welchen dieser in seinen Balladen so voll und rein angeschlagen hat, wie kaum Jemand vor und nach ihm, traf die gleichschwingende Saite im Herzen Walter Scott’s. Allein nicht blos empfangen wollte er, er wollte wiedergeben, Anderen mittheilen, was ihn so gewaltig gepackt hatte, und so übersetzte er, mit Beihülfe seiner deutschen Freundin, die „Leonore“ und den „wilden Jäger“, denen später noch eine vollständige Uebertragung von Goethe’s Götz von Berlichingen folgte.
Scott’s Arbeit hatte nichts gemein mit einer dilettantischen Erstlingsleistung. Sie überschritt weit das gewöhnliche Uebertragungsniveau – was er gab, war eine wirkliche Nachdichtung, der Wurf eines Löwen und als seine Lehrmeisterin die beiden Balladen ohne sein Vorwissen veröffentlichte, fand das Entzücken seiner mitstrebenden Freunde keine Grenze. Der Dichter war fertig, und zum ersten Male scheint sich Scott selbst jetzt klar bewußt geworden zu sein, worin der Beruf lag, welchen ihm die Götter in die Wiege eingebunden hatten.
Das Eis war nun gebrochen, und fast ohne Unterlaß sehen wir dem geöffneten Quell Dichtung um Dichtung entsprudeln. Von Anfang bis zu Ende war die Poetenlaufbahn Walter Scott’s ein ununterbrochener Triumphzug, dem wir mit raschen Strichen folgen können. Zuvor aber wollen wir noch einen Blick in sein Privatleben werfen.
Dieses hatte mittlerweile eine entscheidende Wandlung erfahren. Mit einigen seiner Freunde auf einem Ausfluge nach den romantischen Seen Westmorelands begriffen, hatte er in einem kleinen Landorte eine junge Dame kennen gelernt. Sie war eine geborene Französin, aus Lyon, lebte aber, mit Mutter und Bruder vor den Schrecken der Revolution geflüchtet, schon seit Jahren in England unter dem Schutze eines vornehmen Edelmannes. Eine reizende Erscheinung von südländischem Anhauch, doch englischer Haltung, machte sie auf den leicht erregten jungen Mann einen mächtigen Eindruck. Auch sie fühlte sich von Geist und Wesen ihres Verehrers sympathisch berührt, und am Christheiligenabend 1797 wurde Charlotte Charpentier – so hieß die vom Dichter Erkorene – Scott’s Gattin, um, wie er selbst der vor ihm Scheidenden nachruft, „ihm treue Gefährtin zu sein in Gut und Böse“.
[520]
Kurz vor dem Beginn unseres Krieges gegen Frankreich gingen uns mehrere mit Thatsachen beschwerte Klagen von unteren Eisenbahnbediensteten zu. Ehe wir an die Prüfung und Veröffentlichung derselben gehen konnten, war der Sturm losgebrochen, der alle Interessen, welche nicht den großen Kampf angingen, aus dem Gesichtskreise des Augenblicks entfernte. Wir legten deshalb auch jene Klagen zurück, denn auch über sie würde der Sturm dahingebraust sein. Die wunderbare Wendung des deutschen Schicksals, die ununterbrochene Siegesreihe, welche gebot, die Stangen der Siegesfestfahnen permanent an den deutschen Häusern zu befestigen, erweckte in uns die Hoffnung, daß das unermeßliche Glück dieses Krieges für den heimischen Wohlstand, also vor Allem für die Leute der Dividenden und Staatspapiere, wohl von selbst zur Aufbesserung der drückenden Lage dieser Arbeitsopfer anregen werde. Wir haben uns leider getäuscht, die Klagen vor dem Kriege werden von Neuem laut, im Reichstage haben diese Kreuzträger noch keinen Fürsprecher gefunden, die Bitten derselben werden täglich dringender, – und so muß denn wieder einmal die „Gartenlaube“ es unternehmen, die Angelegenheit dem Urtheil ihrer Leser vorzulegen. Wir fußen dabei auf einem von Friedrich Juncke in Köln eingesandten Aufsatze „über Eisenbahn-Wachtdienst“, sowie auf mehreren anderen Zuschriften, deren Verfasser, mit einer einzigen Ausnahme, sich uns genannt haben und von denen wir einen Aufsatz von T… „Die Wärter der Eisenbahnen“ noch besonders hervorheben müssen.
„Ist das wirklich möglich?“ – So fragten wir bei der Mittheilung einer uns in den ersten Wintermonaten des vorigen Jahres zugegangenen Klage. Damals betraf’s einen Bahnwärter, welcher bei zehn Thaler Monatsgehalt nur für vier Wintermonate täglich einen Silbergroschen zu Holz und Kohlen erhielt und dem man es somit freistellte, mit diesem Aufwande für Heizungsmaterial in der grimmigen Kälte in seiner zugigen Bretterbude die Glieder zu erfrieren, oder von seiner kärglichen Einnahme seiner Familie noch einen Theil zu entziehen, um das Wärterhaus dieser Bahn zu heizen. Der Mann, der uns dies schrieb, fügte die Bemerkung bei: „Wenn man mit dem Vieh so verführe, so würde sich doch wenigstens der Thierschutzverein in’s Mittel legen.“ – Da uns über eine Besserung dieser Zustände seitdem Nichts mitgetheilt wurde, so müssen Diejenigen, welche Genaueres darüber zu erfahren wünschen, sich an das Directorium der Breslau-Schweidnitz-Freiburger Eisenbahn wenden, welche die glückliche Besitzerin dieses im Winter kaltgestellten Bahnwärterhäuschens ist.
Nicht beneidenswerther ist, nach dem uns Mitgetheilten, das Loos eines Packmeisters einer ebenfalls schlesischen Bahn. Der Mann dient bei derselben jetzt in’s achtzehnte Jahr, mußte eine Caution von hundertfünfzig Thalern hinterlegen und bezieht einen Monatsgehalt von sechszehn Thalern. Für diesen Sold muß er, mit Ausnahme von zwei Nächten und einem Tage, fortwährend im Dienst sein und alle Verantwortlichkeit tragen. Bei der theuren Wohnungsmiethe und den hohen Preisen der meisten Lebensbedürfnisse in einer größeren Stadt ist der Mann, selbst wenn er die Ansprüche auf Kleidung und Nahrung bis auf das bescheidenste Maß beschränkt, nicht im Stande, eine Familie von sechs Personen zu erhalten. Der Verfasser wirft einen neidischen Seitenblick sogar auf die Weichensteller, deren Vorgesetzter er sei, während er noch weniger Einnahme beziehe, als selbst diese. Wir erzählen auch hier vorläufig nur den Fall ohne Namensnennung. Besteht in der That ein so schreiendes Mißverhältniß zwischen Dienstanspruch und Lohngewährung, so werden sich sicherlich mehr Stimmen über diesen Gegenstand vernehmen lassen, denen dann nachdrücklicher Gehör zu verschaffen ist.
Bahnwärter und Weichensteller, die zu den vereideten Bahn-Polizei-Beamten gehören, werden nach Fr. Juncke in der Regel aus den bei dem Bau oder den Unterhaltungsarbeiten der Eisenbahnen beschäftigten und daher mit deren Einrichtungen doch einigermaßen vertrauten Arbeitern (sogenannten Rottenarbeitern) gewählt. Sie müssen unbescholtenen Rufs und großjährig sein. Die Aufgabe der Weichensteller ist durch ihre Bezeichnung genügend angegeben; die Aufgaben der Bahnwärter sind schon vielgestaltiger. Sie haben die ihnen zugetheilte Bahnstrecke zu überwachen, beim Herannahen der Züge die vorgeschriebenen Signale zu geben, etwa auf demselben Geleise sich begegnende Züge durch das Halte-Signal zu warnen, die Barrièren an Bahnübergängen zu schließen und zu öffnen, fremde Gegenstände, welche das Geleise versperren, und überhaupt Alles zu entfernen, was einen Unglücksfall herbeiführen könnte. Außerdem haben viele Bahnwärter auch an der Instandhaltung der Gräben und Böschungen der Bahn und an der Bahnplanung mit zu arbeiten. Die Gesammtthätigkeit der Wärter und Weichensteller hängt allerdings von der Frequenz ihrer Bahnstrecke ab; es ist natürlich ein Unterschied, ob vierzig oder zehn Züge des Tags passiren. Unter allen Umständen müssen aber beide vom ersten bis zum letzten Zuge auf ihrem Posten sein, die Bahnwärter sogar noch eine halbe Stunde vor dem ersten Zuge, weil sie für denselben erst ihre Bahnstrecke zu begehen haben.
Da aber auf den wenigsten Bahnen Norddeutschlands die Wärterhäuser bewohnbar oder gar zur Familienwohnung eingerichtet sind (man findet dies nur in Oesterreich, Sachsen und hier und da in Süddeutschland), sondern da die für sie erbauten hölzernen oder steinernen Buden in der Regel nur ein wenig verlängerten Schilderhäusern gleichen, so muß der Wärter, wie der Weichensteller, anderwärts und, wo es keine nähere Gelegenheit giebt, wohl auch eine Stunde und weiter entfernt wohnen. Bei alle Diesem ist der tägliche Her- und Hinweg noch von der kargen Zeit abzurechnen, welche diesen Leuten zum Ausruhen, zum Sammeln frischer Kräfte vergönnt ist. Mit dieser Wegzeit nimmt der Dienst die Mehrzahl dieser Bahnbeamten sechszehn bis achtzehn Stunden in Anspruch. Dabei haben sie nur je alle vierzehn Tage einen freien Tag, sind Jahr aus, Jahr ein den Unbilden jeden Wetters ausgesetzt und erleiden somit Angriffe auf die Gesundheit, die nur durch kräftige Nahrung unschädlich gemacht werden können.
Wie steht es nun aber mit der Möglichkeit dieser wünschenswerthen „kräftigen Nahrung“? – Bodenlos erbärmlich! Das Diensteinkommen dieser Männer beträgt im Durchschnitt hundertsechszig bis hundertsiebenzig Thaler jährlich, und dazu kommt noch ein Beitrag zur Wohnungsmiethe von zwölf ein Sechstel Thalern und in vier Wintermonaten täglich ein Groschen zur Heizung des Bahnwärterhäuschens. Von der Jahreseinnahme sind übrigens noch, bei definitiver Anstellung, die etwa ein Zwölftel derselben repräsentirenden Beiträge zur Pensionscasse zu entrichten. Die Armen haben für ihre eigene Armenanstalt zu sorgen!
