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Die Gartenlaube (1872)/Heft 3

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1872
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[37]

No. 3.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Am Altar.


Von E. Werner, Verfasser des „Helden der Feder“.


(Fortsetzung.)


Die große, aus mehreren nebeneinanderliegenden Gütern bestehende Herrschaft Dobra war fast ein Jahrhundert lang in den Händen einer alten, reichen Adelsfamilie gewesen. Aber der Reichthum hatte mit der Zeit mehr und mehr abgenommen, und endlich war der letzte Rest desselben durch schlechte Bewirthschaftung und unsinnige Verschwendung, die, wie das meist zu geschehen pflegt, mit äußeren Unglücksfällen Hand in Hand gingen, dahingeschmolzen. Der letzte Graf Seltenow vermochte die über und über verschuldeten Besitzungen nicht mehr zu halten, und da bei dem notorisch schlechten Zustande derselben und den Anforderungen der Gläubiger, die sofortige Deckung verlangten, sich lange Zeit hindurch kein Käufer fand, so gelangten sie endlich für einen Preis, welcher allerdings gleichbedeutend mit dem Ruin des Grafen war, in die Hände eines Fremden, der wie vom Himmel geschneit plötzlich mitten unter die Großgrundbesitzer des Landes fiel, die in dieser Gegend ausschließlich aus dem hohen Adel und der Geistlichkeit bestanden.

Man wußte von diesem Günther eigentlich nichts weiter, als daß er bürgerlich und protestantisch sei; aber diese beiden Eigenschaften waren hinreichend für die gesammte Nachbarschaft, um sofort Front gegen ihn zu machen. Er ward als nicht umgangsfähig erachtet, und man beschloß, ihm dies bei der ersten Gelegenheit ein für alle Mal fühlbar zu machen.

Leider blieb diese so sicher erwartete Gelegenheit gänzlich aus, denn der neue Besitzer unternahm auch nicht das Geringste, was einem Annäherungsversuche ähnlich sah. Er machte weder die üblichen Besuche, noch suchte er überhaupt Umgang, ignorirte vielmehr die ganze vornehme Nachbarschaft so vollständig und beharrlich, daß diese ganz folgerichtig anfing, sich jetzt mit ihm zu beschäftigen, und in der That bot Dobra ihr Anlaß genug dazu, denn die neuen Schöpfungen wuchsen dort in nie geahnter Schnelle und Großartigkeit förmlich aus der Erde hervor. Der neue Gutsherr entwickelte eine so rastlose Thätigkeit, einen so riesigen Unternehmungsgeist und verfügte dabei augenscheinlich über so bedeutende Geldmittel, daß das anfängliche Achselzucken sich allmählich in Neugierde, dann in Staunen und zuletzt in Bewunderung verwandelte. Dazu kam, daß die ganz neue Art der Bewirthschaftung in dem Boden und den Wäldern Dobras Reichthümer zu Tage förderte, die Niemand dort geahnt und folglich auch Niemand nutzbar gemacht hatte; kurz, noch war kein Jahr vergangen, da hatte sich die Sachlage total verändert und es konnte den Gütern, denen man achselzuckend auch den Ruin des jetzigen Besitzers prophezeit, eine bedeutende Zukunft nicht abgesprochen werden.

Günther hatte in der That Recht, wenn er seine Güter „eingekeilt zwischen Clerus und Aristokratie“ nannte: das Gebiet des Stiftes einerseits und das von Schloß Rhaneck andererseits grenzten unmittelbar daran, allerdings die vornehmste Nachbarschaft der ganzen Umgegend, denn die beiden Grafen, welche den Namen Rhaneck trugen, der Prälat und der jetzige Majoratsherr, nahmen dort unbestritten den ersten Rang ein. Es war ein altes, reiches und mächtiges Geschlecht, dem sie entstammten, und es hatte sich, im Gegensatz zu manchen anderen Standesgenossen, die in der Neuzeit und an ihr zu Grunde gingen, diese Macht und diesen Reichthum zu bewahren gewußt, Dank einem alten Familiengesetz, das die Heirathen der jedesmaligen Stammhalter in einer Weise vorschrieb und regelte, die den Glanz des Hauses, das zu vertreten sie berufen waren, nur noch mehr hob und befestigte. Auch Graf Ottfried hatte sich diesem Herkommen gefügt, oder fügen müssen, bei seiner Vermählung, die ziemlich spät erfolgte. Als jüngster Sohn des Hauses hatte er keinen Anspruch auf die Familiengüter und stand als Officier im Dienste eines anderen Staates, als der plötzliche und unerwartete Tod seines ältesten Bruders – der zweite war von Kindheit an der Kirche geweiht und hatte bereits die Klostergelübde abgelegt – ihn zum Majoratsherrn machte. Kurze Zeit darauf heirathete er und zwar eine der reichsten und vornehmsten Erbinnen des Landes. Es war eine Convenienzehe, die, von beiden Seiten ohne Neigung und ohne Widerwillen geschlossen, beide gleich kalt ließ, aber über etwaige Differenzen half die vornehme Art zu leben hinweg. Man erwies sich vor der Welt die nöthigen Rücksichten, im Uebrigen ging ein jedes von den Gatten seinen eigenen Weg, und man war und blieb sich fremd, ohne jemals einander nahe zu kommen. Von mehreren Kindern, die alle im zarten Alter starben, war nur eins übrig geblieben, der junge Graf Ottfried, der als dereinstiger Majoratsherr und Erbe von Rhaneck schon jetzt eine bedeutende Rolle spielte und gegenwärtig als Officier in der Residenz stand, wo auch sein Vater, der längst aus dem fremden Dienst in den seines eigenen Souverains übergetreten war, eine hervorragende und einflußreiche militärische Stellung einnahm.

Letzteres war auch der Grund, weshalb die gräfliche Familie den größten Theil des Jahres in der Residenz zubrachte, Rhaneck [38] wurde nur in den Sommermonaten benutzt. Es war eine jener malerischen, aber für die Entfaltung eines großen und glänzenden Haushaltes ziemlich unbequemen alten Burgen, an die man Jahre des Baues und Hunderttausende an Kosten verschwendet hatte, um sie möglichst historisch zu restauriren, und damit ein romantisches Stück Mittelalter mitten in die Neuzeit zu versetzen. Doch der Graf liebte es als das Stammschloß seiner Familie, vielleicht auch wegen der unmittelbaren Nachbarschaft seines Bruders, und so war er denn auch diesmal, in Begleitung seiner Gemahlin, zu dem gewöhnlichen Sommeraufenthalt hier eingetroffen, und auch der junge Graf wurde in diesen Tagen erwartet. –

Bereits waren mehrere Wochen vergangen, seit der Gutsherr von Dobra, der bisher allein dort gewohnt, seine junge Schwester hatte zu sich kommen lassen. In dem äußeren Haushalt hatte deren Ankunft wenig oder gar keine Veränderung hervorgerufen, denn so großartige Summen der neue Besitzer auch auf seine Güter verwendete, so anspruchslos zeigte er sich in Allem, was seine Person und seine nächste Umgebung betraf. Das Schloß, ein großes und trotz seiner Verwahrlosung doch in vieler Hinsicht prachtvolles Gebäude, war unter allen Dingen das letzte, was sich seiner Aufmerksamkeit erfreute. Er hatte eben nur diejenigen Räume in Stand setzen lassen, die für seine persönlichen Bedürfnisse nothwendig waren, und denen sich in letzter Zeit noch die Zimmer für seine Schwester und deren Erzieherin beigesellten; alle die übrigen Gemächer standen leer und unbewohnt, und der höchst einfache Haushalt, dem nur die nothwendigste Dienerschaft beigegeben war, ging auch nach der Ankunft der beiden Damen ganz in gewohnter Ruhe und Regelmäßigkeit seinen Gang.

In diese Ruhe und Regelmäßigkeit aber kam nun Fräulein Lucie wie ein Wirbelwind hineingefahren. Sie ließ keinen Menschen und kein Ding in Ruhe, kehrte das Unterste zu oberst und brachte mit ihren Einfällen und Neckereien oft genug das ganze Haus in Aufruhr. Noch viel zu kindisch, um sich an den Bruder oder die Erzieherin anzuschließen, fand sie im Gegentheil in den halberwachsenen Knaben des Inspectors die willkommensten Spielcameraden, und diese hoffnungsvollen Sprößlinge hatten nicht sobald die Entdeckung gemacht, daß Alles, was die junge Dame anstiftete, ungestraft passirte, als sie ihr nach Kräften dabei halfen. Jetzt verging kein Tag, an dem nicht Diesem oder Jenem im Hause irgend ein Possen gespielt ward, dessen Urheber sich wohl errathen, aber niemals erwischen ließ, und Letzteres um so weniger, als gewöhnlich die gesammte Haus- und Hofdienerschaft, deren erklärter Liebling Lucie gleich vom ersten Tage an geworden war, mit im Complot steckte. Man trug das junge Fräulein geradezu auf Händen; und obgleich Niemand vor ihren Koboldstreichen sicher war, und ein Jeder gewärtig sein mußte, daß morgen die Reihe an ihn kommen werde: wo die braunen Locken flatterten und die blauen Augen strahlten, da war auch Sonnenschein und es gab Niemand in ganz Dobra, der es vermocht hätte, diesem Sonnenschein gegenüber auch nur eine Stunde lang ernstlich zu grollen.

Günther erfuhr in Folge dessen nur selten etwas von solchen Vorgängen. Durch seine Thätigkeit meist draußen festgehalten, fand er in der That nicht viel Zeit, sich um das Haus und um seine Schwester zu kümmern. Im Ganzen behandelte er sie mit ziemlicher Nachsicht, wie ein verzogenes Kind, dessen Launen und Thorheiten man hingehen läßt, so lange sie unschädlich sind, und denen man mit einem einfachen Verbot ein Ende macht, sobald sie anfangen, unbequem zu werden. Er ließ Lucie meistentheils gewähren, sobald es sich aber um irgend eine ernste Angelegenheit handelte, schob er sie ohne Weiteres als gänzlich überflüssig und unzurechnungsfähig bei Seite. Freilich wurde das Selbstgefühl der jungen Dame dadurch auf’s Tiefste verletzt, aber sie hatte bereits hinreichend erfahren, daß bei dem Bruder mit Bitten und Schmeicheln ebensowenig auszurichten war, wie mit Schmollen und Weinen, und diese Erfahrung war denn auch die einzige Rücksicht, die ihrem Uebermuth einen heilsamen Zügel auferlegte, der sich, sobald Bernhard nur den Rücken wandte, Alles erlaubte und auch Alles erlauben durfte. Dieser Mann mit seinem scheinbar so nichtssagenden Gesicht und seiner so gleichgültigen Ruhe, die nichts überstürzte, aber auch nichts verzögerte, und stets zur rechten Zeit und am rechten Orte eingriff, wußte, wie er ganz Dobra in Respect hielt, auch seine junge Schwester in Respect zu halten, und letzteres war nach der unumstößlichen Meinung von deren Erzieherin jedenfalls das Schwerere von beiden.

„Nein, Lucie, das geht denn doch etwas zu weit! Ich sollte meinen, wir hätten Alle schon genug von Ihren Koboldstreichen zu leiden gehabt, daß Sie nun endlich Ruhe geben könnten, aber dieser letzte übersteigt wirklich alle Begriffe!“

Die Erzieherin, welche diese Strafpredigt hielt, während sie in aller Majestät einer zürnenden Gouvernante vor ihrem Zöglinge stand, gehörte nun allerdings nicht zu jener Kategorie, die Lucie in ihrem Protest dem Bruder gegenüber so treffend gekennzeichnet hatte. Es bedurfte nur eines einzigen Blickes auf diese resolute Dame, um sie von dem Vorwurf der Nervosität ein für alle Mal frei zu sprechen, und wer die energischen Bewegungen sah, mit denen sie ihre Rede begleitete, kam auch nicht mehr in Versuchung, sie für steif zu halten. Fräulein Reich mochte bereits im Anfange der Dreißig stehen, konnte aber dessen ungeachtet noch für hübsch gelten. Groß und kräftig gebaut, mit starken, aber nicht unangenehmen Zügen, blond und helläugig war sie jedenfalls eine äußerst stattliche Erscheinung, und obgleich ihre Stimme jetzt in allen Tonarten des Zornes grollte, und sie dabei wie aus einem Donnergewölk auf ihre kleine zarte Pflegebefohlene herabblickte, machte dieser Zorn doch einen mehr komischen als widerwärtigen Eindruck, man konnte sich dabei des unwillkürlichen Gedankens nicht erwehren, daß es nicht so schlimm gemeint sei, als es aussah.

