Wie Mühlhausen französisch wurde

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Jacob Venedey
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Wie Mühlhausen französisch wurde
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 7, S. 111–113
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[111]
Wie Mühlhausen französisch wurde.


Mühlhausen ist eine hochstrebende Stadt. Und sie hat Recht, es zu sein. Als sie 1798 französisch wurde, zählte die ganze Bürgerschaft erst nach Hunderten, und zwar nur sechshunderteinunsiebenzig bürgerliche und achtunddreißig adelige Geschlechter; heute zählt sie sechszig- bis siebenzigtausend Einwohner. Die Baumwollenspinnerei war damals erst seit etwa dreißig Jahren – durch Matthias Rißler – eingeführt worden; jetzt ist sie die erste in ganz Frankreich, steht sie ebenbürtig neben der der größten Fabrikstädte Deutschlands, Englands, Amerikas.

Wer in den Arbeitervierteln Mühlhausens herumwandert, wer diese musterhaften freundlichen Arbeiterstraßen sieht, wer dann hört, daß die Dollfus, die Köchlin, die Schummberger dieselben zum Besten ihrer Arbeiter mit den größten Opfern hergestellt haben, der trägt auch die unbedingteste Hochachtung gegen diese Fabrikbesitzer, ihre Tüchtigkeit, ihre Klugheit, ihre Menschenliebe mit heim.

Genug, Mühlhausen ist eine hochstrebende Stadt und die Mühlhauser sind ein kräftiges Völkchen.

Wer weiß? vielleicht ist daran doch ein wenig mit schuld, daß sie – Deutsche sind, und überdies viele Jahrhunderte eine Republik bildeten, und zwar seit dem dreizehnten Jahrhundert (1273) eine freie Reichsstadt, seit dem fünfzehnten (1476) eine dem Schweizerbunde angeschlossene unabhängige Republik.

Erst 1798 wurde diese französisch. Und nun sind sie heute schon so durch und durch französisch? Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht; sie sind nicht so böse, wie sie thun; sicher nicht Alle, ziemlich gewiß nur die Minderzahl, meist nur die eingewanderten Franzosen und nur hier und dort ein Deutscher, der gerne ein Franzose sein möchte, ein „Auch-Franzose“! – Jedenfalls ist unter den siebenhundert Geschlechtern, die 1798 französisch wurden, kaum Ein französischer Name, alle sammt und sonders, um Ausnahme eines einzigen, Thiery, der auch den Vermittler 1798 spielte, mustergültige Deutsche, die auch heute noch, wie damals, den Kern der Einwohnerschaft bilden.

Aber nicht davon wollen wir sprechen, sondern nur erzählen, wie diese kleine, freie Republik französisch wurde. Es ist eine ziemlich kurzweilige und doch lehrreiche Geschichte.

Lust zum Französischwerden hatten sie so wenig – wie letzthin Frankfurt zum Preußischwerden. Die Bürgerschaft befand sich wohl, war wohlhabend, hatte das volle Bewußtsein ihrer Freiheit, ihrer Selbstherrschaft, ihrer bevorzugten Stellung in dieser Freiheit, geschützt durch den Schweizerbund, geehrt durch ihren Fleiß und ihre Redlichkeit, geachtet in allen Nachbarländern.

Dennoch gab es Einzelne, die sich in dem engen Kreise des fleißigen, wohlhabenden und freien Bürgerthums der kleinen, glücklichen Gemeine nicht wohl befanden. Es waren meist „unruhige Köpfe“, die Gewinn suchten, ohne fortarbeiten zu wollen, die daher in der fortarbeitenden Republik nicht an ihrem Platze waren. Aus dem Jahre 1771 liegt eine Denkschrift an den „Deputirten von Belfort“, den nächsten französischen höhern Beamten, vor, in welcher die Bittschriftler die französische Regierung belehrten, daß die „französische Krone“ aus dem westfälischen Frieden „Eigenthumsrecht“ auf die Stadt habe. Dann hieß es weiter in dieser Schrift: „Mühlhausen zieht die ganze Handlung und alles Geld des Oberelsasses an sich. Es genießt alle Vortheile und bezahlt keine Abgaben; durch Schleichhandel füllt es das Königreich mit aller Gattung von Waaren an, denen es als eine freie Stadt offen steht.“