Man sieht, diese Stellen im Dienste der Eisenbahnen sind nur für das Cölibat eingerichtet. Oder will Jemand ausrechnen, wie viel einem Familienvater, der Wohnung, Kleidung, Schule, im Winter Heizung und alle Zeit Speise und Trank für die Seinen zu beschaffen hat, von jener Einnahme für seine eigene „möglichst kräftige Nahrung“ übrig bleibt? Ihm bleibt Nichts übrig, als mit den Seinen gemeinsam zu kargen. Es ist eine wachsende Armuth, die an allen Bahnlinien entlang durch diese verheiratheten Bahnbediensteten in die Welt gesetzt wird. Jedes Kind vermehrt sie nur, und die Armuth ist so kinderreich! –
Und diesem Mißstande sollte wirklich nicht abzuhelfen sein? – „Nein!“ gellt das Zetergeschrei des Doppelchors aller Finanzbeflissenen der Privat- wie der Staatsbahnen. „Nein! Daran ist gar nicht zu denken! Man betrachte nur die Heerschaar dieser Leute! Wir haben Eisenbahnstrecken, wo die Meile uns zehn bis zwölf Bahnwärter und wenigstens vier bis sechs Weichensteller kostet, – was sind das bei dreißig, vierzig und fünfzig Meilen für ein Haufen Leute! Und ist’s denn nicht sonnenklar, daß wir durch eine bessere Bezahlung derselben nur unsere Einnahme verkürzen?“ –
Das ist außerordentlich klar. Aber ebenso klar ist es, daß Bahnwärter und Weichensteller, als Bahnpolizeibeamtete, zu den mittelbaren Staatsbeamten gehören. Dafür spricht ebenso die Norm ihres Diensteides als der Umstand, daß nicht die Gesellschaft, sondern der Staat die polizeiliche Gewalt ausübt, beziehungsweise durch diese Beamteten ausüben läßt.
Ebendeswegen ist’s aber auch Sache des Staats, zu verhüten, daß diese mittelbaren Ausüber seiner polizeilichen Gewalt nicht durch den Uebereifer der Finanzspeculation in einen körperlichen Zustand versetzt werden, der ihnen jene Pflichterfüllung zur Unmöglichkeit macht. Was ist’s aber Anderes, als dies, wenn [521] einem Manne zugemuthet wird, bei fünfzehn- bis achtzehnstündiger Beschäftigung in freier Luft, allen Witterungseinflüssen preisgegeben, und bei kärglicher Nahrung, den so außerordentlich ernsten, verantwortungsreichen Dienst von der ersten bis zur letzten Stunde mit gleicher Aufmerksamkeit zu verrichten? Ist das eine Anforderung, die mit den Gesetzen der Humanität nur im entferntesten Einklange steht? Nein! Es ist offenbare Menschenquälerei! und ist’s eine Anforderung, die der Sicherheit des öffentlichen Verkehrs dient. Wieder ein Nein! Es ist vom Geldsack gedeckte Gewissenlosigkeit!
Wenn dem von der Tageslast und der täglichen Entbehrung angegriffenen Manne der Schlaf der Ermüdung das Auge einmal zudrückt in dem unglücklichen Augenblicke, wo er durch seine Dienstverrichtung Leben und Gesundheit von Hunderten in der Hand hat, wo eine falsche oder unterlassene Weichenstellung, eine die Bahn sperrende Barrière einen ganzen Zug in’s Verderben stürzt und den Bahnkörper mit Leichen und Krüppeln unter Wagentrümmern übersäet, – ja, dann springt die Obrigkeit bei und nimmt Weichensteller oder Bahnwärter, als die gewöhnlich Schuldigen, beim Kopf, – und Jedermann findet das in der Ordnung, die armen Betroffenen selbst, denn sie wissen nun einmal nicht anders, als daß sie ihre Lebtage bei diesem Dienst mit dem einen Fuß am Rande des Grabes und mit dem andern auf der Schwelle des strafenden Gerichts stehen, – aber steckt denn, trotz alledem, die eigentliche Urheberschaft des Unglücks nicht ganz wo anders? –
Ist es nun einmal das Eigenthümliche an der Anstalt der Eisenbahnen, daß bei ihrem Betrieb von der Diensttüchtigkeit gerade der untergeordnetsten und größten Classe ihrer Arbeiter mit dem ungehinderten Gange des Ganzen zugleich das Leben so vieler Menschen abhängig ist, so ist es offenbar Pflicht und Recht des Staats, dafür zu sorgen, daß nicht die Eigensucht der Speculation der Diensttüchtigkeit dieser Leute durch ungenügenden, in keinem Verhältniß zu den Ansprüchen, wie zur Gefahr und Verantwortlichkeit ihrer Leistungen stehenden Lohn den größten Eintrag thue.
Der Krieg hat manches praktische Hülfsmittel für den öffentlichen Schutz gefunden, dem man auch im Frieden zweckentsprechende Anwendung wünschen möchte. In den Franctireursgegenden Frankreichs, wo die Bevölkerung durch Brückensprengungen, Schienenaufreißen, ja sogar durch Schießen nach den Waggons den militärischen Verkehr zu stören suchte, sorgte man bekanntlich für die Sicherheit der Züge vor all derlei Gefahr dadurch, daß man die Maires oder sonst hochansehnliche Männer der Stationsorte zwang, jeder Fahrt auf der Locomotive beizuwohnen. Von dem Augenblicke dieser Maßregeln an wurde die Unsicherheit der Bahnen bedeutend geringer. – Wenn bei uns stets ein Herr des Directoriums oder Verwaltungsraths oder ein hochansehnlicher Actionär jedem Zuge auf der Locomotive beiwohnen müßte, der an schlechtbezahlten Bahnwärtern und Weichenstellern vorbeifahren muß, – wer weiß, ob es nicht auch mit diesen bald besser würde!
Lassen wir zum Schlusse noch einen Sachverständigen, welcher dem Eisenbahnbetriebe nahe steht, seine Meinung über diesen Gegendstand aussprechen. „Wenn wir bedenken,“ sagt er unter Anderem, „zu welchem bedeutenden volkswirthschaftlichen Factor des sämmtlichen Verkehrs sich das Eisenbahnwesen entwickelt hat, welche enorme Summen und Renten damit verdient werden und welche große Verantwortlichkeit gerade der Bahnwärter auf sich genommen, – so ist es in der That schwer zu begreifen, wie man in Anbetracht der Wichtigkeit der Sache bisher bei den meisten Eisenbahnen so wenig Rücksicht auf die Lebensstellung dieser ganz unentbehrlichen Beamtenclasse genommen hat.
„Es ist grauenvoll, wie viel gut angelegte Existenzen durch diese Capitalthyrannei zu Grunde gerichtet werden! – Ich kenne zum Beispiel einen solchen Mann, welcher jeden Abend nach zehn Uhr, wo sein Dienst aufhört, erst eine Stunde weit zu laufen hat, um bei seiner Familie zu schlafen; früh vor fünf Uhr muß er wieder auf seinem isolirten Posten sein, er muß also schon vor vier Uhr seine Wohnung verlassen. Es bleiben ihm also, wenn er all seine freie Zeit zum Schlafen verwendet und nicht auch dem Bedürfniß, mit Weib und Kindern zu sprechen, nachgiebt, dazu fünf Stunden. Schläft er weniger, so leidet seine Gesundheit, und trennt er sich des Schlafes wegen ganz vom geistigen Zusammenhang mit Weib und Kindern, so leidet sein Charakter darunter. Eines muß unterliegen, – und in der Regel geht’s über Beides her. Unser geschlagener Mann steht bereits auf dem schwarzen Register des Bahnmeisters, denn man hat ihn einmal bei Tage – schlafend getroffen und dazu kam er noch in den entsetzlichen Verdacht, daß er Branntwein trinke, vielleicht um seine erstarrten Glieder in der hölzernen Luftbude zu erwärmen! – Dieser Mann war, ehe er seinen jetzigen Posten betrat, ein anerkannt braver und zuverlässiger Arbeiter; ihn hat factisch sein Amt demoralisirt, – und dies Alles um welchen Preis? Für zehn Thaler Monatsgehalt!“ –
Die neueste Zeit zeigt uns aber noch einen anderen Standpunkt, von welchem aus das Loos dieser Bahnbeamten zu betrachten ist. Gerade diese Stellen an den Bahnen sind es, zu welchen man gern und häufig gediente Soldaten nimmt. Unser großer Krieg gegen Frankreich hat viele Wehrmänner ihrer bisherigen Arbeit entrissen, viele werden andern Unterhalt suchen, viele in den Dienst der Eisenbahnen eintreten müssen. Soll es dann etwa der Dank des Capitals für die Thaten unserer tapferen Kriegsmänner sein, daß ihnen dasselbe Loos zu Theil wird, das jetzt so laute Klagen hervorruft? Sollen die Helden unserer Schlachtfelder, die auf einen dauernden Dank des Vaterlandes die gerechtesten Ansprüche haben, in einer solchen Stellung verkümmern? Gegen diese Möglichkeit muß jedes redliche Gefühl sich empören, ihr einen Riegel vorzuschieben, das muß die Sorge jeder Volksvertretung in den Landtagen wie im Reichstage sein. Alle sollten darauf dringen, daß es ausgesprochenes Gesetz werde: 1) Jeder Bahnwärter und Weichensteller erhält an seiner Berufsstation eine entsprechende Wohnung mit einem Gärtchen; – und 2) Ihr Gehalt muß Mann und Familie wirklich nähren, ohne ihnen Entbehrungen aufzuerlegen, wie dies jetzt noch der Fall ist. Auch diese Leute müssen ihr Amt mit Freude verrichten können und nicht mit Seufzen.
Es ist nichts damit gethan, wenn wir immer nur hoffen, daß mit der Ausbreitung einer erweiterten Intelligenz auch der humane Sinn bei der Classe der Gebildeten mehr und mehr Boden gewinne. Das wird gewiß einmal recht schön, aber es hilft für die Gegenwart zu nichts. Ehe daher die goldene Zeit anbricht, wo die möglichst richtige Würdigung des wahren Verdienstes und der Arbeit auch des geringsten unserer Mitmenschen zur Sitte wird, wird das Gesetz eintreten müssen, um den Arbeiter vor den Rücksichtslosigkeiten des Capitals zu schützen. Dies nach Möglichkeit zu veranlassen, ist der Zweck dieses Artikels.
Als im Jahre 1736 die elsässische Grafschaft Hanau-Lichtenberg an Hessen-Darmstadt gefallen war, übergab man die Regierung des Ländchens dem jungen Erbprinzen von dort, dem nachmaligen Landgraf Ludwig dem Neunten, dem Helden unsers Berichts. Da jedoch die zehn elsässischen Aemter mit der Hauptstadt Buchsweiler unter französischer Oberhoheit standen, von welcher sich unser Prinz als guter Deutscher belästigt fühlte, zog er sich in das Amt Lemberg zurück, wo er seine Residenz zu Pirmasenz nahm, das heute selbst jenseits des Oceans berühmt als der Mittelpunkt des Pfälzer Schuhhandels, damals zwar nur ein elender Ort auf rauhem Vogesenrücken war und auch lange nachher erst vierunddreißig Häuser zählte, jedoch der fremden Hoheit entzogen blieb. Von hier fuhr nun eines Sommertags der stattliche Prinz „auf die Freierei“ durch die Wasgaufelsen hinaus nach Bergzabern, dem Römerstädtchen im Weinlande am Fuße der Vogesen. Im Schlosse daselbst wohnte nämlich mit ihren Kindern auf dem Wittwensitze die Herzogin Karolina von Zweibrücken, die Stammmutter der Könige von Baiern, eine Ahnfrau der Könige von Preußen.