Fräulein Lucie saß in der Laube und zeichnete; sie hatte den Kopf tief auf die Arbeit herabgebeugt, ob aus Zerknirschung über die Strafpredigt, leider nicht die erste, die ihr gehalten ward, oder um das verrätherische Zucken ihrer Mundwinkel zu verbergen, ließ sich nicht entscheiden, jedenfalls zeichnete sie sehr eifrig und beachtete ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit nicht im Geringsten das Bitten und Schmeicheln ihres kleinen Hundes, der neben ihr auf der Bank lag und große Lust zum Spielen zeigte.

„Es ist himmelschreiend!“ eiferte die Gouvernante weiter. „Da hat die arme, alte Person, die Wirthschafterin, unglücklicherweise verrathen, daß sie abergläubisch ist, und seitdem spukt es allabendlich im ganzen Schlosse, auf allen dunklen Gängen und finsteren Corridoren, so daß Niemand von den Leuten sich mehr aus der Thür wagt und Frau Schwast beinahe krank geworden ist vor Schreck. Sie werden noch einmal ein Unglück anrichten mit ihren heillosen Einfällen!“

„Es spukt im Schlosse?“ fragte Lucie, indem sie den Kopf hob und ihre Gouvernante mit der unschuldigsten Miene von der Welt anblickte. „O, das ist ja merkwürdig!“

„Merkwürdig? Abscheulich ist es! Denken Sie, ich wüßte nicht, wer die gottlosen Jungen des Inspectors wieder zu der Gespensterkomödie angestiftet hat und wer eigentlich den ganzen Geisterapparat erfindet und leitet? Aber ich werde Herrn Günther die Sache vortragen, und dann gnade Gott den Gespenstern, wenn ihm eins davon in die Hände fällt!“

„Ach nein, sagen Sie nur Bernhard nichts davon!“ rief Lucie erschreckt; „es soll nicht mehr spuken, gewiß nicht mehr!“

Fräulein Reich schüttelte grollend das Haupt. „Also läßt man sich doch endlich zum Geständniß herbei. Sie sollten sich schämen, Lucie, so mit den Knaben herumzutollen, während Sie doch schon eine erwachsene junge Dame sein wollen, aber Ihnen steckt die Kinderei noch ganz und gar im Kopfe. Das ist überall und nirgends, das dreht und wendet sich mir unter den Händen mit Lachen und Schmeicheln, und während ich Sie wegen des einen Postens zur Rede stelle, sinnen Sie schon wieder auf einen neuen, der sicher hinter meinem Rücken ausgeführt wird. Das ganze Haus hilft Ihnen ja leider Gottes dabei, Alles haben Sie mit Ihren Thorheiten angesteckt, Alles ist im Complot mit Ihnen, man müßte hundert Augen und Hände haben, um solch einer Quecksilbernatur Herr zu werden. Sie werden mir das Zeugniß geben, daß ich nicht zu den Schwachen und Nachsichtigen gehöre, ich hatte auf der Schule in N. eine ganze Classe widerspenstiger, lärmender Schüler in Ordnung zu halten, und ich habe sie in Ordnung gehalten, aber mit einem solchen Wildfang wie Sie fertig zu werden, das versuche eine Andere – ich gebe es auf!“

„Was geben Sie auf?“ fragte plötzlich Günther’s Stimme, der unbemerkt den Gang heraufgekommen war, und jetzt in die Laube trat. Lucie fuhr von ihrem Sitze empor und sprang ihm entgegen, ohne sich im Mindesten darum zu kümmern, daß sie dabei die Zeichenmappe vom Tische herabriß und die Blätter nach allen Richtungen hin auseinanderflatterten.

„Bernhard, vor einer Stunde war ein Bote des Baron [39] Brankow hier, der Dir persönlich einen Brief übergeben wollte. Wir wußten nicht, wohin Du geritten warst. Hat er Dich gefunden?“

Günther nahm ruhig seine Schwester beim Arm und drehte sie nach dem Tische herum. „Willst Du nicht vor allen Dingen die. Güte haben, Deine Zeichnungen wieder aufzunehmen? – Was wollten Sie ein für alle Mal aufgeben, Fräulein Reich?“

Das Fräulein schien in dem heftigen Erguß von vorhin ihren Vorrath an Zorn so ziemlich erschöpft zu haben, und zum Ueberfluß stahl sich nun auch Lucie, die eiligst die umhergestreuten Blätter aufgerafft hatte, an ihre Seite. Sie legte schmeichelnd den linken Arm um ihre Gouvernante und lehnte den Kopf an deren Schulter, das Fräulein machte zwar einen unwilligen Versuch, sich zu befreien, aber es blieb bei dem Versuche, denn die kleine Hand hielt fest und die Antwort fand demzufolge auch in bedeutend herabgestimmtem Tone statt.

„Ich habe Lucien wieder einmal eine Vorlesung halten müssen, sie ist leider unverbesserlich!“

„So, nun da werde ich wohl einschreiten müssen!“ meinte Günther, dem das Manöver seiner Schwester nicht entgangen war. „Ich wollte Sie ohnedies bitten, mich auf einem Gang durch den Garten zu begleiten, da ich mit Ihnen etwas zu besprechen habe; Lucie mag inzwischen weiter zeichnen.“

Die kleine Hand lag noch immer schmeichelnd auf dem Arme, und jetzt unterstützten auch die Augen sehr beredt jene stumme Bitte; das Fräulein wandte denn auch zwar mit einer ärgerlichen Bewegung den Kopf seitwärts, aber aller Groll war aus ihren Zügen verschwunden, und triumphirend und gänzlich unbesorgt über den Ausgang des Gesprächs kehrte Lucie zu ihrem Sitz zurück, – weiter zu zeichnen. Sobald ihr die Beiden nämlich aus dem Gesicht waren, warf sie den Stift bei Seite, hob ihren kleinen Hund auf den Tisch, setzte ihn mitten unter die Zeichnungen und begann ihn zu necken, mit dem ersten Besten, was ihr in die Hände fiel, in diesem Falle mit dem Sonnenschirm ihrer Gouvernante, der unglücklicherweise neben ihr auf der Bank lag, und den sie nun ganz rücksichtslos den Pfoten und Zähnen des Thieres preisgab.

Die Besitzerin des mißhandelten Sonnenschirms schritt mittlerweile an Günther’s Seite durch den Garten. Seit seinem Erscheinen war in dem Wesen des Fräuleins eine merkwürdige Veränderung vorgegangen, sie zeigte sich nicht im mindesten geneigt, sich auf die vorhin so eifrig herbeigewünschte Autorität zu stützen, im Gegentheil, sie setzte sich ihr gegenüber in eine Art Kriegsbereitschaft, augenscheinlich entschlossen, ihren eben noch so hart gescholtenen Zögling auf Tod und Leben zu vertheidigen. Ob Günther etwas davon ahnte, oder ob er die Taktik des Fräuleins bereits kannte, genug, er ließ den eigentlichen Hauptgegenstand des Gesprächs vorläufig fallen.

„Ich habe soeben einen Brief des Baron Brankow erhalten,“ begann er ruhig, „eine Einladung zu dem morgen auf seinem Gute stattfindenden Feste. Die Sache kommt mir ebenso überraschend als unangenehm, da ich dem Baron weder einen Besuch gemacht, noch mich überhaupt jemals um ihn gekümmert habe. Man wird wohl seine Gründe haben, indessen die Zuvorkommenheit ist, äußerlich wenigstens, eine so auffallende, daß sie sich nicht zurückweisen läßt. Es würde aussehen wie eine Flucht vor der Nachbarschaft, und in den Verdacht möchte ich mich denn doch nicht bringen. Ich habe also angenommen.“

Das Fräulein hatte schweigend und sichtbar befremdet zugehört. „Und Lucie?“ fragte sie endlich.

„Lucie ist gleichfalls eingeladen, ich hatte auch die Absicht, sie mitzunehmen, da sie Ihnen aber Grund zur Klage giebt, so wird sie wohl zu Haus bleiben müssen.“

„Warum nicht gar!“ fiel das Fräulein halb erschreckt, halb entrüstet ein. „Sie wollen sie doch nicht etwa gar strafen, einer Kinderei wegen, um deren willen ich sie schon hinreichend ausgescholten habe? Das arme Kind!“ hier traf ein diesmal ganz und gar entrüsteter Blick den Gutsherrn, „das arme Kind sitzt tagaus tagein hier in Dobra, ohne passenden Umgang, ohne Altersgenossen; ist es da ein Wunder, wenn es auf allerlei Thorheiten verfällt? Und nun wollen Sie ihm auch noch das einzige Vergnügen rauben, das sich wirklich einmal darbietet! Lucie weint den halben Tag lang, wenn sie es erfährt, und das –“

„Können Sie nicht mit ansehen!“ vollendete Günther spöttisch. „Mir scheint, Fräulein Reich, wenn Sie auch mit Lucie nicht fertig werden können, Lucie ist längst mit Ihnen fertig geworden, wie überhaupt mit ganz Dobra.“

„Sie ausgenommen!“ ergänzte das Fräulein, aber wenn sie mit den Worten ein Compliment beabsichtigte, so verdarb sie Alles wieder durch den Nachsatz, der ihr im vollen Aerger herausfuhr. „Mit Ihnen ist überhaupt nicht fertig zu werden!“

„Meinen Sie?“ fragte Günther sehr gelassen, indem er die Arme kreuzte und sie mit unzerstörbarer Ruhe anblickte.

„Ja, das meine ich!“ erklärte Fräulein Reich, noch mehr gereizt durch diesen Gleichmuth. „Ich nehme mir die Freiheit, zu behaupten, daß ich denn doch zehn Mal lieber mit Luciens Quecksilbernatur zu thun haben will, als mit Ihrer entsetzlichen Gelassenheit, die durch nichts aus der Fassung zu bringen ist, an der Alles abgleitet, was einen vernünftigen Menschen zur Verzweiflung treiben könnte, und vor der gleichwohl ganz Dobra zittert!“

„Sie ausgenommen!“ parodirte Günther, der den ganzen Ausfall hingenommen hatte, ohne auch nur eine Miene zu verziehen.

„Ich?“ Das Fräulein hob sehr entschieden den Kopf; „ich habe in meinem ganzen Leben überhaupt noch vor Niemand gezittert, und vor Ihnen –“

„Am allerwenigsten! Bitte, scheuen Sie sich nicht, den Nachsatz auszusprechen, ich lese ihn doch deutlich genug aus Ihrem Gesicht.“

Fräulein Reich wandte sich ärgerlich ab, augenscheinlich bemüht, ihr heißblütiges Temperament niederzukämpfen.

„Ich habe es Ihnen vorher gesagt, als Sie mich von N. herberiefen,“ sagte sie kurz, „wir würden uns hier ebenso wenig vertragen, uns genau ebenso oft zanken, wie einst in unserem Dorfe, wenn Sie vom Forsthaus in das Pfarrhaus kamen.“

Günther zeichnete gleichgültig mit seiner Reitpeitsche Figuren in den Sand. „Ja, richtig! Sie konnten niemals Ruhe halten!“

„Bitte um Entschuldigung, Sie waren es, der nie Ruhe gab, bis der Zank im vollen Gange war; ich hatte genug zu thun, mich nur zu wehren.“

„Nun, was das Wehren anbetrifft –“ meinte Günther trocken. „Franziska Reich verstand es von jeher, dem ‚unerträglichen Bernhard‘ die Spitze zu bieten.“

Das Antlitz des Fräuleins überflog eine leichte Röthe bei dieser in früheren Tagen wahrscheinlich oft ausgesprochenen Reminiscenz aus der Jugendzeit. „Bernhard Günther ist inzwischen im Leben emporgekommen!“ sagte sie plötzlich ernst, aber ohne die geringste Bitterkeit, „und Franziska Reich ist die arme Pfarrerstochter geblieben, die sich als Gouvernante ihr Brod verdienen muß. Wir stehen nicht mehr gleich auf gleich wie damals.“

„Und doch lesen Sie Mir den Text genau so wie damals.“

„Werden Sie Lucie mitnehmen?“ fragte das Fräulein kurz abbrechend.