Jedenfalls wäre diese Lage der Dinge kein Grund für die Mühlhauser gewesen, französisch werden zu wollen, im Gegentheil. Deswegen schlug die obige Denkschrift auch vor, Mühlhausen seinem „rechtmäßigen Oberherrn“, wenn’s nicht durch Unterhandlung gehen wolle, durch Gewalt zu unterwerfen. Zu dem Ende solle man den Grafen von Artois zum Landgrafen des Elsasses ernennen und ihm „die damit verbundenen Rechte über Mühlhausen und die übrigen Reichsstädte der Provinz verleihen. Wollten die Mühlhauser sich dazu nicht verstehen, so könnte man ihnen drohen, sie als Rebellen zu behandeln und zur Rückgabe ihrer Güter zu nöthigen.“

Es war das am Vorabende der Revolution. Der gute Rath fand kein Gehör. Ursache war wohl, daß Mühlhausen nicht zum großen deutschen Reiche, sondern zur kleinen freien Schweiz gehörte. Hätte es noch zum „Reich“ gehört, als Ludwig der Vierzehnte seine „Reunionen“ vornahm, so wäre es damals ziemlich sicher dem Loose von Straßburg verfallen gewesen.

So war es und blieb es eine Republik, bis auch das große Frankreich die Republik ausrief. Beide konnten sich nun freundnachbarlich die Bruderhand reichen. Aber das neugeborne republikanische Riesenkind begnügte sich nicht mit dem Händedruck, es umarmte das kleine Nachbarschwesterlein und – erdrückte es in dem ersten Liebeskusse.

Es ist ein wenig die Geschichte von dem Bauern, der mit seinem Kinde durch Nacht und Wind reitet, als Erlkönig kommt und dem Kinde lockt. So freundlich, so liberal, bis es doch zuletzt heißt:

„Und folgst du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt!“

Die ersten Lockungen der großen Republik waren so milde, wie möglich. „Frankreich ist nun ja auch eine Republik, weswegen soll Mühlhausen da anstehen, sich mit der großen, schönen, freien französischen Republik zu vereinigen?“ – Aber die Mühlhauser freien Bürger waren vorsichtig; sie kannten ihre Nachbarn zu gut; sie wußten, was sie besaßen, und zweifelten, daß sie Besseres eintauschen würden, wenn sie sich der großen französischen Republik anschlössen. „Ja,“ antworteten die Zünfte, als der Versucher im Wintermonat 1792 zum ersten Male an sie herantrat, „ja, wenn sie ihrer künftigen Verfassung gewiß wären; wenn einige Anwendung sie erprobt hätte; wenn der Krieg, vorüber wäre; wenn sich eine ununterbrochene Reihe von Jahren des Friedens und Wohlstandes uns zeigte; – dann ließe sich schon auf diesem Gedanken verweilen. Jetzt kann er uns nur durch Noth vorgetragen werden.“

„Durch Noth!“ Das verstanden die damaligen Lenker der Republik in Paris sehr wohl. „Gewalt“ hätte zu laut geschrieen, hätte den schönen Redensarten des Tages den Boden eingestoßen. Man sagte ja, daß man die ganze Welt befreien wolle. Das war so recht mit der längst freien Republik Mühlhausen nicht möglich. Also anstatt „Gewalt“ hieß es:

„Und folgst du nicht willig, so brauchen wir – Noth!“

Mühlhausen lebte im Wesentlichen von seinen Fabriken; es war überdies für seine Bedürfnisse auf das Ausland angewiesen. Als nun die Mühlhauser nicht freiwillig in die französische Republik ein- und aufgehen wollten, wurden eines frühen Morgens in allen Nachbardörfern, auf allen Straßen, die von und nach Mühlhausen führten, Zollhäuser aufgerichtet, und alle ein- und ausgehenden Waaren schwer besteuert, wenn nicht einfach verboten.

[112] Da schickten die Mühlhauser ihre besten Bürger und Rathsherren nach Paris, Nicolaus Hartmann, Köchlin, Johann Dollfus, Michael Hofer u. A., um hier bei den Ministern und Herrschern ein gutes Wort für die hart geschlagene kleine Schwesterrepublik einzulegen. Da ward denn ein wunderliches Spiel mit ihnen getrieben. So lange Roland, der edle Mann, Minister war, fanden sie bei diesem ein offenes Ohr, Trost und auch allerlei gut gemeinte Erlasse; aber die andern Minister, die sie zugeknöpft empfingen und mit freundlichen Redensarten abwiesen, legten die Roland’schen Erlasse bei Seite; und wie dann die Gesandten von Mühlhausen halb und halb hoffnungsfreudig heimkamen, fanden sie, daß unterdessen die nächste französische Localbehörde, der Departementsrath von Colmar den Strick, den man der armen kleinen Schwesterrepublik um den Hals gelegt, wieder um ein gut Theil fester zugeschnürt hatte. Die Gärten, die Fruchtfelder, die Weinberge, die Waldungen der Mühlhauser lagen auf französischem Gebiet; die nachbarlichen französischen Behörden störten, hemmten, verboten das Heimfahren der Früchte, des Weines, des Holzes. Endlich wurde auch die Zufuhr von Schlachtvieh und Getreide untersagt; und erst als Mühlhausen thatsächlich in Gefahr war, zu verhungern, erlaubte der Departementsrath von Colmar die Zufuhr von so und so viel Stück Schlachtvieh, so und so viel Säcken Mehl, wodurch dem augenblicklichen Verhungern vorgebeugt, die Vertheuerung der Lebensmittel aber in fortwährendem Steigen war.

