Die Gartenlaube (1871)/Heft 9

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1871
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 9.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die Zuwider-Wurzen.
Eine Geschichte aus den bairischen Bergen.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)

Stasi antwortete nicht gleich. Sie hatte kaum gefühlt, daß sie wieder fest auf dem Boden stand, als sie von der Umarmung sich befreite und ein paar Schritte bei Seite trat, um zu sehen, wer ihr den unerwarteten Dienst geleistet hatte. Das Ergebnis schien ihr nicht zu behagen; denn ihr Gesicht verfinsterte sich augenblicklich wieder. Der Mund, der sich zuerst unwillkürlich zu einem freudigen und dankbaren Lächeln erschlossen hatte, nahm wieder den strengen, höhnischen und mürrischen Zug an, welcher trotz aller Lieblichkeit so gern um denselben heimisch war. Dieser Eindruck war wohl auch erklärlich; denn war auch Gestalt und Kopf des Burschen so hübsch und stattlich, daß er Stasi mit Fug und Recht als ein ebenbürtiges männliches Gegenstück zur Seite gestellt werden konnte, so war doch die Erscheinung im Uebrigen in hohem Grade unsauber und wüst, der Anzug verrissen und mit Schmutz bedeckt, so daß der Gedanke an einen Landstreicher und etwas noch Schlimmeres sich ebenso unwillkürlich aufdrängte, als er verzeihlich erschien. Ein verschossener, löcheriger Hut von der Gestalt eines Kegels stimmte vollkommen zu grobgenagelten Schuhen der plumpsten Art und zu der Lederhose, von deren Schwärze längst die letzte Spur abgetragen war. Der Körper selbst steckte in einer Art von Joppe mit Aermeln, aus dem allergröbsten Loden gefertigt, nur von Heften zusammengehalten und an Brust und Schultern durch einen ledernen Ueberschlag wie durch einen Kragen gedeckt, welcher von Pech und Harz glänzte, wie tropfende Tannenrinde. Der ganze Anzug verrieth einen Menschen, welcher lange und ständig fern von Seinesgleichen im Walde gelebt haben mußte, und die mächtige, langstielige Axt, welche der Mann nebst einem kleinen Werkkorbe über der Schulter hängen hatte, ließ vollständig den Holzknecht erkennen.

„So schau’n ja dieselbig’n aus, die vom Himmel ’runter kommen,“ sagte Stasi, indem sie sich geringschätzig abwandte. „Du mußt schon stark wo anders ang’streift sein – brauchst Dir nichts einzubilden – ich hätt’ mich selber auf den Füßen halten können; ich dank’ Dir nit für Deine Hilf’.“

Eilend schritt sie hinweg und wanderte bereits den Steig zu dem kleinen Pfarrkirchlein hinan, als der Bursche noch unbeweglich dastand und ihr nachsah, in der gehobenen Hand den Hut, den er zum Gruße abgenommen, auf den geöffneten Lippen die Erwiderung auf die unerwartete Anrede. „Sakra,“ sagte er dann, indem er den Hut aufsetzte und mit einem tüchtigen Schlage auf seinem braunen Kraushaar feststülpte, „das ist einmal ein bildsauber’s Madl – aber wenn sie den schiechen Humor nit hätt’, das könnt’ nit schaden.“

Während dessen hatten die Glocken der Dorfkirche ihre Klänge zu vollem Geläute vereinigt; festlich klang es durch das Thal entlang und trug zu den Berghäusern die Kunde empor, daß unten das Dankfest der Christenheit beginne, das Dankfest für die Befreiung aus der Winternacht, für die ewige Dauer verbürgende Auferstehung alles dessen, was groß ist, herrlich und schön. Die Kirche ist klein wie das Dörflein, welches außer dem stattlichen Wirthshause nur in ein paar kleinen Höfen besteht; aber die Stelle ist mit kluger Erwägung so gewählt, daß sie beinahe überallhin sichtbar ist und so recht eigentlich den Mittelpunkt der Gemeinde bildet, deren Glieder, wenn auch in etwa dreißig Höfen, Gütern und Häuschen im Umkreise von vielen Stunden zerstreut, dennoch durch gemeinsame Art, Tracht und Sitte so eng verbunden sind, daß sie von den Bewohnern aller anderen Bergthäler sich unterscheiden. Im Gefühle dieser Eigenheit haben sie sich Jahrhunderte lang einander abgegrenzt und abgeschlossen, sodaß seit Menschengedenken es kaum vorgekommen ist, daß ein Jachenauer Mädchen aus dem Thale hinausgeheirathet hätte; vollends niemals aber war es geschehen, daß ein Fremder oder Auswärtiger hereingekommen wäre und sich angesiedelt hätte auf Haus und Hof in der Jachenau. Jede Familie lebte für sich auf ihrem Gute von dem Ertrag ihrer Arbeit und zwar ganz behaglich; denn für die kleine Bevölkerung reichte die auf den schönen Thalweiden und Almen sehr ergiebige Viehzucht vollkommen aus, und die Nutzung der fast überall bis vor die Thür reichenden Waldungen, die damals nahezu noch Urwälder zu nennen waren, boten eine zweite, nicht spärlich fließende Quelle eines Wohlstandes, dessen Hauptreiz in der Unabhängigkeit und Selbstständigkeit lag, die er gewährte – dessen Hauptstütze die freudige Genügsamkeit bildete, aus der er entsprang.

Die Kirche, ein altes, aber unscheinbares Bethaus, hatte weitaus nicht Raum genug für die Besucher, welche zumal an einem Tage wie heute von allen Höhen und Niederungen herbeiströmten; deshalb war drinnen in den Kirchstühlen jedem Hofbesitzer sein Platz angewiesen, und jeder hatte denselben auf der Betbank mit einem Schildchen bezeichnet, das den Namen seines Hofes oder Anwesens trägt. Daneben lag das Gebetbuch, damit es der Kirchgänger nicht erst mitzubringen brauchte; denn wenn auch Jahr aus Jahr [142] ein den ganzen Tag über die Kirchthür offen stand, war es doch nicht zu besorgen, daß irgendwer an den alten Büchern sich vergreifen würde, so anziehend manches gerade durch sein Alter sein mochte. Wer nicht auf der kleinen Emporbühne bei den Schulkindern und in der Nähe der ländlichen Orgel Platz finden konnte, ergab sich in sein Schicksal, draußen auf dem Friedhof zwischen den Gräbern zu stehen, deren einfache Kreuze und Denkmale nebst einem schlichten „Requiescat in pace!“ und irgend einem frommen Spruche die Namen der früheren Hofbesitzer trugen, welche den Platz, den sie früher in der Kirche gehabt, nun um einen solchen vor derselben vertauscht hatten. Meist die jüngeren Burschen waren es, welche den Platz vor der Thür vorzogen, theils aus angeborener Lust zur Freiheit, theils weil es Brauch war, am Ende des Hochamts die Mädchen aus der Kirche an sich vorbeiziehen zu lassen. Eine Stelle möglichst nahe an der Kirchenthür war daher sehr erwünscht und gesucht. Den Hut in den gefalteten Händen vor die Brust gedrückt, lauschten sie den einzelnen Worten der Predigt, die zu ihnen herausdrangen, und ließen die Augen durch das mütterliche Thal streifen und die heimathlichen Berge hinan. Es war wohl eine Stelle, an der man andächtig sein konnte, auch ohne das Gewölbe einer Kirche über sich zu haben. Wenn die Orgel aus der offenen Thür erscholl, wenn der Morgenwind durch die Lindenwipfel jenseits der Kirchhofmauer rauschte und das lange Gras auf den Gräbern wanken machte, dann aber wieder den jungen Burschen um die Stirn und in den blonden Locken spielte, als wollte er mahnen, wie bald vielleicht auch sie den frischen Hauch des Lebens nicht mehr spüren würden, wie Diejenigen, die unter ihren Füßen gebettet lagen – dann mußte es wohl ein starres Herz sein, durch das nicht ein frommer Ahnungsschauer der Ewigkeit gegangen wäre.

Vor dem Altare standen die Frauen und Töchter mit Körben und Schüsseln gedrängt, des Augenblicks wartend, der den darauf befindlichen schön geschmückten Speisen die Osterweihe ertheilen sollte; das Hauptstück des Festes aber, das drinnen nicht wohl angebracht werden konnte, stand draußen vor der Thür: ein kleiner vierräderiger Karren, dicht mit Tannenreisig umwunden, daß er wie eine grüne Kiste aussah. An den Ecken waren kleine Wipfel aufgestellt und untereinander durch Kreuzgewinde verknüpft, während den freien Raum in der Mitte frischgepflücktes Waldmoos bedeckte. Auf diesem lag der Osterbock, ein sonderbares Gericht, aus einem ganzen gebratenen Widder bestehend; denn die Sitte – nunmehr mit manch Anderem bis auf eine schwache Erinnerung verloschen – verlangte, daß jedes Jahr ein anderer Hof ein solches Thier zu stellen hatte, und es war der wetteifernde Stolz Aller, einen ganz auserlesen schönen Widder zu liefern, der dann in Viertel zerstückt, so gebraten, dann aber wieder zusammengesetzt wurde, daß er annähernd seine vorige Gestalt hatte. Der Kopf blieb in seiner natürlichen Beschaffenheit erhalten, mit Blumen bekränzt und an den Hörnern stark vergoldet – eine längst nicht mehr verstandene Erinnerung an jene Zeit, als die Bewohner dieser Thäler noch der altdeutschen Frühlingsgöttin Ostera einen Widder zum Opfer zu schlachten pflegten. Die Zusammensetzung und noch mehr die Vertheilung des gebratenen Thieres forderte viel Kunst und Geschicklichkeit; denn es mußte genau so viele Theile geben, als Höfe oder Haushaltungen in der Gemeinde waren, und es wäre ein arger Verdruß entstanden, wenn der Eine oder Andere zu kurz gekommen wäre oder den Theil nicht erhalten hätte, der nach altem Herkommen ihm oder seinem Hause gebührte. Der Osterbock – darüber waren alle Umstehenden einig – suchte diesmal wirklich seines Gleichen. Man sah wohl, daß der Kurz am Berge einer der reichsten Bauern der Gemeinde war, daß er nicht geknausert hatte, einen Widder von seltener Art und Größe auszuspüren, und das gebratene Fleisch ließ schon durch den bloßen Anblick seiner besondern Zartheit das ausgesuchte Futter errathen, mit dem er gemästet worden war. Nicht minder war die Ausstattung ausgezeichnet und selten und bot durch den Reichthum von Blumen, die zu dieser Jahreszeit und in dieser Gegend wirklich eine wunderbare Erscheinung waren, einen ungemein lieblichen Anblick.

„Da sieht man’s,“ sagte einer der Burschen, „was die Schwester von dem Kurzbauern für a tüchtiges Leut ist! Solche Blumen giebt’s um diese Zeit nit weit und breit. Ich hab’ ein einziges Mal solche in der Stadt München in einem Glashaus gesehen. Die muß sie von dort haben kommen lassen, das kann ein schönes Stück Geld kosten.“

„Ich bild’ mir ein,“ sagte ein anderer Bursche, „die Verzierung und die Blumen sind nit auf der alten Kurzin ihrem Mist gewachsen. Das hat gewiß die Tochter ausgestudirt, die Stasi; das ist eine gar Feine, eine von den Ausgestochenen – der sieht so was eher gleich, mein’ ich!“

„Na, dassel’ glaub’ ich nit,“ sagte der Erste wieder, während aus der Kirche die einfallende Schlußcadenz der Orgel verkündete, daß der Pfarrer den letzten Segen über die Anwesenden gesprochen hatte. „Die Kurzenstasi ist viel zu ungut zu so ’was; sie vergönnt ja keinem Menschen ein freundliches Wort, und wenn sie lacht, steigt sie allemal auf den Heuboden hinauf, nur daß man es nicht sieht! Aber jetzt macht, das Amt ist gleich aus, daß wir in’s Wirthshaus hinunterkommen und einen guten Platz finden!“

Indessen war der Holzknecht, nachdem er den Eindruck der unangenehmen Begegnung abgeschüttelt, seine Straße weiter gegangen, hatte am Kirchweg den Hut gezogen und sich andächtig bekreuzt; dann aber schlug er die Richtung nach dem Thale ein und schritt das Wirthshaus entlang, dessen gastlicher Giebel so einladend emporstieg, als freue er sich schon des Besuches, der bald nach dem Gottesdienste seine Räume füllen und seine Vorräte in Küche und Keller leeren werde. Eben war der Wirth unter die Thür getreten und horchte nach der Kirche hin. „Sie sind schon beim Sanctus,“ rief er dann in’s Haus hinein. „Richtet nur Alles her und setzt den Wurstkessel über’s Feuer! Jetzt werdens bald da sein, die Gäst’!“ Eben wollte er selbst wieder in’s Haus zurück, als er den vorüberschreitenden Wanderer gewahr ward und überrascht inne hielt. „He, holla!“ rief er dem Holzknechte zu. „Das wird nit aufgeführt; am Wirthshaus in der Jachenau geht man nit vorbei, ohne daß man einkehrt. Nur herein da und ein Maßl mitgenommen auf den Weg! Das ist ein alter Brauch; den laß ich nit abkommen.“

„Weil Du halt selber alleweil’ der Alte bist und bleibst,“ sagte der Holzknecht, indem er näher trat und die Axt mit dem Werkkorbe ablegte. „Grüß Gott, Wirth! So gieb mir halt ein’ Krug her! Ich hab’ mich freilich nit aufhalten wollen; aber ich denk’, ein Maßl werd’ ich schon zwingen, eh’ die ganze Remissori daher kommt.“

„Ja, was sieh’ ich denn?“ rief der Wirth mit freudiger Verwunderung, indem er dem Burschen die Hand bot, in die dieser kräftig einschlug. „Das ist ja der Floßermartl von Lenggries! Ja, wo kommst denn Du her, Martl, um die Zeit und in dem Aufzug und noch dazu am heiligen Ostertag? Du siehst ja aus wie ein Wilder oder ein Waldmensch!“

„Das glaub’ ich selber,“ sagte der Bursche, indem er auflachend einen Streifzug über seinen Anzug gleiten ließ. „Justement weil ich weiß, daß ich nit ausschau’, wie sich’s unter den Leuten und gar an einem so hohen Feiertag gehört, hab’ ich mich vorbeidrücken wollen, damit mich Niemand ersehen soll … ist aber auch kein Wunder, wenn man geraden Wegs von der Arbeit herkommt!“

„Von der Holzarbeit?“ fragte staunend der Wirth, nachdem er aus dem dargebotenen Kruge des Gastes Bescheid gethan. „Wer wird denn um die Zeit schon in die Berge gehn?“

„Ein bissel früh ist’s freilich,“ erwiderte Martl mit leichtem Achselzucken; „aber was willst machen, wenn Du ein armer Teufel bist und darauf aus sein mußt, daß Du Dir einen Kreuzer verdienst! Droben am Altlacherberg, wo’s hinein geht gegen die Hexenbruck und gegen das Schönberger Moos, ist eine Lahn niedergegangen und hat ein’ schönen Waldspitz niedergedruckt und übereinandergeworfen wie Schwefelhölzer. Der Forstner von der Altlach, der hätt’s gern gesehn, wenn das Holz aufgearbeitet wär’, bis der Auswärts da wär’, damit er den Platz gleich wieder aufforsten könnt’ … Du weißt, Wirth, wir haben nit viel Uebriges, ich und meine alte Mutter; von dem kleinen Häusel draußen an der Wegscheid laßt sich nichts herunterbeißen, und im Winter, wenn die Floßfahrt nimmer geht, ist nit viel zu verdienen. Der Forstner hat gesagt, er wollt’ gern die Arbeit zahlen und noch baare fünfzig Gulden darauf legen, wenn der Platz bis zum Ostertag völlig geräumt wär’ …“

„Ich hab’ von dem Schneebruch gehört,“ schaltete der Wirth ein; „es sollen in die hundert Klaftern sein …“

„Ja es ist ein schönes Neigel – aber fünfzig Gulden extra ist auch ein Wort – also hab’ ich mich frisch daran gemacht; ich weiß ja, was ich zwingen kann, wenn ich so recht hinter der Arbeit

[143] her bin, und doch ist’s an einem Kleinen gestanden, daß ich mich verrechnet hätte … ich hab’ gemeint gehabt, ich würde bis vor acht Tagen fertig werden, und habe noch die ganze heilige Zeit dranstücken müssen … gestern Abend hab’ ich die letzte Klafter aufgescheitert; dafür ist aber der ganze Schlag geräumt wie ein Schachterl, daß der Forstner nit aufgehalten ist und jede Stund’ anfangen kann mit dem Aufforsten!“