Günther schien etwas verstimmt durch dies entschiedene Vermeiden des von ihm angeregten Themas. „Auf Ihre Verantwortung!“ sagte er ebenso kurz und wandte sich zum Gehen.

„Auf meine Verantwortung!“ bestätigte das Fräulein, indem sie ihm gleichfalls ohne alle Ceremonien den Rücken wandte und nach der Laube zurückkehrte, wo sie ihren Zögling noch im besten Spiel mit dem Hunde, und ihren Sonnenschirm unter den Zähnen des letzteren fand.

Die empörte Dame schlug die Hände über dem Kopf zusammen, sie warf den Hund vom Tische, setzte sich energisch in Besitz ihres Eigenthums und begann Lucien eine erneute Strafrede zu halten, worin sie ihr zu Gemüth führte, daß sie ganz und gar nicht der Vergünstigung werth sei, die man ihr eben noch ausgewirkt, aber Lucie ließ ihr keine Zeit zu endigen. Sobald sie erfuhr, um was es sich handelte, sprang sie mit einem lauten Schrei des Entzückens empor und überfiel die Erzieherin förmlich mit so ungestümen Liebkosungen, daß der kleine Hund, der mit jener ohnehin nicht auf besonders freundschaftlichem Fuße stand, auf die Idee gerieth, es gelte hier einen Angriff, und in pflichtschuldiger Unterstützung seiner jungen Herrin laut bellend nach dem Kleide des Fräuleins fuhr.

„Um Himmelswillen!“ rief diese empört, „wollen Sie mich von oben todtdrücken und von unten zerreißen lassen? Bringen Sie das kleine Ungethüm zur Ruhe und lassen Sie mich los, oder ich rufe um Hülfe!“

Lachend beruhigte Lucie den Hund, aber die Zeichenstunde fortzusetzen, erwies sich als unmöglich. Das ganze Köpfchen der [40] jungen Dame wirbelte bei dem Gedanken an diese erste große Gesellschaft, die sie mitmachen sollte, zuerst kamen Erkundigungen über das Wo, Wie und Wann, dann wurde die Toilettenfrage erörtert – die Erzieherin sah, daß heute absolut nichts mehr zu erreichen war, sie gab den Unterricht auf.

„Lucie,“ sagte sie feierlich, „es giebt zwei Dinge auf der Welt, die ich noch zu erleben wünschte, aber leider liegen sie alle beide im Bereiche der Unmöglichkeit. Ich möchte den Menschen sehen, der im Stande ist, Sie zum Ernst und zur Vernunft zu bringen, und ich möchte das Wesen kennen lernen, das fähig wäre, Ihren Bruder auch nur um ein Haar breit von dem abzubringen, was er sich einmal in den Kopf gesetzt hat zu thun. Ihr Geschwister seid zwei Gegensätze, die nur eine Aehnlichkeit miteinander haben – es ist mit beiden nichts anzufangen!“




Das Fest, mit welchem Baron Brankow seinen Namenstag feierte, hatte bereits seinen Anfang genommen. Das dortige Herrenhaus konnte nun freilich nicht im Entferntesten mit dem großartigen Aufwande, der in der Prälatur des Stifts, oder der schweren alterthümlichen Pracht, die in Schloß Rhaneck herrschte, den Vergleich aushalten, es war eben nur der einfache Sitz eines Landedelmannes aus gutem alten Hause; aber dies Haus war reich und gastfrei, und hatte sich dadurch zu einer Art von Mittelpunkt für die Geselligkeit der Umgegend gemacht. Man kam gern zu diesen Festen, und auch heute war die zahlreich geladene Gesellschaft ebenso zahlreich erschienen. Baron Brankow, ein kleiner freundlicher Herr, gutmüthig, eifrig und herzlich, ohne besondere aristokratische Würde, aber dafür mit allen Eigenschaften eines guten Wirthes begabt, empfing seine Gäste und geleitete soeben den Prälaten, der vor wenig Minuten angekommen war, zu einem Sessel am oberen Ende des Saales.

Der Abt des ersten und bedeutendsten Stiftes im Lande, das durch seinen Reichthum und seinen Einfluß eine fast fürstliche Stellung einnahm, pflegte mit seinen Besuchen sehr sparsam zu sein. Er erschien nur da, wo er wirklich auszeichnen wollte, und es gab nicht Viele, die sich rühmen konnten, ihn als Gast bei sich gesehen zu haben. Die Haltung des Barons und seiner Familie zeigte denn auch, daß sie diese Auszeichnung im vollsten Maße zu würdigen wußten, und die ganze übrige Gesellschaft empfing den hochgestellten Geistlichen mit der ihm gebührenden ehrfurchtsvollen Aufmerksamkeit.

Unmittelbar hinter seinem Oberen schritt Pater Benedict. Der Prälat fuhr niemals allein zu solchen Festen, er pflegte stets einen der Stiftsherren mit sich zu nehmen, die sich seiner besondern Gunst erfreuten, Es schien aber nicht, als ob der junge Priester den Vorzug zu würdigen wisse, der ihm zu Theil geworden, sein Antlitz trug den gewöhnlichen Ausdruck kalter Verschlossenheit und finster, fast feindselig blickte er auf das festliche Wogen und Treiben.

Dies Wogen und Treiben hatte übrigens heute nicht seine gewöhnliche, sich immer gleich bleibende Physiognomie, es lag eine leichte Aufregung darin, eine gewisse Unruhe, die bald genug auffiel. Man blickte oft nach der Thür, man flüsterte in Gruppen zusammen, irgend etwas Besonderes schien erwartet zu werden, irgend etwas Ungewöhnliches im Werke zu sein, und doch war dies nicht das Erscheinen des Grafen Rhaneck, der unmittelbar nach seinem Bruder eintrat, seine Gemahlin führend, während der junge Graf Ottfried den Beiden folgte. Zwar gab sich auch bei ihrer Ankunft die gleiche Bewegung kund, wie beim Eintritt des Prälaten; Rhaneck’s Stellung in der Residenz war eine zu bedeutende, um ihn nicht hier zu einer Autorität ersten Ranges zu machen, ganz abgesehen davon, daß er der reichste und vornehmste unter all’ den Nachbarn war; man empfing auch ihn mit der gleichen Ehrerbietung, wie seinen Bruder.

Die Gräfin war eine jener Erscheinungen, wie sie häufig genug vorkommen, vornehm, unbedeutend, langweilig, jedenfalls nicht die Frau, die einen Mann wie ihren Gemahl zu fesseln verstand. Ihr Sohn Ottfried trug unverkennbar die Rhaneck’schen Familienzüge, er glich äußerlich sehr dem Vater, aber ihm fehlte die feurige Lebhaftigkeit desselben, ebenso sehr wie die energische Ruhe des Oheims, sein ganzes Wesen verrieth eine Blasirtheit, in der alle anderen, vielleicht besseren Eigenschaften zu Grunde gegangen waren. Der noch so junge Mann hatte augenscheinlich schon alle Freuden des Lebens ausgekostet und war ihrer überdrüssig geworden, da war auch kein Hauch mehr von jener Kraft und jenem Feuer, das der alte Graf sich bis in seine späteren Jahre hinein bewahrt hatte, der schmächtige junge Officier mit den schlaffen Zügen und den matten Augen nahm sich neben der stattlichen Erscheinung des Vaters ziemlich unvortheilhaft aus.

Rhaneck hatte kaum den Bruder begrüßt und mit der Frau vom Hause gesprochen, als er sich auch bereits von allen Seiten in Anspruch genommen sah. Auch Ottfried befand sich bald genug in einem Kreise von Altersgenossen, die ihn mit Fragen und Erkundigungen nach der Residenz bestürmten. Die Gräfin dagegen saß im Kreise der Damen, ließ ihre reiche Toilette glänzen bewegte den Fächer langsam auf und nieder, und ließ nur sehr selten eine Bemerkung laut werden, sie hatte das Möglichste durch ihr Erscheinen hier gethan, und die Gesellschaft konnte und mußte es sich an dieser Ehre genug sein lassen.

„Aber, bester Brankow“ – der Graf hielt den Baron, der an ihm vorüber wollte, auf einen Moment lang fest – „sagen Sie mir nur, was ist das heute mit Ihren Gästen? Das ist eine Unruhe, eine Zerstreutheit überall! Erwartet man Jemand, oder haben Sie uns irgend eine Ueberraschung aufbehalten?“

Der Baron lächelte etwas gezwungen. „Beides vielleicht! Aber dieser Herr Günther scheint den Vornehmen spielen zu wollen, er läßt sich lange erwarten!“

Der Graf fuhr auf, als habe er unversehens einen Schlag erhalten.

„Wer?“

„Nun, unser Nachbar von Dobra! Sie wissen doch, daß er eingeladen ist?“

Graf Rhaneck trat einen Schritt zurück und sah den Baron von oben bis unten an. Die verbindliche Artigkeit in seinem Gesichte machte einem wahrhaft eisigen Ausdruck Platz.

„Man muß gestehen, Brankow, Sie muthen Ihren Gästen sehr viel zu!“ sagte er kalt.

„Aber mein Gott!“ rief der Baron befremdet, „sind Sie denn davon nicht unterrichtet? Die Einladung geschah ja doch auf speziellen Wunsch des hochwürdigsten Herrn Prälaten.“

„Meines Bruders?“ In der Stimme des Grafen mischten sich Unglaube und Zorn miteinander.

„Gewiß! Ich meinerseits hätte sicher nicht die Initiative in einer so delicaten Angelegenheit ergriffen; aber der Herr Prälat schien so großen Werth auf die Erfüllung seines Wunsches zu legen, machte sie so zu sagen zur Bedingung seines Erscheinens, daß ich nicht umhin konnte, diesen, ich gestehe es, mir sehr unangenehmen Schritt zu thun.“

Der Graf stand starr wie eine Bildsäule; als eben in diesem Augenblicke Brankow von anderer Seile her angesprochen ward, drehte er sich kurz um, ging auf seinen Bruder zu und zog ihn hastig mit sich in eine Fensternische.

„Weißt Du, daß man diesen Günther von Dobra heute hier erwartet?“

„Allerdings!“ Die Antwort des Prälaten klang sehr bestimmt, er hatte den Sturm kommen sehen.

„Und ist es wahr, was Brankow behauptet, daß die Einladung auf Deine Veranlassung, auf Deinen speciellen Wunsch geschehen ist?“

„Auch das ist wahr.“

„Nun, das begreife ein Anderer, mir fehlt jedes Verständniß dafür!“ rief der Graf empört und schlug leise, aber heftig mit seinem Fuße den Boden, daß die Sporen klirrten.

Der Prälat zuckte leicht die Achseln. „Du weißt, daß ich meine Gründe habe, den Mann kennen zu lernen. Ich muß ihn Auge im Auge sehen, muß ein Urtheil über seine Persönlichkeit haben, um zu wissen, was von ihm zu erwarten ist. Mir in meiner Stellung war jede Annäherung unmöglich; ich konnte ihm nur auf neutralem Boden begegnen, also mußte sich Brankow dazu hergeben.“

„Du ordnest wie gewöhnlich Deinen ‚höheren Gründen‘ alle und jede Rücksicht unter“, sagte der Graf bitter, „und scheinst ganz zu vergessen, daß Du dem Menschen mit dieser Einladung den Weg in unsere Kreise bahnst, die ihm bisher verschlossen waren, daß Du der ganzen Nachbarschaft ein höchst gefährliches Beispiel, ein unbegreifliches Aergerniß giebst.“

Ein kaum bemerkbares Spottlächeln spielte um die Lippen des Prälaten, während sein Blick die Gesellschaft überflog.


(Fortsetzung folgt.)




[41]

Besuch der Schwiegereltern bei den Zwillingen. Nach dem Oelgemälde von K. W. Hübner in Düsseldorf.

[42]
Schöpfungs-Glaube und Wissenschaft.
I.


In der Natur geht Alles natürlich zu und das Glauben fängt da an, wo das Wissen aufhört.