Sie haben sich redlich gewehrt, die Mühlhauser Republikaner, gehungert, gedurstet, Verluste aller Art sich gefallen lassen; vier Jahre lang ertragen, was ihnen geboten wurde, ehe sie nachgaben. Hundertfünfzigtausend Livres, eine große Summe für jene Zeit, boten sie an als jährliche Abgabe, wenn man sie wie bisher in Freiheit ihr kleines Gemeindewesen ungestört selbst beherrschen lassen wolle. Es war vergebens.

Einen furchtbaren Druck übten zu Allem die Assignaten aus. Mühlhausen hatte große Capitalien, große Schuldforderungen in Frankreich ausstehen. Mit der Entwerthung der Assignaten versuchten die Nachbarn ihre Schulden in dem werthlosen Papiere abzutragen, und Mühlhausen gerieth in Gefahr, nicht nur durch die Zollschraube zu verhungern, sondern auch die Errungenschaften, die Ersparnisse seiner Väter zu verlieren.

So kam denn nach und nach den Mühlhausern die Erkenntniß, daß die geliebte Nachbarrepublik sie vollständig vernichten werde, wenn sie nicht ihre Freiheit opfern und in die französische Republik sich einreihen lassen wollten. Am 10. Pluviose des Jahres 6 (1798) wurde der Vertrag abgeschlossen, mit welchem die kleine Republik Mühlhausen zu Grabe geleitet wurde, um als Provinzialstadt der großen Republik Frankreich wieder von den Todten aufzuerstehen.

Fast alle Mühlhauser waren nach und nach mürbe geworden. Viele wollten schließlich kaum noch eine Verhandlung zulassen über die beabsichtigte Vereinigung, die zu unvermeidlich erschien. Die Mehrzahl beugte gezwungen und schweigend ihr Haupt. Einer der Geistlichen der Stadt zwar, der Helfer Peter Witz, hatte den Muth, bis auf den letzten Augenblick das, was er für Recht hielt, offen auszusprechen. Aber er wurde von den wenigen unruhigen Köpfen und von denen, die um jeden Preis diese Qual und Noth beendigt wissen wollten, überschrieen. Die Bürgerschaft ernannte Dr. Köchlin, Sebastian Spörlin, den Licentiaten Thiery und den Stadtmajor Michel Hofer zu ihren Gesandten mit unbeschränkter Vollmacht, um den Vertrag in Paris abzuschließen – und so wurden die Mühlhauser Schweizerrepublikaner zu Franzosen.

Ob sie es wurden?

Wir zweifeln sehr daran.

Viele möchten gern Franzosen sein, Viele die Franzosen spielen.

Wir glauben kaum, daß sie – Franzosen sind, ja, Franzosen werden.

Daß sie es zur Zeit, als Herr Emil Sauvestre[WS 1], der geistvolle französische Schriftsteller, sie besuchte und über diesen Besuch in der Revue de Paris im Jahre 1836, nachdem Mühlhausen also schon vierzig Jahre französisch gewesen war – einen sehr geistreichen Reisebericht erstattete, noch nicht waren, mögen ein paar Stellen aus diesen lichtvollen Schilderungen beweisen.