„Ja, ja, ich sag’s allemal,“ rief der Wirth lachend, „der Flößermartl ist ein Mordsbursch’, und wer was richtig geschehen haben will, der darf nur bei Dir anklopfen – Du bist der riegelsamste Arbeiter, der beste Schütz und der feinste Citherspieler, und wenn ich ein Dirndl wär’, Dich müßt’ ich zu meinem Buben haben, da setzet’ ich meinen Kopf drauf!“

„Ho, ich denk nit dran,“ rief Martl hinwider und rückte lustig sein durchlöchertes Hütchen auf’s andere Ohr. „Die Weibeten wollen von einem armen Burschen nichts wissen, und ich kränk’ mich nit viel drum. … Meine Cithern, meine Büchs’ und meine Hack’, das sind meine drei Schätz’, und ich hab’ noch das Gute dabei, daß sie niemals miteinander streiten, welche ich am liebsten hab’! So für mich als ein Einschichtiger hab’ ich nach kein’ bösen Wort zu fragen und nach kein’ schiefen Geschau – ich bin mein eigner Herr; heut’ geh’ ich noch hinaus in die Wegscheid zu meinem alten Mutterl und morgen, hat der Forstner versprochen, morgen kommt er zu mir hinaus und zahlt mir die fünfzig Gulden auf den Tisch; nachher heißt’s am Abend aufgerebellt bei der Musik und beim Tanz; nachher heißt’s,“ schloß er, indem er den Hut schwenkte und zu singen anfing:

„Von Länggries bin i außa,
Der Floßer Martl;
Wenn d’ Thaler rebell’n,
Red’ i a a Wartl!“

„Teufelsbub!“ rief der Wirth und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Wie er nur so in der G’schwindigkeit die Trutzg’sangeln zuwegen bringt, es ist gerad’ als wenn s’ ihm wer einsagen thät’! Aber wenn Du heut’ nimmer weiter willst, als bis an die Wegscheid hinaus, dann brauchst ja nit zu eilen, dann kannst Du über Mittag da bleiben oder doch bis der Bocktanz vorüber ist … es wird Dich Niemand drum schief anschaun, weil Du im Arbeitsgewand bist, kannst auch gar nimmer recht fort, denn sie blasen schon den Kirchenweg herunter …“

Er trat gegen die Ecke, von Martl gefolgt, als der Zug wirklich bereits um das Haus hervorschwenkte, voran die Musikanten, stattlich ausgerüstet mit Geige, Clarinette und Horn, deren Töne soeben in der Kirche zur Erhöhung der Feier das Ihrige beigetragen, und nun, wie von einem Alp befreit, in ihrem eigentlichen, lustigen Bereich so wohlig durcheinanderschossen, wie Fische, die in frisches Wasser gesetzt worden. Hinter ihnen, umringt von einer Schaar jauchzender Kinder, kam der tannengrüne Karren mit dem gebratenen Widder herangerollt, wieder gefolgt von dem Kurzenbauer, der als Bestgeber mit der Schwester im ganzen Gefühle seiner bäuerlichen Würde einherschritt; Bursche und Mädchen in bunter Unordnung durcheinanderdrängend bildeten den fröhlichen Schluß. Auch Stasi war unter ihnen, widerwillig und verdrossenen Angesichts; es war ihr unangenehm, wie sie eigentlich sollte, neben dem Vater zu gehen, sie blieb unmerklich immer weiter zurück und schien nicht übel Lust zu haben, sich ganz aus dem Staube zu machen.

Martl war erst nicht gesonnen gewesen, der Einladung des Wirthes zu folgen, er gedachte, sich im Gewühl unbemerkt verlieren zu können, mußte aber, um keine Störung zu machen, am Hause stehen bleiben und den Zug an sich vorüberlassen; der Vorsatz blieb aber unausgeführt. Als er unerwartet Stasi gewahrte und ganz nahe vorbeischreiten sah, war Alles vergessen; er wußte nicht, wie ihm geschah, aber als der Zug zu Ende und der Weg in das Thal hin frei und offen war, schlug er doch die entgegengesetzte Richtung ein. Den Bocktanz, dachte er entschuldigend, kann ich mir ja doch mit ansehn, den kriegt man nirgends zu sehn, als in der Jachenau … er dachte es aber nicht zu Ende, sondern brummte, auf etwas Anderes überspringend, halblaut in sich hinein: „Ein fuchswildes Gesicht macht das Madel, aber das gefallt mir gerad’ … wie müßt das trutzige Göschel erst schön sein, wenn’s Einen anlachen thät’!“

Der Karren war inzwischen auf dem Rasenplatz vor dem Hause aufgestellt worden und der Augenblick der Vertheilung war da; die Mahm vom Kurzenhofe vollzog dieselbe mit nicht geringer Würde und Wichtigkeit und Alles ging prächtig von Statten, denn Jedes erhielt reichlich und erhielt das Rechte. Nichts blieb übrig als der blumenbekränzte Kopf mit den vergoldeten Hörnern, der immer dem Wirthe verblieb; die Scherz liebende Sitte verlangte aber, daß er ihn keineswegs einfach zu sich nehmen und forttragen durfte; er mußte mit dem Widderkopf in der Hand ganz allein einen Ringelreihn tanzen, zu welchem die Musik eine ausgelassene Weise spielte und die ganze Versammlung, Jung und Alt, schreiend und juchzend im Knäuel um ihn herumsprang, bis es ihm glückte, eine Lücke zu erwischen und sich und seine Beute im Hause zu verbergen. Hierauf begann der eigentliche Tanz; ehe man an Essen und Trinken dachte, mußte die aufbrausende Jugendlust gebüßt sein, und bald drehten sich auf dem zerstampften Rasen zum Klang eines lebfrischen Ländlers die jauchzenden und jodelnden Paare, wie Wahl oder Zufall sie zu einander gesellt.

Auch Stasi konnte den Tanz nicht verweigern; schon war sie einigen bekannten Burschen gefolgt und kam eben hochaufathmend neben Martl zu stehen, den sie nicht mit einem Blicke beachtete, wenn sie überhaupt seine Anwesenheit gewahr geworden war. Desto mehr war der Bursche mit ihr beschäftigt, er vermochte nicht aus ihrer Nähe loszukommen und konnte sich selbst nicht deuten, warum es so war. Er grollte ihr im Grunde seines Herzens und doch fühlte er sich unwiderstehlich zu ihr hingezogen – er kämpfte mit sich selbst, um sich loszureißen, mitten in diesem Kampfe aber vergaß er, daß er ihr völlig fremd war, daß er ihr nicht im Feiertagsstaat, nicht im schmucken Schützenanzug gegenüber stand, sondern als schmutziger Holzknecht, und trat vor die Ueberraschte, sie anzureden und aufzufordern.

„Wie haben’s wir zwei miteinander, Dirndl?“ sagte er. „Wir haben heut’ schon einen Tanz gemacht … wollen wir nit noch einmal …“

„Was willst von mir, Du – Du …“ rief Stasi im Zorne auffahrend. „Was kommst mir nochmal in den Weg? Aber ich kann mir’s wohl einbilden, was Du willst,“ fuhr sie, wie sich besinnend fort, indem ein Lächeln des offenbarsten Hohns den schönen Mund umzog. „Du willst Dir’s zu Nutzen machen, daß ich Dir begegnet bin … meinetwegen, da hast etwas, laß Dir eine Maß einschenken.“ …

Damit hatte sie in die Tasche gegriffen und legte ihm ein kleines Geldstück in die ihr offen dargebotene Hand.

Martl zuckte zusammen, ein glühendes Roth überflog sein Gesicht, und seine Brust arbeitete, als stünde er im Holzschlag und als gelte es, eine ungeheure Last zu bewältigen. Es gelang ihm, er überwand das Gelüsten, das ihn anwandelte, der Uebermüthigen die Münze vor die Füße oder in’s Gesicht zu schleudern; wie krampfhaft schloß und ballte er die Hand und brach in wildes Lachen aus. „Ich dank’ Dir, schönes Dirndl,“ rief er, „ich dank’ Dir, weil Du so lieb und freundlich bist und weil Du’s gar so gut im Sinn hast mit mir! Den Sechser aber, den vertrink’ ich nit, den behalt’ ich und laß mir ihn in ein Amulet einnähen, als ein Andenken an den heutigen Ostertag! Den häng’ ich mir um den Hals und denk’ mir, es kommt für Alles eine zahlende Zeit – vielleicht thät’st Du Dich’s einmal viel kosten lassen, wenn Du ihn wieder einlösen könntest.“ …

Stasi hörte ihn nicht, sie hatte sich augenblicklich Bahn im Gedränge gemacht und war verschwunden; auch Martl stürmte in wilder Erregtheit dem Hause zu, an seinen alten Platz. Auf Einen Zug leerte er seinen Krug, ließ ungestüm den Deckel klappen und rief unter lautem erzwungenem Gelächter: „Aufgerebellt, Ihr Jachenauer Buben – setzt Euch her zu mir, heut’ wollen wir lustig sein, heut’ zahl’ ich Alles, ich kann’s ja, heut’ bin ich reich! Schenk’ ein, Kellnerin, und bring’ die Cithern heraus – mich juckt’s in den Fingern, ich muß ihnen was zu tun geben, damit sie mir nicht ausrutschen.“ …

Die Aufforderung war nicht vergeblich; droben im oberen Stockwerk hatte der Tanz noch nicht begonnen, es war nichts zu versäumen, Viele blieben daher stehen und sammelten sich im Kreise, denn Vielen war Martl bekannt und Alle waren begierig, den geschickten Citherschläger zu hören. Andere verweilten aus Theilnahme, denn das kurze Gespräch mit Stasi war nicht ungehört geblieben und unter den Burschen war Mancher, dem es ähnlich ergangen und der auch zu erzählen wußte von dem übermüthig spöttischen Wesen der schönen Bäuerin. Bald war die Cither gebracht

[144] und bald säuselten und schwirrten die Saiten von den zierlichen, anmuthig kecken Weisen, unaufhörlich strömend, wie ein sprudelnder Waldquell. Bald fügten sich auch Worte und Reime dazu. Er sang:

„Ich bin von Länggries,
Der Floßer-Martl,
Mein Trinkgeld, das hab’ ich,
’S leid’t noch ein Quart’l!“

Lauter lachender Beifall antwortete, droben im obern Stock öffnete sich ein Fenster; Stasi stand daran, um ungesehen zu erkunden, wer der geübte Schläger sei und wem die wohlklingende sangkundige Stimme gehören mochte.

Unten tönte es weiter:

„Die Bleameln gehn auf,
’S wird all’weil schöna,
Und wer kann alle Bleameln
Beim Namen kenna!“

Und wieder:

„Eins wachst auf’m Berg,
Da heißt’s beim Kurz’n:,
Das Bleameln, das kenn’ i,
– Hoaßt Z’widerwurz’n!“

Wieder fiel lautes Gelächter ein und viele Stimmen riefen durcheinander. „Recht hat er – es gehört ihr nit besser! Zuwiderwurz’n, das ist für sie der rechte Nam’!“

Droben flog das Fenster zu, daß die Scheiben klirrten!




2.

Es war Sommer geworden, nicht blos draußen in der Ebene und in den Thälern, welche sich zwischen die Berge hineinflechten wie grüne Kränze um Säulen von Stein, sondern auch auf den Höhen, wo der Winter seine Hochwachten ausstellt, die er selten oder nie verläßt, und von denen er herniederspäht, bis die Stunde da ist, wieder herabzustürmen, den voll und warm durch die Welt pulsirenden Herzschlag des Lebens stocken zu machen und über die Erstarrte den weißen Todesschleier zu breiten, mit dem wahnsinnigen Triumph eines Tyrannen, der am Grabe eines seiner Opfer wähnt, es sei ihm gelungen, das verhaßte Licht und die Gluth und mit ihnen die Freiheit auf ewig zu begraben. Er war ungewöhnlich früh gekommen wie der Frühling und schöner noch als dieser. Die Almweiden standen so üppig, daß selbst die ältesten Leute sich solcher Fülle kaum erinnerten, unten in den Thälern hingen die Schwarzkirschen, die sonst erst im September zu reifen begannen, bereits wie purpurne Tropfen in den Zweigen; auf den Berghalden, wo sonst nur spät kärglicher Hafer gedieh, neigten schon reiche Saaten ihre vergilbenden Halme der Sichel entgegen, und droben, die Felsen hinan blühten die Alpenrosen so dicht, als wollten sie wetteifern, die grauen Wände, damit sie nicht zurückblieben in der allgemeinen Freude, mit ihrem reichsten Schmuck zu bekleiden. – Auf einem Fleckchen der anmuthigsten Art war es, wo Martl abermals seine Werkhütte aufgeschlagen hatte; der kleine Rasenplatz davor sah aus, als wäre ein Korb goldener Schmalzblumen, glühender Bergnelken oder blauer, stengelloser Genzianen in das reiche Grün ausgeschüttet worden, zu einer Seite streckte ein mächtiger Ahorn die dichte Blätterkrone über den Raum, auf der andern und im Rücken desselben stieg der Berg beinahe senkrecht empor, während nach vorne hin sich die Aussicht in’s Flachland unabsehbar öffnete; es war an der Grenze der Baumregion, die sich wie ein Gürtel um das Gebirge schlingt und die Reize der beginnenden Almwelt mit denen des zurückbleibenden Waldes vereinigt.

Hart am Fuße der Bergwand unter Bröckelgestein und überhangende Büschel von Riedgras hatte sich die Hütte eingefügt, die, wenn auch von einfachster Bauart, doch eine sichere Zuflucht gewährte und in ihrer vollendeten Einfachheit sogar einen gastlich-wohnlichen Eindruck machte. Von einigen schräg gelegten Brettern bedeckt, die ein weit vorspringendes Vordach bildeten, war sie in zwei Theile geschieden, von denen der kleinere aus einer abgeschlossenen Kammer bestand, während der größere sich ansah, wie eine auf Balken gleich Säulen ruhende offene Vorhalle. Alle diese Hütten sind von der nämlichen Bauart; in der Kammer befindet sich die Lagerstelle des Hausbewohners, ein grobes Bettgerüst mit wohlgefülltem Heupolster und starker Wollendecke, an den Wänden herum und auf einem Brettergesims sind die Kleider und Werkzeuge zur Holzarbeit und sonstiges Geräth aufbewahrt und aufgehangen, der offene größere Theil enthält den Herd, und giebt sich zugleich durch die an der Wand angebrachten Bänke als der zum Empfang von Gästen bestimmte Prunksaal des Besitzers zu erkennen. Um die Hütte herum war der Platz, sowohl Rasen als Weg, mit sichtlicher Sauberkeit reingehalten; nichts ließ die schwere Arbeit erkennen, deren Mittelpunkt sie war, sogar der Anblick des Werkplatzes war durch Gesträuch und durch die letzten Baumreihen des Waldes dem Auge verborgen. Dieser lag wenige Schritte von der Hütte entfernt, hinter einem Stück steilen Hohlwegs und ließ desto deutlicher erkennen, daß die Männer, welche dort oben in der Bretterhütte hausten, außer derselben nicht viel von Ruhe wußten und erfuhren. Ein großer, mit dichtem Schlagwalde bestandener Bergabhang war zur Fällung und neuen Abforstung bestimmt und zeigte, was der Fleiß und die Kraft von einem Paar tüchtiger Arme zu schaffen vermag. Die Stämme lagen gefällt umher, theils entastet und abgeschält, theils in Blöcke zersägt, während seitwärts Rinde und Zweigholz in Stößen aufgeschichtet lag, um gesondert verfahren zu werden, sobald der Winter es möglich machte, mit Schlitten dahin zu gelangen und die Lasten in kleinen Abtheilungen zu Thal zu bringen. Mächtige Reihen von aufgerichtetem Scheiterholz harrten der gleichen Erlösung, indeß seitwärts ein Theil des Holzes, in einen Meiler gehäuft, verdampfte, um dann als Kohle in die weite Welt zu wandern. Nebenan war aus ungeheuren Balken eine riesige Rutschbahn gebaut, welche, bis an den Fuß des Berges reichend, in schnurgeradem und steilem Abfall über Wald, Weg und Weide hinunterführte; die größten, zum Bauholz oder zu Flössen und zum Schiffsbau bestimmten Stämme wurden darauf gelegt und rollten, wenn sie losgelassen wurden, unaufhaltsam, Alles, was ihnen in den Weg kam, zermalmend, unter Donnergepolter in die Tiefe.