Woher das Material zum Weltenbaue stammt und Warum dasselbe vorhanden ist? Diese Fragen stellt sich die Wissenschaft nicht, weil sie weiß, daß diese niemals beantwortet werden können. Die Entstehung der vorhandenen Materie (des Stoffes) ist der menschlichen Erkenntniß entzogen und kann deshalb niemals Gegenstand wissenschaftlicher Forschung sein. Während der Glaube wohl einen Schöpfer kennt, der Alles zweckmäßig geschaffen und eingerichtet hat, erklärt die Wissenschaft die Materie für ewig und unvergänglich und sucht zu erforschen, Wie alles Vorhandene aus dieser Materie hervorgegangen ist. Für die Wissenschaft giebt es gar keine Schöpfung oder Entstehung des Stoffes, wohl aber eine Entstehung der Form und zwar durch allmähliche Entwickelung des Vorhandenen aus dem Vorhergegangenen. Sie sucht den innern gesetzmäßigen Zusammenhang aller Lebensformen zu finden und die allmähliche Auseinanderentwickelung des Vorhandenen darzuthun. Sie betrachtet diese Entwickelung, die mit der Bildung der Erdrinde beginnt und sich ununterbrochen vom Unorganischen (Gesteinen, Wasser, Luft, Erdboden) auf das Organische (Pflanzen, Thiere, Menschen) fortsetzt, als die nothwendige und unabänderliche Wirkung der physikalischen und chemischen Kräfte (Eigenschaften), welche an der Materie haften. – Die Ansicht, nach welcher Alles, besonders aber Pflanzen, Thiere und Menschen, Producte eines gütigen und zweckmäßig thätigen Schöpfers sind, pflegt man als „teleologische, vitalistische, dualistische“ zu bezeichnen; sie betrachtet die Entstehung der Materie als die Wirkung einer übernatürlichen Schöpfungsthätigkeit und ist ein reiner Glaubensartikel. Dagegen ist die Ansicht, welche das Eingreifen einer übernatürlichen, außerhalb der Materie stehenden schöpferischen Kraft leugnet und Alles, die organischen wie die unorganischen Naturkörper, als die nothwendigen Producte natürlicher Kräfte, als die nothwendigen Wirkungen ewiger und unabänderlicher Naturgesetze ansieht, als „mechanische, einheitliche, causale, monistische“ bezeichnet worden.

Das Material, welches zum Aufbau unserer Erde, und höchst wahrscheinlich des ganzen Weltalls, verwendet ist, besteht, wenn man dasselbe so weit, als es nur möglich ist, zerlegt, nur aus einigen sechszig Stoffen, welche nicht weiter in andere Stoffe zerlegt werden können. Diese unzerlegbaren Stoffe werden „Urstoffe, Elemente, Grundstoffe, einfache Körper“ genannt und nur sie sind es, durch deren verschiedenartige Vereinigung die außerordentliche Mannigfaltigkeit der Körperwelt herbeigeführt wird. Keiner dieser Grundstoffe läßt sich in einen andern Grundstoff umwandeln und jeder hat seine ganz bestimmten Eigenschaften oder Kräfte, welche er, so lange er für sich allein besteht, weder verlieren noch ändern kann. Durch die verschiedenartigsten Vereinigungen der Urstoffe unter einander entstehen die sogenannten „zusammengesetzten Körper“, in welchen nun, durch die Verschmelzung der Eigenschaften der sich vereinigenden Elemente, ganz neue und bestimmte Eigenschaften (Kräfte) zu Tage treten, während die der einzelnen verschmolzenen Elemente nicht mehr bemerkbar sind. Wird dann ein zusammengesetzter Körper wieder in seine Elemente aufgelöst, so gehen mit der Auflösung desselben natürlich auch dessen Eigenschaften (Kräfte) verloren und es erscheinen die Elemente mit den ihnen eigenen Eigenschaften wieder. Vereinigt man zum Beispiel die beiden in ihren Eigenschaften sehr von einander abweichenden Elemente „Sauerstoff“ und „Wasserstoff“ mit einander, so bildet sich „Wasser“, ein Körper, welcher ganz andere Eigenschaften besitzt, als seine Elemente. Zerlegt man das Wasser, so kommen natürlich jene beiden Elemente mit ihren bestimmten Eigenschaften wieder zum Vorschein und die Kräfte des Wassers sind sammt dem Wasser verschwunden. – Die zusammengesetzten Körper, zu deren Bildung übrigens nur eine sehr geringe Anzahl von Grundstoffen beiträgt, bilden die Hauptmasse des Weltenbau-Materials, während die allermeisten Grundstoffe rein nur sehr vereinzelt in der Natur vorkommen.

Die Grundstoffe gehen, nachdem sie sich aus früheren Verbindungen losgetrennt haben, fortwährend neue Verbindungen ein und erzeugen so immerfort neue zusammengesetzte Körper mit neuen Eigenschaften und Kräften. Daher kommt es denn auch, daß die Erde auf ihrer Oberfläche und in ihrer Rinde seit Jahrmillionen ein immer anderes Ansehen erhalten hat und immerfort noch erhält. – In den allerfrühesten Zeiten unserer Erdbildung entstanden blos, ohne Zweifel der damals herrschenden Verhältnisse wegen, durch einfache, aber sehr feste Vereinigung nur weniger Elemente, zusammensetzte Körper von großer Einfachheit und ziemlich langer Existenz. Sie finden sich auch jetzt noch in und auf der Erde und zwar in flüssiger (luftförmiger und tropfbarflüssiger) und fester (erdiger, gestaltloser oder krystallinischer) Form vor, werden „unorganische, todte, leblose, unbeseelte Körper“ genannt, bilden zusammen das „unorganische Reich“ und sind: die Gesteine, das Wasser, die Luft und der Erdboden, welcher letztere aber erst durch Zerstörung (Verwitterung) der Gesteine entstanden ist. Den Anorganen fehlen Werkzeuge (Organe), mit deren Hülfe sie wachsen und sich in ihrer Existenz erhalten können, auch gehen eiweißartige Kohlenstoffverbindungen niemals in ihre Zusammensetzung ein. Alle Erscheinungen, welche an diesen anorganischen Naturkörpern zu Tage treten, sind nur die nothwendigen und unabänderlichen Wirkungen der physikalischen und chemischen Kräfte, welche an der Materie dieser Körper haften.

Aus diesen unorganischen Körpern (hauptsächlich aus den kohlenstoff- und stickstoffhaltigen) entwickelten sich allmählich durch veränderte Verbindung und Vermehrung ihrer Grundstoffe, sowie unter gewissen, uns zur Zeit noch unbekannten Umänderungen der damaligen Verhältnisse auf unserer Erde (welche anfangs mit einer sehr kohlensäurereichen Dunstatmosphäre umgeben war und wahrscheinlich einen großen Kohlen- und Stickstoffreichthum in ihrem Urweltmeere enthielt), Körper mit neuen und äußerst mannigfaltigen Eigenschaften (Kräften), welche durch die vielfach verschlungenen und sich durchkreuzenden Beziehungen und Verknüpfungen ihrer Grundstoffe zu einander sehr complicirte, aber lockere Verbindungen darstellen. Sie sind, eben wegen der leicht trennbaren Verbindung ihrer Grundstoffe, auch leicht zerstörbar und vergänglich, von kurzer Dauer, und bedürfen überhaupt zu ihrem Wachsen und Bestehen eines fortwährenden Sichneubildens. Bei ihrer Zerstörung, wo sie sammt ihren Eigenschaften aufhören zu existiren, lösen sie sich natürlich ebenfalls wieder in ihre Grundstoffe auf, die dann abermals in neue Verbindungen (zusammengesetzte Körper) ein- und zusammentreten. Die ganz besondere und von der in den Anorganen ganz verschiedene Verbindungsweise der Grundstoffe in diesen Körpern bedingt zunächst gewisse physikalische Eigenthümlichkeiten, insbesondere in der Dichtigkeit ihrer Materie. Denn während sich die Anorgane entweder in festem oder flüssigem Zustande befinden, haben diese Körper, wegen der Durchtränkung und Aufquellung ihrer festen Bestandtheile mit viel Wasser, eine festweiche Beschaffenheit. Der Grundstoff aber, welcher vorzugsweise diesen Körpern ihre Eigenthümlichkeiten und großen Verschiedenheiten von einander verleiht, ist der Kohlenstoff. Dieser erzeugt nämlich durch seine ganz besondere Neigung zur Bildung verwickelter Verbindungen mit den anderen Elementen die größte Mannigfaltigkeit in der chemischen Zusammensetzung und so auch in den Formen und Eigenschaften jener Körper. Er ist es, welcher in seiner Verbindung mit drei anderen Elementen, vorzugsweise mit Stickstoff, sodann aber auch noch mit Sauerstoff und Wasserstoff (zu denen sich in der Regel noch Schwefel und Phosphor gesellt) die ganz unentbehrliche chemische Grundlage für die Existenz jener Körper abgiebt. – Es besitzen nun diese äußerst complicirt zusammengesetzten Körper bald eine größere, bald eine geringere Anzahl von „Organen“, d. h. von Werkzeugen, von denen jedes einzelne seinen ganz bestimmten Bau, seine eigene Form und sein von Form und Bau abhängiges, bestimmtes Geschäft (und zwar ein anderes als das andere) hat, alle zusammen aber zum Bestehen des Ganzen thätig sind. Man nennt diese Körper deshalb auch „organische Körper oder Organismen“ und rechnet zu ihnen die Pflanzen, Thiere und Menschen. In den pflanzlichen Organismen findet sich überwiegend der [43] Kohlenstoff (welcher einen Hauptbestandtheil der Kohle und Kohlensäure bildet) vor und dieser wird deshalb auch „Phytogen, Pflanzenstofferzeuger“ genannt, während der Stickstoff (im Ammoniak reichlich vorhanden) in dem thierischen und menschlichen Organismus vorherrschend ist und darum als „Zoogen, Thierstofferzeuger“ bezeichnet wird. Der Sauerstoff oder die Lebensluft ist sodann der Vermittler aller Bewegungen und Thätigkeiten in organischen Körpern und unterhält in diesen den gehörigen unentbehrlichen Wärmegrad mit Hülfe von Verbrennungen.

Für ihre kurze Existenz haben es die Organismen durchaus nöthig, daß ihnen fortwährend solche Stoffe zugeführt werden, aus denen sie selbst ihren Körper, der sich immerwährend abnutzt, fort und fort neu aufbauen. Man pflegt dieses fortwährende Neubilden und Absterben der Bestandtheile der Organismen „Stoffwechsel“ zu nennen. So lange derselbe im Gange ist, sagt man von jedem organischen Körper „er lebt“, betrachtet Stoffwechsel und Leben als gleichbedeutend und nennt die organischen Körper auch „belebte, lebende, lebendige“. Hört der Stoffwechsel in ihnen auf, dann pflegt man dies „Sterben, Tod“ zu nennen, und in dem dadurch zur „Leiche“ gewordenen Organismus tritt nun durch Trennung der verschiedenen, sehr locker mit einander verbundenen Elemente die Zerstörung der organischen Substanz (durch Fäulniß, Verwesung, Vermoderung, Gährung) und damit die Umbildung derselben in unorganische Stoffe ein. Auf diese Weise hört zwar jeder organische Körper als solcher mit seinen Eigenschaften nach seinem Tode scheinbar ganz auf, allein es dauern seine Grundstoffe (meist zu unorganischen Stoffen, Gasen, Asche, vereinigt) fort und helfen wieder neue Körper bilden. Das den Stoffwechsel bedingende, aber auch nur von physikalischen und chemischen Kräften abhängende Zusammen- und Aufeinanderwirken der organischen Stoffe in einem Organismus, wodurch dieser aufgebaut und während seiner Lebenszeit in der ihm eigenthümlichen Form erhalten wird, pflegt man als „Lebenskraft, Seele“ zu bezeichnen und die organischen Körper deshalb auch „beseelte“ zu nennen. In diesem Sinne hätte also die Pflanze ebenso gut eine Seele wie der Mensch. – Ob die Selbsterzeugung von Organismen aus anorganischen Stoffen ebenso wie früher in der Urzeit auch heute noch fortdauert, ist noch unentschieden. Verschiedene Beobachter wollen allerdings Infusorien durch freiwillige Zeugung haben entstehen sehen. Das scheint aber ziemlich sicher, daß alle organische Materie, welche heutzutage auf unserer Erde existirt, einst aus der unorganischen (mineralischen) hervorgegangen ist.