Es heißt hier:

„Obgleich die Bevölkerung von Mühlhausen eine Mischung von Elsassern, Schweizern, Tirolern, Juden und Franzosen aus dem Inlande ist, so herrschen doch die deutsche Sprache und der deutsche Charakter vor. Es genügt übrigens, in ein Wirthshaus einzutreten, um zu erkennen, daß Ihr nicht mehr in Frankreich seid.“

Wir wiederholen, daß Herr Emil Sauvestre so spricht, nicht wir! Und so lassen wir ihn weiter reden:

„Die Kälte der Aufnahme findet sich nicht allein in den Wirthshäusern; man ist derselben in ganz Mühlhausen, mit Annahme der großen Industriellen und einiger ‚Fremden‘, die die Art des Landes nicht angenommen haben, ausgesetzt. Ihr findet dieselbe vorzüglich bei den alten Kaufleuten, bourgeois de pure race, die sich ärgern, wenn Ihr den Namen ihrer Stadt französisch aussprecht. Erwartet, in ihre Boutique eintretend, keine jener den Pariser Kaufleuten so gewöhnlichen freundlichen Zuvorkommenheiten. Der Mühlhauser Krämer spricht nie, wenn er raucht, und er raucht beständig.

Aber was vor Allem dazu beiträgt, in Mühlhausen die Wildheit der Formen zu erhalten, ist die Abwesenheit der gesellschaftlichen Verbindungen und der Mangel aller eleganten und literarischen Erziehung. Den ganzen Tag in seinen Fabriken beschäftigt, kommt der Industriel nie nach Hause, als um zu essen und zu schlafen. So schließt der Kreis derjenigen, mit denen er umgeht, nur seine nächsten Bekannten ein; übrigens spricht er auch in diesen Familiencirkeln nur wenig; ermüdet von den Arbeiten des heutigen Tages und den Sorgen des morgigen, begnügt er sich gewöhnlich damit, in Gesellschaft zu verdauen. Was den Unterricht des Kindes anlangt, so beschränkt sich dieser ausschließlich auf die allernothwendigsten Elemente, um die speciellen Studien und die gewerbliche Erziehung zu vollenden. Horaz hat uns ein treues Bild dieser Erziehung hinterlassen, die ebenfalls die der jungen Römer seiner Zeit war: Man lehrt sie einen Würfel durch complicirte Mittel in hundert Stücke zu theilen. ‚Sohn des Albinus, sage mir, wie viel bleibt übrig dann, wenn man von fünf Unzen eine wegnimmt?‘ – ‚Ein drittel Pfund.‘ – ‚Vorzüglich, Du wirst Dein Gut zusammenhalten können.‘

Auf diese Lehren beschränkt sich der Unterricht der Lehrer; von dem poetischen Elemente, von der Kunst der Wohlredenheit ist keine Sprache. Die schönen Wissenschaften sind für das Mühlhauser Kind, das seine Studien beendigt, das, was Amerika vor Columbus war. Es hat vielleicht nie daran gedacht, daß die Sprache zu sonst Etwas gut sein könne, als dazu, eine Rechnung zu verhandeln, oder eine neue Verfahrungsart in der Färberei zu beschreiben. Seine Intelligenz hat nie die langen Reisen durch die reichen Sprachen des Alterthums gemacht, von denen man beladen mit Andenken und Poesie zurückkommt; die Sprache, die es spricht, ist ein barbarisches Patois, das ihn die Amme stottern gelehrt hat, oder ein Deutsch-Französisch, wovon ein Deutscher ihm die Regeln beigebracht hat.

Wir müssen gestehen, um die Wahrheit zu sagen, daß seit einigen Jahren die literarische Erziehung einige Fortschritte in Mühlhausen gemacht hat. Die Reorganisation des Collegs hat diese Bewegung geschaffen und unterhalten.“

Und wir freuen uns, heute hinzufügen zu dürfen, daß diese Fortschritte groß waren, einzelne sehr ausgezeichnete Ergebnisse – Charles Dollfus und Neffzer – geliefert haben, sind aber deswegen nicht weniger überzeugt, daß Herr Emil Sauvestre Recht behalten hat und haben wird, wenn er fortfährt und sagt:

„Aber es wird noch eine gute Weile hingehen, ehe die Resultate bei der jungen Generation im Ganzen sich geltend gemacht haben werden. Die ersten Eindrücke der Kindheit sind zu stark. Das praktische Leben hat für den Mühlhauser mit dem Tage angefangen, wo er zum ersten Male das Licht sah; mit fünf Jahren weiß er den Preis der Kohlen, mit acht Jahren versteht er die Dampfmaschine, mit fünfzehn Jahren ist er Contremaitre und verdient dreitausend Franken. Wo ist das Mittel, solche Einflüsse mit einer Rede Cicero’s, mit einer Tragödie Racine’s zu bekämpfen. Daher werdet Ihr vergebens versuchen, ihn für diese unproductiven Studien zu interessiren, und in seiner Seele die Stimme der eingeschläferten Feen zu erwecken. Die einzige Egeria, die hier wohnt, und auf deren Rathschläge er hört, ist die Arithmetik.