Henriette, die älteste Tochter der vortrefflichen Fürstin, war berufen, eine der hervorragendsten Frauen des Jahrhunderts zu werden, und gleich ihrer Mutter von den Bewohnern des Städtchens schon damals verehrt ob ihres Geistes, ihrer Einfachheit und Herzensgüte. Hatte sie doch in der schönen Umgebung jenen [522] tiefen Natursinn geschöpft, der ihr durch ein segensreiches Leben erhalten blieb und sich noch in der Wahl ihrer Grabstätte äußerte. Sie ward unsers Prinzen Gemahlin, die Mutter seiner Kinder, und ihr zu Liebe wohnte er ein Jahr im freundlichen Buchsweiler. Nach dem Beispiele all der kleinen Reichsfürsten an der Grenze Frankreichs nahm auch er französischen Militärdienst und machte als Oberst des Regiments Royal Allemand im österreichischen Erbfolgekrieg den Feldzug in Böhmen mit. Die Modesache katholisch zu werden, welche damals in fürstlichen Familien und besonders auch bei den Verwandten seiner Frau stark in Schwang war, machte er jedoch nicht mit. Ja, seine Charakterfestigkeit duldete ihn nicht länger in einem Verhältniß, das blos die Politik angerathen; so folgte er seiner Neigung, indem er, die französische Uniform ausziehend, unter die preußischen Fahnen trat und als Generalmajor mit seinem Regimente den ersten schlesischen Krieg mitfocht. Als ihn sein gut kaiserlich gesinnter Vater zurückberufen wollte, blieb er trotzdem in der Garnison Prenzlow, wo seine Gemahlin wohl bitter die rheinische Natur vermißte, aber im Verkehr mit dem großen Friedrich und dem geistreichen Prinzen Heinrich von Preußen Trost fand. Beim Ausbruch des siebenjährigen Krieges jedoch mußte der „Pirmasenzer“ dem bestimmten Befehle seines Vaters folgen und den preußischen Dienst verlassen. Denn Frankreich, der gefährliche Nachbar und Oberherr im Elsaß, stand auf Seiten der Kaiserin, und der alte Landgraf ward nachher, wie Goethe erzählt, von Kaiser Franz ja selbst an der Fichte zu Heusenstamm als „bester Freund“ begrüßt. Grollend fügte sich der Sohn, aber, ohne seinen Vater zu sehen, zog er sich mit seiner Familie nach Pirmasenz zurück, in den Schmollwinkel, den er nicht wieder verließ. Niemals, von da an, durch ein ganzes Leben hindurch, verweilte er auch nur eine Nacht in der Darmstädter Residenz, ein Umstand, dem man sehr geheimnißvolle Motive unterschob, wie wir später noch sehen werden.
Von Allem, was er im preußischen Dienste kennen gelernt hatte, machte ihm die Soldatenstadt Potsdam den imponirendsten Eindruck. Die Erinnerung daran ließ ihn nicht mehr ruhen, und während die preußischen Heere den siebenjährigen Krieg durchkämpften, schwebten dem Pirmasenzer immer nur die uniformirten Enakssöhne von Potsdam vor, die „langen Kerle“, welche unterm verstorbenen König aus allen Strichen der Windrose zusammen geworben oder gestohlen worden waren, die der alte Dessauer zu einer Riesengarde von Grenadieren abgedrillt hatte und die exact wie eine Maschine exercirten und marschirten. Der alte Dessauer und noch mehr der verstorbene Soldatenkönig Friedrich Wilhelm der Erste waren seine Ideale, die er möglichst zu erreichen strebte, – Potsdam, das aus einem ärmlichen Flecken im Sumpfe zum steinernen Soldatenlager geworden war, die Stadt nach seinem Sinne. Hatte Pirmasenz auch nicht den Ueberfluß an Wasser, wie seine märkische Schwester, so lag es doch nicht weniger ungünstig auf dem hohen Sandsteingerippe der Vogesen, und es lohnte sich ebenso wie dort, aus dem elenden Neste trotz der scheinbaren Unmöglichkeit etwas zu machen, das man ganz als seine eigene, der Ungunst der Natur abgerungene Schöpfung betrachten konnte.
Und der Pirmasenzer ging an’s Werk. Während seine Gemahlin, die Liebhaberei des Gatten beklagend, sich mit ihren Kindern wieder nach Buchsweiler zurückzog, begann er eifrigst zu werben, lange Kerle einfangen, drillen und zustutzen zu lassen, um sich eine Stadt von Grenadieren zu gründen. Kein Mittel, keine Kosten wurden gescheut, um die Colonie mit großen Leuten zu bevölkern und so im Wasgenwald wieder eine Race von Riesen heranzuziehen. Türken und Zigeuner und alle Volksstämme Europas trugen mit ihren wilden Schößlingen hierzu bei, bis zuletzt auf dem öden Rücken des Wasgaus eine ummauerte Stadt von neuntausend Einwohnern stand, in der Alles Soldat war. Den fünften Theil ihres Flächenraums nahm das weite Viereck des Exercirplatzes ein, von drei Seiten mit Casernen, auf der vierten durch Pappeln geschlossen, mit denen die Grenadiere an Wuchs und Steifigkeit wetteifern sollten. Das Exercirhaus, nach dem Petersburger das größte, ein wahres Ungethüm von einem Bau, ward im Winter durch vierundzwanzig Oefen geheizt und nahm dann ein ganzes Regiment manövrirender Grenadiere in seinem weiten Bauche auf. Auch sonst war Alles in der Stadt der Soldaten wegen da, die der Prinz wie ein Vater liebte, denen er viel Gutes that und auch durch gehörige Prügel natürliche Fürsorge bewies. Seine Grenadiere waren ihm wirklich an’s Herz gewachsen, und zu einer Zeit, wo so viele deutsche Fürsten, besonders seine Vettern zu Kassel, sich durch den Verkauf ihrer Truppen an die Engländer ein schmähliches Denkmal setzten, hielt der Pirmasenzer seine Soldaten mit ängstlicher Vorsicht in der strengbewachten Stadt unter väterlicher Obhut beisammen. Denn zu eigner Lust hatte er sich die enge Soldatenwelt geschaffen, in der er lebte und webte, und aus welcher weder er selbst, noch sonst ein Glied der wunderlichen Gemeinschaft wieder in nähere Verbindung mit der Welt draußen kommen sollte.
Schon beim Eintritt in die Stadt erinnern noch heute vor dem Landauer Thor zwei mit platzenden Bomben gekrönte Obelisken an die martialischen Schrullen des alten Pirmasenzers, wie der Landgraf bei seinen Zeitgenossen hieß. Sie wurden einem benachbarten Fürsten, dessen Besitzungen zum Theil hinter Pirmasenz lagen, zur abweisenden Warnung gesetzt, damit er sich nicht beigehen lasse, seinen Weg durch die Stadt zu nehmen. Noch lebhafter mahnt aber der außerordentlich weite Exercirplatz inmitten der sonst unregelmäßig gebauten Stadt an das kostspielige Soldatenspiel, das hier einmal geherrscht. Die großen Männergestalten, denen man begegnet, beweisen, daß die Grenadierrace noch nicht völlig degenerirt ist. Gilt doch noch heute in meiner Heimath für hochaufgeschossene Mädchen die Bezeichnung „lange Pirmasenzerin“, obgleich in jüngster Zeit die Riesinnen zu Pirmasenz etwas zusammengeschrumpft sein sollen. Uebrigens trägt auch die Kirche, in welcher der curiose Soldatenfürst 1790 begraben wurde, keinerlei religiöse Symbole, sondern über’m Portal kriegerische Trophäen, militärische Embleme: Fahnen, Trommeln, Bomben und Helme.
Um auf den „alten Pirmasenzer“ selbst wieder zurückzukommen, so überließ dieser wenig bekümmert um Das, was vor den Mauern seiner Soldatenstadt vorging, seiner trefflichen Gemahlin auch die Erziehung seiner Kinder. Um diese besser leiten zu können, war sie einige Jahre nach dem Hubertusburger Frieden von dem idyllischen Buchsweiler, das Goethe in Wahrheit und Dichtung so anziehend schildert, nach Darmstadt gezogen, wo bald darauf der alte Landgraf Ludwig der Achte im Opernhause verschied, während sein Sechsgespann von weißen Hirschen draußen wartete, um ihn nach dem Kranichstein zurückzubringen.
Landgraf war jetzt der „Pirmasenzer“. Man erwartete ihn zu Darmstadt, jedoch er konnte sich nicht von seinem lieben Soldatennest im Wasgau trennen. Da ergriff die Landgräfin Henriette mit weiser Umsicht und vorsichtiger Schonung der Eigenthümlichkeiten ihres heftigen Gemahls das Staatsruder und führte es mit demselben segensreichen Erfolge, wie die Erziehung und Versorgung ihrer Töchter. Die älteste war bereits vermählt, um die zweite warb, aus Verehrung für die Mutter, Preußens großer Friedrich für seinen Neffen und Thronfolger, die dritte ward dem nachmaligen Kaiser Paul von Rußland angetraut, und die vierte, zu Buchsweiler geborene Tochter Louise mit dem unvergeßlichen Karl August von Weimar verlobt. Dabei übte die große Landgräfin einen bedeutenden Einfluß auf die Entwicklung unserer classischen Literaturperiode, trat durch den bekannten Kriegsrath Merk mit Herder und Goethe in Verbindung und veranstaltete sogar die erste Ausgabe der gesammelten Oden und Hymnen Klopstock’s. Schon in Buchsweiler hatte sie den blinden Fabeldichter Pfeffel vielmal freundlich empfangen und hatte auf Wieland einen Eindruck gemacht, daß dieser wünschte, sie zur „Königin Europas“ machen zu können. Dabei veranlaßte sie die Aufhebung der Tortur, und vermochte ihren widerstrebenden Gemahl dazu, die Leitung des Staatswesens dem genialen Karl Friedrich v. Moser anzuvertrauen, der Ordnung in die zerrütteten Finanzen brachte.