Die, organische Körper zusammensetzende eigenthümliche Masse pflegt man „organischen Stoff“ zu nennen und die diesem Stoffe zukommende Form (Structur und Textur) als „organisirte“ zu bezeichnen. Bei allen Organismen kommt nun die Organisation auf ganz dieselbe Weise zu Stande, nämlich durch die Zellenbildung, und diese geht auf folgende Weise vor sich: In dem sogenannten „Plasma, Protoplasma oder Cytoplasma, Sarkode, Oken’s Urschleim“, d. i. einer formlosen und structurlosen, aus eiweißartiger Kohlenstoffverbindung bestehenden schleimigen Masse (welche der wesentlichste und nie fehlende Träger der Lebenserscheinungen in allen Organismen ist) entwickeln sich zu allererst nur durch das Mikroskop sichtbare festere rundliche Kerne, in denen noch kleinere Körperchen (sogenannte Kernkörperchen) sichtbar werden. Sehr bald bildet sich um jedes kernhaltige Eiweißklümpchen eine Hülle (Zellhaut, Zellenmembran) und nun ist eine einfache Zelle entstanden. Jeder Organismus (Pflanze, Thier und Mensch) ist anfangs weiter nichts, als eine einfache Eizelle, ein einziges Schleimklümpchen mit einem Kern. Aus diesem einzelligen Urwesen, welches weder Thier noch Pflanze ist, bildet sich durch weitere Entwickelung der Mensch, das Thier und die Pflanze hervor. Innerhalb der Zelle zerfällt nämlich der Zellenkern durch Selbsttheilung in zwei Kerne und um jeden häuft sich Zelleninhalt an, so daß nun in einer Zelle (Mutterzelle) zwei junge Zellen (Tochterzellen) sich befinden. Diese beiden Zellen zerfallen durch fortgesetzte Selbsttheilung in vier, diese in acht, in sechszehn, zweiunddreißig etc. Zellen und endlich ist ein kugliger Haufen von sehr zahlreichen kleinen Zellen (Embryonalzellen) entstanden, die nun durch weitere Vermehrung (Zellenwucherungsproceß durch Theilung) und ungleichartige Ausbildung (zu Plättchen, Fäserchen, Röhrchen, Häutchen) allmählich den ganzen Organismus in allen seinen Theilen aufbauen. Jeder Organismus, mit Ausnahme der allerniedrigsten organischen Körper (Moneren), hat im Beginne seiner Entwickelung diesen sogenannten „Zerklüftungs- oder Furchungsproceß“ durchmachen müssen. – Die Zellenbildung ist nur bei Luftzutritt und dem gehörigen Wärmegrade, sowie natürlich beim Vorhandensein jenes Plasmas möglich; letzterem dürfen aber gewisse chemische Substanzen, nämlich: Wasser, Eiweißsubstanz (Eiweiß, Kleber), kohlenwasserstoffige Substanz (Fett, Stärke) und Salze (vorzugsweise Kochsalz und Kalksalze) nicht fehlen. Man trifft die genannten, zur Zellenbildung unentbehrlichen chemischen Substanzen in ihrer Vereinigung: im Thier-Ei und im Pflanzen-Samen, im Blut und in der Milch. – Die Pflanzen haben die Fähigkeit, unorganische Stoffe als Material zum Aufbau ihrer Zellen verwenden zu können, während Thiere und Menschen zu ihrem Bestehen durchaus organischer Stoffe bedürfen. Und deshalb, nicht weil die Pflanze bei ihrem ersten Entstehen unvollkommener als das Thier war, dürfte von den Organismen die Pflanze vor dem Thiere auf unserer Erde existirt haben.

Betrachtet man nun die Organismen, welche auf unserer Erde seit der ersten Entwickelung organischer Körper gelebt haben und zur Zeit noch leben, so ergiebt sich, daß eine scharfe Grenze zwischen den einzelnen nicht aufzufinden ist und daß alle zusammen eine ununterbrochene Kette von Körpern bilden, deren unterstes Glied die einfachsten, nur aus einer oder wenigen Zellen bestehenden Pflanzen und Thiere sind, während das oberste der Mensch ist. An der untersten Grenze des Lebens stehen einzellige Wesen, welche man weder für Thiere noch für Pflanzen erklären kann und Protisten, Urwesen nennt. Ist eine solche Zelle mit Zusammenziehungs- und Ausdehnungsfähigkeit versehen (contractil), so theilt man sie dem Thierreiche, ist sie es nicht, dem Pflanzenreiche zu. Manche sind aber nur zeitweilig contractil und deshalb Mittelglieder zwischen Thier und Pflanze. Der Uebergang vom Pflanzen- zum Thierreiche ist also ein so unmerklicher, daß man von manchen Körpern nicht weiß, ob sie zu den Pflanzen oder zu den Thieren zu rechnen sind (Oldhamia, Phytozoen und Zoophyten). Auch Uebergänge zwischen den einzelnen Wirbelthierclassen existirten und existiren noch, wie von den Amphibien zu den Fischen und Vögeln. Selbst der Uebergang vom Thiere zum Menschen ist ein sehr allmählicher, wie der Schritt vom Affen zum Neger beweist, welcher die Annahme eines eigenen „Menschenreiches“ nicht zuläßt. Ja selbst der Uebergang aus dem unorganischen Reiche in das organische ist ein kaum bemerkbarer, wie die Lithophyten, Nulliporen und Korallen beweisen. – Verfolgen wir nun die Organismenkette von unserer jetzigen Erdoberfläche aus in die Erdrinde hinein bis zu der Stelle, wo zuerst organische Körper auftraten, und vergleicht man die in den verschiedenen Schichten der Erdrinde vorhandenen versteinerten Ueberreste der damals lebenden Thiere und Pflanzen untereinander und mit den jetzt lebenden, so zeigt es sich deutlich, daß alle verschiedenen Thier- und Pflanzenarten, welche jemals existirt haben und noch existiren, nur die veränderten und immer vollkommner gewordenen Nachkommen ihrer einfacheren Vorfahren sind und schließlich von einer einzigen oder einigen wenigen, höchst einfachen, ursprünglichen Stammformen abstammen. – Jedoch ist dabei stets zu bedenken, daß die jetzt vorhandenen Formen nicht etwa direct aus einander hervorgegangen, sondern nur die Abkömmlinge, Endglieder oder letzten Resultate einzelner Abzweigungen aus den großen Entwickelungsstämmen der Vergangenheit sind, gebildet durch eine Millionen Jahre dauernde, langsame Arbeit der Natur. Es ist eine Unmöglichkeit, daß solche Ausläufer einer für sich verlaufenden Reihe an ihren Endgliedern oder Endpunkten in einander übergehen können. Aus einem Esel kann niemals ein Löwe, aus einem jetzigen Affen kein Mensch werden, obschon sie in der Vergangenheit einer Wurzel entsprossen zu sein scheinen. Wie bei einem Strauche die Zweige neben einander in verschiedener Höhe emporwachsen und aus einem Zweig immer andere Zweige hervorgehen, so verhält es sich bei der ursprünglichen Bildung der Pflanzen und Thiere. Aus einem gemeinsamen Urstamme wuchsen verschiedene Abtheilungen hervor, von welchen sich eine jede für sich weiter fortbildete und sich mit jedem Schritt weiter von ihrem ersten Vorbild entfernte, ohne directen Zusammenhang weiter mit den anderen Abtheilungen zu haben. Auch der Mensch scheint hinsichtlich seiner Entwickelung von den Pflanzen und Thieren keine Ausnahme zu machen, auch von ihm [44] glaubt die Wissenschaft nachweisen zu können, daß er sich zuerst aus ganz niederen Thieren und zuletzt erst aus dem Affen hervorgebildet hat. – Bis jetzt waren die Uebergänge aus einer Thierform in die andere sehr schroff und lückenhaft und die Bindeglieder zwischen den einzelnen Formen noch nicht bekannt; neuerlich sind aber (besonders durch Waagen und Carl Mayer) schon manche derartige Lücken durch fossile Belegstücke ausgefüllt, und so wird mit jedem Tage die Auseinanderentwickelung der Organismen immer unbestreitbarer.

Der Mensch soll, nach Darwin, von einem lebenden Vierfüßer abstammen, welcher, mit einem Schwanze und zugespitzten Ohren versehen, wahrscheinlich in seiner Lebensweise ein Baumthier und ein Bewohner der alten Welt war. Die Vierfüßer und alle höheren Säugethiere rühren nun aber von einem Beutelthier, und dieses durch eine lange Reihe verschiedenartiger Formen wieder von irgend einem fischähnlichen Thiere her. Der frühere Urerzeuger aller Wirbelthiere war sodann ein Wasserthier, welches mit Kiemen versehen war, dessen beide Geschlechter in einem Individuum vereinigt und dessen wichtigste Körpertheile (besonders das Gehirn) unvollständig entwickelt waren. Dieses Thier scheint den (kaulquappenähnlichen) Larven unserer jetzt existirenden Meer-Mantelthieren sehr ähnlich gewesen zu sein.

Nach Häckel, welcher schon früher als Darwin diesen seinen hypothetischen Stammbaum des Menschengeschlechts aufstellte, ist der echte (sprechende) Mensch der Jetztzeit mit seinem entwickelten Gehirn und seiner articulirten Sprache der nächste Nachkomme eines sprachlosen oder eines nur mit thierischer Lautsprache begabten Affen- oder Urmenschen, welcher sich aus dem Menschenaffen, einer schwanzlosen Schmalnase, entwickelte, die unserm Gorilla und Schimpansen (in Afrika), Orang und Gibbon (in Asien) ähnelte. – Die Vorfahren des Menschenaffen oder der Anthropoiden waren Schwanzaffen, geschwänzte schmalnasige Affen mit dichtbehaartem Körper und langem Schwanze, welche unseren Nasen- und Schlankaffen glichen. – Diese entstanden nun aus den Halbaffen durch Umbildung des Gebisses und Verwandlung der Krallen in Nägel. Diese unsere Halbaffen-Ahnen besaßen vermuthlich nur ziemlich entfernte äußere Aehnlichkeit mit den heutigen kurzfüßigen Halbaffen (Maki, Indri und Lori) und waren die Nachkommen von (den Beutelratten verwandten) Beutelthieren. Diese, welche den heute noch lebenden Opossum und Känguruh nahe standen, nahmen ihren Ursprung aus Stammsäugern, deren Bau dem unserer Schnabelthiere glich. Sie bildeten die Stammform aller Säugethiere und entwickelten sich aus den Ur-Amnioten durch Umbildung der Oberhautschuppen dieser Vorgänger zu Haaren und durch Bildung einer Milchdrüse zur Ernährung der Jungen. Die Uramnioten sind als die gemeinsame Stammform der drei höheren Thierclassen anzusehen und entstanden aus Schwanzlurchen dadurch, daß diese der Kiemen verlustig gingen. Diese amphibischen Vorfahren, ähnlich den heutigen Salamandern und Molchen, fingen schon an, wie ihre Vorgänger, die dem heutigen Proteus ähnelnden Kiemenlurche, zeitweilig durch Lungen zu athmen. – Die Lurche bildeten die Stammformen aller lungenathmenden Wirbelthiere und der Amphibien. Mit ihnen begann die fünfzehige Fußbildung, die sich von da auf die höheren Wirbelthiere und zuletzt auch auf den Menschen vererbte. Sie kam durch Umbildung der rudernden Fischflossen der Lurchfische zu fünfzehigen Beinen zu Stande. – Unsere Fischvorfahren sind nun die Lurchfische, welche den heutigen Molchfischen (Lepidosiren) ähneln, sowie die Urfische mit Haifischähnlichkeit. Die ersteren entstanden aus den Urfischen durch Anpassung an das Landleben und Umbildung der Schwimmblase zu einer luftathmenden Lunge; die letzteren gingen aus den niedrigsten Schädelthieren, den Unpaarnasen, welche den noch lebenden Rundmäulern (Cyclostomen) ähnelten, hervor und diese wieder aus den Schädellosen, welche mit unseren jetzigen Lanzetthierchen entfernte Aehnlichkeit hatten. – Von jetzt an verlassen unsere Ahnen die Wirbelthierreihe und gehen in die Wirbellosen über, zunächst in die Sackwürmer, welche den Uebergang der Wirbellosen zu den Wirbelthieren machen und unseren Mantelthieren (Seescheiden) am nächsten standen; sodann in die Weichwürmer (ähnlich den heutigen Tunicaten und Turbellarien) mit beginnender Bildung eines Athmungs- und Darmapparates; die Strudelwürmer, welche aus den mundführenden bewimperten Infusorien mit der ersten Bildung eines Nervensystems und der einfachsten Sinnesorgane hervorgingen, während die Wimperinfusorien sich aus den Flimmerschwärmern (den heutigen Opalinen und Amphioxus ähnlich), und diese, mit der ersten Bildung eines Darmcanals, aus den Synamöben (Amöben-Zellen-Haufen), diese aber aus den Amöben (einzelligen Urthieren) entwickelten. – Schließlich gerathen wir also als auf die ältesten Vorfahren des Menschen, wie aller anderen Organismen, auf lebende Wesen der denkbar einfachsten Art, auf Organismen ohne Organe, auf ein ganz einfaches, durch und durch gleichartiges, structurloses und formloses Klümpchen einer schleim-eiweißartigen Materie (Protoplasma) ohne Zellenkern. Noch heute existiren derartige Urorganismen als Moneren (der Zusammenziehung und Wiederausdehnung fähige Eiweiß- oder Plasmaklümpchen). Diese sind aber höchst wahrscheinlich auf chemisch-mechanische Art durch Urzeugung, freiwillige oder elternlose Zeugung, aus kohlenstoff- und stickstoffhaltigen „anorganischen Verbindungen“ hervorgegangen. Daß aus unorganischen Stoffen organische Substanzen zu erzeugen sind, hat die neuere Chemie bewiesen, welche sogar dem Eiweiß, Fett und Leim ähnliche Substanzen künstlich, nur aus anorganischen Stoffen, dargestellt haben will. Daß aber für uns Pflanzen und Thiere niemals künstlich aus Anorganen zu entwickeln sein werden, liegt darin, daß der Mensch die Arbeit, welche die Natur dabei viele Millionen Jahre lang angewendet hat, nicht nachzuahmen im Stande ist.