Aber glaubet deswegen nicht, daß diese industrielle Voreingenommenheit das Zeichen einer gemeinen Gewinnsucht sei. Diese Menschen, die seit ihrer Jugend nur die positive Seite des Lebens studirt haben, sind weder geizig noch hartherzig; ihr Herz regt

[113] sich bei der Bitte; das Almosen füllt ihre Hände, nicht das knickerige und nutzlose Almosen des Rentiers, sondern das fruchtreiche Almosen, das königliche Almosen, das aus immer dem Hunger das Thor verschließt. Die alte bürgerliche und christliche Gemeinschaft ist in Mühlhausen noch nicht gänzlich zerstört; die heilige Gleichheit der alten Schweizerrepubliken besteht hier noch; der Reiche ist dem Armen gegenüber nichts als ein glücklicherer Bruder, der besser in dieser Welt reüssirt hat, und die Waise ohne Hülfsmittel wird zur Mündel aller Welt.“[1]

Der Franzose, der geistreiche Sohn des Pariser Lebens – er hatte kein Verständniß für das Wesen der Mühlhauser. Das verhindert ihn nicht, diesem Wesen, das in Wahrheit mit seinen guten und schlechten Eigenschaften germanisch, echt deutsch ist, die gebührende Achtung zuzuerkennen. Der Gallier zieht gewissermaßen scheu den Hut vor dem Germanen ab. Und so sagte Herr Emil Sauvestre weiter:

„Laßt Euch nicht durch ihr Aeußeres, nicht durch ihre Sprache abhalten; wenn Ihr sie wirklich beurtheilen wollt, besucht ihre Ateliers. Dort findet Ihr ihre Intelligenz übersetzt, nicht durch Worte, aber durch die kunstreichsten Einrichtungen, wunderbaren Verfahrungsweisen, bewunderungswürdige Maschinen. Denn diese einfachen, und diese so wenig wohlredenden Menschen sind in alle Anwendungen der praktischen Wissenschaften eingedrungen; diese Phantasie, so kalt beim ersten Anblick, ist unergründlich in fruchtbaren Schöpfungen; diese Geister, die Euch so schwerfällig vorkommen, erfinden alle eleganten Capricen der Mode; und aus den rauhen Händen dieser Cyclopen gehen jene graciösen Gewebe hervor, die jeden Sommer Eure Töchter verjüngen und Eure Frauen verschönern.

In Mühlhausen ist es nicht Brauch, daß der Handwerker auf Euren Wunsch horcht. Wenn Ihr ihn eine Arbeit, an die er nicht gewöhnt ist, machen lassen wollt, so schüttelt er das Haupt ohne Umstände und antwortet: ‚Dergleichen macht man in Frankreich, hier ist das nicht Brauch!‘ Man begreift, daß man anfangs einige Mühe hat, sich dergleichen Forderungen zu fügen. Wenn man mit seinen Gewohnheiten ausziehen zu können hofft, ist es hart, sich auf einmal in einer anderen Welt zu befinden, die man hinnehmen muß. Die Weisen ergeben sich in ihr Geschick, – aber es giebt auch solche, die zarter fühlen, sich empören und die Flucht nehmen!“

Seit Emil Sauvestre dieses prächtige Bild des Mühlhausers gezeichnet hat, sind nun wieder mehr denn dreißig Jahre vergangen. Aber das würde nicht verhindern, daß, wenn heute ein ebenso geistreicher Pariser, ohne Vorurtheil, ohne „Absicht“ nach Mühlhausen käme, er unserm Urtheile nach vollkommen die gleichen Eindrücke davontragen und ebenso wie Emil Sauvestre erkennen würde, daß hier „die deutsche Sprache, der deutsche Charakter vorherrschen,“ daß er „nicht mehr in Frankreich“ sei; wie er denn ebenso oft von unvoreingenommenen Mühlhausern auch heute noch die Antwort vernehmen würde: „Dergleichen macht und thut man in Frankreich, hier ist das nicht Brauch!“

Jedem das Seine!

Venedey. 
  1. Es ist nicht selten in Mühlhausen, für unglückliche Familien, die ihre Nährer verloren, Subscriptionen zu sehen, deren Resultat sich auf dreißig- bis vierzigtausend Francs beläuft.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. gemeint ist Émile Souvestre, vgl. die Berichtigung (Die Gartenlaube 1871/9)