Unterdeß stak der Landgraf, eingesperrt und abgesperrt mit seiner Soldatenfamilie, in dem selbstgebauten Neste auf der Wasgauhöhe, exercirte und manövrirte lustig drauf los, maß und setzte die Schnurrbärte regelrecht auf und freute sich seiner Flügelmänner, die aus den längsten Bengeln der Welt zu dem steifesten Grenadieren eingedrillt, eingeschnürt, eingeschmiert und eingehauen worden waren. Sein Grenadierregiment war jetzt dreitausend Mann stark geworden, und Tag und Nacht beschäftigte er sich mit der Sorge um dasselbe, so daß er gar nicht begriff, warum dennoch so mancher, dem er alles Gute gethan und nach Noten Prügel verordnet hatte, undankbar zu entwischen suchte. Gar manche Geschichte ist darüber noch im Umlauf, und es war [523] allerdings eine Art Heldenstück, einem Orte zu entrinnen, der auf das Sorgfältigste bewacht war; denn alle dreißig Schritte stand um denselben eine Schildwache, und eine Patrouille von den Husaren der „Landgräfin“ umritt allstündlich die Stadtmauern. Der Landgraf selbst aber hielt vorsichtige Späher, während die Zeit zu Pirmasenz in monotoner Soldatenspielerei zwischen Exercitien und Paraden verstrich. Da ward dem vielbeschäftigten Soldatenvater im Wasgau eines Tages ein Schreiben eingehändigt, folgenden Inhalts:
„Theuerster und liebster Gemahl! Meine letzte Stunde naht und ich danke Gott, daß er mich nach so vielem erlebten Glücke auch noch des Glückes werth hält, sie mir anzukündigen. Das Diesseits liegt hinter mir und ich ahne die Seligkeit des Jenseits. Ich wünsche Ihnen und meinen Kindern ein frohes Leben und das größte denkbare Glück: ein ruhiges seliges Ende. Meine Schatulle wird Ihnen Baron Riedesel einhändigen. Ich weiß, daß sie in eine Hand kommt, die sich so gern als die meinige den Dürftigen öffnet. Noch einen Wunsch habe ich, den letzten für diese Welt. Lassen Sie mich mitten in der großen Baumgruppe des englischen Gartens beerdigen. Man wird dort eine Grotte finden, die außer mir nur ihrem Erbauer bekannt ist. In ihr ist die Stelle, in der ich ruhen will und die ich größtentheils mit eigener Hand zugerichtet, mit einigen Steinen bezeichnet habe. Hier, wohin ich mich von dem Geräusche des Hofes flüchtete, wo sich meine Seele mit Gott unterhielt, dem ich bald von meinem Leben, das ich mit Ihnen, mein Gemahl, theilte, Rechenschaft geben soll; hier, wo ich so oft Sie und meine Kinder dem Herrn befahl, hier, wo der Allmächtige alle meine Wünsche erhörte, hier will ich auch ruhen. Mein teuerster Gemahl und Herr, ich erwarte Sie jenseits des Grabes in einer bessern Welt. Mein letzter Hauch gehört Ihnen.“
Die große Landgräfin war noch an demselben Tage, wo sie dieses Schreiben verfaßt, am 30. März 1774 zu Darmstadt in den Armen ihrer greisen Mutter gestorben, die ihr einige Wochen später nachfolgte. Auf die gewählte Ruhestätte im Park, welche man nicht ohne Schwierigkeit auffand, setzte Friedrich der Große der hochverehrten Freundin, „der Zierde und Bewunderung unseres Jahrhunderts“, wie er schrieb, jene Urne, auf welcher man noch heute seine Grabschrift liest: Femina sexu, ingenio vir! Von Geschlecht ein Weib, dem Geiste nach ein Mann! Goethe hat sie die große Landgräfin genannt. Als solche wird die hohe Frau, welche ihres Volkes wegen in die vernachlässigten Regentenpflichten ihres Mannes eintrat, im Gedächtnisse der Nachwelt bleiben.
Der Tod der herrlichen Fürstin, der großherzigen Gattin, muß den Landgrafen tief erschüttert haben. Denn obgleich er seine Soldatencolonie auch jetzt nicht verließ, suchte er von Pirmasenz aus sein fernes Stammland doch im Geiste der Verstorbenen fortzuregieren. Er kümmerte sich etwas mehr um seines hessischen Volkes Wohl und Wehe, gab seine Zustimmung zu jener Landescommission, deren einziger Zweck war: „dem guten fleißigen Untertanen jede Gattung seiner Arbeit fruchtbarer, seine Abgaben leichter, sein ganzes Leben froher, seinen Himmel blauer, ihn stolz auf sein Vaterland, zufrieden mit sich selbst und dankbar gegen seinen Fürsten zu machen.“ Ja er ließ jene höchst merkwürdige und freimüthige „Ankündigung an’s Vaterland“ erscheinen, welche, von Moser und dem nach Darmstadt berufenen Wandsbecker Boten entworfen, die gewissenlosen Beamten im Lande anklagt und warnt, von dem Bauer Vertrauen nur verlangt, wo das Gute geschehe, und ihm das Recht einräumt, von seinem Fürsten zu fordern, daß er ihm als Vater, nicht als Herr erscheine, worauf zuletzt das Volk aufgefordert wird, der Regierung freimüthig, wie ein Freund dem andern, seine Beschwerden kund zu geben.
Das Alles hatte jedoch keine Geltung für die Pirmasenzer, die unter dem höchsteigenen persönlichen Regime des „Herrn“ und unter den Schwingungen des Corporalstocks zwar oft in großen Aengsten saßen, sich jedoch eben nicht unglücklich fühlten. Ihr Staat war der Landgraf, sein Wille Gesetz, sein Gutdünken ihre Vorsehung. Ihm verdankte die Stadt ihre Existenz, der Bewohner seine Heimath, Wohnung, Nahrung, Hausstand, – denn er verheirathete ja auch seine Pirmasenzer nach seinem Geschmack, und ihretwegen war jetzt eigentlich das übrige Land da. So verlautete in Pirmasenz nichts von Beschwerden, wenn gleich Niemand ohne des „Herrn“ Erlaubniß auch nur den Fuß vor die Stadt setzen durfte. Anders dachten freilich die Hessen-Darmstädter, die sich in ihren unsichtbaren Landgrafen weniger zu finden vermochten. Zwar wollte man seinen guten Willen, Gerechtigkeitssinn, Fleiß und knappen Haushalt gelten lassen. Auch tröstete ein vergleichender Blick nach Hessen-Kassel, wo die Landeskinder zu Tausenden in die Fremde verkauft wurden, nach Kurpfalz, wo Beamtenfeilheit und Religionsdruck schwer auf dem Volke lastete, nach Zweibrücken, wo fürstliche Verschwendung im Schweiße der Untertanen badete, ein Feenschloß für vierzehn Millionen Gulden auf kahler Berghöhe hervorzauberte und in wüsten Treibjagden die ländliche Sittlichkeit untergrub. Dennoch empfand man schwer, daß der Landgraf auch nach dem Tode seiner Gemahlin nicht nach Darmstadt zurückkehrte, sich niemals dem Volke zeigte, die Regentenpflichten, wenn nicht ganz versäumte, so doch schrullenhaftem Soldatenspiel nachstellte und eigensinnig in dem entfernten Winkel einer entlegenen Enclave verharrte, wohin jährlich viermalhunderttausend Gulden ohne Wiederkehr, nutzlos für das Land und den Fürsten, spurlos in den Mäulern und Riesenleibern seiner gefräßigen, durstigen, tabakrauchenden Grenadiere verschwänden, da er auch an sich selbst sparte, um Alles an seine langen, uniformirten Tagediebe zu hängen.
Als man sich endlich darein ergab, den Landgrafen nicht wieder im Schlosse seiner Väter einziehen zu sehen, weil er eine geheimnißvolle Scheu vor demselben zeigte, erwartete man, daß er die Regierung an den Erbprinzen abtreten werde, welcher die Hoffnung des Landes war und seinem Vater vollen Spielraum in dessen Soldatencolonie gelassen haben würde. Vergeblich. Die Jahre gingen hin, die Zeit ward eine andere, der alte Fritz von Preußen starb, des Landgrafen Tochter ward preußische Königin, am Hofe seiner andern Tochter zu Weimar entwickelte sich die geistige Blüthe der Wiedergeburt Deutschlands. Aber der „alte Pirmasenzer“ lebte in seiner Weise ruhig fort und ließ exerciren, schießen und trommeln, daß die Wasgaufelsen wackelten.
Die große Welt ward freilich davon gar nichts inne oder kümmerte sich, weil von wichtigeren Interessen bewegt, nicht um das Treiben dahinten. Die literarische Bewegung der Geister, der Befreiungskampf der Nordamerikaner und die sturmverkündende politische Regung in Frankreich beschäftigte die Aufmerksamkeit. Der alte Dessauer und der Potsdamer Soldatenkönig waren verschollene Todte, ihr Ruhm antiquirt, ihr groteskes Thun und Soldatenspiel halb vergessene Curiositäten einer vergangenen Zeit, – und in Berlin liefen die Straßenjungen nach, wenn sich noch als antiquarische Rarität ein langer, hagerer, ausgetrockneter „Friedrich-Wilhelms-Officier“ sehen ließ. Da erschien bei Beginn der französischen Revolution in dem „Journal von und für Deutschland“ der Bericht eines Wanderers, dem es 1789 eingefallen war, jenen Winkel im Wasgau zu besuchen, wohin sonst selten der Zufall Jemanden geführt. Mit lächelndem Erstaunen las man die Schilderung eines förmlichen Soldatenlagers nach dem alten Potsdamer Muster, wo solches Wenige vermuthet hatten: auf den Vogesen an der Grenze Frankreichs.