Wie die Umwandlungen der Organismen zu Stande kamen, davon nächstens.

Bock.




Pariser Bilder und Geschichten.


Ein entsetzlicher Maimorgen.


Von Ludwig Kalisch.


Nach einer zehnmonatlichen Abwesenheit traf ich am 5. Juni, Morgens sechs Uhr, wieder in Paris ein. Die Commune war eben besiegt; aber die Reste der Barricaden, die zertrümmerten Häuser und die noch rauchenden Brandstätten zeigten deutlich genug, wie hart der Kampf gewesen. Die sonst so heitere lachende Weltstadt hatte eine düstere Physiognomie. An den meisten Häusern flatterte die Tricolore; sie verkündete jedoch nicht wie ehedem ein Freuden- oder Siegesfest; sie war nur eine Manifestation gegen die rothe Fahne, deren Entfernung so viele Menschenopfer gekostet. In vielen Stadttheilen waren noch Kanonen aufgepflanzt, an deren Fuß schläfrige Soldaten sich auf der Streu wälzten. Sie gähnten wie die Kanonen und dachten kaum mehr als diese über das blutige Werk nach, das sie eben vollbringen gemußt. Ein eigenthümlicher durchdringender Geruch wirkte beklemmend auf die Lungen, und der von grauen Wolken bedeckte Himmel diente dazu, die düstere Stimmung wo möglich noch zu vermehren.

Kaum in meiner Wohnung angelangt, trieb es mich schon wieder fort. Ich hatte seit dem Beginne des Krieges von meinen Pariser Freunden keine Nachricht gehabt. Ich brannte vor Begierde, sie zu sehen; jedoch nur wenigen von ihnen konnte ich nach langer Trennung die Hand drücken. Die Meisten hatten vor der Belagerung, Mehrere unter der Commune die Stadt verlassen und waren noch nicht zurückgekehrt. Einige sollte ich niemals wiedersehen; sie waren im fürchterlichen Bürgerkriege gefallen. Von den mir befreundeten deutschen Familien war noch keine einzige wieder zurückgekommen. Es gab auch Familien, die zwar nicht Paris, wohl aber die Wohnung verlassen, in der sie dem Bombardement ausgesetzt waren, und in anderen ruhigen Stadtvierteln augenblicklichen Schutz bei Freunden gesucht hatten. So waren denn die sonst so regelmäßigen Beziehungen zerrüttet und zerstört.

Eine mir sehr befreundete Familie, die seit Jahren in der Nähe des Triumphbogens wohnt, hatte aus Furcht vor den Bomben, von denen Neuilly und die benachbarten Stadttheile zertrümmert

[45]

Karl Wilhelm Hübner.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.




wurden, sich zu Freunden geflüchtet, und erst zwei Monate nach meiner Rückkehr hatte ich das Vergnügen, dieselbe wiederzusehen. Ich traf dort zahlreichen Besuch. Unter den Anwesenden fesselte eine junge Dame in Trauer meine besondere Aufmerksamkeit. Sie hatte ein sehr hübsches Gesicht, große lebhafte Augen und eine Stimme von seltenem Wohlklange. Sie war, wie ich bald erfuhr, die Gattin eines oft genannten Mitgliedes der Commune; und ich hörte so viel von den furchtbaren Schicksalen, welche diese Frau innerhalb weniger Tage erfahren, daß ich mich nicht genug wundern konnte, wie sie dieselben hatte überstehen können. Was ich indessen bei diesem Besuche nur bruchstückweise vernommen, machte mich begierig, es von der jungen Frau selbst und im Zusammenhange zu erfahren.

Nachdem ich sie einige Male wiedergesehen, wagte ich es, ihr meinen Wunsch auszudrücken. Sie erklärte sich bereit, denselben zu erfüllen.

Ich theile nun dem Leser die Erzählung dieser Dame mit, und ich brauche wohl nicht erst zu versichern, daß ich fast wortgetreu das Erzählte wiedergebe. Der Leser übrigens, der den furchtbaren Ereignissen des jüngsten französischen Bürgerkrieges aufmerksam gefolgt ist, wird aus der nachfolgenden Erzählung den Helden derselben leicht errathen können. –

„Ich weiß,“ begann die Frau, indem sie mich einlud, mich neben ihr am Kaminfeuer niederzulassen, „ich weiß, daß Sie ein Feind der Commune sind; ich darf Sie übrigens versichern, daß mein Gatte, der anfangs Communemitglied war und, wie Sie wissen, sich der Mairie des sechsten Arrondissements bemächtigt hatte, die Ausschreitungen der Commune mehr als irgend ein Anderer verdammte. Er sagte den Untergang derselben voraus, und es brach ihm das Herz, als er sah, daß allerlei loses nichtswürdiges Gesindel sich der Gewalt bemächtigte, vor keiner Frevelthat zurückschreckte und in Morden, Sengen und Brennen sich gefiel. Die Katastrophe ließ auch nicht lange auf sich warten. Mittwoch, am 24. Mai, waren die Versailler Truppen schon in unserm Stadttheil. Wir wohnten in der Rue de Seine und man schlug sich an der Ecke der Rue Jacob und Saints-Pères und an der Kunstschule, [46] also fast vor unserer Thür, die Kugeln fielen wie ein dichter Hagel. Sterbende sanken auf Leichen, unter welchen auch Weiber und Kinder. Es war entsetzlich zu sehen und ich sah es. Das Geschrei ‚Vive la Ligne!‘ wurde immer allgemeiner und der Ruf ‚Vive la Commune!‘ tönte nur noch mit langen Unterbrechungen. Mein Gatte war nicht zu Hause. Er lief wie ein gehetztes Wild in allen Stadttheilen herum und mußte sich ein Nachtlager erbetteln. Die Häscher waren auf seiner Spur; ich war in Verzweiflung. So kam der Freitag heran. Ich sah ihn im Geheimen in der Rue Chapon und beschwor ihn, bei einem bewährten Freunde sich so lange zu verbergen, bis die Wuth der Sieger sich gelegt haben würde.

‚Ich werde Dich um keinen Preis allein zurücklassen,‘ rief er; ‚die Sorge um Dich würde mich tödten. Ich fliehe nicht ohne Dich.‘

Wir überlegten nun eine Weile, wohin wir uns um ein schützendes Obdach wenden sollten, und mein Mann beschloß endlich, zu einem Freunde zu gehen, mit dem er zusammen aufgewachsen und dem er mit großer Selbstaufopferung zu wiederholten Malen die wichtigsten Dienste geleistet hatte. Derselbe wohnte dicht an der Komischen Oper, also eine halbe Stunde von unserm Hause entfernt. Wir erreichten seine Wohnung nach unzähligen Umwegen. Er zeigte sich sehr kalt und verstand sich wohl dazu, meinen Mann, aber nicht mich zu beherbergen. Unter dieser Bedingung wollte jedoch der Letztere die Gastfreundschaft nicht annehmen. Ich fürchtete die Gefahr für meinen Gatten und sagte ihm: ‚Theuerster Tony, ich bitte, ich beschwöre Dich, bleibe Du allein hier zurück. Ich habe zu Hause nichts zu fürchten. Du kennst mich und bist fest überzeugt, daß keine Gewalt auf Erden mich zwingen wird, Deine Zufluchtsstätte zu verrathen.‘

Ich strengte mich an, heiter zu erscheinen, und verließ ihn mit der Versicherung, so bald wie möglich Nachricht von mir zu geben.

Nachdem ich behutsam aus dem Hause geschlüpft, eilte ich wieder nach meiner Wohnung. Es war inzwischen Abend geworden, und müde und abgehetzt, wie ich war, begab ich mich zu Bette. Alles war still und ruhig. Gegen ein Uhr Morgens aber weckte mich ein dumpfes Geräusch vor der Hausthür, und bald ließ sich Waffengeklirr auf der Treppe hören. Nach einer Minute klopfte man an meine Thür.

‚Wer ist da?‘ fragte ich.

‚Im Namen des Gesetzes, öffnen Sie!‘ lautete die Antwort.

Ich weigerte mich, indem ich rief, daß ich zu Bette sei. Sie drohten, die Thür einzuschlagen, wenn ich sie nicht sogleich eintreten ließe.

Ich ließ nun durch mein Dienstmädchen die Salonthür öffnen, während ich mich schnell ankleidete.

Einen Augenblick darauf sah ich mehrere Soldaten, einen Officier und einen rohen Menschen vor mir, der das Häscheramt verrichtete.

‚Wo ist M***?‘ fragte mich dieser, indem er mich heftig am Arme faßte.

‚Ich weiß nicht, wo mein Gatte ist,‘ antwortete ich, mich seinen Händen entwindend.

‚M*** ist nicht Ihr Gatte!‘ rief er barsch. ‚Ihr Verhältniß zu ihm ist nicht legitim. Sie leben mit ihm in wilder Ehe.‘

‚Dies verhindert mich nicht, ihm so treu und ergeben zu sein wie ein legitimes Eheweib,‘ antwortete ich.

‚Wir wissen, was wir davon zu halten haben,‘ kreischte er mich an. ‚Ich fordere Sie nochmals auf, uns den Aufenthalt M***’s anzuzeigen.‘

Ohne ihn eines Blicks zu würdigen, wendete ich mich an den Officier mit den Worten: ‚Ich wiederhole, daß ich nicht weiß, wo mein Gatte sich befindet; aber selbst wenn ich es wüßte, würde ich es nicht sagen, und kostete es mir auch mein Leben. Was würden Sie von einem Weibe halten, das ihren Gatten verriethe? – Wo indessen auch mein Mann sein mag, ich bin überzeugt, daß er sich den Händen der Justiz nicht entziehen will. Er wird sich derselben zur Verfügung stellen, sobald die Wuth dieses entsetzlichen Bürgerkrieges einem ruhigen, besonnenen Ermessen gewichen sein wird.‘

‚Genug der Phrasen!‘ rief der Sbirre. ‚Machen Sie sich fertig! Wir werden bald sehen, wie stark Ihre Todesverachtung ist. Wir sind hier nicht weit von dem Münzgebäude, an dessen Mauern schon mancher der Communards unter den Kugeln gefallen.‘

‚Mein Herr,‘ sagte ich, wiederum zum Officier gewendet, ‚ich fürchte den Tod nicht. Gönnen Sie mir Zeit bis zur Morgenstunde, damit ich noch einige Familienangelegenheiten ordnen und mich ankleiden kann. Vor Tagesanbruch aber verlasse ich das Haus nicht, es sei denn, daß Sie mich mit Gewalt fortschleppen.‘

Der Officier bewilligte meine Bitte mit der Bemerkung, daß er sich auf mein Wort verlasse. ‚Vergessen Sie übrigens nicht,‘ fügte er hinzu. ‚daß Sie bewacht sind und daß Niemand die Rue de Seine unbeobachtet verlassen kann. Punkt sechs Uhr sind wir wieder hier.‘

Kaum war ich allein, als es mir im Kopfe zu wirbeln anfing. Ich fiel in Ohnmacht, und erst nach einer Stunde kam ich wieder zur Besinnung. Ich hatte nun die arme Mariette, mein Dienstmädchen, das weinend, jammernd und händeringend aus einem Zimmer in’s andere lief, zu trösten und zu beruhigen. Es war keine Zeit zu verlieren. Ich kleidete mich sorgfältig an und harrte der verhängnißvollen Stunde entgegen.