(Fortsetzung folgt.)



Aus hoher Region.

Von Guido Hammer.

Ich hatte mich auf einer meiner letzten Wanderungen durch die Tiroler Berge müde geklettert und lag nun auf einer Halde hingestreckt am Fuße einer riesigen Bergwand, die mich vor den heißen Strahlen der Sonne schützte und ihren breiten dunkeln Schatten weit über das Thal warf, das sich da unten dehnte. Ich genoß voll Entzücken all’ die Herrlichkeiten der Gebirgswelt, die ja der Sterbliche, der sein Flachland und seine Ebene nie verläßt, nicht einmal ahnt. Drunten in blauer verschwimmender Tiefe Wälder, Fluren und blinkende Seen, denen die an schroffen Felsenwänden niederstürzenden, silberschäumenden Gießbäche zueilten; weiter aufwärts aber sanfte Hänge grünender, blühender Matten und Almen, während den hochgerückten Horizont ringsum die edelphantastisch geformten Linien schneegekrönter zackiger Firsten und hintereinander sich thürmender Gebirgskämme wie ein Meer von starrgewordenen und gewaltigen Wellen umschlossen.

Kein Laut regte sich; die Einsamkeit der Gebirgswelt in ihrer ganzen Großartigkeit umgab mich. Nur einmal ward das schelmisch lärmende Geschrei der tiefsammetschwarzen, rothfüßigen Alpendohlen laut; sie umflatterten mich, wie zürnend, daß ich in ihr Gebiet gedrungen; aber bald schoß die muntere Vögelschaar, so schnell wie sie gekommen, thaleinwärts, und wieder war es grabesstill auf der wolkenreichen Höhe.

Da fesselte ein merkwürdiges Schauspiel meinen Blick. Mächtig geschwungenen Fittigs schoß drüben, jenseits einer breitgerissenen Kluft, ein stolzer Adler nach naher, hellbeschienener Wand. Und wie meine Blicke unwillkürlich dem Gewaltigen und dessen Gespons, das fast gleichzeitig sichtbar ward, nachfolgten, gewahrte das rasch mit dem Fernglas bewaffnete Auge unter steilem Felsvorsprung auf latschenumklammertem Steingeschiebe drei harmlos äßende Gemsen. Diesen aber galt der kecke Raubzug der beiden verbündeten Beherrscher [145] der Lüfte. Schon rauschte das gierige Königspaar hinter der das bedrohte Gewild bergenden Felswand hervor, als auch bereits der junge Bock, die dräuende Gefahr erkennend, in flüchtigen Sätzen nach abwärts einen schützenden, von überhängender Steinplatte und Knieholzgewirr völlig gedeckten Hang gewann und so vor augenblicklicher Gefahr geborgen war. Aber auch das Kitzlein, das wohl von vornherein die auserkorene Beute war, flüchtete sich, und zwar mit kindlichem Instinct, in den unmittelbaren Schutz der Mutter, die zwar selbst genugsam erschreckt war, aber doch tapfer Stand hielt, da Flucht für ihren Liebling doch allzuverhängnißvoll werden mußte. Die alte treue Gemse deckte das Kleine mit ihrem eigenen Leibe und schützte todesmuthig das sich ihr dicht anschmiegende Junge lange Zeit gegen das scharfe Gewäff des andringenden königlichen Räuberpaares, wobei die Mutterliebe sie auch noch verzweiflungsvoll und mit Aufwand aller Behendigkeit die spitzen Krickeln, wie die schneidigen Schalen ihrer stahlgesehnten Vorderläufe zur Abwehr der geflügelten Mordgesellen gebrauchen ließ.

Die Beute des Adlers.
Originalzeichnung von Guido Hammer.

Doch bei der endlichen Erschöpfung vom ungewohnten Kampfe, den ihr so überlegene Meister dieses Handwerks aufgedrungen hatten, entschloß sich das treusorgliche Thier zuletzt doch noch zur eiligen Flucht, seinen mitfolgenden Schützling aber auch hierbei noch nach Kräften vor den nicht ablassenden Beutegierigen bewahrend. Es galt nur noch eine kleine Strecke, wo freilich Steintrümmer den Weg verengten und Mutter und Kind auf einen Augenblick von einander trennten. Es waren nur ein paar Minuten, aber sie genügten dem nachsetzenden Adler, das widerstandslose Kitzlein mit berechneten kraftvollen Flügelschlägen weiter, bis zum äußersten Rand des schmalen Kampfplatzes, abzudrängen und von da aus durch fortgesetzte wohlgezielte Stöße hinab in die grausige Tiefe zu stürzen. In Sturmesschnelle nachschießend, während die Genossin die Lüfte über dem Abgrunde durchmaß, und die alte Gemse, das eigene Leben zu retten, flüchtigen Laufes die steile Höhe erklomm, trug der befiederte Sieger bald das zerschmetterte Opfer in starken Fängen aus starrer Thalschlucht empor und hin nach seinem hochgelegenen [146] unzugänglichen Horst, dort mit dem blutigen Raube die nimmersatte Brut zu ätzen und sie tüchtig zu machen, später selbstständig auf Beutezügen die angrenzenden wildreichen Gefilde ihrer Niststätte zu durchstreichen.

So gilt denn auch in der Thierwelt, und zwar hoch, hoch oben in scheinbar friedlichster Einsamkeit – wie unten auf gewühlreichem Schauplatz des Menschenlebens, wo so oft von den Gewaltigen der Erde Freiheit und Recht mit Füßen getreten werden – die leidige, aber naturgesetzlich begründete Thatsache: Macht geht vor Recht!



Um Paris herum.
Von Friedrich Gerstäcker.
III. Auf dem Mont Valerien.

St. Denis ist die einzige zur Festung umgeschaffene Stadt, welche Paris mit einschließen und vertheidigen half, der Valerien dagegen der höchste Hügel, der diese Vertheidigungslinie bildet, und deshalb auch am meisten bewehrt und mit den schwersten Geschützen versehen. Man hat auch von unserer Seite kaum je daran gedacht, ihn ernstlich anzugreifen, denn es war klar genug, daß wir, im Besitz einiger der anderen Forts, unsere Soldaten gar nicht an dieses Riesenwerk zu opfern brauchten, sondern Paris auch ohne dasselbe gewinnen könnten. Der Erfolg und die Zeit haben die Wahrheit dessen nur zu vollständig dargethan.

Welche enorme Summen und Arbeit hat der Mont Valerien gekostet und was hat er mit alle dem erreicht? – Er hat uns aus weiter Ferne wohl manchen braven Soldaten hingeopfert und unseren Cernirungskreis an der Stelle etwas weiter gehalten – das war aber Alles, sonst ist er nur seinem eigenen Lande verderblich geworden, und die Trümmer von St. Cloud bezeichnen die größte Heldenthat, die er in dem ganzen Kriege vollführt. Jetzt liegt er still, seine Riesenkanonen schweigen, seine Wälle sind von preußischen Soldaten besetzt, die mit klingendem Spiele dort einmarschirt, und auf seinen Zinnen weht die schwarz-weiß-rothe Bundesflagge.

Ich war von dem kaum eine Meile vom Valerien entfernten St. Germain zu Fuß dahin aufgebrochen und erreichte den Berg nach etwa zweistündigem Marsche, glücklicher Weise bei heute trockener Straße, denn bis jetzt war der Boden fast grundlos gewesen. In den kleinen dazwischen liegenden Orten, die fast nur aus reizenden Villen bestanden, lag beinahe allein Landwehr, aber ich sah heute nur fröhliche Gesichter und hörte nur lachende Stimmen unserer wackeren Soldaten. Die Aussicht auf das Ende dieses Krieges leuchtete ihnen ja, und daß dann die Landwehr zuerst in die Heimath zurückkehren durfte, wußten die Leute gut genug. Sie hatten den Soldatenrock mit Ehren getragen, aber sie wünschten sich doch wieder in ihre Arbeitsjacke, zu ihren Familien zurück, und wer diese Mannschaft näher kennt, wird wahrlich den wahnsinnigen Glauben nicht theilen, daß Deutschland je einen Eroberungskrieg aus freien Stücken beginnen könnte. Wer uns angreift, mag sich hüten, denn wie sich gerade die Landwehr geschlagen und den jungen Truppen Nichts nachgegeben hat, ist bekannt genug, aber sie wollen auch wissen, für was. Es sind keine Söldnertruppen, die man eben jedem anderen Volke, sei es für was es wolle, entgegenwerfen kann.

Die kleinen Plätze, die ich passirte, mochten wohl zum Theil im Winter stets unbewohnt sein, schienen aber vom Kriege doch nicht so viel gelitten zu haben, als weiter entfernte Städte. Die Jalousien waren meistens verschlossen, als ob kein Fuß die Häuser betreten hätte, und nur wenn Frankreich jetzt verblendet den Frieden zurückweisen sollte, werden sie das Schicksal der übrigen theilen müssen.

Als ich endlich den Fuß des Mont Valerien, ohne unterwegs nach irgendwelchem Papier gefragt worden zu sein, erreicht hatte, traf ich eine kleine Gruppe von Soldaten, die emsig damit beschäftigt war, den Boden neben der Chaussee auf- und ein tiefes Loch hineinzugraben. Sie hatten auch schon gefunden, was sie suchten – einen[1] Leitungsdraht, von denen sieben um den Berg herum liegen sollten. Diese Drähte waren aber, wie man mir sagte, bei der Uebergabe sämmtlich angegeben worden, und es scheint denn doch, als ob der Fall bei Laon in dem französischen Kriege vereinzelt dastehen solle, und von keinem der Officiere, sondern nur von irgend einem exaltirten Burschen herrührte, dem auch Nichts darauf ankam, sich selber mit zu opfern. Es bleibt aber immerhin ein nicht angenehmes Gefühl, wenn man weiß, daß man sich auf unterminirtem Boden und über einer unbestimmten Anzahl von Pulverfässern befindet, und man kann sich da nur allein auf die Pionniere verlassen, die schon Alles gethan haben werden, um sich selber wie ihre Cameraden sicherzustellen.

Nun war mir allerdings schon gesagt worden, daß es für jeden Civilisten sehr schwer sein würde, die Festung des Mont Valerien selber zu betreten, und ich hatte auf den verschiedenen Commandos unterwegs, so freundlich ich von Allen aufgenommen wurde, doch nirgends eine schriftliche Erlaubniß dazu bekommen können, da es nicht in ihrer Befugniß lag. Ich vertraute aber meinem guten Glück, das mich auch diesmal nicht im Stich ließ. Schon am ersten Thor traten mir zwei Soldaten mit vorgehaltenen Gewehren entgegen und verweigerten mir den Eingang – ich verlangte den Officier zu sprechen und erlangte es auch – der Herr zuckte mit den Achseln – er könne die Erlaubniß nicht geben. In diesem Augenblick wurde die Wache herausgerufen – höhere Officiere kamen angeritten und stiegen dort ab – der Lieutenant mußte mit antreten, und ich benutzte die Gelegenheit, mich an einen Obersten zu wenden, dem ich mich vorstellte und der mir in liebenswürdigster Weise anbot, ihn zu begleiten, denn sie wollten sich ebenfalls die Festung besehen. Somit war ich geborgen.

Und welch wunderbarer Ueberblick bietet sich, sobald man nur den oberen Rand der Wälle betritt, über das ganze weite, herrliche Land, denn unwillkürlich schweift der Blick da zuerst hinaus, aber selbst davon wird er wieder abgezogen und fällt auf die neuen, mächtigen Vorwerke, die unmittelbar vor der Festung, und zwar nach dem neuesten Vertheidigungssystem mit ungeheurer Arbeit sowohl, wie Kunstfertigkeit, angelegt sind, und den Mont Valerien jedenfalls uneinnehmbar gemacht haben. Riesige Erdwälle erheben sich an allen Seiten. Unmassen von Munition liegen da unten aufgehäuft, und schwere Geschütze bedrohen jede Richtung, von welcher der Feind nahen könnte. Unsere Granaten hatten dem Mont Valerien auch noch wenig oder gar keinen Schaden zugefügt, und diesen Erdwerken gegenüber bleibt es die Frage, ob sie ihn je hätten schädigen können. Aber der Hunger, mit den eisernen Grüßen, die wir von anderer Seite in die Hauptstadt schleudern konnten, kam uns zu Hülfe, und es war ein stolzes Gefühl, mit dem ich jetzt unsere deutsche Bundesflagge auf den Wällen der unterworfenen Festung, dem Bollwerk von Paris, wehen sah.

Und da unten, fast zu unseren Füßen, lag Paris – leider heute wieder von dem nebeligen Wetter so verdeckt, daß man nur einzelne hervorragende Stellen daraus, wie den Triumphbogen und den Pantheon, erkennen konnte.

Aber das Innere des Mont Valerien nahm doch noch mehr unsere Aufmerksamkeit in Anspruch, und da gab es allerdings zu sehen genug.

Der innere Raum[2], den die Festung umschließt, ist ziemlich bedeutend, aber dadurch gerade gefährlich für die Vertheidigung, daß auf allen diesen Forts die Casernen aus hohen und mächtigen Gebäuden bestehen, die ein besonders gutes Zielobject für unsere Geschütze abgaben. Wo man die kleinen Forts kaum hätte mit bloßen Augen erkennen können, da traten diese hohen, ungeschlachten und viereckigen Casernen nur um so deutlicher hervor, und unsere Granaten machten natürlich Gebrauch davon. Ich glaube, daß man in späteren Zeiten davon absehen wird, solche hoch emporragende Gebäude in den verschiedenen Forts aufzubauen – wenn man die Forts nicht eben ganz cassirt. Was haben sie Paris genützt? Nichts als die Katastrophe, zum Jammer der Hauptstadt, auf Wochen oder Monate hinausgeschoben.

Was mich übrigens am meisten interessirte, waren die schweren [147] Geschütze, wegen deren sich der Mont Valerien einen Namen erworben, denn seine Geschosse hatte er über eine deutsche Meile in das Land hinein gesandt.

Die bedeutendste Kanone ist die sogenannte Valerie, deren inneres Rohr genau eine halbe Leipziger Elle im Durchmesser hat. Sie ist das größte Geschütz, das die Franzosen haben, und schießt etwa einen Hundertdreizehnpfünder.

Es wird übrigens nöthig sein, dem Leser ein paar Worte über das Gewicht der Geschosse zu sagen, so daß er sich leichter hineinfinden kann, wenn er von Zwölf-, Vierundzwanzig- und Achtundvierzigpfündern hört. Den Ausdruck hat man nämlich von den alten Steinkugeln angenommen, so daß sich das Gewicht in Eisen natürlich um ein Bedeutendes erhöht. Man rechnet die genannte Zahl als etwa ein Drittel des Gewichtes bei größeren Geschossen, so daß also ein Zwölfpfünder sechsunddreißig Pfund, ein Vierundzwanzigpfünder zweiundsiebenzig Pfund und so fort wiegen würde. Die Valerie versendet deshalb eine Kugel von dreihundertvierzig Pfund Gewicht, während die auch schon ganz tüchtigen achtundvierziger Marinegeschütze eine ganz hübsche Kugel von hundertvierundvierzig Pfund ausschicken. Nur bei den Feldgeschützen erleidet diese Berechnung eine Veränderung, da z. B. eine Sechspfünderkugel oft das Sechsfache, also sechsunddreißig Pfund, wiegt.

Dank meiner Begleitung gelang es mir auch, in das kleine Souterrain zu gelangen, das eigentlich selbst den Officieren der Armee verschlossen war, wo wir die Geschosse zu diesem Ungethüm noch aufgespeichert und geladen sahen.

Es waren Kugeln in der Form eines Zuckerhuts, nur unten mehr abgerundet, als es die Granaten sind, und oben mit einer Schlinge versehen, die, ich weiß nicht wie, so stark befestigt ist, daß sie beim Emporheben nicht abreißen kann. Ueber der „Valerie“ ist dann an einem Gestell ein Flaschenzug angebracht, mit dem dieses Gewicht der Geschosse bewältigt werden kann; der Haken faßt in die Schlinge, wird dann emporgezogen und eingeschoben und ist zum Gebrauch fertig.