„Hier bin ich wie in eine ganz neue Welt versetzt,“ beginnt der Berichterstatter sein Bild, „unter eine zahlreiche Colonie von Bürgern und Soldaten, die kein Reisender auf so ödem und undankbarem Boden suchen würde. Alles um mich her wimmelt von Uniformen, blinkt von Gewehren und tönt von kriegerischer Musik. Hier, wo ehemals nichts als Wald und Sandwüste war, wo ein einsames Jagdhaus blos zum Aufenthalte einiger Förster diente und die ganze Gegend umher von Niemandem als Räuberhorden besucht wurde, da legte der regierende Fürst von Hessen-Darmstadt mancherlei Wohnungen an, pflanzte Einwohner darein, versetzte den Kern seiner Kriegsvölker dahin und erkor sich den entlegenen Ort zu seinem Aufenthalt. Eine solche Wahl und einen solchen Entschluß kann nur eine ganz besondere Stimmung des Gemüths und eine ungewöhnliche Richtung des Charakters bei diesem Fürsten erregt haben, da er sich dadurch von seinem Lande ganz losriß, den Augen seiner Unterthanen gänzlich entzog und blos sich selbst, seinen wenigen Gesellschaften und seiner Lieblingsneigung, dem Soldatenwesen, lebt … Ohne dieses wäre Pirmasenz ein elender Ort, da kaum eine ordentliche Straße durch diesen Winkel des Wasgaus zieht. Der Landgraf wohnt in einem wohlgebauten Hause, das man weder Schloß noch Palais nennen kann und das, genau genommen, nur aus einem Geschoß besteht. Nahe bei [524] demselben, nur etwas höher, liegt das Exercirhaus. Hierin exercirt der Fürst täglich sein ansehnliches Grenadierregiment. Schönere und wohlgeübtere Leute wird man schwerlich beisammen sehen. Aber sie kosten dem Landgrafen auch ansehnliche Summen; denn es ist nichts Ungewöhnliches, wenn ein Mann sich des Tages bis zu einem Gulden steht. Allerlei Volk von mancherlei Zungen und Nationen trifft man da, die nun freilich in der Länge nicht so zusammenbleiben würden, wenn sie nicht immer in der Stadt eingesperrt wären und Tag und Nacht von den umherreitenden Husaren beobachtet werden müßten.“
Von dem Treiben in dieser seltsamen Colonie giebt dann der Beobachter eine schnurrige Schilderung. „Soeben,“ schreibt er, „komme ich aus dem Exercirhaus von der eigentlichen Wachtparade, ganz parfümirt von den Fett- und Oeldünsten der Schuhe, des Lederwerks und der eingeschmierten Haare und von dem allgemeinen Tabakrauchen der Soldaten vor dem Anfange der Parade. Wie ich eintrat, kam mir ein Qualm und ein Dampf entgegen, der so lange meine Sinne betäubte und mich die Gegenstände kaum unterscheiden ließ, bis meine Augen und Nase sich endlich an die mancherlei Dämpfe und widrigen Dünste einigermaßen gewöhnt hatten. Wer Liebhaber von wohlgeübten, aufgeputzten und schön gewachsenen Soldaten ist, wird für all das Widrige entschädigt. So wie das Regiment aufmarschirt und seine Fronte durch das ganze Haus ausdehnt, erblickt man von einem Flügel zu dem andern eine sehr gerade Linie, in welcher man sogar von der Spitze des Fußes bis an die Spitze des aufgesetzten Bajonnets kaum eine vor- oder rückwärtsgehende Krümmung wahrnimmt. Durch alle Glieder erscheint diese pünktliche Richtung, und sie wird weder durch die häufigen Handgriffe noch durch die vielfältigen Körperbewegungen verschoben. Die Schwenkungen und Manövers geschehen mit einer außerordentlichen Schnelligkeit und Pünktlichkeit; man glaubt eine Maschine zu sehen, die durch Räder- und Triebwerke bewegt und regiert wird. Man soll sogar öfters das ganze Regiment im Finstern exercirt und in den verschiedenen Tempi keinen einzigen Fehler bemerkt haben!“
Das war nun ein Triumph, der dem alten Pirmasenzer nach vierunddreißigjährigem Abhetzen und Ausharren in der Atmosphäre des Exercirhauses wohl zu gönnen war. Mit Stolz sog er denn auch ein, was ihm darüber die fremden Officiere Schmeichelhaftes sagten, welche zu der Hauptrevue an seinem Namensfeste aus Frankreich, Kurpfalz, Zweibrücken, Baden und Hessen herzuströmten. Die Erscheinung des Landgrafen mochte dann einen besondern Genuß gewähren, wenn man die Schilderung des angeführten Berichterstatters sich vergegenwärtigt.
„Den Landgrafen,“ fährt er nämlich fort, „habe ich hierbei in aller Thätigkeit gesehen. Mit spähendem Blick befand er sich bald auf dem rechten, bald auf dem linken Flügel, bald vor denn Centrum, bald in den hinteren Gliedern; Alles war geschäftig an ihm, und er scheint mit Leib und Seele Soldat zu sein. Doch läßt er hierbei keinen fremden Zuschauer aus den Augen; es wurde sogleich bei Anfang der Parade ein Officier an mich geschickt, der sich nach meinem Namen erkundigen sollte, und nach einiger Zeit hatte ich die Ehre, den Herrn Landgrafen selbst zu sprechen, wobei er sich in den höflichsten und gefälligsten Ausdrücken mit mir unterhielt. In seinem Hause und in seinen Appartemens erblickt man wenig Pracht; man glaubt bei einem campirenden General im Felde zu sein; überall leuchtet die Lieblingsneigung des Fürsten hervor.“
So erschien das Bild der wunderlichen Soldatenstadt und ihres originellen Gründers einem zeitgenössischen Fremden. Vervollständigen wir dasselbe durch die Erzählung eines Einheimischen, der meinem Interesse für die Geschichte und Entwickelung seiner Vaterstadt mit den nachfolgenden handschriftlichen Nachrichten entgegen kam. Er beginnt mit einer charakteristischen Geschichte aus der Hauschronik seiner eigenen Familie, die nicht eben zu den spannendsten gehört, welche aus jener Glanzzeit von Pirmasenz erzählt werden, immerhin jedoch das Leben in der merkwürdigen Stadt jenes wunderlichen Fürsten treu abspiegelt.
Nichts finde ich natürlicher, als daß der gebildete Europäer just noch ebenso abergläubisch ist, wie der Neger oder Indianer. Das Wunder, als des Glaubens liebstes Kind, wird unseren Kindern und uns von Kanzel und Lehrstuhl herab als unbestreitbare Wahrheit gepredigt und gelehrt, jedes Aufdämmern vernünftiger Anschauungen von hier aus mit Acht und Bann belegt und damit in allen denkfaulen Köpfen ein Feld bestellt, auf welchem neben dem Glauben auch der Aberglaube seine geilen üppigen Schößlinge treibt und treiben muß. Wer an den Teufel glaubt, hat, um ein Beispiel anzuführen, entschieden nicht das Recht, denjenigen zu verspotten, welcher die Sage vom Vampyr als grausige Wahrheit ansieht; denn schließlich besteht der ganze Unterschied zwischen dem Märchen von blutsaugenden Gespenstern und vom Aberglauben vom Teufel nebst Höllengesindel doch nur darin, daß sich in den Schriften des Morgenlandes keine Belegstellen für Vampyre, sondern nur solche für Satan und Genossen finden.
Billige Erwägung dieses Umstandes stimmt mich zur Milde, wenn ich hören muß, daß die seit einigen Monaten im Berliner Aquarium ausgestellten Flughunde kurzweg als „Vampyre“ bezeichnet werden. „Meine Damen und Herren,“ pflege ich dann unaufgefordert zur Berichtigung zu sagen, „Vampyre giebt es allerdings, zwar nicht im Sinne der Glaubensgenossen unserer verehrlichen Mitbürger Knak und Disselhoff, wohl aber in der Thierkunde, blutsaugende Fledermäuse nämlich. Solche finden sich nicht allein in Südamerika, sondern auch bei uns zu Lande; sie sind aber klein und ziemlich harmlos, namentlich die unserigen, welche bis jetzt erweislich noch kein Menschenblut, sondern höchstens das von anderen Fledermäusen und Hühnern abgezapft haben. Die Thiere nun, welche Sie hier vor sich sehen, sind fruchtfressende Fledermäuse, ihres Hundskopfes halber Flug-, Fleder- oder fliegende Hunde und beziehentlich Füchse, von Marktschreiern und Thierhändlern thatsächlich freilich auch Vampyre genannt.“ Dank meines vertrauenerweckenden Gesichtes finde ich in der Regel schließlich Glauben, nicht immer jedoch ohne weiteres, da sich der Vampyr viel zu fest an manches Hirn angesaugt hat. Und doch brauchte man meinen Flughunden nur in das dummgutmüthige Auge zu blicken, um sich selbst sagen zu müssen, daß es ihnen nicht in den Sinn kommen kann, sich mit verabscheuungswürdigem Teufelsspuk zu befassen.
Die Familie der fruchtfressenden Fledermäuse oder Flederhunde verbreitet sich über Afrika, Südasien und den malaiischen Archipel, und umfaßt ungefähr dreißig Arten, von denen die größten einem kleinen Marder an Leibesumfang etwa gleichkommen und eine vier bis fünf Fuß klafternde Flatterhaut besitzen. Ich habe in Afrika nur eine der kleinsten Arten und auch sie immer blos spärlich gefunden, über das Freileben der Thiere also wenig Beobachtungen sammeln können. Solche sind uns neuerdings mitgetheilt worden durch Tennert, welcher während seines langjährigen Aufenthaltes auf Ceylon gerade die im Aquarium aufgestellte Art tagtäglich auf den Bäumen vor seinem Hause hängen sah und somit im Stande war, ein sehr getreues Bild ihres Lebens und Treibens zu entwerfen. Sie finden sich besonders häufig in allen Küstengegenden der Insel und streichen hier, der Fruchtzeit gewisser Bäume entsprechend, von einer Gegend zur anderen. Beliebte Ruheorte von ihnen sind die großen Silberwoll- und indischen „Raspel“-Bäume, gleichviel ob solche in der Nähe bewohnter Ortschaften oder im einsamen Walde stehen. Auf einer Baumgruppe am Pflanzengarten zu Paradenia unweit Candy vereinigen sie sich im Herbste manchmal zu unschätzbaren Schaaren, verlassen den Wohnsitz aber, wenn die Früchte der elastischen Feige aufgezehrt worden sind. Auf ihren Lieblingsbäumen hängen sie sich zuweilen in solcher Menge an, daß starke Äeste durch ihr Gewicht abgebrochen werden. Jeden Vormittag, in der Regel zwischen neun und elf Uhr, machen sie sich auf und fliegen eine Zeit lang umher, anscheinend, um sich zu üben, wahrscheinlich wohl, um sich zu sonnen und ihre Flughäute vom Nachtthau zu
[525][526] trocknen. Gelegentlich dieser Ausflüge lassen sich ihre ungeheuren Schaaren am besten schätzen. Sie fliegen in wolkenartigen Schwärmen, scheinbar ebenso dick wie Bienen oder Mücken. Nach geraumer Zeit kehren sie zu ihren Bäumen zurück, hier wie eine Affenherde lärmend und kreischend, weil jeder einzelne sich bemüht auf Kosten der übrigen, den schattigsten Platz zu erobern. Alle Zweige, an denen sie sich anhängen, entblättern binnen Kurzem in Folge der unruhigen Hast der Flederhunde, welche ihre scharfen Krallen ohne jegliche Rücksicht auf den Wohnbaum verwenden. Mit Sonnenuntergang erheben sich die Schwärme zum zweiten Male, um sich nach ihren Futterplätzen zu begeben, und jetzt durchmessen sie oft beträchtliche Strecken, weil sie sich, ihrer großen Anzahl und Gefräßigkeit halber, nothwendiger Weise über einen ausgedehnten Raum verbreiten müssen. Außer den Früchten verschiedener Feigenarten fressen sie alle Baum- und Rankenfrüchte, welche der Mensch anbaut. Während man den Saft der Cocospalmen auffängt, sollen sie oft herbeikommen, gierig lecken und sich förmlich berauschen. Sonst trinken sie nur Wasser, und zwar von einem über die Oberfläche eines Gewässers hängenden Zweige aus, läppend wie ein Hund. Neben der pflanzlichen Nahrung verzehren sie Kerbthiere aller Art, Vogeleier und junge Vögel, sollen sogar, wie die Singalesen behaupten, mit Baumschlangen anbinden und auch diese zerfleischen und verzehren. Pflanzenkost bildet jedoch unter allen Umständen ihre Hauptnahrung, oft genug zum Schaden des Menschen, dessen Pflanzungen und Weinbergen sie beträchtlichen Schaden zufügen. Trotzdem verfolgt man sie nur hier und da, hauptsächlich des Fleisches wegen, welches wie das unseres Hasen schmecken soll. In manchen Gegenden des festländischen Indiens dagegen läßt sich die fromme Einfalt des Hindus auch von ihnen jede Plünderung ruhig gefallen, duldet nicht, daß sie verfolgt werden, erblickt in ihnen eher noch heilige, unverletzliche Wesen.