Punkt sechs Uhr trafen sie wieder ein.

‚Ich bin bereit,‘ rief ich, ‚führen Sie mich ab!‘

‚Wir werden Ihnen schon sagen, wann es Zeit ist,‘ brummte der Häscher und begann nun mit seinen Gehülfen alle Schränke und Schubladen zu durchsuchen und in den Papieren herum zu stöbern, von denen er sich eines großen Theiles bemächtigte.

Als die Untersuchung zu Ende war, sagte der Officier: ‚Sie bleiben in Ihrer Wohnung und geben Ihr Ehrenwort, dieselbe nicht zu verlassen. Bedenken Sie, daß kein Fluchtversuch möglich ist und daß Sie sich durch einen solchen einem sichern Verderben preisgeben.‘

‚Ich bin mir keiner Schuld bewußt,‘ antwortete ich; ‚wäre dies der Fall, so hätte ich gewiß schon vor einigen Tagen die Flucht ergriffen.‘

Der Sbirre wendete sich abermals an mich mit der Aufforderung, den Aufenthalt meines Gatten anzuzeigen.

Ich kehrte ihm den Rücken.

Nach einigen Minuten fand ich mich wieder allein, ohne jedoch zur Ruhe zu kommen. Die Ungewißheit, in der ich über das Schicksal meines Gatten schwebte, die unbezwingliche Sehnsucht nach ihm und die Furcht, sein Aufenthalt könnte verrathen werden, folterten mein Herz. Ich war in fortwährender fieberischer Aufregung. Der Zustand Mariette’s diente dazu, meine entsetzlichen Qualen noch zu vermehren. Der armen Dirne, die mir so treu, so ergeben war, hatte die nächtliche Haussuchung, das Waffengeklirr und das angedrohte Todesurtheil einen solchen Schrecken eingejagt, daß sie nicht zur Besinnung kam. Sie schrie beständig, daß man sie an meiner Seite erschießen wolle, rannte wehklagend durch’s Haus und selbst in die Nachbarschaft, und erst nach unsäglicher Mühe gelang es mir, sie zu Bett zu bringen.

So kam der Abend heran. Bis zum Tod erschöpft lag ich im Lehnstuhl, halb schlafend, halb wachend, als ich plötzlich lebhafte Schritte auf dem Flur höre. Ich erhob mich erschreckt und wollte die Thür verriegeln, als dieselbe heftig geöffnet wird und mein Gatte mich in die Arme schließt.

‚Unglückseliger!‘ rief ich. ‚Warum kehrst Du aus dem sichern Schlupfwinkel in dieses Hans zurück, das von Spähern und Häschern umgeben ist? Warum bist Du nicht bei Deinem Freunde geblieben?‘

‚Mein Freund hat mir die Gastfreundschaft aufgekündigt,‘ antwortete er mit einem Seufzer.

‚Der Niederträchtige!‘ rief ich auf’s Tiefste empört. ‚Unzählige Male hast Du ihn mit Wohlthaten überhäuft, und zum Danke dafür liefert er Dich dem Tode in die Hände. Schändlich! Schändlich!‘

‚Beruhige Dich, mein Kind,‘ bat er. ‚Die Menschen sind einmal so. Uebrigens,‘ fügte er nach einer Pause hinzu. ‚hätte ich ohnedies sein Haus verlassen. Die Besorgniß um Dich ließ mir weder Ruhe noch Rast. Ich habe diesen Zustand nicht länger ertragen können.‘

Ich erzählte ihm nun, was inzwischen vorgefallen. Er hielt meine Hände in den seinigen und hörte zu, ohne mich auch nur durch eine einzige Silbe zu unterbrechen. Als ich aber geendigt, preßte er mich an seine Brust und rief: ‚Mein theures, theures [47] Weib, verliere den Muth nicht, den Du bisher bewiesen! Vielleicht entrinnen wir noch dem Schicksal, das uns bedroht.‘

‚Was aber beginnen?‘ fragte ich.

‚Ich bin in diesem Augenblick so erschöpft, daß ich keinen Entschluß zu fassen vermag,‘ antwortete er. ‚Laß mich ein wenig ausruhen. Wir werden dann sehen, was zu thun ist.‘

Er warf sich auf’s Bett und schlief bald ein.

Es dauerte aber nicht lange, so hörte ich wieder Fußtritte auf dem Flur. Die Häscher waren ihm auf den Fersen gefolgt, und schon traten sie in den Salon. Der elende Mouchard, der bereits in der vorigen Nacht und am heutigen Morgen die Patrouille begleitet und mich so roh angefahren hatte, trat vor mich mit den Worten: ‚Oeffnen Sie alle Thüren!‘

In diesem Augenblicke trat mein Mann aus dem Schlafzimmer.

‚Wen suchen Sie, meine Herren?‘ fragte er.

Der Häscher nannte den Namen meines Gatten.

‚Hier bin ich,‘ antwortete dieser. ‚Was wollen Sie?‘

‚Daß Sie uns folgen!‘ sagte Jener.

Ich wollte meinen Gatten nicht ohne mich gehen lassen, und so wurden wir Beide unter dem heftigsten Regen auf die Mairie des sechsten Arrondissements geführt. Dort angelangt, sagte er vor den Richtern: ‚Wie der Richterspruch auch ausfallen mag, ich will vor der Entscheidung mich mit diesem Weibe, das mir so oft die schönsten Beweise unerschütterlicher Treue gegeben hat, trauen lassen. Ich bestehe darauf.‘

Sie beriethen einen Augenblick und beschlossen, ihn nach dem Luxembourg abführen zu lassen. Ich wollte ihn auch dahin begleiten; doch dies ward mir nicht gestattet. Ich war außer mir vor Schmerz, da ich fürchtete, sie beabsichtigten gleich nach meiner Entfernung das Todesurtheil an ihm zu vollziehen. Ein Mitglied des Kriegsgerichtes, der Capitain B., suchte mich zu beruhigen. ‚Sein Todesurtheil ist ja noch nicht gefällt,‘ sagte er; ‚vielleicht wird es auch im Luxembourg nicht gefällt werden. Sollte dies jedoch geschehen, so wird man Sie davon in Kenntniß setzen. Seien Sie besonnen,‘ schloß er; ‚ich gebe noch nicht alle Hoffnung auf.‘

Kaum war ich eine Viertelstunde in meiner Wohnung, als ich nach dem Luxembourg gerufen wurde. Ich fand dort meinen Mann, der inzwischen zum Tode verurtheilt worden, in einer unterirdischen Zelle auf einer Strohmatratze sitzend. Ein Oellämpchen flimmerte in einer Ecke. Er schloß mich in die Arme und sagte: ‚Mein Todesurtheil ist gefällt; doch wird es vor morgen früh nicht vollstreckt werden. Wir haben eine ganze Nacht vor uns. Sei fest und standhaft, wie Du bisher gewesen. Ich werde zu sterben wissen, und Deine Geistesgegenwart wird mir den Tod erleichtern. Ich bin mir keiner Schuld bewußt; ich habe mich, wie Du weißt, an keinem Verbrechen der Rasenden betheiligt, welche die Freiheit auf Ruinen und Leichenhaufen zu gründen wähnten. Du warst mir treu und ergeben bis zum Tod; ich danke Dir. Nun setze Dich neben mich und lass’ uns alle Angelegenheiten, die Deine künftige Lage betreffen, genau überlegen. Ich habe den Notar, ich habe den Maire bestellt; Beide werden vor der entscheidenden Stunde eintreffen.‘

Er rückte den Stuhl an’s Lager, schrieb zuerst sein Testament, sodann einen Brief an seinen Vater, dem er mich dringend empfahl. Nachdem er noch einige Briefe an verschiedene Freunde gerichtet, sagte er: ‚Die letzten Worte, die ich schreibe, magst Du zum Andenken an diese Stunde aufbewahren.‘ Er nahm ein Blatt und schrieb einige Zeilen, in denen er seine Gedanken über die Lage Frankreichs äußerte.“

Sie erhob sich vom Sessel, holte das Blatt herbei und überreichte mir dasselbe mit den Worten: „Lesen Sie und überzeugen Sie sich, wie sehr er sein Vaterland liebte.“

Ich bewunderte indessen viel weniger den Inhalt, als die festen kräftigen Schriftzüge, an denen man sah, daß, der sie auf’s Papier geworfen, die Todesstunde nicht fürchtete.

Sie setzte sich wieder in den Lehnsessel und fuhr fort: „Er faltete die Papiere und sagte dann, indem er meine Hand faßte, die er nicht mehr aus der seinigen ließ: ‚Nun ist Alles in’s Reine gebracht und ich gehöre nun ausschließlich Dir an.‘

Todesstille herrschte überall; nur der fortwährend heftige Regen klatschte an die vergitterten Luken.

‚Ich würde noch heiterer sterben,‘ sagte er lächelnd, ‚wenn schöneres Wetter wäre. Das ist kein Maiwetter; das ist ein Novemberwetter. Es scheint wahrlich, als ob der Himmel selbst über das furchtbare Schicksal weinte, das unser armes Vaterland heimsucht.‘

Gegen sechs Uhr Morgens trat der Notar in die Zelle. Mein Gatte stellte ihm das Testament zu und ertheilte ihm mehrere Aufträge. Kaum hatte der Notar die Zelle verlassen, als der Maire eintrat und die Trauung vollzog. Tony dankte dem Maire auf’s Herzlichste, und als dieser geschieden, rief er, indem er mich umarmte: ‚Du bist nun auch vor der Welt meine Gattin und wirst von nun an meinen Namen tragen;‘ dann fügte er mit unbeschreiblicher Wehmuth hinzu: ‚Lucie, meine theure, theure Lucie, Du trägst ein zweites Dasein unter dem Herzen. Schone Dich, damit Du einst in der Erfüllung süßer Mutterpflicht den schönsten Lebenszweck findest und Dich dabei dessen erinnerst, der bald nicht mehr sein wird.‘

Ich war eben im Begriff, einige Worte zu erwidern, als eine Seitenthür, die ich bisher nicht bemerkt hatte, sich öffnete und ein Geistlicher aus derselben trat. Er winkte mir, sich ihm zu nähern, und trat mit mir in die Nebenzelle, in welcher er die ganze Nacht zugebracht hatte, ohne daß wir Beide es gewahr wurden.

‚Mein Kind,‘ sagte er sanft, ‚Sie haben in dieser furchtbaren Stunde den Bund mit Ihrem Gatten durch die weltliche Obrigkeit vollziehen lassen; thun Sie noch einen Schritt zu Ihrem Heile und zum Heile dessen, der bald vor Gottes Richterstuhl treten wird. Lassen Sie – ich bitte, ich beschwöre Sie – lassen Sie den Bund auch durch die Kirche besiegeln.‘

‚Ehrwürdiger Herr,‘ antwortete ich, ‚nehmen Sie meinen Dank hin für Ihre Theilnahme, und grollen Sie mir nicht, wenn ich auf Ihren Wunsch nicht eingehe. So viel Schwächen und Gebrechen ich auch haben mag, Heuchelei und Lüge sind meinem Herzen immer fremd geblieben. Ich finde den Schritt, den Sie mir so dringend anempfehlen, nicht nöthig zu meinem Seelenfrieden; ja, ich würde gegen meine Ueberzeugung handeln, wenn ich ihn thäte. Indessen gehöre ich nicht mir an; ich hänge von dem Willen meines Gatten ab. Was er mir räth, werde ich ohne Weiteres befolgen.‘

Tony billigte die Antwort, die ich dem Geistlichen gegeben.