Alle die schweren Geschütze, die ich hier oben sah, waren Hinterlader, wie sie auch am Bord der Kriegsschiffe gebräuchlich sind, und es schien, als ob die Franzosen sämmtliche Verschlüsse derselben – d. h. die hintere Schraube, die den Lauf schließt – mitgenommen hätten; es war wenigstens keine derselben aufzufinden. Man glaubte, es sei deshalb geschehen, um die deutschen Truppen zu verhindern, Paris mit seinen eigenen Kanonen zu bedrohen und am Ende gar wieder zu beschießen. Später fanden sich aber – wie ich jetzt höre – diese Verschlüsse wieder und zwar versteckt vor, und wir haben jetzt Material genug da oben, um der übermüthigen Stadt, falls sie sich je bewogen fühlen sollte, ihr Haupt noch einmal zu erheben, den Standpunkt ohne Weiteres gründlich klar zu machen.

Die Valerie ist jedenfalls ein Monstregeschütz und hat uns manchen Schaden an Leuten zugefügt; das Größte aber, was sie in dem ganzen Kriege geleistet hat, war doch die gründliche Zerstörung des wunderbar schönen Schlosses St. Cloud, und ob sie dazu von den Franzosen[3] gegossen und dort hinaufgebracht war, bleibt immer die Frage. Ich mag auch hier noch erwähnen, daß die Franzosen während des Krieges eine Verbesserung ihrer Geschosse vorgenommen haben. Zu Anfang hatten sie an ihren Granaten lauter „Zeitzünder“, das heißt solche Zündröhren, die erst nach einer berechneten Zeit zündeten und das Geschoß zum Explodiren brachten. Das geschah nun oft zu früh, oft zu spät und oft gar nicht. Jetzt dagegen haben sie sich unseren Percussionszündern zugewandt, so daß die Granate in dem Moment „crepirt“, das heißt platzt, wo sie auf einen harten Gegenstand trifft.

Der Waffensaal, eigentlich ebenfalls jedem Besuche, selbst dem von Officieren, verschlossen, war nach Diesem das Wichtigste. Mein freundlicher Führer erklärte aber in der liebenswürdigsten Weise, daß er entschlossen sei, überall hinzugehen, und da ihm die Schildwachen nicht entgegentreten mochten, setzte er es auch durch.

Wir stiegen die Treppe hinauf und fanden uns gleich darauf, in dem Hauptgebäude, in einer Reihe von Riesensälen, in denen jedenfalls früher die Waffenniederlagen gewesen waren. Die Herren schienen aber so ziemlich Alles mitgenommen zu haben – die Räume waren fast alle vollständig leer und nur in dem einen Saal hingen etwa zwölfhundert Kürassierpallasche an besonders dazu angebrachten Regalen, plumpe Dinger freilich, die wir schwerlich werden verwenden können.

In einer hinteren Kammer fanden wir auch noch einen Haufen Gewehre, aber eine sehr traurige Sammlung, die über- und durcheinander lag: ein paar Chassepots, eine Anzahl Percussionsflinten und sogar noch ein Feuersteinschloßgewehr englischer Arbeit, das auch die Tower-Marke trug.

Das neutrale England scheint selbst sein Letztes und Schlechtestes hergegeben zu haben, um seine „französischen Freunde“ mit Waffen gegen uns zu versehen – aber seine französischen Freunde haben wahrscheinlich auch tüchtig dafür bezahlen müssen, oder doch wenigstens Bezahlung versprochen, und ich hoffe nur, daß sie in Assignaten ihre Schuld einlösen.

Aus der Waffenkammer nieder schritten wir wieder dem Rand der Festung zu, um vielleicht jetzt einen besseren Blick über die benachbarte Gegend zu gewinnen, als da unten ein bunter Zug von Reitern sichtbar wurde, und plötzlich lief der Ruf: „Der Kaiser! Der Kaiser!“ durch die Reihen der Soldaten.

Der Kaiser! – wie sonderbar uns das noch klingt, wie gar so fremd und ungewohnt, und wenn man den Namen manchmal nennt, muß man sich oft noch darauf besinnen, wer eigentlich damit gemeint sei Der Kaiser! – aber es ist das Wort, das uns fortan zusammenschweißen soll zu einer einzigen großen und mächtigen Nation; es ist das Wort, das uns bis jetzt schon geeinigt hat und dem wir zugestrebt haben, eine lange schwere Zeit hindurch. Jetzt jubelt ihm das Volk entgegen im Bewußtsein seines Sieges über den frechen, übermüthigen Nachbar, im Gefühl seiner Stärke und Unbezwingbarkeit – möge es ihm über Jahr und Tag auch wieder so zujubeln, daß er dem weiten herrlichen deutschen Reich auch die Freiheiten und Rechte gegeben habe, die sich das Volk mit seinem Blut und seiner Opferfreudigkeit rechtlich verdient hat, und der Tag soll dann für ewige Zeiten gesegnet sein, der ihm die Kaiserkrone auf das Haupt drückte.

„Der Kaiser kommt!“ wie das lebendig wurde auf der weiten Festung und wie das herüber und hinüber glitt, und das Wort von Mund zu Mund flog! Und da unten kamen sie heran. Zuerst die kaiserliche Escorte, ein bunter Zug aus einzelnen Leuten der verschiedensten Reiterregimenter, dann der Wagen mit Wilhelm dem Ersten, ein anderer Wagen, in dem in seinen Pelzmantel gehüllt General Moltke saß, und nachher die Escorte hinterher.

Der Zug wurde auch nicht am Thor aufgehalten: Wache heraus! Die Leute sprangen in’s Gewehr, und zum ersten Mal betrat der Kaiser den Berg, dessen Kanonen umsonst versucht hatten, ihre Geschosse bis in sein Hauptquartier hinein zu schleudern, und unter dessen Schutz zahlreiche blutige Ausfälle gewagt waren, um eben nur die Führer der deutschen Armeen in ihre Gewalt zu bekommen. – Er zog ein als Sieger und Paris lag zu seinen Füßen.

Es war das ein großer Moment, und soviel ich auch im Leben schon gesehen habe, ich werde ihn doch nie im Leben vergessen.

Der alte Herr sah aber – wie er so rüstig aus dem Wagen stieg – freundlich und heiter aus, und er hatte auch wahrlich Ursache dazu. Der furchtbare blutige Krieg lag hinter ihm – oder sollten dennoch die Franzosen wahnsinnig genug sein, ihn noch einmal zu beginnen? – Dann aber darf sich Frankreich auch darauf verlassen, daß es den Teufel heraufbeschworen hat und nicht mehr im Stande ist, ihn zu bannen. Die Geduld unserer Soldaten ist erschöpft – die Wuth unserer Landwehrleute jetzt schon im Kampf kaum zu zähmen – dann werden sie wenig mehr Gefangene nach Deutschland schicken, aber blutiger Leichen werden die Schlachtfelder decken und verwüstete Städte die Bahn bezeichnen, die unsere Truppen genommen. Der Krieg ist schon jetzt ein entsetzlich blutiger und erbitterter geworden, diese wilden ungeregelten Banden, die zahllose Scheußlichkeiten verübt, werden schon jetzt nicht mehr geschont; Frankreich mag sich hüten, uns zum Aeußersten zu treiben.

Aber das sind hoffentlich nutzlose Befürchtungen. Es ist allerdings Thatsache, daß erst jeder einzelne Franzose geprügelt werden muß, bis er glaubt, daß sein Nachbar Schläge bekommen hat – und selbst dann redet er sich ein, es wäre nur eine gymnastische Uebung gewesen, aber endlich einmal müssen die Leute doch klug werden.

Kaiser Wilhelm sah auch nicht so aus, als ob er sich Sorgen [148] deshalb mache. Er unterhielt sich freundlich mit vielen der umstehenden Officiere – Civilisten werden natürlich bei solcher Gelegenheit als vollkommen unsichtbar betrachtet – und schritt dann eine ganze Weile umher, um die verschiedenen wichtigen Stellen in Augenschein zu nehmen. Erst gegen vier Uhr bestieg er seinen Wagen wieder, um nach Versailles zurückzukehren.

Da waren keine gemachten Hurrahrufe, keine vive l’empereur, wie sie sonst vielleicht an der nämlichen Stelle zu des verschollenen Kaiser Napoleon’s Ohren drangen, ihn in Sicherheit lullten und seinem Ehrgeiz schmeichelten, aber die Gesichter der Soldaten leuchteten freudig auf, als ihr alter König, von dem braven Moltke gefolgt, an ihnen vorüberschritt, und eine bessere Demonstration sprach aus ihren Augen, als sie hundert laute Ovationen hätten ausdrücken können.




Im Hauptquartier des Prinzen Friedrich Karl.
Von unserem Berichterstatter Georg Horn.
Zwölfter Brief.0 Unter dem Kreuze von Genf.

Le Mans! Von den Höhen von Pontlieue herab rückten die deutschen Truppen unter General von Voigts-Rhetz in unabsehbaren Colonnen in das Thal der Sarthe nieder, sie kamen auf drei Straßen zugleich, sie kamen zu Fuß und zu Roß, mit Wagen, mit Brücken und Geschütz, und auf dem Schneefelde bewegten sich die dunklen Massen immer näher der Stadt; die Bajonnete blitzten im Glanze der herrlichsten Wintersonne – und die Trommeln wirbelten. So ein Einmarsch in eine feindliche Stadt ist für die an der Spitze Marschirenden wie ein Gang in eine Pulverkammer; aus jeder Jalousieluke können die Kugeln geflogen kommen; mit jedem ihrer Schritte kann sich eine Mine entladen, ein gelegtes Torpedo Compagnien in Stücke zerreißen; der Volkskrieg hält Alles für erlaubt. Darum zogen auch die Unseren mit großer Vorsicht in die Stadt ein; es war das oldenburgische Regiment Nr. 91; das Gewehr im Anschlag gingen die Spitzen vor, die Augen nach rechts, nach links, nach vorwärts gerichtet; in den Straßen lagen zerbrochene Karren, todte Pferde, französisches Officiergepäck, zerbrochene Gewehre – die Franzosen waren erst kurz vorher desselben Weges gekommen, überall waren die Spuren der Verwirrung, Ueberstürzung, und Auflösung der Armee des Generals Chanzy erkennbar – und die Deutschen setzten über diese Trümmer hinweg ihren Marsch fort. Es kam keine Kugel, es sprang keine Mine, es entlud sich kein Torpedo, aber die Deutschen entfalteten sich immer mehr. Die Einwohner haben sich hinter Mauern und Fensterläden zurückgezogen – sie hören das Wirbeln der deutschen Trommeln, es klingt ihnen wie der Leichenmarsch ihrer Hoffnungen, sie wagen einen Blick auf die marschirenden Züge hinabzuwerfen und fragen sich ganz erstaunt, ob denn die Deutschen unter ihren Truppen auch Schwarze haben. Ja wohl, für heute, wo die Gesichter noch vom Pulverdampf des Gefechtes geschwärzt sind, aber nicht für immer. Halt!

Die Einundvierziger werden beordert, den Bahnhof zu besetzen – die Jäger marschiren nach dem Innern der Stadt weiter. Nach einer Viertelstunde fallen Schüsse – erst einzelne, dann mehrere, immer rascher, ein wahres Schnellfeuer – jetzt sogar eine Salve – auf der Place des Halles kommen die Kugeln aus allen Häusern, allen Etagen und Fenstern geflogen, die Jäger stürzen sich in die Häuser, andere werden nach den vom Platze ausmündenden Straßen dirigirt, um diese zu säubern, andere nach der östlichen Lisière von Mans, von dort dem Andringen gemeldeter feindlicher Truppenmassen zu wehren – folgen wir diesen.

Ohne nennenswerten Widerstand marschiren sie durch die engen, dunklen Straßen der alten Stadt, die Magazine sind geschlossen; daß Menschen noch vorhanden sind, beweisen die ausgehangenen weißen Fahnen mit dem rothen Kreuz. Es kommen ihnen eine Reihe zweirädriger Karren mit Militärgepäck entgegen; beim Anblick der Preußen wenden die französischen Fahrer flugs um und hauen wie besessen auf die Pferde ein, um den Feinden zu entgehen. Es gelingt ihnen auch, bis sie an eine Kreuzstraße kommen, wo wenigstens zwanzig solcher Fuhrwerke zu einem unentwirrbaren Knäuel zusammengefahren sind. Ein paar Jäger sind mit ihrem kräftigen Arm und ihren drohenden Büchsen genügend, die Fliehenden zum Stehen zu bringen. An dieser Stelle sammeln sie sich und rücken weiter vor, immer die Richtung nach Osten einhaltend; aus den engen, älteren Straßen hinaus in weitere, neue, in denen schon die Gärten anfangen. Plötzlich kommt ein Geräusch durch die Luft, die Jäger halten still und horchen – jetzt wieder derselbe Ton – sie kennen denselben recht gut, auf dem ganzen Wege von Vendôme bis hierher hörten sie diese Melodie pfeifen, die Melodie der Kugeln, die jetzt immer dichter über ihren Köpfen wegfliegen. Aber woher? Sie können nur dort oben aus jenem Hause kommen, das erhöht in einem Garten liegt, anders ist es nicht möglich. Aber aus dem Dacherker des Hauses weht die weiße Fahne mit dem rothen Kreuze von Genf, das Haus ist ein Lazareth. Sollte man dieses heilige Zeichen der Menschlichkeit so entwürdigen, diese Stätte durch einen so fluchwürdigen Frevel entweihen? Es ist nicht denkbar; die Franzosen sind doch keine Nation von Wilden, und selbst diese würden diesen Ort der Wunden und der Schmerzen als eine Stelle heilig achten, an welcher aller Kampf verstummen und das Mitleid und die Barmherzigkeit in ihre unantastbaren Rechte eintreten muß. Die Kugeln kamen aber doch von dort. Man will in den Garten eindringen, die eiserne Thür zu demselben ist verschlossen.

„Die Thür eingeschlagen!“ ruft der commandirende Officier, Lieutenant Kramer-Möllenberg. „Auf die Canaillen in dem Hause los! Vorwärts!“

Im Nu flog die Thür auf, hinten vom Hause aber auch gleich zwei Schüsse. Durch den Garten stürmten die Jäger nach dem Hause vor – sie kamen auf einen Hof; sie traten in einen großen Thorweg, dessen nach der Straße führender Eingang verschlossen war. Niemand ließ sich sehen. Der Officier vertheilte seine Leute, um das Haus zu durchsuchen, in der ersten Etage bis hinauf in die Bodenräume. Er selbst trat, begleitet von einigen seiner Leute, mit gezogenem Säbel in ein Zimmer des Erdgeschosses mit vier nackten kahlen Wänden – an denselben standen drei eiserne Bettstellen und aus den Kissen derselben schauten Köpfe mit den üblichen weißen Nachtmützen. Aus ihren Mienen sprach Furcht und Angst.

„Wer sind Sie?“ frug der Officier die Kranken.

„Mobile der Bretagne!“

„Verwundet?“

„Ja, mein Capitain.“

„Wo?“

Da hob der Eine seine wunde verbundene Hand, der Andere ein Bein aus dem Bette, seinen durchschossenen Fuß zeigend, ein Dritter deutete auf die Schulter und die Wunde in derselben.