Ich sah die ersten Flughunde in den Londoner Zoologischen Gärten, bemühte mich aber mehrere Jahre lang vergeblich, ein Pärchen oder einen von ihnen zu erwerben. Einer und der andere gelangte allerdings auf den europäischen Thiermarkt, fand aber stets schon in England seinen Käufer, meist Thierschaubudenbesitzer, nach deren Ansicht ein „Vampyr“ erklärlicher Weise zu den verlockendsten Schaustücken für Diejenigen gehört, welche, wie das Sprüchwort behauptet, niemals aussterben. Mag man auch in der Thierbude selbst sehen, daß dem „Scheusale“ einfacher Reisbrei oder Milchbrod vorgesetzt wird: man glaubt doch dem plappernden Papagei in Gestalt des Thierbeschreibers, richtiger Thierverleumders, der Schaubude, welcher gegen Erstattung eines besondern Trinkgeldes alle Ungeheuerlichkeiten der Vampyrsage in eingelernter, sich ewig gleich bleibender Weise herunterleiert; die Bude füllt sich, und der „Vampyr“ ist bald bezahlt, auch wenn er hundert Thaler gekostet haben sollte. Ich mußte mich, um meinen „Herren Collegen“ zuvorzukommen, schließlich bequemen, Flughunde im Voraus zu bestellen, und versprechen, jeden irgendwie zulässigen Preis für sie zu bezahlen. Hätte ich ahnen können, daß ein erfindungsreicher Hidalgo aus dem Bruderstamme jenseits des Aermelmeeres mit etwa fünfzig Paaren der ersehnten „Hunde“ bereits unterwegs war, und daß man die Thiere kurze Zeit darauf selbst bei Vogelhändlern (unter Anderen bei Geupel-White in Leipzig, woselbst unser Zeichner seine im Aquarium begonnenen Studien fortsetzte) zu sehen bekommen könnte: ich würde mich nicht so beeilt, mindestens nicht einhundertfünfzig Thaler für das Pärchen der immerhin ziemlich hinfälligen Thiere bezahlt haben. Trotzdem bin ich weit entfernt, den Ankauf der Flughunde zu bereuen: sie haben mir und tausend Anderen viel Vergnügen bereitet und sich somit reichlich bezahlt gemacht.
Leider ist es nicht möglich, fliegende Hunde so unterzubringen, daß alle Eigenschaften von ihnen zur Geltung kommen können. Der größte Käfig wäre für sie, als fliegende Säugethiere, noch immer viel zu klein, dürfte sie sogar gefährden, weil sie in einem einigermaßen ausgedehnten Raume zu fliegen versuchen, an den Wänden anstoßen und sich schädigen würden. Aus diesem Grunde hält man sie am zweckmäßigsten in großen Vogelbauern, welche ihnen einigen Spielraum gewähren, alle Fluggedanken aber von vornherein verbannen. Hier kann man sie wenigstens im Schlafe beobachten und einige ihrer Lauf- und Kletterbewegungen studiren.
Uebertages hängen sich die Flughunde an einem ihrer Beine auf, bald an dem rechten, bald an dem linken, ohne dabei regelmäßig zu wechseln. Das zweite Bein wird in schiefer Richtung von oben nach unten oder hinten nach vorn über den Bauch gelegt. Den Kopf biegt das Thier tief auf die Brust herab, bezüglich herauf, da es ja doch mit demselben abwärts hängt, so daß das Genick den tiefsten Punkt des Körpers bildet und nur noch durch die gespitzten Ohren überragt wird.
Nachdem es diese Stellung eingenommen hat, schlägt es erst den einen Flügel mit halb entfalteter Flatterhaut um den Leib, sodann den zweiten, etwas mehr gebreiteten darüber und hüllt dadurch den Kopf bis zur Stirnmitte, den Leib bis auf den Rücken vollkommen ein, ähnlich dem Spanier, wenn er seine Manta um sich wirft. Der handartig gebildete Fuß, dessen lange Fingerzehen mit großen, starkbogig gekrümmten, scharfspitzigen Nägeln bewehrt sind, findet an jedem Aste, an jedem Zweige oder auch am Drahte des Gebauers sicheren Anhalt, und die Lage des Flughundes erscheint, so ungewöhnlich sie dem Unkundigen vorkommen mag, ungezwungen und natürlich, ist auch unzweifelhaft die bequemste Stellung, welche das Thier überhaupt einnehmen kann, zum Schlafen in den lichtdurchglühten Baumkronen seiner Heimath also so geeignet als möglich. Die Flughaut schirmt das Auge von den Lichtstrahlen und schließt die edleren Sinne, mit Ausnahme des Gehörs, vollständig von der Außenwelt ab, läßt aber neben den Kopfseiten noch Raum für den zur Athmung erforderlichen Luftstrom, und erfüllt somit den Zweck einer Umhüllung besser als jede Decke. Zum Verkehr mit der Außenwelt genügt das Gehör, welches zwar, so weit man von den spitzen, nacktbäutigen Fuchsohren folgern darf, an Schärfe dem anderer Fledermäuse bedeutend nachstehen muß, immerhin aber genügend entwickelt sein wird, um jedes störende oder gefahrdrohende Geräusch zum Bewußtsein des Schläfers zu bringen. Ein etwa fallender Regenguß näßt höchstens einen Theil des Unterrückens, nicht aber den übrigen Körper ein, welcher durch die stets sorgfältig gefettete Flatterhaut ebenso gut geschützt ist, wie Unsereiner durch einen Gummimantel. Kurz, die eigenthümliche Ausrüstung des Flughundes kann auch während seines Schlafes gar nicht besser verwerthet werden, als es von seiner Seite geschieht: ein eifriger Zweckmäßigkeitsprediger fände, wollte er unser Thier in den Kreis seiner nutzlosen Betrachtungen ziehen, den ausgiebigsten Stoff zu Faseleien in bekannter Weise.
Der Schlaf unserer Flederhunde währt, so lange die Sonne am Himmel steht, wird aber zeitweilig unterbrochen, um irgend ein wichtiges oder unaufschiebliches Geschäft vorzunehmen. Zu den regelmäßigen Arbeiten des Thieres gehört das Putzen der Flatterhaut. Es handelt sich dabei nicht alles um Reinigung, sondern, und mehr noch, um Einfettung und Geschmeidigmachung dieses so wichtigen Gebildes. Jedes einzelne Feld der Flatterhaut wird mittelst der Schnauzenspitze am allen Theilen gedehnt und ausgeweitet und jede einzelne Talgdrüse dadurch theilweise entleert, die Haut sodann aber innen und außen mit der Zunge beleckt und geglättet. Hierauf pflegt das Thier einen Flügel nach dem andern noch zu voller Breite zu entfalten, gleichsam um sich zu überzeugen, daß kein Theil übersehen wurde. Nach vollendeter Arbeit hüllt es sich ein wie vorher. Hat es ein natürliches Bedürfniß zu befriedigen, so entfaltet es beide Flügel, hebt sich mit dem Kopfe nach vorn und oben, greift mit beiden Daumenkrallen, den einzigen, welche die zum Gerüst für die Flughaut, umgebildete Hand besitzt, nach dem Zweige oder Drahte, an welchem es bisher hing, läßt mit dem Fuße los, fällt dadurch mit dem Hintertheile nach unten und kann sich nunmehr entleeren, ohne sich zu beschmutzen oder zu benässen. Unmittelbar darauf greift es mit den Füßen nach oben und nimmt sobald es sich festgehängt, die frühere Stellung wieder an.
Gegen Sonnenuntergang, meist noch etwas später, erwachen die Flughunde aus ihrem Tagschlafe, lockern die bis dahin eng abgeschlossene Umhüllung ein wenig, spitzen und bewegen die Ohren, putzen noch einige Zeit lang an der Flughaut herum und recken und dehnen sich. Jetzt regen sich auch Hunger und Durst. Humpelnden Ganges, halb kriechend, halb kletternd, bewegen sie sich vorwärts, mit Daumen- und Fußklauen überall nach Halt suchend und mit bemerklichem Geschick solchen auch findend, bis sie in entsprechende Nähe des Futter- und Trinkgefäßes gelangt sind. Am liebsten ist es ihnen, wenn sie, ohne ihre gewöhnliche Stellung aufzugeben, fressen, und trinken können. Sie genießen alle Arten von Obst, am liebsten Datteln, Apfelsinen, Kirschen und Birnen, minder [527] gern Aepfel und Pflaumen. Gekochter Reis behagt ihnen nicht sonderlich, Milchbrod ebensowenig, obgleich ihnen beide Nahrungsstoffe genügen, wenn ihnen andere nicht geboten werden. Sie fassen die Dattel oder den Bissen überhaupt mit dem Maule, kauen ihn aus, saugen dabei behaglich den ausfließenden Saft auf und werfen den Rest, einen großen Theil der Fasern, wieder weg, fressen überhaupt sehr lüderlich und verwerfen mehr, als sie genießen. Ist ihnen ein Bissen zu groß, so kommen sie mit der eben freien Fußhand zu Hülfe, ergreifen mit dieser fest und sicher eine ziemlich große Frucht und führen sie zum Munde. Erforderlichen Falls wird auch die Daumenkralle mit zum Halten verwendet. Zu ihren besonderen Genüssen gehört Milch, möglicherweise ihrer Schmackhaftigkeit halber, möglicherweise auch, weil sie das Bedürfniß empfinden, die ihnen doch nur sehr mangelhaft gebotene thierische Nahrung (feingehacktes Fleisch mit Ameisenpuppen, Käfern etc.) zu ersetzen. Sie trinken täglich ihr Schälchen Milch mit sichtlichem Behagen leer und lassen sich, wenn ihnen diese Leckerei winkt, recht gern ein gewaltsames Erwecken aus ihrem süßesten Schlummer gefallen.
Erst nach wirklich eingetretener Dunkelheit sind die Flughunde zu vollem Leben erwacht. Sie haben sich munter gefressen. Ihre dunkeln Augen schauen hell in’s Weite. Noch einmal werden alle Felder der Flughäute beleckt und geglättet, die Fittige abwechselnd gedehnt, gereckt und wieder zusammengefaltet, die Haare durch Kratzen und Lecken gekämmt und gesäubert; nunmehr versuchen sie, in ihrem engen Gefängnisse die nöthige Bewegung sich zu verschaffen. Die Fittige bald etwas gelüftet, bald wieder fast gänzlich zusammengeschlagen, klettern sie ununterbrochen auf und nieder, kopfoberst, kopfunterst, durchmessen alle Seiten des Käfigs, durchkriechen alle Winkel. Es sieht zum Erbarmen aus, wie sie sich abmühen, irgendwo oder wie die Möglichkeit zu entdecken, ihrer Bewegungslust Genüge zu leisten. Ja, wenn sie fliegen könnten, wie sie in ihrer Heimath es gewohnt! Arme Gefangene, wie gern möchte man euch helfen!