„Ich meine nicht, an welchem Theile des Körpers, sondern bei welcher Gelegenheit Sie Ihre Blessuren bekamen.“

„Bei Artenay. – O, wie wird es uns ergehen!“ jammerte Einer. „Wir haben die Schüsse aus dem Hause wohl gehört, und Sie, mein Capitain, werden blutige Revanche nehmen.“

„An den Unschuldigen niemals. Sind denn noch französische Soldaten in dem Hause versteckt?“

„Wir wissen gar nichts, wir haben nur die Schüsse fallen hören. Schonen Sie unser!“

„Haben Sie keine Furcht!“ sprach dann der Officier zu ihnen, „es wird Ihnen kein Leids geschehen – wir sind keine Barbaren, wie man uns von Seite Ihrer Landsleute dargestellt hat, uns ist die Stätte der Schmerzen und der Wunden heilig. Beruhigen Sie sich – fürchten Sie nichts.“

Damit verließ der Officier mit seinen Mannschaften das Krankenzimmer; im Erdgeschosse links war nur noch ein Wohnungsraum, der nach der Straße zu gehen schien, aber er war verschlossen. Der Officier gab Befehl, die Thür mit Gewalt zu öffnen, und die Jäger machten sich eben daran, als von außen plötzlich ein heftiges Gewehrfeuer vernehmbar wurde. Die Hausthür war verschlossen, sie gab auch den eifrigsten Anstrengungen der Jäger nicht nach, man hatte sonst keinen Ausblick nach der [149] Straße und konnte nicht sehen, woher das erneute Feuer kam. Rechts vom Hausflur lag die Treppe, mit einigen Sätzen waren der Officier und seine Leute oben in der ersten Etage; das erste Zimmer, in das sie eintraten, gewährte ihnen einen Anblick auf die Straße, den sogenannten Boulevard Negrier. Mit einem Blicke wurde die Situation klar. Die Straße war an der gegenüberliegenden Seite unbebaut; man sah von den Fenstern des Lazareths gerade auf offenes Terrain, auf einen Hügel, der mit Erdaufwürfen und Hecken umgeben war. Von dort kamen die Kugeln herüber; sie waren auf die übrigen Mannschaften der Jägercompagnie gerichtet, die unten auf dem Boulevard angerückt kamen. Bald befanden sich dieselben im heftigsten Feuer. Zwei von seinen Leuten schickte Lieutenant Kramer-Möllenberg hinab, um den ohne jede Deckung auf der Straße den feindlichen Geschossen ausgesetzten Cameraden die Thür des Hauses öffnen zu lassen, mit den anderen begab er sich nach dem obersten Bodenraum; dort hatte er vom Garten her Dacherker wahrgenommen; das waren geeignete Stellen, um die Jäger zu postiren und hinüber auf die Schützen hinter den Hecken und Gräben Feuer zu geben. An zwei Erkern stellte er seine Leute auf; aber es waren in der Front des Hauses noch zwei vorhanden, zu denen der Zugang durch eine durchzogene Bretterwand verschlossen war. Diese wurde mit Kolben und Absätzen eingeschlagen; das Holzwerk fiel prasselnd zu Boden und zu gleicher Zeit wurden durchdringende Schreie vernehmbar. Einen Moment standen die Jäger verblüfft. Sollten dort Diejenigen sich versteckt haben, die aus den Fenstern der Ambulance geschossen hatten? Das wäre ein guter Fang. Im Hintergrunde des Raumes standen zwei Betten; in diesen mußten sie sich verkrochen haben. Herzhaft faßten die Jäger zu und zogen – keine Franctireurs, wohl aber zwei Nonnen hervor, zwei barmherzige Schwestern. Stotternd und zitternd erzählten sie, daß sie beim Nahen der „Prussiens“ vom Garten her sich auf den Boden geflüchtet hätten in die Betten der beiden Krankenwärter der Ambulance. Der Officier bedeutete sie, daß sie sich in die unteren Räume zurückbegeben möchten und dort ihres Dienstes warten; sie befänden sich unter dem mächtigsten Schutze, dem des rothen Kreuzes, des Zeichens des Friedens und der Menschlichkeit.

Aus den Dacherkern eröffneten die Jäger ein lebhaftes Feuer auf die Feinde gegenüber, aber dieselben erwiderten es nicht minder stark und mitten in das Knattern und Knallen mischte sich das Krachen der unter den Schlägen der Jäger zusammenbrechenden Hausthür. Nun war den Cameraden draußen auf der Straße eine Schutzwehr gegen die wie Hagelwetter fallenden feindlichen Kugeln geöffnet und im Nu strömten sie mit ihrem Compagnieführer Hauptmann v. Wildemann an der Spitze zum Hause herein, um wie ihre Cameraden von den Dacherkern sowie den Fenstern des Erd- und ersten Geschosses aus ihr Feuer auf die Knicks und die Erdaufwürfe zu eröffnen.

Da gellte ein furchtbarer Schrei durch das ganze Haus.

„Was ist geschehen?“ riefen die Officiere, von denen der eine vom Flure herauf-, der andere vom Bodenraume herabkam. Es war ein erschütternder, Mark und Bein durchdringender Schrei – er klang wie der letzte Laut eines mit dem Tode Ringenden. Sie traten Beide in ein kleines Zimmer der ersten Etage. Dort stand ein Jäger mit einem blutigen Hirschfänger in der Hand und zeigte auf ein Bett an der Wand; in diesem lag ein Blousenmann in vollem Anzuge mit einem Gewehr an der Seite, todtenbleich, röchelnd, in den letzten Zügen; aus einer Brustwunde quoll schwarzes Blut.

„Der hat geschossen. So wie er da ist, mit Stiefeln und Gewehr, habe ich ihn unter der Bettdecke gefunden, und als ich die Decke wegzog, da wollte er noch auf mich anlegen, da habe ich meinen Hirschfänger aufgesetzt und ihm sein Theil gegeben. Allen muß es so gehen, die aus einem Hause mit dem rothen Kreuz schießen. Er hat seinen Lohn.“

In der Thür erschien jetzt ein junger Priester. Nach allen Anzeichen, nach den Schreckensmienen zu schließen, nach der stummen Frage, die auf seinen Mienen lag, schien er ebenfalls den Schrei vernommen zu haben und war gekommen, um nach der Ursache desselben zu forschen. Hinter ihm wurden noch einige jüngere Geistliche, auch die barmherzigen Schwestern in der Thür sichtbar.

„Wer sind Sie?“ frug der Hauptmann den Priester.

„Ich bin der Aumonier dieser Ambulance.“

„Wer ist der Vorsteher derselben?“

„Der bin ich auch.“

Dabei stellte sich der Officier so, daß er dem Priester den Anblick des Sterbenden verdeckte.

„Man hat aus den Fenstern Ihres Hauses auf meine Leute geschossen.“

„O nein, mein Capitain! Wie wäre das möglich? Nicht Ein Schuß ist aus meinem Hause abgegeben worden! Unser Haus ist ein Haus des Friedens –“

„Das sollte man glauben, und doch ist es geschehen.“

„Nein, nein, nein – das ist ein Irrthum!“

„Aber meine Leute haben Ohren zu hören und Augen zu sehen – sie haben die Kugeln bekommen. Sie sind übrigens zu gewissenhaft, etwas zu behaupten, wovon sie nicht die feste Ueberzeugung haben.“

„Aber ich schwöre es Ihnen, mein Capitain, daß dem nicht so ist –“

„So – also Sie schwören – nun denn, werden Sie hier im Angesichte dieses Sterbenden auch noch Ihren Schwur aufrecht halten?“

Damit trat er zurück, so daß der Priester den vollen Anblick des in den letzten Zügen liegenden Franctireurs hatte. Der Aumonier wurde blaß wie der Sterbende, und ein fast convulsivisches Zittern überfiel ihn. Dann aber, als er sah, daß noch Leben ist diesem sei, sprang er auf das Bett zu, holte ein Crucifix aus seiner Soutane und hielt es dem Röchelnden vor die brechenden Augen. Dabei bewegten sich seine Lippen in eifrigem Gebete, bis dieser den letzten Seufzer von sich gegeben hatte. Dann brach der Geistliche in Klagen und Vorwürfe aus, daß der Todte ohne die Sacramente hinübergegangen sei, daß dieses Haus der Schauplatz einer solchen That geworden sei.

„Sie haben sich nur allein die Schuld zuzuschreiben,“ erwiderte ihm der Officier, der des Französischen in vollendeter Weise mächtig war. „Sie haben die Thatsache abgeleugnet, Sie sind überführt worden – Sie sind der Mitschuldige dieser Fanatischen. Sie haben das rothe Kreuz geschändet. Sie haben die Fahne, unter der Sie dienen, verrathen, das Zeichen, das über Ihrem Hause weht und das allem Kampfe wehrt, das haben Sie gefälscht. Ich habe das Recht und die Macht, Sie in diesem Augenblicke noch füsiliren zu lassen.“

Bei der Drohung des Erschießens brach ein allgemeines Wehgeschrei aus, von dem Aumonier sowohl als seinen Collegen und den barmherzigen Schwestern.

„Und ich werde es thun, wenn Sie noch länger leugnen werden.“

Eine peinliche Pause entstand. Das Gesicht des Geistlichen hatte eine erdfahle Farbe angenommen, seine Augen hafteten am Boden; mit Angstblicken hingen die anderen Priester und die Nonnen an seiner sich nur mit Mühe aufrecht haltenden Gestalt. Endlich öffneten sich seine Lippen und er sagte:

„Ja, es ist aus dem Hause geschossen worden.“

„Dann liefern Sie mir die Schuldigen aus.“

„Sie sind nicht mehr im Hause.“

„Wo sind sie?“

„Sie haben sich bei Ihrer Annäherung dort nach jener Höhe zurückgezogen; nur dieser hier hat nicht mehr Zeit gehabt, sich zu retten.“

„So! Ich werde mich selbst überzeugen, ob die Kranken, die in den übrigen Stuben sind, lauter Kranke sind. Ich werde das Haus besetzt halten und dann einen Arzt schicken, der eine Untersuchung anstellen soll.“

Der Officier wandte seine Aufmerksamkeit wieder seinen Mannschaften zu, die auf seinen Befehl an den Fenstern Stellung genommen die Jalousien derselben geschlossen hatten und zwischen den Oeffnungen hindurch die gegenüberliegende Position wacker beschossen. Von dort wurde das Feuer mit großer Heftigkeit erwidert, dasselbe mußte unter allen Umständen zum Schweigen gebracht werden, und dazu war es nothwendig, daß die Schützenlinien verlängert und der Feind auch vom nebenangelegenen Hause noch beschossen wurde.

„Aber die Thür desselben ist verschlossen,“ bemerkte einer der Jäger.

„Woher wissen Sie das?“ fragte der Hauptmann.

„Weil wir schon vorhin in dem Hause Deckung suchen wollten, ehe man uns hier die Thür öffnete.“

[150] „Dann muß sie mit einer Axt eingeschlagen werden.“

„Das kann uns bei dem tollen Feuer von drüben einen, das kann uns zwei Mann kosten; denn sie werden diese gerade zum Zielpunkte nehmen,“ bemerkte Lieutenant Kramer-Möllenberg.

„Nein, nein,“ versetzte der Hauptmann, „nicht ein Haar soll meinen Leuten von diesen Schurken gekrümmt werden, die Unsrigen haben sich in diesen Tagen im offenen Gefecht gegen den Feind so brillant benommen, daß ich ihr Lebens gewiß nicht dieser Schurkerei zum Opfer, selbst nicht in Gefahr bringen will. Wer ist hier?“

Klagende, bittende Laute wurden im Rücken des Compagnieführers hörbar. Derselbe wandte sich um und blickte in die Jammermienen der beiden Collegen des Aumoniers. Der Eine derselben nahm das Wort.

„Oh, mon capitaine, ist es wahr, daß unser Bruder erschossen werden soll – und gleich auf der Stelle? O Barmherzigkeit! O, schonen Sie seiner, die Franctireurs haben sich des Hauses bemächtigt, was konnten wir gegen sie ausrichten? Wir mußten sie gewähren lassen. O, schonen Sie seiner!“

„Gut, ich werde Gnade für Recht ergehen lassen – ich will Ihrem Collegen sogar auch die Strafe schenken –“

„O Dank, Dank!“

„Wie gut, wie großmüthig Sie sind!“

„Halt, meine Herren, nicht zu schnell, ich bin nicht so großmüthig, wie Sie denken, denn bei Ihnen ist es manchmal nicht angewandt; ich spreche nicht so leicht von Schuld und Strafe los. Ihr Herr College muß sich sein verwirktes Leben wieder verdienen.“

„Aber wie, mon capitaine?“

„Was können Sie darunter verstehen?“

„Sie kennen das Haus, das links hier an dieses anstößt, und dessen Thür geschlossen ist.“

„Die Einwohner sind geflohen, mon capitaine.“

„Das ist kein Grund, daß man es nicht öffnen soll. Ihre Landsleute dort hinter den Knicks werden mir zu hitzig; sie verdienen eine energische Lection von unserer Seite, darum ist mir das Haus nothwendig. Ihr Herr College wird eine Axt nehmen und die Thür einhauen.“

Oh, mon capitaine, unter diesem starken Feuer!“

„Wenn ihn eine Kugel träfe!“

„Dann ist es immer besser, sie trifft ihn, als einen braven Soldaten. Sie wird ihn aber nicht treffen; auf meine Leute würden Jene drüben gehalten haben, auf den Franzosen – den Priester – werden sie nicht zielen. Sagen Sie ihm, das ist meine Bedingung.“

Nach einigen Minuten trat der Priester mit einer starken Axt aus der Hausthür der Ambulance und machte sich daran, die gelbe Thür des Nebenhauses einzuschlagen; er führte einen ganz kräftigen Hieb, denn schon nach einigen Schlägen gab diese seinen Anstrengungen nach. Der Hauptmann hatte vollkommen Recht gehabt, es wurde keine Kugel nach dem Manne im schwarzen Kleide geschickt, es war aber auch für den Capitain und seine Leute kein Verlust zu beklagen; im Laufschritt rückten sie aus dem Hause in das andere, und als die feindlichen Kugeln ankamen, waren sie schon Alle geborgen und richteten ihr Feuer mit der ihnen eigenen Zielsicherheit und Energie nach der feindlichen Stellung, die denn auch bald gänzlich zum Schweigen gebracht wurde.

Schneller mag wohl der Priester nie einen Weg zurückgelegt haben, als den von der geöffneten Hausthür nach seiner Ambulance zurück, in zwei Sprüngen war das geschehen, und merkwürdig – in dem Momente, wo er sein Haus wieder erreicht hatte, zerschmetterte eine Kugel den Stab der Fahne, die aus dem Fenster heraushing, und prasselnd fiel das weiße Tuch mit dem rothen Kreuze, das in diesem Hause entweiht worden war, zu seinen Füßen nieder.




Aus dem geheimen Polizeileben des ersten französischen Kaiserreichs.
Die Kinderpolizei. – Die Polizeidiners. – Die cytherische Cohorte.


Es ist bekannt, daß Ludwig der Vierzehnte neben anderen ebenso abscheulichen Mitteln besonders seiner geheimen Polizei, die wie ein Netz ganz Europa überzog, den ungeheuren Einfluß verdankte, den er in allen politischen Angelegenheiten übte. Dieses niederträchtige, verrätherische Spionirsystem erbte sich in Frankreich von Regenten zu Regenten fort, und ward, wenngleich mit einigen Aenderungen, die durch die Zeit geboten waren, auch von dem ersten Napoleon so umfassend adoptirt, daß man sich nicht wundern darf, wie genau Napoleon von allen europäischen Verhältnissen unterrichtet war, und wie überraschend bestimmte Instructionen er in gewissen Fällen ertheilen konnte.

In Wahrheit entrollt sich, trotz der strengen Geheimthuerei, gerade unter Napoleon dem Ersten ein Bild so schlimmer sittlicher Verdorbenheit in den gouvernementalen Kreisen, daß man erschrocken den Blick abwenden möchte von einem Gebäude, dessen morsche und verfaulte Stützen in jedem Momente zusammenzustürzen drohten, und daß nur aus dieser Erkenntniß die Anstellung eines der elendesten Verbrecher, den je die Welt gesehen, Eugène François Vidocq (1775–1857) zum Chef der geheimen Polizei, eines aus Spionen und entlassenen Sträflingen bestehenden Polizeicorps, begreiflich wird. Man irrt jedoch, wenn man glaubt, daß mit diesem Corps die ganze geheime Polizei Napoleon’s abgethan war. Im Gegentheil darf man behaupten, daß das ganze von Napoleon aufgerichtete Kaiserreich sich in seinen Hauptfundamenten wesentlich auf die Polizei stützte, daß jeder Staatsmann und General, wie eine Unzahl Geistlicher Antheil an dieser Polizei hatte, ohne kaum einmal zu ahnen, daß er doch selbst wieder im Geheimen von der Polizei überwacht wurde. Denn nicht allein aus den höchsten Beamten und Würdenträgern bestand die geheime Polizei: es wurden Schriftsteller, Rentiers, Handwerker, Komödianten, Seiltänzer etc. mit herangezogen, selbst Greise mit schneeweißen Haaren und voll Altersgebrechen, denen man auf dem kurzen Wege zum Grabe am wenigsten Verrath und Angeberei zutrauen konnte, wurden für die Zwecke der geheimen Polizei benutzt, und so war denn keine freundschaftliche und vertrauliche, keine verwandtschaftliche Mittheilung, kein berechtigter Wunsch, kein Ausdruck froher Laune oder herben Schmerzes mehr sicher vor dieser Polizei.