Einmal meine Flughunde in einem weiteren Raume zu sehen, konnte ich mir nicht versagen. Das Geschäftszimmer des Aquarium schien mir groß genug zu sein, um ihnen auch zum Fliegen Raum zu bieten. Der Käfig wurde Abends dorthin gebracht und die Thür geöffnet. Beide Flughunde waren vollkommen munter, kletterten ununterbrochen in ihrem Käfige umher, verließen denselben aber nicht. Die geöffnete Thür schien für sie gar nicht vorhanden zu sein; daß die Oeffnung ihnen einen Weg zum Entkommen bieten könnte, kam ihnen nicht in den Sinn. Ein Höhlenthier, eine Maus z. B., würde anders gehandelt haben, eine kleinere, in Häusern lebende Fledermaus sicherlich auch. Wir mußten uns entschließen, die Flederhunde gewaltsam aus dem Käfige zu nehmen – eine Arbeit, welche uns leichter schien, als sie war. Vor einem Bisse der immerhin leidlich bewehrten Thiere fürchtet sich Futtermeister Seidel, mein unentbehrlicher Gehülfe bei allen Beobachtungen und Versuchen, selbstverständlich nicht; demungeachtet hatte er seine liebe Noth, jene von den Gitterstäben des Käfigs loszulösen und in seine Gewalt zu bekommen. Hatte er wirklich einmal beide Fußhände losgehakt, so griffen die Flederhunde mit der Daumenkralle zu und hingen sich so fest, daß man sie, ohne ihnen Schaden zu thun, nicht frei machen konnte; waren glücklich auch die Daumenkrallen gepackt, so schlüpften die Fußhände wieder aus der Hand, oder ein meinem braven Seidel unversehens beigebrachter Biß that seine Wirkung, und alle eingefangenen Beine und Hakenkrallen wurden gleichzeitig frei. Endlich gepackt und trotz allen Beißens festgehalten, gelang es, die Thiere herauszubringen und außen auf den Käfig zu setzen.
Meine Hoffnung, daß sie von hier abfliegen würden, erfüllte sich nicht. Sie kletterten anscheinend ängstlich an den Außenwänden des Gebauers auf und nieder, schauten verlangend in’s Innere, untersuchten die Wände von allen Seiten, verließen sie aber nicht. Es wurde nunmehr eine schwache Stange herbeigeholt, in einiger Höhe über dem Boden befestigt und an sie die Flederhunde angehängt. Jetzt entfalteten sie die mächtigen Fittige, ließen die Fußhände los, thaten einige laut klappende Flügelschläge und – fielen zum Boden herab, mit möglichster Eile und doch höchst ungeschickt auf demselben weiter kriechend. Der Raum war für ihre Flugbewegungen doch noch viel zu klein! Eilig ergriffen wir die auf dem glatten Boden wahrhaft kläglich sich geberdenden Thiere, und mit ersichtlichem Behagen krochen sie in ihr enges Gefängniß zurück.
Unsere Gefangenen, ein richtiges Pärchen, haben bis jetzt im vollsten Einverständniß zusammen gelebt. Besondere Zärtlichkeiten erweisen sie sich freilich nicht; Zank und Streit kommt aber ebensowenig vor. Sie fressen gleichzeitig aus einer Schüssel, trinken gemeinschaftlich aus einer Tasse und hängen friedlich dicht nebeneinander. Auf Gleichgültigkeit gegen Gesellschaft darf man dieses schöne Verhältniß jedoch nicht zurückführen. Dazu sind sie zu leidenschaftlich. So gutmüthig sie zu sein scheinen, so willig sie sich von uns behandeln, berühren, streicheln lassen, so heftig werden sie, wenn Besucher sie muthwillig stören und necken. Ein höchst ärgerliches schnarrendes Knurren verkündet dann so deutlich, daß man gar nicht in Zweifel bleiben kann, wie zornig sie sind. Ihre Leidenschaftlichkeit äußert sich zuweilen aber auch ihresgleichen gegenüber. Dies erfuhr man im hiesigen zoologischen Garten, einer bisher arg vernachlässigten, seit Kurzem unter Leitung des trefflichen Bodinus rasch und kräftig aufblühenden Anstalt, welche schon gegenwärtig alle übrigen deutschen Thiergärten überflügelt hat. Die Flughunde des Aquarium hatten so großes Aufsehen erregt, daß Freund Bodinus sich entschloß, für den zoologischen Garten ebenfalls ein Paar anzuschaffen. Die Thiere kamen an und wurden ausgestellt; bald aber erkrankte eines und mußte behufs besonderer Pflege von dem Gefährten getrennt werden. Nachdem es vollständig genesen, konnte man es mit diesem wieder vereinigen. Am andern Morgen fand man es verendet im Käfige und zwar, zu nicht geringer Verwunderung der Beteiligten, ermordet durch den Genossen, mit welchem es so lange im tiefsten Frieden gelebt hatte. Man verschrieb also ein anderes Stück, um wieder ein Paar, d. h. ein Männchen und ein Weibchen zu besitzen. Bald nach der Vereinigung fand der Wärter beide Flughunde im wüthendsten ingrimmigsten Kampfe, einem solchen auf Leben und Tod, begriffen. Er griff entschlossen ein, trennte die auf das Höchste erregten Thiere mit größter Mühe und hielt einen verendenden Flughund in seiner Hand. Der Sieger war so erregt, daß er vor Ingrimm zitterte und noch lange Zeit wüthend schnarrte, so oft der Wärter in seine Nähe kam. Am andern Morgen lag auch dieser Flughund todt am Boden seines Käfigs: er war seinen im Kampfe erhaltenen Wunden ebenfalls erlegen. Die Untersuchung ergab, daß alle drei Flederhunde sich gegenseitig an derselben Stelle, dem Schultergelenk, angegriffen hatten. Bei einem der zuerst unterliegenden waren Oberarm, Seitenbrust und Achselgegend von Bissen förmlich zerfetzt, die großen Blutgefäße zerrissen und die Brustmuskeln theilweise abgebissen: der Tod erfolgte daher im Verlaufe weniger Minuten.
Der Doppelmord erklärte uns, Bodinus und mir, den ersten Todtschlag. Die Flederhunde bilden streng geschlossene Gesellschaften, wollen mit Fremden nichts zu thun haben und bekämpfen wahrscheinlich jeden Eindringling auf Tod und Leben. Der kranke Genosse war dem gesunden in den wenigen Tagen der Trennung ebenso fremd geworden wie der später neu erworbene Geselle; geschlechtliche Rücksichten kamen nicht zur Geltung, und der entsetzliche Zweikampf wurde ausgefochten.
Anders lassen sich diese Unthaten nicht wohl erklären; ein bemerkenswerther Beitrag zur Kunde des Wesens der so absonderlichen Geschöpfe bleiben sie aber dennoch. Sollte einer der Verfechter des unter dem Namen „Instinct“ allen Nichtdenkern aufgetischten Unsinns eine richtigere Erklärung des zwecklosen Mordens zu geben wissen, bin ich es auch zufrieden; denn unfehlbar ist nur der alte, thierunkundige Herr in Rom – ich bin es nicht.
Das Bundesoberhandelsgericht. Noch nicht zweihundert Jahre sind verflossen. Damals blutete das deutsche Reich aus hundert und aber hundert klaffenden Wunden. Die französischen Mordbrenner und Räuberbanden, d. h. die Soldaten Ludwig’s des Vierzehnten, von denen der Kurfürst von der Pfalz an den bigotten Kaiser Leopold den Ersten berichtete: „und weiln dergleichen unmenschliche Thaten gleichwohl von Türcken, Heyden und andern Ungläubigen, die zwar keine Christen, jedoch Menschen sind, nicht dergestalt verübet worden, so müssen sie auch nicht von Menschen, sondern von dem leidigen Satan herrühren,“ hatten die gesegnete Pfalz mit Feuer und Schwert schonungslos verheert. Ueberall [528] rauchende Trümmer, Mord und Plünderung, Gräuel der Verwüstung und Unmenschlichkeit, die jeder Beschreibung spotten. Zu den unglücklichsten Städten – wenn in diesem Meere von Jammer und Elend eine Steigerung überhaupt möglich ist – gehörte die freie Reichsstadt Speyer. In ihr befand sich nach vielfachen Wanderungen und Wandelungen das höchste Reichsgericht, das Reichskammergericht, und zwar seit dem Jahre 1526. Der Marschall Herzog von Duras hatte die Versicherung gegeben, daß das Kammergericht in seinen gewöhnlichen Functionen nicht gehindert werden sollte, nichtsdestoweniger wurde es am Nachmittage des 19. October 1688 militärisch beseht, die Zimmer wurden versiegelt. Später wurden die Acten auf Befehl des Intendanten de la Grange eingepackt und theilweise nach Straßburg gebracht; doch fanden manche Parteien Mittel und Wege, sie von dort aus zurückzuerhalten. Als im folgenden Jahre das Verderben über Speyer hereinbrach, der Stadt der Brand angekündigt und deren Räumung innerhalb sechs Tagen aufgegeben wurde – da mußten es auch die sämmtlichen Mitglieder des Kammergerichts über sich ergehen lassen, daß ihre Häuser, Bücher und Acten in Rauch aufgingen. Wie sie gingen und standen, so mußten sie auf ihre persönliche Rettung bedacht sein. Sie baten um Verlegung des höchsten Reichsgerichts nach Frankfurt oder Hanau „wegen ihrer guten Gelegenheit an den Strömen und andern sich dabei kundbarlich befindenden Bequemlichkeiten“, aber Frankfurt remonstrirte, weil „ein corpus von so vielen hundert Menschen Victualien und Lebensmittel theuer machen würde“. Vergebens bat die Bürgerschaft zu Mühlhausen in Thüringen (entgegen dem dortigen Magistrate) um Uebersiedelung des Reichskammergerichts, vergebens brachte Kur-Mainz die Stadt Erfurt in Vorschlag; die Stadt Wetzlar wurde mit der Reception bedacht, zum großen Verdrusse der camerales, welche wiederholt den Mangel öffentlicher und genügender Privathäuser gerügt hatten, zur Freude der Stadt, deren wackerer Reichstagsbevollmächtigter, Georg Oehlsperger, die „Räumung und Verbesserung des Rathhauses zum Gebrauch des höchstlöblichen Kammergerichts“ versprochen hatte. Nachdem sie über Jahr und Tag geruht hatten, wurden im Februar 1690 die Kammergerichtsverhandlungen wieder aufgenommen.