In der Reihe jener neuen Erfindungen, welche die unter Napoleon dem Ersten mit dem schamlosen Laster identisch gewordene französische Polizei einzig in ihrer Art zu machen verstand, gehört die Kinderpolizei zu den feinsten und scheußlichsten. Die geheime Polizei hatte zu ihren Werkzeugen eine Zahl von Kindern beiderlei Geschlechts ausgesucht, welche sich durch anmuthige Gestalt und frühzeitig entwickelten Verstand auszeichneten. Diese Kinder, häufig nur fünf Jahre alt, wurden zu der Kunst abgerichtet, sich unter die Leute zu schleichen, deren Gesinnung und Meinung die Polizei kennen lernen wollte, und welche zu vorsichtig waren, um sich von älteren Personen ausholen zu lassen. Die Jugend dieser kleinen Mouchards konnte keinen Verdacht erregen; in ihrer Gegenwart äußerte man sich rückhaltlos; kein Wort aber entfiel dem Gedächtniß dieser kleinen Bösewichter, und bald wußte die Polizei, welche sie abgeschickt hatte, genug, um die Personen zu Grunde zu richten, welche sie hatte aushorchen lassen.

Boten sich besondere Schwierigkeiten für die unverfängliche Annäherung der Kinder an die Verdächtigen, so mußte das erlesene Kind sich Abends an eine Ecke der Wohnung dieser Leute stellen und bei deren Nachhausekunft ein durchdringendes Geschrei erheben; man fragte natürlich, was ihm fehle, worauf es hieß, daß das Kind sich verirrt habe. Ein falscher Familienname wurde genannt; der Name der Straße, wo das Kind wohnte, konnte nicht angegeben werden: wer hätte ein verirrtes Kind von sechs Jahren, das reinlich und ordentlich gekleidet war und sehr niedlich aussah, von sich stoßen mögen? Am andern Morgen konnte es seinen Weg wohl allein finden. Es wurde mit in’s Haus genommen, es wurde der Lieblingsfreund der Kinder des Hauses, und am andern Tage richtete das kleine Ungeheuer seinen Wohlthäter, der sich seiner so liebreich angenommen hatte, vielleicht zu Grunde, indem es Denjenigen, die es geschickt hatten, alle Geheimnisse offenbarte, welche es in dem gastfreien Hause gehört hatte.

Ein sehr trauriges Beispiel der Art erfuhr ein Herr Talbot in

[151] Paris, dessen beide einzige Söhne in den Schlachten bei Eylau und bei Bautzen geblieben waren. Die geheime Polizei wußte, daß er über diesen schweren Verlust tief betrübt war, und hatte ihn in Verdacht, daß er ein geschworener Feind des Kaisers sei. Er war ein kluger und vorsichtiger Mann, der wenig Gesellschaft bei sich sah und nur in Gegenwart von ganz sicheren Freunden sich über sein trübes Schicksal und dessen Urheber aussprach. Gegen alle anderen Menschen bewahrte er eine Zurückhaltung, welche die mit der Ausforschung beauftragten Agenten zur Verzweiflung brachte, da alle ihre Versuche vergeblich gewesen waren. Endlich bemerkte man, daß er sich bei seinen täglichen Spaziergängen im Garten des Luxembourg auf eine Bank zu setzen und mit Jemand zu reden pflegte, welcher sein Freund zu sein schien. Sobald sich ihnen Jemand näherte oder gar auf derselben Bank sich niederließ, wurde von gleichgültigen Dingen gesprochen.

An einem schönen Frühlingsnachmittage suchte Herr Talbot im dichten Schatten der Alleen des Luxembourg sich von seinem drückenden Kummer zu zerstreuen. Einer seiner alten Freunde traf ihn daselbst, zog ihn auf eine Bank und fragte ihn hier um den Grund seiner tiefen Bekümmerung.

„Ich hatte,“ sagte er, „zwei Söhne, die einzige Hoffnung meiner alten Tage; allein beide sind ermordet worden, der eine bei der Metzelei von Eylau, der andere bei dem Hinschlachten von Bautzen.“

Er sprach noch, als ein sauber gekleidetes fünfjähriges bildschönes Kind zwischen die Kniee der beiden Freunde flüchtete. Es werde, sagte das Kind, von seiner Wärterin verfolgt. Wirklich sahen sie in der Mitte der Allee eine Wärterin, welche ein anderes Kind auf dem Arme trug. Die kindliche Anmuth des kleinen Flüchtlings gefiel beiden Greisen. Der eine nimmt es auf den Schooß, spricht ihm freundlich zu und verheißt ihm, die Wärterin zu versöhnen. Letztere kommt nicht; Herr Talbot setzt seine Unterredung fort:

„Ja, mein Freund,“ sprach er, „meine Söhne sind nicht mehr! – Guter Gott! wirst Du nie das Ungeheuer zu Boden schmettern, das sie auf die Felder des Todes geschleppt?“

„Ich fühle das ganze Gewicht Ihres Schmerzes,“ entgegnete der Freund, „ich jammere wie Sie; aber wie viele Familien giebt es nicht in Europa, die eben solche Unfälle zu beweinen haben. Sie rufen die Blitze des Himmels herab auf das Haupt des Urhebers aller unserer Leiden. Ihre Wünsche werden, wie ich glaube, bald erfüllt werden. Die Hand Gottes hat den Corsen getroffen, und die Kühnheit seines mörderischen Genies hält es nicht mehr aus gegen die Macht der Verbündeten.“

Allmählich machte sich das Kind von den Knieen des Greises los; da erscheint die Wärterin und eilt auf das Kind zu; dieses entwischt, die Wärterin verfolgt und erhascht es und alsbald verschwinden Beide miteinander.

Zwei Tage darauf wurde Herr Talbot auf dem Markte St. Roche verhaftet und in die Conciergerie gebracht. Erst nach fünf Tagen namenloser Sorge und Qual ward er zum Verhör vor Vidocq geführt. Wie groß war sein Erstaunen, als Vidocq ihm Wort für Wort der Unterredung vorsagte, die er vor acht Tagen mit seinem Freunde im Luxembourg gehabt hatte. Trotz seiner Bestürzung leugnete er Alles. Sofort drohte ihm Vidocq mit einem Zeugen, der ihn zum Geständniß bringen sollte, und gab auch Befehl, den Zeugen herbeizuführen. Beim Anblick seines alten Freundes erging der Verhaftete sich in Verwünschungen gegen den treulosen Verräther, wurde aber von Vidocq aufgeklärt, daß sein Freund durchaus nicht sein Verräther, sondern sein Mitschuldiger und gleich ihm Angeklagter sei. Auf die Darstellung der Unmöglichkeit, daß ein Anderer als dieser Freund ihn verrathen haben könne, da er der Einzige sei, mit dem er vor acht Tagen im Luxembourg gesprochen habe, erwiderte Vidocq: „Das thut nichts. Wissen Sie, daß selbst die Luft uns unbesonnene Reden zuträgt?“ – Später wurden beide Unglückliche nach dem Schlosse Ham abgeführt, um nach Jahren erst zu erfahren, daß jenes Kind ihr Verräther gewesen.

Ein anderes schmähliches Corps im Dienste der geheimen Polizei war die von Napoleon selbst so genannte „Cytherische Cohorte“. Dies war eine Gesellschaft von Leuten beiderlei Geschlechts, welche sich durch Jugend, Schönheit, Anmuth, Talente und Verführungskünste auszeichneten. Schön gewachsene junge Männer, reizende junge Mädchen, von denen sich die meisten durch Schulden zu Grunde gerichtet hatten, der Verschwendung ergeben waren oder von Habsucht getrieben wurden, gaben sich dazu her, sich an die verdächtigen Personen zu machen, ihre Neigung und ihr Vertrauen zu erschleichen und dann die Opfer bei der geheimen Polizei zu verrathen.

Ungeheure Summen wurden von der geheimen Polizei überhaupt verschlungen. Beispielsweise kostete die Ueberwachung des Chevalier de Rivoir Saint Hippolyte, eines Seeofficiers, der stark in die Sache des royalistischen Generals Lemercier verwickelt war, allein von 1807 an, wo er von Madrid wegging, bis zum October 1810, wo er zu Amsterdam verhaftet wurde, die Summe von vierhunderttausendzweihundert Franken, die Transport- und Unterhaltungskosten in den verschiedenen Gefängnissen ungerechnet, in die man ihn gesperrt hatte. Zwei Jahre lang hatte er stets zwei unsichtbare geheime Polizeiagenten um sich gehabt, welche ihm in alle von ihm bereisten Länder nachgefolgt waren. Seine Gattin, welche verhaftet wurde, weil sie in männlicher Verkleidung seine Entweichung vom Schlosse Lourde begünstigt hatte, veranlaßte einen Kostenaufwand von zweiundsiebenzigtausend Franken.

Diese Summen verschwinden aber gegen die Kosten, welche die „Cytherische Cohorte“ verschlang. Allein vom 10. März 1812 bis zum 22. Januar 1813 kostete diese „Cyherische Cohorte“ nicht weniger als fünf Millionen dreihundertzweiunddreißigtausendfünfhundert Franken an Reisekosten, Besoldungen und Vergütungen. Die geheimen Einrichtungen und die Einkerkerung der bedeutendsten Personen waren hauptsächlich das Werk der Mitglieder dieser nichtswürdigen Cohorte, vor der kein Mensch sicher war. So wurde zum Beispiel der Componist Mehül bei der Entdeckung der Entwürfe des Baron Imbert in sehr große Gefahr gebracht, der Royalist General Lemercier zu Lamothe bei Loudai getödtet, der Chevalier Laa, sowie die beiden Herren Dübüc und Rosselin verhaftet. Letztere Beiden fielen als Opfer der unvorsichtigen vertraulichen Mittheilungen, welche ein reicher Banquier einem Mädchen von der „Cytherischen Cohorte“ gemacht hatte. Der Banquier hatte nicht geahnt, daß dies weibliche Ungeheuer gerade die gewandteste Spionin der geheimen Polizei war und daß ihre ganze Verführungskunst es nur auf diese Mittheilungen abgesehen hatte. Ein Anderer, der von einem solchen weiblichen Ungeheuer verlockt und verrathen war, erbot sich sogar, die Person zu heirathen, doch umsonst; er wurde als geheimer Agent des Berliner Cabinets auf der Ebene von Grenelle erschossen. Ohne die thörichte Leidenschaft, welche er für das unselige Geschöpf gefaßt hatte, das ihn verrieth und dem Tode überlieferte, und ohne die vertraulichen Mittheilungen, die er ihr machte, würde er niemals überführt worden sein.

Fast immer blieben die Verräther den Opfern unbekannt; so kam es denn, daß letztere sogar die ersteren in’s Gefängniß kommen ließen, um von ihnen Trost, Rath und Beistand zu erbitten, und manches Ungeheuer legte den Balsam eines erheuchelten Mitleids auf die Wunden, die es selbst so meuchlerisch geschlagen hatte. Der Verräther des Baron Kolli nahm sogar noch einen Diamanten an, den ihm sein Opfer einige Tage vor seinem Tode heimlich als Freundschaftszeichen hatte überreichen lassen.

Doch gab es noch andere Weisen, den verdächtigen Personen Geheimnisse zu entreißen. Der Polizeiminister Savary (Herzog von Rovigo), der mit seiner geheimen Polizei in der tragischen Sache des Herzogs von Enghien eine so schmachvolle Rolle spielt, hatte in seinem Palais eine besondere Stube, in welcher zuweilen die Verhafteten aufbewahrt wurden. Hier besuchten die abgefeimtesten Inspectoren der geheimen Polizei den Gefangenen, sprachen wenig über seine Angelegenheit, laden ihn aber zu Tische ein. Die Küche des Ministers lieferte Alles, was zu einer guten Mahlzeit gehörte, besonders treffliche Weine. Der Zweck ging dahin, dem Gefangenen tüchtig zuzutrinken, um ihn völlig betrunken zu machen und ihm in diesem Zustande seine Geheimnisse zu entlocken. So ist Manchem diese Bewirthung im Palast des Polizeiministers die Henkersmahlzeit gewesen.

Wie nun bei einem solchen Verfahren Alles, was Wahrheit, Ehre, Sitte, Recht und Freiheit war, mit Füßen getreten wurde, erkennt man schon aus den angeführten Beispielen, und wenn man weiß, daß ein Vidocq an der Spitze dieser Ungeheuer stand, so kann man schon auf den sittlichen Gehalt seiner Untergebenen schließen. Zwei dieser Nichtswürdigen gingen einmal den sehr reichen irländischen Priester Macarthy um ein „Anlehen von viertausend Franken“ an, welches Macarthy unglücklicherweise ihnen

[152]

St. Denis, hinter Fort Double couronne, am 29. Januar 1871.
Nach der Natur aufgenommen von unserem Feldmaler F. W. Heine.

[153]

Bei der Riesenkanone auf Fort La Briche, am 30. Januar 1871. Nach der Natur aufgenommen von unserem Feldmaler F. W. Heine.
Argenteuil. Epinay. Eisenbahn nach Pontoise. Enghien.

[154] abschlug. Dafür gaben diese beiden Mouchards ihn wegen eines Verbrechens an, welches er niemals begangen, an das er nicht im Entferntesten gedacht hatte. Macarthy wurde völlig unschuldig erschossen. Eine Dame seiner Bekanntschaft scheute nicht den Weg nach Paris, um seine Begnadigung von Napoleon zu erbitten.

„Das ist unmöglich“ – soll Napoleon gesagt haben – „reich und ein Verräther; das wäre ein Todtschlag, wenn man ihn für unschuldig hielte!“

Auch die sehr vereinzelten Fälle, wo dieser im Geheimen schleichenden Meuchlerbande ihre Anschläge mißlangen, können dem sittlichen Gefühl kaum noch eine Genugthuung gewähren; es sind krystallklare Tropfen, die nur für den Augenblick farbig blitzen, aber auch sogleich in den verschlammten Sumpf hinabfallen, um ebenfalls in Fäulniß überzugehen. Demungeachtet mögen hier noch in aller Kürze einige Beispiele folgen.

Etwa vierzehn Tage vor Napoleon’s Krönung ließ sich ein russischer Graf Petrowlow in Paris sehen, welcher alsbald von einem zur geheimen Polizei gehörigen Abbé aufgefunden wurde. Der Graf sprach vortrefflich französisch und schien genaue Bekanntschaft mit den europäischen Cabineten zu haben. Der Abbé suchte daher nicht nur seine Bekanntschaft, sondern machte auch den nachmaligen Erzkanzler Cambacérès aufmerksam auf ihn. Es galt, die Meinung des russischen Kaisers über die neue Würde Napoleon’s zu erfahren. Mit großer Feinheit suchte der Abbé den Grafen auszuholen. Ebenso fein wußte der Graf den Abbé zu kirren, indem er zwar zurückhaltend war, jedoch dabei merken ließ, daß die Zurückhaltung nicht stets fortdauern werde. Jetzt wurde Napoleon selbst von der wichtigen Bekanntschaft unterrichtet und Cambacérès von Napoleon ermächtigt, Alles aufzubieten, um den Grafen zu gewinnen. Der Graf wurde durch den Abbé zu Tische bei Cambacérès eingeladen. Als der Abbé zum Grafen Petrowlow in’s Hôtel kam, fand er den Grafen mit Reiseanstalten beschäftigt und lockte nun, höchlichst überrascht, mit feinen und dringenden Fragen das discrete Geständniß heraus, daß der Graf bei dem unerwartet theuern Leben in Paris zu kurz mit seinem Gelde gekommen sei und nur noch so viel besitze, daß er gerade nach Deutschland zu Bekannten gelangen könne, um sich bei diesen wieder mit Geld zu versehen. Mit vieler Mühe und in der feinsten Weise von der Welt drang nun Cambacérès dem Grafen vierundzwanzigtausend Franken auf, wies jegliche schriftliche Empfangsbescheinigung zurück und erhielt nun auch nach vielen feinen Andeutungen und Wendungen und unter Erweisung aller möglichen Liebenswürdigkeiten und Gefälligkeiten die Zusicherung eines Schriftstückes über den gewünschten Gegenstand. Nach mehreren Tagen überreichte der Graf die Schrift versiegelt und mit der Erklärung, daß sie direct für Napoleon bestimmt sei.

Man kann sich Napoleon’s Stimmung denken, als er die Schrift erbrach, deren bloßer Schluß schon charakteristisch genug ist.

„Endlich“ – so heißt es am Ende der Schrift – „will man wissen, in welchem Rufe Bonaparte in Rußland steht und was man überhaupt von ihm denkt. Eine Thatsache wird diese Frage genügend beantworten.