Und wieder kam ein französischer Tyrann und bedrohte Deutschland. Die deutschen Reichsstände sagten sich vom Reichsverbande los, sie stellten sich schamlos unter die „Garantie desselben Monarchen, dessen Absichten sich stets mit dem wahren Interesse Deutschlands übereinstimmend gezeigt hätten“. Einer nach dem andern bettelten sie bei Talleyrand um die Erlaubniß zur Existenz, und wie Gnadenbrocken warf ihnen Napoleon Länder und Ländchen vor die Füße. Der deutsche Kaiser legte die verrathene Kaiserkrone am 6. August 1806 nieder, er entband die Fürsten, Stände und alle Reichsangehörige, „insonderheit auch die Mitglieder der höchsten Reichsgerichte“ von ihren Pflichten. Die aus Speyer in fünfhundert Fässern geflüchteten und die späteren Proceßacten wurden alphabetisch registrirt, sie ergaben, die stattliche Zahl von achtzigtausend. Das Repertorium füllte allein sechs riesige Folianten.
Und wieder war es im Monat August, und wieder hatte ein Napoleon, fortspinnend den politischen Faden seines Oheims und Ludwig’s des Vierzehnten, freventlich den Krieg wider uns heraufbeschworen. Aber eine glücklichere Sonne leuchtete Deutschland, eine furchtbare Nemesis kämpfte für uns. Mitten im Waffenlärm, unter den Auspicien des ersten großen Sieges, vollzog sich in Leipzig ein Friedensact, die Constituirung des Bundesoberhandelsgerichts. In einer schwer verhängnißvollen Zeit in Wirksamkeit getreten, bedurfte es noch keines Jahres und der Gerichtshof umspannt das ganze Vaterland, Süd und Nord. Ja, während seine Competenz für Deutschland nur eine sachlich beschränkte ist und mit den particularen obersten Gerichten concurrirt, ist sie für die uns früher geraubten französischen Provinzen eine allgemeine und ausschließliche geworden. Für alle Civil- und Criminalsachen aus Elsaß und Lothringen wird in Leipzig das letzte Wort gesprochen. Es ist uns binnen wenigen Monaten so viel Großes und Erhabenes „über Bitten und Verstehen“ zu Theil geworden, daß die immenseste, folgenschwerste, bedeutungsreichste Friedensthat, die Errichtung des höchsten Reichsgerichts, noch gar nicht zum wahren Verständniß gekommen ist. Wenn dieser Krystallisationspunkt eines einheitlichen deutschen Rechts, Gerichts und Verfahrens den Glanz aller unserer particularen obersten Rechtsbehörden an sich gezogen haben wird, dann erst, wenn der böse Alp der Zerrissenheit gewichen sein wird, mag staunend noch diese Generation verwirklicht sehen, was ihr vor Jahren noch als Ideal vorschwebte, als Traum erschien. Die Stadt Leipzig aber, deß sind wir gewiß, wird eifersüchtig den Juwel hüten, den ein freundliches Geschick zum Heile Deutschlands ihr anvertraut hat!
Ueber zwei von den dreizehn in unserer ersten Liste aufgeführten vermißten Soldaten sind bereits Nachrichten eingegangen.
Ueber den württembergischen Pionier Robert Schwarzmann (Nr. 5) drei Briefe, von welchen der erste, aus München, angiebt, daß der an Meningitis schwer Erkrankte von Dannemarie nach Karlsruhe in das Garnisonslazareth gebracht worden und wohl auf dem Wege der Besserung sei; der zweite, aus Heimen bei Heidelberg, bestätigt ersteres, glaubt aber bereits an dessen Tod, und dem dritten, aus Karlsruhe, liegt die Nr. 156 des Karlsruher Tagebl. v. 11. Juni d. J. bei, in welcher der am 9. Juni erfolgte Tod des Gesuchten angezeigt wird. Alles stimmt, nur das Alter nicht; darüber und über das Nähere mögen die Anverwandten direct mit den Militär- und den Gemeinde-Behörden von Karlsruhe sich in Verbindung setzen. Die rege Theilnahme, welche sich für diesen Cameraden hiermit gezeigt hat, ist sicherlich für die Hinterbliebenen ein Trost.
Hermann Liebich aus Sprottau (Nr. 6 der Liste) betreffend, giebt Karl Pietschker, Cand. d. Theol. in Köthen, während des Kriegs Zugführer bei der Johannitercolonne im Hauptquartier der 3. Armee und auch dem großen Publicum bekannt durch sein lesenswerthes Buch „Auf dem Siegeszuge von Berlin nach Paris“, wenigstens einige Fingerzeige, auf welche fernere Nachforschungen sich stützen können. „Am 2. September,“ erzählt er, „rückten wir von Frénois über Donchery nach den Hügeln und Thalschluchten zwischen St. Menges und Floing, wo Tags vorher das V. und XI. Corps einen furchtbaren Kampf zu bestehen hatten. Dort fanden wir zwischen Haufen von Todten noch zweiundachtzig Verwundete, die wir nach Floing transportirten, und darunter waren viele auch vom zweiten Bataillon der Sechsundvierziger, so daß H. Liebich sich ganz gut dabei befunden haben kann. Da aber die Aerzte, trotz aller Ueberfüllung der Lazarethe, dennoch schwerlich einen dort Gestorbenen unangemeldet gelassen haben, so wird wohl Liebich zu jenen Sechsern und Sechsundvierzigern gehören, welche am Nachmittag des 2. Septbr. auf der oben bezeichneten Waldwiese in größter Hast bestattet worden sind, um die Soldaten möglichst bald dem niederschlagenden Anblick des Platzes zu entziehen.“
Zum Schluß noch eine sehr viele Vermißtheiten von sicherlich Gefallenen erklärende Bemerkung. K. Pietschker hat auch bei dieser Bestattung nicht gesehen, daß den Leichnamen die bekannten Marken abgenommen worden wären. In außerordentlich vielen Fällen war dies auch nicht möglich, denn viele Soldaten, und sicherlich nicht blos katholische, hatten die so wichtige Blechmarke aus thörichtem Aberglauben („Todtenmarke“) weggeworfen, eine Handlung, welche die Feststellung der Persönlichkeit eines Todten, wenn beim Begräbniß nicht zufällig Cameraden derselben Compagnie zugegen waren, in den meisten Fällen für alle Zeit geradezu unmöglich machte.
14a) Hans Hoffmann, Meininger, aus Heldburg bei Hildburghausen, beim Thüringischen Inf.-Reg. Nr. 95, 2. Bat., 8. Comp.; am 6. August bei Wörth verwundet und seitdem spurlos verschwunden. – Die Zahl der Vermißten aus dieser Schlacht ist außerordentlich groß. Wir erhalten darüber folgende Notiz:
Die protestantischen Geistlichen von Wörth haben erst vom November des vorigen Jahres an die Namen der in den dortigen Lazarethen, Gestorbenen aufgezeichnet; vorher sollen die Johanniter ein Verzeichniß aller Verwundeten der Lazarethe und ebenso der Todten geführt, aber leider weder zurückgelassen noch öffentlich mitgetheilt haben. Besteht wirklich eine solche Liste, so ist die Veröffentlichung derselben dringend zu wünschen; sie kann viele bisher vergeblich gestellte Fragen beantworten und der entsetzlichen Pein der Ungewißheit über das Loos ihrer Lieben in vielen Eltern- und Geschwisterherzen ein Ende machen.
14b) Johann Gottlieb Kliem, Preuße, aus Schwenten bei Kiebel in Posen, beim 3. posenschen Inf.-Reg. Nr. 58; seit der Schlacht bei Wörth verschollen.
15) Heinrich Gerhard Taddicken, Oldenburger, aus Haddien, Kreis Jever, beim oldenburgischen Dragoner-Regiment Nr. 19, 1. Escadron; bei Mars-la-Tour am 16. August 1870 verwundet und, nach des Wachtmeisters Auskunft, in ein Lazareth zu Pont-à-Mousson gebracht, aber seitdem spurlos verschwunden. Die alten Eltern hatten alle ihre vier Söhne im Kriege, drei sind gerettet, aber das ungewisse Schicksal dieses Lieblings der Mutter zehrt ihr am Leben.
16) Karl Hermann Winzer, Sachse, der noch nicht achtzehnjährige einzige Sohn der verwittweten Frau Henriette Winzer zu Pirna, beim k. sächs. Leib-Grenadier-Regiment Nr. 100, 4. Comp.; soll, nach Erzählungen seiner Cameraden, in einem Patrouillengefecht bei Bondy vor Paris am 5. Jan. d. J. erschossen und von Soldaten des 103. Regiments in einem Graben verscharrt worden sein. Kann keiner dieser Cameraden der Mutter des jungen Helden schriftliche Kunde über sein Ende zukommen lassen?
17) Theodor Riem, Preuße, aus Asbach bei Schmalkalden, beim k. Preuß. Inf.-Reg. Nr. 81, 9. Comp. (3. Reserve-Division); bei einem nächtlichen Ausfall vor Metz am 7. Oct. 1870 verwundet, angeblich in das Feldlazareth Rombas bei Diedenhofen gebracht, aber dort vergeblich gesucht und seitdem nirgends zu finden.
Gefunden! Sattler Friedrich Buchholz aus Paris, dessen Aufenthaltsermittlung im Interesse seiner in der Schreckenszeit nach Darmstadt geflüchteten Familie der Gegenstand unsrer Notiz in Nr. 21 der Gartenlaube war, ist gefunden. Er hatte in Wettenscheid in Westphalen nothdürftige Beschäftigung erhalten und glaubte seine Familie noch in Paris, als ihn die Nachricht ihrer Flucht nach Darmstadt in dem Stillleben des westphälischen Städtchens überraschte.
In Darmstadt mit seinen Lieben alsbald vereinigt, hat er nunmehr in der renommirten Fabrik des Herrn Gretsch in Offenbach Arbeit in seiner Specialität (Reiseflaschen mit Lederüberzug) gefunden und ist seine Familie bereits dorthin übergesiedelt.
Mögen die Franzosen nur fortfahren, mit den deutschen Arbeitern deutschen Fleiß und Anstelligkeit und den ihnen daraus bisher im Uebermaß zugeflossenen Vortheil von sich zu weisen. Die vaterländische Industrie wird sich nicht schlecht dabei befinden.
R. G. Wir gratuliren Ihnen zu Ihrem Scharfsinn. Allerdings muß es im zweiten Abschnitt der Erzählung von Vacano (Nr. 27, S. 442, Sp. 2) statt: zehn Jahre nach der Geburt einer Tochter – „ein Jahr nach der Geburt einer Tochter“ heißen. Selbstverständlich liegt hier ein Druckfehler vor, den wir zu entschuldigen bitten.
A. F. in Kragujevac. Senefelder, der Erfinder der Lithographie, ist im Jahre 1771 in Prag geboren.
C. P. Martini, Rußland. Wir danken Ihnen für Ihr Anerbieten, können es aber wegen Raummangels nicht benützen. Das Manuscript steht Ihnen auf Verlangen wieder zu Diensten.
Th. W. Straße und Hausnummer allein genügen nicht; zu einer vollständigen Adresse gehört auch die Nennung der Stadt, die Sie in Ihrem Briefe leider vergessen haben. Holen Sie das Versäumte doch gefälligst nach, damit wir Ihnen den Artikel „Aus meinem Kriegstagebuche“ wieder zustellen können.
- ↑ Bienenzüchter