Als man in St. Petersburg den unglücklichen Tod des Herrn Herzogs von Enghien erfuhr, erhob sich nur ein Schrei gegen seinen Mörder. Das Blut des Schlachtopfers bleichte auf einmal die Lorbeeren des Siegers von Marengo. An die Stelle der öffentlichen Achtung trat eine allgemeine Verwünschung und bei der berühmten Todtenfeier zu St. Petersburg zum Gedächtniß des unglücklichen Fürsten theilten Aller Herzen die Gesinnungen der folgenden Aufschrift, welche auf dem Cenotaphium stand: ‚Inclito principi Ludovico Antonio Henrico Borbonio Condaeo, duci d’Enghien, non minus propria et avita virtute quam sorte funesta claro, quem devoravit bellua Corsica, Europae terror et totius humani generis lues.‘

Man kann sich denken, mit welcher Wuth Napoleon die Schrift zu Boden schleuderte. Bei keiner Gelegenheit soll er ärger geflucht haben. Der sofortige Befehl zur Verhaftung des Grafen war selbstverständlich. Dieser hatte sich jedoch natürlich mit den vierundzwanzigtausend Franken davon gemacht und einen Vorsprung von dreißig Stunden gewonnen, so daß er glücklich entkam, wie es heißt nach der Türkei. Umsonst waren alle äußersten Anstrengungen der geheimen Polizei. Zum Ueberfluß erfuhr sie nur noch, daß der angebliche russische Graf Petrowlow Niemand anders gewesen war, als – ein Jude aus der Umgebung der „guten Stadt“ Lübeck!

Im Jahre 1812 wurde in der bereits oben erwähnten Stube des Polizeiministers eine entsprechende komische Scene gespielt. Ein junger Mensch, ein leichtsinniges Subject, der seine Sache auf Nichts gestellt hatte, wurde wegen Verdachtes geheimer Werberei verhaftet. Er hatte Complicen; man konnte ihn aber in drei Verhören nicht zum Geständniß bringen. Savary selbst beschäftigte sich angelegentlichst mit ihm und suchte ihn auf alle mögliche Art und Weise auszuforschen: – alles vergebens! Endlich gab Savary den heimlichen Befehl, den Versuch mit einer tüchtigen Mahlzeit zu machen und vor Allem den guten Wein dabei nicht zu sparen. Der Examinande wurde deshalb in die bekannte Stube geführt und der beste Spürhund der geheimen Polizei zu seinem Gaste gewählt. Dem lebenslustigen jungen Menschen war die feine Mahlzeit schon ganz recht; der Wein floß in Strömen. Das Schicksal aber wollte, daß der Inspector selbst das ward, was er bei seinem Tischgenossen bewirken wollte: er wurde betrunken, während unser Held sich tapfer hielt. Der Inspector schlief sogar bei Tische ein.

Der heimliche Werber benutzt die günstige Situation. Als tüchtiger Raucher nimmt er eine gute Portion Tabak, kaut ihn durch und preßt den Saft in des Inspectors Glas, füllt Wein dazu, weckt den Schläfer und animirt ihn zum Weitertrinken. Der Inspector trinkt und – versinkt in noch tieferen Schlaf, aus dem ihn selbst das Rütteln des Werbers nicht zu erwecken vermag. So konnte der verwegene Mensch ihm Rock, Weste, Halstuch, Hut, Schuhe und Strümpfe abnehmen und sich selbst damit bekleiden, den Degen umschnallen, ihm die Uhr und siebenundvierzig Franken abnehmen, mit dem in der Tasche gefundenen Schlüssel die Thür öffnen und sich davon machen.

Diese gründliche Bloßstellung der geheimen Polizei wurde stets ängstlich unterdrückt und erst nach Jahren zuerst in München von einem Freunde des glücklich entflohenen Werbers an das Tageslicht gebracht.

Endlich mag noch einer Unternehmung erwähnt werden, bei welcher die Primadonna der „cytherischen Cohorte“ selbst die Hauptrolle spielte. Die Geschichte ist wirklich ein Roman, läßt sich aber doch sehr kurz erzählen, wobei die Namen nur angedeutet werden, da wahrscheinlich noch Angehörige der betreffenden Personen in Deutschland am Leben sind.

Im Jahre 1809 traf ein Holländer Anstalt, in Leipzig eine gründliche Schrift gegen Napoleon drucken zu lassen, in welcher die europäischen Mächte geradeswegs zu einem Bündniß gegen Napoleon aufgefordert wurden. So geheim die Vorkehrungen gehalten wurden, so hatten doch die geheimen Spione der französischen Polizei in Leipzig bald Verdacht geschöpft und dem Holländer eine Schlinge gelegt. Alles an dem Unglücklichen wurde untersucht, selbst das Futter seiner Kleidung zerschnitten, sein Hausgeräth zertrümmert, Betten und Matratzen aufgeschnitten und sogar eine schöne Gypsstatue der Venus zertrümmert: es wurde nichts gefunden. Umsonst versicherte der Holländer, durchaus nichts geschrieben zu haben: er wurde nach Paris geführt und – niemals ist er wieder zum Vorschein gekommen, oder ist auch nur ein Wort über den Unglücklichen bekannt geworden.

Rastlos spürten inzwischen die Spione in Leipzig weiter umher und brachten endlich heraus, daß der Holländer, sobald er sich beobachtet gefunden, das Manuscript seiner Schrift einem Freunde Sch. anvertraut hatte, der in Prag lebte und auf einige Tage zum Besuch nach Leipzig gekommen war. Um jeden Preis wollte Napoleon das Manuscript haben. Bald wußte er, daß Herr Sch. ein reicher Privatmann, vierzig Jahre alt, seit zwei Jahren Wittwer, Vater einer vierjährigen Tochter, ein Bewunderer des schönen Geschlechts war und bei Prag auf einer schönen Villa lebte. Der Entschluß war gefaßt und die schönste und glänzendste Dame der cytherischen Cohorte ward für Herrn Sch. in Prag ausgewählt. Die erwählte D…s hatte ihre Eltern jung verloren und hätte von ihrem geerbten Vermögen anständig leben können. Zügelloser Hang zum Luxus und zum Spiel ruinirten sie aber. Die D…s war eine vollkommene Schönheit und voll glänzender Talente. So wurde sie die Geliebte eines deutschen Cavaliers, den sie zu Grunde gerichtet hätte, wenn er sich nicht energisch von ihr losgesagt und ihr zuletzt fünfzehntausend Franken durch das Haus Recamier ausgezahlt [155] hätte. Sogleich trat sie mit einem sehr hochgestellten französischen Cavalier in Verbindung, dem sie, mindestens nach der Versicherung der gekränkten Gattin, innerhalb fünfzehn Monaten dreihunderttausend Franken kostete. Auf Betrieb seiner Gattin sagte er sich endlich von ihr los, stellte sie aber, dankbar für die erwiesenen Begünstigungen, an die Spitze der cytherischen Cohorte, wobei ihre Fertigkeit in der deutschen Sprache ein wesentliches Moment war.

Nach verschiedenen Gesprächen mit dem Polizeiminister erhielt die D…s einen Paß als „junge Wittwe Brigitte Adelaide Saulnier, welche ihrer Gesundheit wegen in Deutschland reist“. Ihre geheime Instruction lautete nur kurz dahin:

„Sie reisen geraden Weges nach Prag in Böhmen. Hier erkundigen Sie sich insgeheim nach Herrn Sch. und nach seiner Wohnung. Unter dem Vorgeben einer reinen Luft, die für Ihre Gesundheit nothwendig ist, äußern Sie Lust, auf dem Lande zu leben, und richten es so ein, daß Sie eine Wohnung so nahe als möglich an der seinigen beziehen. Sie lassen bauen, wenn es nöthig ist; Sie sparen nichts. Das Uebrige überläßt man Ihren Einsichten und Ihrem Scharfblick.“

Als die sogenannte Wittwe Saulnier in Prag ankam, war Herr Sch. auf seiner Villa leicht gefunden und die benachbarte Villa für zweiunddreißigtausend Franken dem Besitzer, einem Pergamentmacher, abgekauft. Die Saulnier spielte ihre Rolle so geschickt, daß Herr Sch. sie sogleich kennen lernte, sich sterblich in sie verliebte und nach kurzer Zeit um ihre Hand warb.

Zum Unglück für ihre nichtswürdige Mission hatte aber die verkappte junge Wittwe zum ersten Male in ihrem Leben selbst eine ernstliche Liebe gefaßt, da Herr Sch. sich überall als einen echten Ehrenmann erwies und noch ein stattlicher Mann in den besten Jahren war. Nach kurzen Bedenken und Erwägungen reichte sie ihm ihre Hand. Erst am Tage nach der Hochzeit dachte sie an den Zweck ihrer Sendung und sprach mit Herrn Sch. scheinbar ganz beiläufig und wie vom Hörensagen von der zu Verlust gegangenen Handschrift und von der seinerzeitigen Aufhebung des Verfassers. Ihr Gatte war höchlichst überrascht von der Kenntniß seiner jungen Gattin, erzählte von seiner persönlichen Gefahr in der Angelegenheit, von der Uebernahme des Manuscripts und – von der Verbrennung desselben auf die erste Nachricht von der Verhaftung des Verfassers! – Die Gattin wußte genug, berichtete nach Paris, „daß Seine Kaiserliche Majestät in Hinsicht dieser Sache ganz ruhig sein könne,“ und – war und blieb die Gattin eines Ehrenmannes.
B. Avé-Lallemant.




Blätter und Blüthen.

Das Chaisewägelche. Auch seine heiteren Bilder hat der Krieg. Unter diese gehört folgendes kleine Erlebniß.

Eines Abends saß der Oberst Kurth, welcher die öffentliche Sicherheit in der zweiten Armee zu überwachen hat, in seiner Wohnung in Orleans, hatte verschiedene Dienstgeschäfte erledigt und war eben im Begriff sich zur Ruhe zu begeben, als unten an der Hausthür heftig geschellt wurde. Nicht lange, so wurden die Treppe herauf, die zu der Wohnung des Obersten führte, schwere Tritte vernehmbar und darauf an der Thür derselben ein starkes Klopfen.

„Herein!“

Die Thür wurde geöffnet, ein Soldat erschien und hinter ihm noch ein Mann in Civilkleidung. Die Uniform des Ersteren ließ einen hessischen Chevauxleger erkennen, die andren Anzeichen, das geröthete Gesicht, der laute Ton ließen darauf schließen, daß er des süßen Weines ein wenig zu viel genossen hatte, wie dem besten Soldaten zu Zeiten passirt.

„Wohnt hier der Officier von der Gensd’armerie?“

„Der bin ich. Was steht zu Diensten?“

„Nu, des is g’scheidt, daß wir Sie g’funne habbe – nu habbe mer g’wunne. Verzeihe Sie, Herr Officier, aber ich muß Ihne des Alles erscht explicire. Ich g’hör’ zu de Hesse, des werde Se schon an mei Uniform g’sehe habbe, und der do“ – damit zog der Sprecher aus der Tiefe und einer Ecke des Zimmers den Civilisten hervor – „der do, der is e Mann von der Colonn’, die als die Fourag’ und des All’s fahre, Se werde mich scho verstehe. Nu, wir sind do uf einem Dorf drei Stund von Orleans beime Bauern einquartiert – des arm’ Luder hat selber nix zu nage und zu beiße und das soll uns noch was gebbe. Aber Hunger hat mer drumdem. Du, hebb’ ich zu dem da g’sagt – er is e Mann von der Colonn’, die als die Fourag’ und des All’s fahre –“

„Ich weiß, ich weiß –“

„Na, denn ist’s gut, dann brauch’ ich’s Ihne net erst zu explicire. Du, weßte was – mer nehme unserm Bauer sei Chaisewägelche und fahre da in die groß’ Stadt Orleans und kaufe, was mer zu esse brauche. Geld habbe mer g’nug – ja, Herr Officier, Geld habbe mer immer – und so habbe mer a’g’spannt und sind rei’g’fahre. Dann habbe mer eig’kauft Fleisch und Mehl und Butter und Paschtete und Pommad’ und Stiefelwichs und was mer so halt braucht, und dann – dann –“

„Nu was denn dann?“

„Verzeihe Se, Herr Officier, aber es passirt einem Mensche halt manchmal, daß er was thut, das er nit thun sollt’ – und so sind mer in’s Wirthshaus g’rathe – wie? Ei das kann ich Ihne selber nit sage, wie das zu’gange is, aber uf e Mal ware mer halt drin.“

„Und haben eins über den Durst getrunken – nicht wahr?“ frug der Officier, den die Sache anfing zu belustigen.

„Was Se von mer denke, Herr Officier –! Ich e Soldate, e Kämpfer für’s Vaterland zu Pferd – ich soll mich so weit vergesse? Des sehe Se mer doch an, deß ich noch ganz nüchtern bin – aber der do, der Mann von der Colonn’, die als die Fourag’ –“

„Was ist mit dem Manne?“

„Was mit dem ist? Des mußte Se doch schon lang g’sehe habbe, zu viel getrunke hat er – es giebt so unmäßige Leut’.“

„Der Mann scheint aber doch ganz nüchtern zu sein – dagegen Sie –“

„Ich? Frage Se mei Rittmeister, ob ich net sei beschter Mann in der ganze Schwadron bin – ich sage Ihne, ich habb’ uf de Franzose eig’haue, daß se sich heilig gedacht habbe, wenn mehr solche Kerl komme, denn sind mer perdus – das heißt uf deutsch futsch. No, Se habbe doch von de Hesse g’hört!“

„Im Ernst, sie haben sich vortrefflich geschlagen, aber nun würde ich Sie auch bitten, ein wenig leiser zu sprechen – ich verstehe Sie sehr gut.“

„Nit wahr, zu laut? Siehst de’s,“ wandte sich der Soldat an seinen Begleiter, „ich hab’ mer’s gleich gedacht, du sprichst zu laut – vor einem Vorgesetzte, wie dem Herre, muß mer ganz leis rede.“

„Und nun muß ich Sie ersuchen, mir zu sagen, was Sie eigentlich wollen.“

„Unser Chaisewägelche wolle mer wieder habbe,“ platzte der Sprecher in demselben lauten Ton, in dem er vorher gesprochen hatte, heraus. „Wie mer in dem Orleans eig’fahre sind, habbe mer immer uf de Kathedral’, was mer bei uns zu Haus die Domkirch’ nennt, zugehalte, – des is in einer fremde Stadt immer das Best’, grad’ uf de Kirchthurm zu – und dort habbe mer des Chaisewägelche denn stehe lasse und habbe unsere Einkäuf g’macht, und wie mer jetzt wieder hinkomme, um mit des Chaisewägelche heimzufahre, is kei Chaisewägelche mehr do und gar nirgends mehr zu finne.“

„Nun und was soll ich denn dabei thun?“

„No, Se solle uns des Chaisewägelche suche helfe.“

„Wenn ich nur wüßte, wie man das jetzt in der Nacht macht.“

„Was? Das wisse Se net? Ei, wozu sind Se denn Officier von de Gensd’armerie, wenn Se uns net sage könne, wie mer unser Chaisewägelche wieder attrapire könne?“

„Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß ich sehr gute Ohren habe, und daß Sie sich gar nicht so sehr anzustrengen brauchen, um sich mir verständlich zu machen.“

„Hörst Du’s,“ wendet sich der Soldat wieder zu dem Colonnenmann, der nicht den Mund aufthat, „ich habb’ Dir’s schon e Mal g’sagt, ganz leis muß mer mit eneme Vorgesetzte spreche, so leis, daß er’s gar net höre kann.“

„Daß Ihr Wagen weg ist, darf Sie nicht Wunder nehmen. Irgend ein Verwundeter, irgend ein Truppentheil, der ankam und der das herrenlose Fuhrwerk da stehen sah, der hat natürlich zugegriffen. Das wäre nicht geschehen, und Sie hätten Ihr Chaisewägelchen wieder, wenn Einer von Ihnen bei dem Fuhrwerk zurückgeblieben wäre.“

„Siehst Du’s, ich habb’ dersch gleich g’sagt, bleib’ Einer bei dem Chaisewägelche zurück – aber nei – g’soffe muß werde – und immer g’soffe, bis der Verstand und de militärische Attraitität und zuletzt auch des Chaisewägelche fort is. Nu könne mer in der Nacht gucke, wie mer wieder hem komme mit unsere Lebensmittel, mit der schwere Last.“

„Wo haben Sie denn Ihre Lebensmittel?“

„Ei, die habbe mer uf die Domtrepp’ hingelegt, weil mer doch erscht Ihne ufsuche wollte, um zu wisse, wie und wo denn?“

„Heute kann ich unmöglich noch etwas thun, meine Leute sind alle auswärts, aber morgen will ich versuchen, ob man Ihnen das Fuhrwerk wieder herbeischaffen kann. Bleiben Sie hier, quartieren Sie sich irgend wo ein, aber gehen Sie und versichern Sie sich Ihre Einkäufe auf der Domtreppe, sonst geht es Ihnen mit diesen wie mit dem Wagen.“

„Do könne Se Recht habbe. An Allem is aber nur der do schuld, ich habb’ ihm g’sagt, Du bleib’ hier bei de Paschtete und bei der Stiefelwichs – aber noi, mit hat er müsse, um zu sehe, wie Sie denn aussehe. ’s ischt e Kreuz mit so eneme Mann von der Colonn, die als die Fourag’ und des Alles fährt.“

„Aber nun gehen Sie. Gute Nacht – gute Nacht!“

Endlich gingen sie. Eine halbe Stunde mochte vergangen sein, da wurde unten an der Hausklingel so stark gerissen, daß der Oberst erschreckt aus dem Schlafe auffuhr, an das Fenster trat, dasselbe öffnete und hinaus frug, was denn vorgefallen sei?

„Herr Officier,“ ließ sich von unten die Stimme des hessischen Chevauxlegers vernehmen, „ich wollt’ Ihne nur g’horschamst melde, daß mer auch de Lebensmittel uf der Domtrepp’ net mehr vorg’funne habbe. Nu hat All’s der Teufel g’holt – no könne mer zu Fuß unsere Weg finne. Ich habb’s dem Mann von der Colonn’ ebbe explicirt, was doch des Saufe vor e Laster is. Schönen Dank für Ihre Müh’ – jetzt brauche mer auch kee Chaisewägelche mehr.“
Georg Horn.

[156] Im Paris des Waffenstillstandes. Wir erhalten von unserem Mitarbeiter Fr. Hofmann folgenden Vorläufer eines Berichtes über das dermalige Innere der französischen Hauptstadt, in welches vorzudringen demselben schon am siebenten Februar gelungen ist:

Paris, 8. Februar 1871.     

Ich kann mir die Freude nicht versagen, Ihnen einen Brief mit dem Poststempel von Paris zu senden, damit Sie amtlich davon überzeugt sind, daß ich wirklich im Kern der Stadt bin.

Wie ich hereingekommen, erzähle ich Ihnen morgen, wenn ich ebenso wieder hinausgekommen bin. Im Bahnhof von Orleans, am östlichen Ende des Boulevard de l’Hopital, stieg ich gestern aus dem Waggon.

Schon in den mächtigen Räumen dieses Bahnhofes fühlte ich mich in Paris, und der Contrast zwischen diesen für Tausende gemessenen Hallen und der verschwindend kleinen Anzahl von Reisenden, die sich darin verloren, ließ jetzt ahnen, was Paris seinem Wesen nach sein müsse und was es in diesem Augenblick ist: ein weites Galakleid, in welchem ein abgezehrter Körper steckt. – Immer noch Versailles im Kopfe, wohin ich eigentlich gehen wollte und auch noch zu müssen glaubte, weil ich nur deutsches Thalergeld bei mir hatte, schlug ich mich links am Boulevard de l’Hopital hinab, verließ aber schließlich die mit diesem zusammenhängenden Boulevards, auf denen nur der Kleinverkehr die Trottoirs belebte, verirrte mich in ein Gassengewirre, selbst eine Rue Humboldt passirte ich, und kam endlich bei dem Quai de la Tournelle wieder heraus – mit dem ersten Blick die weltberühmte Notre-Dame begrüßend, die mit der grauen Pracht ihrer wundervollen gothischen Glieder zur Linken jenseits der Seine emporragte.

„Hier bleiben!“ rief’s in mir. Vor Allem galt es nun eine vorsichtige Geldprobe. Wie wunderlich es mir dabei erging, muß ich Ihnen sogleich erzählen. Ich fing klein an. In einem Cigarrenladen legte ich ein Fünfgroschenstück auf den Tisch und bat um einige der besten Cigarren. Eine Frau verkaufte. Kaum hatte diese mein Geldstück in der Hand näher betrachtet, so warf sie’s mit einem Abscheu weg, als wenn’s plötzlich eine Kröte geworden wäre. „Fi-donc, d’argent prussien!“ Eiligst zog ich meinen armen Verschmähten zurück und empfahl mich. – Ich mußte höher hinauf; einige Häuser weiter fragte ich nach dem Preis eines Spazierstocks; „zwei und einen halben Franken.“ Der Zufall mußte es so wenden, daß der neue preußische Thaler, den ich hier auf die Tafel legte, das noch silbern glänzende Gesicht Wilhelm’s zeigte. Der Verkäufer – er trug rothe Streifen an den Hosen – berührte diesmal die Münze gar nicht. Mit außerordentlich verständlicher Gesticulation des Abscheus bat er mich, diesen „Prussien“ vom Tisch zu entfernen. Noch schlimmer fiel mein dritter Versuch aus. Ich hatte als Kaufstück einen Regenschirm zu zwölf Franken gewählt und legte zur Bezahlung einen preußischen Zehnthalerschein hin. Ganz habe ich die schöne Rede nicht verstanden, welche die schwarzgekleidete patriotische Dame mir hielt; der Schluß lautete, daß ich mich schämen solle, ein solches Papier des Feindes in dem unglücklichen Paris verwerthen zu wollen. Eine schöne Aussicht! – Ich wußte es nun haarklar, daß ich dastand mitten in der ergrimmten Franzosenhauptstadt ohne einen Pfennig Geld in der Tasche! Die Lage war um so störender, als Hunger und Durst ihr Recht forderten. Das nächste Beste erschien mir die Rückkehr nach Vitry; auf dem Wege zum Bahnhof von Orleans traf ich jedoch mit einem jungen Manne aus Paris zusammen, der sich mir zum Führer anbot und der mich in der That aus aller Verlegenheit gerettet hat. Wir gingen zunächst in ein Speisehaus, wieder am „Boulevard de l’Hopital“, und hier setzte ich meine Geldproben mit nun gedecktem Rücken fort. Der preußische Thaler erhielt auch hier keine Gnade, als ich aber einen österreichischen Vereinsthaler vorlegte und ihn durch Wappen, Kopf und Schrift als „Autrichien“ erklärte, – da war’s etwas anders, den nahm man sofort für drei und einen halben Franken. So tief greift hier der politische Haß in den Verkehr ein.

Mein Führer hatte mir gestern Abend ein einfaches, aber reinliches Schlafstübchen verschafft; beim Erwachen heute Morgen wollte mich allerdings der Gedanke schütteln, ob das Bett nicht im Dienste des jetzt in Paris so vielfach und unheimlich geschäftigen Todes gestanden; mit einer deutschen Cigarre dampfte ich ihn fort; seit halb Acht habe ich nun Paris in seinen wichtigsten Theilen durchlaufen und das blasse Bild der alten Prachtstadt gründlich genossen. Allen, welche dieselbe in den Tagen ihres Glanzes gesehen, wird es kaum möglich sein, die Straßen, Boulevards und Quais sich ohne die zwei Hauptstücke des Pariser öffentlichen Treibens vorzustellen: ohne Pferde und ohne Fremde! – Denken Sie sich die breiten Fahr- und Reitwege der endlos langen Häuserlinien ohne das Rasseln der Equipagen eines Kaiserhofes und all der diplomatischen, militärischen, finanziellen Hof- und Haushaltungen, ohne die stattlichen Reiter und Reiterinnen, ohne die schweren Güterwagen und die rastlosen Fiacres! – Als ich im Bahnhof von Orleans gestern hier ankam, stand ein, sage ein Fiacre da, welchen sofort drei Damen in Beschlag nahmen; bis jetzt habe ich noch kein Dutzend derselben zusammengezählt. Nur die Omnibuslinien gehen wieder ihren Gang, aber jedenfalls nur in einfachster Zahl. (Eben, während ich dies in dem „Restaurant à John Bull“ in der Rivolistraße schreibe, wird draußen ein Zug von mindestens zweihundert aufgeschirrten Pferdepaaren vorübergeführt, begrüßt vom Jubel des Volks. Das wird das jetzige Straßenbild bald verändern.)

Die Luxusläden hängen zwar ihre Siebensachen aus, aber der Käufer fehlt, der Fremde mit der vollen Börse. Die Einheimischen sind in Masse nur da zu finden, wo man Nahrungsmittel verkauft, also vor den Bäckerhäusern und in den großen Markthallen. Auch die Wahlurne half heute in den verschiedenen Straßen größere Gruppen bilden; man beehrte mich mit der Ueberreichung von wenigstens einem Dutzend Wahlzetteln, die ich von allen Parteien huldvoll entgegennahm.

Aber die Zeit drängt, der Brief muß fort. Ueber meinen heutigen Rundgang das nächste Mal. Eben komme ich vom Invalidendome und vom Concordienplatz zurück. Der Eingang zu jenem war verboten, weil darin „restaurirt“ werde; mein Führer ließ mich durch einen finstern Seitengang dahin gelangen, und was ich sah, erklärt mir das Verbot: sämmtlicher Fahnenschmuck ist entfernt; die Mehrzahl waren deutsche Fahnen; man hat sie wahrscheinlich „sauvés“. Der Degen des alten Fritz ist wohl auch bereits „sauvée“. – Dagegen glänzt auf dem Concordienplatz der schwerste Verlust der Franzosen im Schmuck nationaler Trauer: die Statue von Straßburg ist ganz überdeckt mit umflorten Fahnen und Todtenkränzen! –

Da winkt das „Dejeuner“! – Mir graut vor Dir! Aber – Hunger thut weh. Also – drauf los mit Todesverachtung – Gruß! Ihr etc.


Aus einer zerschossenen Stadt. (Mit zwei Abbildungen.) Ueber die Befestigungen und über die Zerstörung von St. Denis haben wir bereits in der letzten Nummer der Gartenlaube eine so eingehende Schilderung von Friedrich Gerstäcker, welcher der Uebergabe der Stadt persönlich beigewohnt hatte, gebracht, daß wir heute füglich auf diese verweisen und das treffliche, von Wilhelm Heine hinter Fort Double couronne in St. Denis aufgenommene Bild ohne weiteren Text veröffentlichen könnten. Indessen enthält auch der Brief des Malers einige nicht uninteressante Details, und da dieselben gerade auf seine beiden Illustrationen von St. Denis und der Riesenkanone auf „la Briche“ Bezug haben, so lassen wir die bedeutenderen Stellen des Briefes hier im Abdruck folgen.

„Als ich mich,“ schreibt Heine, „St. Denis am Tage nach seiner Uebergabe näherte, empfing ich gerade den Eindruck, als ob dortselbst Jahrmarkt sein müsse, ein so reges Leben hatte sich auf allen Haupt- und Nebenstraßen entfaltet. Zweirädrige Wagen gingen und kamen, blaublousige Männer und Bauerweiber, unaufhörlich schwatzend, mit Eiern, Butter und Käse beladen, zogen zur Stadt, Soldaten fuhren Möbel und andere Hausgegenstände in dieselbe. Dagegen kamen uns eine Menge Weiber, Kinder, Mobilgarden etc. entgegen, den Spaten über der Schulter, den Korb am Arm, um rechts und links sich über die Felder zu stürzen und dort nach Möhren, Zwiebeln und Kartoffeln zu graben. Mit steifgefrorenen Fingern kehrten Andere nach stundenlanger Arbeit schon wieder heim, vergnügt, wenn ihnen das Schicksal ein paar gelblichweiß gefrorene Krautköpfe in den Weg geführt hatte, aus welchen es möglich gewesen war, noch ein paar brauch- und eßbare Theile herauszuschneiden. Eine sehr schöne, mit hohen Pappeln bepflanzt gewesene breite Straße führte mich durch das Fort Double couronne in die Stadt hinein. Vor meinem Eintritt in dieselbe konnte ich sehen, welche ungeheuern Menschenopfer ein Sturm gekostet haben würde, wenn er wirklich zur Ausführung gekommen wäre. Ungefähr fünfzig Schritte vor den Palissaden ragten aus der Erde zwei Fuß hohe Pfähle hervor, kreuzweise und durch starke Drähte mit einander verbunden; dann kamen, dicht an einander gereiht, die stärksten Kronen von festen Bäumen, Rüstern, Buchen, Akazien, die Enden spitz zugeschnitten und wiederum Ast für Ast mit Draht verbunden; hinter diesen wieder kurze Pfähle, dann breite Pfosten, mit unzähligen, die Spitze nach oben streckenden Nägeln bedeckt, ein drei Fuß breiter und sechs Fuß tiefer Wall und nun erst die Palissaden, die von der eigentlichen Festung noch immer durch einen vierzig bis fünfzig Meter breiten freien Raum und durch einen halb so breiten, aber sehr tiefen Wassergraben getrennt waren. Jetzt freilich konnte man ungehindert passiren, die Kettenbrücke war heruntergelassen und Fuhrwerk auf Fuhrwerk, Soldaten und Civilisten drängten und zwängten sich im bunten Durcheinander hinüber und herüber.

Das Fort Double couronne ist bekanntlich eine Verschanzung, welche nach hinten, nach der Stadtseite offen ist. Man kommt unmittelbar darauf in die Vorstadt. Hier sah man, in welcher prächtigen und doch wieder schrecklichen Weise unsere Artillerie gewirkt hatte. Viele Häuser waren bis auf den Boden vernichtet, kein einziges war von den Granaten verschont geblieben. Das Pflaster war aufgerissen, tiefe Löcher waren in dasselbe gewühlt. Gleich hinter dem Fort liegt die Gasanstalt mit ihren vielen mächtigen Schloten. Dieselbe hatte eine völlige Verwüstung erfahren. Einige der Essen waren überhaupt ‚gewesen‘, andere waren so zerschossen, daß sie auf jeden Fall abgetragen werden mußten, durch die eine derselben aber waren ziemlich hoch oben zwei Granaten mitten durch gegangen und zwar so schön und sauber, daß es aussah, als wären hier zwei runde Löcher mit Absicht hineingearbeitet worden.

Die prachtvolle Kathedrale hatte wenig gelitten, schlimmer war die zweite, eine kleine im romanischen Stil gegen die Seine zu erbaute Kirche, davon gekommen, sie hatte nicht weniger als fünf Granaten erhalten. Ein Bruder Geistlicher führte mich in derselben herum. Beim Abschied sagte er mir ganz demüthig eindringlich, er habe gehört, daß heute viel Speck und andere Lebensmittel herein nach St. Denis geschafft worden sei – ob ich ihm nicht ein Stücklein von alledem zukommen lassen könne, er wolle mich gerne in meiner Wohnung aufsuchen. Da ich jedoch selbst nur Gast in der Stadt war, so konnte ich dem Gesuch, gegen dessen Dringlichkeit übrigens der noch ganz stattliche Umfang des Mönchleins lebhaft sprach, nicht willfahren und mußte mich begnügen, einige heimathliche Cigarren zu spenden, die denn auch mit großem Danke und vielen Bücklingen angenommen wurden.

Nachdem ich mir die Straßen von St. Denis angesehen hatte, begab ich mich des andern Tages in das Fort La Briche, mir dessen vielgenannte Riesenkanone zu betrachten. Ich fand sie hinter dem Pulvermagazin, auf einer erhöhten Stelle im Fort, da, wo man die schönste Aussicht auf Argenteuil und auf die nach Pontoise führende Eisenbahn hat. Von artilleristischer Seite war mir gerade dieses Monstrum von Geschütz als sehr beachtenswerth bezeichnet worden. Denn, hundertachtundfünfzig Centner schwer, war es der einzige Hinterlader unter all’ den Geschützen in den Forts von St. Denis und verdiente schon darum, von den Soldaten angestaunt und bis in’s Einzelne untersucht zu werden, weil es seine riesigen ‚Zuckerhüte‘ mit großer Präcision und leider oft mit verheerender Wirkung auf die deutschen Stellungen geworfen hatte.“


Berichtigung. In einem kleinen Theile der Auflage von Nr. 7 der Gartenlaube ist ein Druckfehler stehen geblieben, der durch die verschiedenen Sätze entstand. Der in dem Artikel „wie Mühlhausen französisch wurde“ vorkommende Name muß „Souvestre“ – nicht „Sauvestre“ gelesen werden.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Vorlage: einnn
  2. Vorlage: Raun
  3. Vorlage: Franzpsen