Alle diese Scenen rollten sich viel schneller ab, als ich sie Ihnen erzähle, und kaum hatte sich der Geistliche wieder zurückgezogen, als ein Officier eintrat.

‚Ich bin zu Ihren Diensten,‘ sagte mein Mann. ‚Zwölf Kugeln, glaube ich, werden genügen; wo nicht, lassen Sie mir, ich bitte, in’s Herz schießen. Und nun lebe wohl, lebe für immer wohl, meine gute, theure Lucie!‘ Er umarmte mich, und als er mich zittern und beben sah, rief er: ‚Muth, mein Kind! Mache Deinem Tony das Herz nicht schwer!‘

Er kehrte, als er an der Thür war, wieder zurück, drückte mir noch einen Kuß auf die Lippen und sagte: ‚Dieser Kuß ist für meinen edeln Vater, der mir den Kummer verzeihen mag, den ich ihm verursacht habe.‘

Er hatte kaum die Zelle verlassen, als ich trotz aller Anstrengung, meinen Schmerz zu verbeißen, einen heftigen Schrei ausstieß. Ein Aufseher trat aber sogleich zu mir und drohte, daß man mich sogleich abführen würde, wenn ich nicht das tiefste Schweigen beobachtete.

Ich biß die Zähne zusammen, faßte mit beiden Händen das Gitter und horchte und horchte. Ein kalter Schauder packte mich, als ich die Schüsse hörte. Es war geschehen. Links am Eingang der Allee des Observatoriums, an der Mauer, wo der marmorne Löwe steht, fiel er Sonntag den achtundzwanzigsten Mai Morgens um sieben Uhr.

Wie ein dichter Schleier senkte es sich über meine Augen und ich stürzte zusammen. Ein Mann, ich weiß nicht, welches Amt er versah, raffte mich auf, suchte mich zu beruhigen und sagte, daß er den Befehl habe, mich nach meiner Wohnung zu führen.

‚Aber wo ist der Leichnam meines Gatten?‘ rief ich. ‚Ich gehe ohne denselben nicht von hier.‘

‚Madame,‘ sagte der Mann, ‚beruhigen Sie sich und verlangen Sie nicht, den Leichnam jetzt zu sehen. Ihre Kräfte sind zu sehr erschöpft, als daß Sie den Anblick desselben ohne Gefahr für Ihr Leben ertragen könnten.‘

All mein Bitten und Flehen half nichts. Er faßte mich unter dem Arme und führte, oder vielmehr zog mich, von fünf [48] Soldaten begleitet, nach meiner Wohnung. Ich wurde von einem hitzigen Fieber ergriffen, das schon am folgenden Tage den zarten Keim zerstörte, von dessen Entwickelung ich den einzigen Trost für mein finsteres Dasein hoffte.

Fünf Wochen war ich an’s Krankenlager gefesselt und hatte noch den unbeschreiblichen Kummer zu erfahren, daß man die arme Mariette in eine Irrenanstalt hatte unterbringen müssen, wo sie noch jetzt langsam hinsiecht.

Nach meiner Genesung that ich alle nur erdenklichen Schritte, um den Leichnam meines Gatten zu erhalten. Ich schrieb an Thiers, ich schrieb an den Kriegsminister, ja, ich drang trotz aller Wachen und Huissiers in die Cabinete der höchsten Behörden, um die Erfüllung meines sehnlichsten Wunsches zu erlangen. Umsonst! Einige suchten mich durch Vertröstungen hinzuhalten; Andere sagten mir, man schrecke vor Manifestationen zurück, welche die durch mich veranstaltete Bestattung hervorrufen konnte. Wiederum Andere versicherten, die Ausgrabung und das Wühlen unter der großen Zahl der Hingerichteten könnte eine Epidemie verursachen. Erst nach mehreren Monaten gelang es mir, durch einen Todtengräber zu erfahren, an welcher Stelle mein Gatte im Kirchhofe Montparnasse mit vielen anderen Executirten begraben worden.

Ich habe Ihnen nichts mehr zu erzählen. Sie sehen mich ruhig und ergeben, und ich bin überzeugt daß mich künftig nichts mehr aus der Fassung zu bringen vermag. Ich kann nichts Schrecklicheres mehr erleben, als ich erlebt habe.“

Sie schwieg und starrte regungslos vor sich hin.




Seegeschichten.[1]
Von Heinrich Kruse.
1. Das große Schiff.

Bootsmann Claus und ich, wir saßen zusammen am Gangspill,
Beide auf Backbord-Wach’, und lugten hinaus in das Dunkel.
Schweigend saßen wir da, nach Seemannsweise, die Arme
Platt auf die Brüstung gelehnt und den Kopf dazwischen vergraben.
Sanft war der Wind; wir glitten dahin in den ruhigen Wogen,
Welche das Weltmeer schlägt, die nicht aufrauschend und kurz sind,
Wie auf unserer See, nein, wonniges Heben und Schweben!
„Bootsmann!“ sprach ich zuletzt. „Was willst Du, Junge?“ Er rieb sich
Gähnend den Schlaf aus den Augen. „Ihr schlaft schon; wenn uns der Steu’rmann
Also Beide betrifft, so bindet er uns an das Gangspill,
Und wir sind auf dem Schiff noch vierzehn Tage das Lachen.
Laßt uns etwas erzählen, damit wir uns munter erhalten.“
„Ja,“ so sprach er, „erzähl!“ „Ich weiß nichts. Bin ja vom Lande,
Komm’ erst eben auf See. Ihr seid ein gewaltiger Seemann,
Seid nach dem Nordpol schon und dem Südpol,“ sagt’ ich, „gefahren,
Ihr könnt eher erzählen.“
                              „Nun gut,“ so sprach er, „wovon denn?
Das von dem großen Schiff, nicht wahr? kam längst Dir zu Ohren?“
„Nein,“ so versetzt’ ich, „noch nie!“
                              „O Du westphälischer Dümmling!“ –
Denn so nannten sie mich – obgleich ich auf Schulen gewesen –,
Weil ich die Sprache des Schiffs noch inne nicht hatte. Des Sonntags,
Wenn sie lasen im Buch, so mußt’ ich die schwierigen Stellen
Ihnen erklären; sie sagten dann wohl großmüthig: „Der Junge
Mag so dumm nun sein, wie er will, das muß man ihm lassen,
Lesen verstehet er gut!“ –
                              „O Du westphälischer Dümmling,
Kommst Du wieder nach Haus, und sie fragen Dich, was Du gelernt hast,
Und Du kannst nicht Bescheid von dem großen Schiffe ’mal geben!
Also merke denn auf, und freue Dich, daß Du die Sache
Hörest von einen aufrichtigen Mann, der selber dabei war.
Denn von dem großen Schiffe berichten sie allerhand Lügen,
Die, Gott straf mich! nicht wahr und in Leumund bringen den Seemann,
Als wenn Lügen zum Grog und Grog zum Lügen gehörte.
Also es ist einmal ein Nordlandkönig gewesen,
Und der baute ein Schiff, so groß, wie noch keines gesehn war.
Als es nun fertig geworden zur Fahrt, ließ schreiben der König:
Wer d’rauf dienen ihm wollt’ als ein rechtschaffener Seemann,
Sollte sich melden dazu, und sollte die Löhnung so groß sein
Wie sein Schiff, so stand in dem Brief.“
                              „Sagt, ist es schon lang her?“
„Ja, schon lange vor heut’. Man findet es nicht im Kalender.
Frankreich hing um selbige Zeit noch zusammen mit England
Wie ein einziges Land, so wie Braunschweig jetzt und Hannover.
Als um die nämliche Zeit mein Vater mich nahm aus der Schule,
Sprach er zu mir: ‚Mein Sohn, Du mußt Dein Glück mal versuchen;
Denn Geld haben wir nicht, Du mußt es Dir selber verdienen.
Wie, wenn Du gingst nach dem Schiff, von dem uns melden die Briefe?‘
‚Ja,‘ so sagt’ ich, ‚ich habe wohl Lust zu verdienen die Löhnung.‘
Also macht’ ich mich auf und erhielt von Mutter den Segen,
Und kam glücklich noch an; sie nahmen im Schiff mich als Bootsmann.“
„Wie? Sie nahmen Euch gleich als Bootsmann auf in dem Schiffe?“
„Das kam daher, ja, sie konnten die Kleinen nicht brauchen,
Und ich war um die Zeit einen Kopf noch größer als heute.“
Was für Lügen das sind! Das wird gut werden! so dacht’ ich.
„Also wir stachen in See und fuhren zuerst in die Nordsee,
Wo arg neblig es ward und stürmisch nach alter Gewohnheit.
Und fast wären wir fest auf Doggers Bank da gesegelt;
Denn wir konnten das Schiff nicht lenken, es war uns zu mächtig,
Drei, vier Striche wohl sprang es herum, und eh’ wir es dachten,
Fuhren wir grad’ auf’s Land, wo heut zu Tag der Canal ist.
Ruck! so sagte das Schiff. Mir knackten die Rippen im Leibe,
Und wir glaubten, da säßen wir nun. Doch prosit die Mahlzeit!
So ein Schiff, wie unseres war, ist so leicht nicht zu halten;
Sondern es ging gleich mitten hindurch, so waren im Schuß wir,
Und auf der andern Seite heraus. Wir fuhren mit Jubel
In das Atlantische Meer. So verdankt der Canal uns den Ursprung,
Und wir tragen die Schuld, daß der Engelsmann und der Franzmann
Sich seitdem in die Haare gekriegt.“
                              „Ein wackeres Schiffchen,
Bootsmann,“ sagt’ ich, „gewiß! Wie groß ist wohl es gewesen?“
„I, das kannst Du genau nachsehen: so groß der Canal ist,
Einundneunzig Meilen die Länge, die Breite nur dreißig.
Wen der Cap’tain am Hauptmast stand und wollte befehlen:
‚All Mann! Wendet das Segel!‘ so ritt ein Reiter zu Pferde
Spornstreichs ab, und blies auf einer Trompete, das Mundstück
War von Silber, und ritt, was er reiten konnte. Es währte
Vierzehn Tage jedoch, eh’ er wieder kam an den Bugspriet.
Was seitdem ich nicht wieder gehabt, war, daß wir am Morgen
Eben gemolkene Milch stets tranken, noch warm von dem Euter.
Denn auf dem Mastkorb war eine Weide, wir hielten uns Vieh d’rauf.“
„Bootsmann,“ sagt’ ich zu ihm, „auf solchem gewaltigen Schiffe
Waren die Masten wohl hoch?“ „Das will ich meinen!“ so sagt’ er,
„Stiegst Du als Junge hinauf, so war, eh’ Du wieder herabkamst,
Grau Dir geworden das Haar.“
                              „Potz tausend,“ erwidert’ ich, „Bootsmann,
Seid Ihr wohl denn selber einmal dort oben gewesen?“
„Dummer Junge,“ so sprach er mit Stolz, „zehn Mal wohl des Tages!“
Und wir sahen uns an und lachten, und wurden nicht müde;
Ueber uns strahlte das Kreuz und die funkelnden Sterne des Südens!
Ehrlicher Claus, Dein denk’ ich mit Lachen noch heut’ und bezeug’ es:
Keiner verstand so zu lügen wie Du von Bremen bis Danzig.




Das Siegesdenkmal zu Berlin.

Berlin, die jetzige Kaiserstadt, hat in dem letzten Decennium gar mächtig an Ausdehnung gewonnen. Neue Straßen sind entstanden, Prachtpaläste erbaut, und die vermehrte Anzahl von Eisenbahnen führt täglich viele Tausende von Fremden herbei. Trotzdem aber ist es erst der Zukunft vorbehalten, Berlin in architektonischer Beziehung zu einer Metropole werden zu lassen, die mit London, New-York oder Paris einen Vergleich nicht zu scheuen braucht. Bis auf den heutigen Tag ist unstreitig der schönste Theil Berlins jene Strecke vom königlichen Schloß bis zum Brandenburger Thor; schon in nächster Zeit jedoch wird die Verlängerung derselben einen noch prächtigeren, imposanteren Anblick dem Beschauenden gewähren: wir meinen den vor dem Brandenburger Thore gelegenen Königsplatz mit seiner Umgebung, auf welchem ein Siegesdenkmal zum Andenken an die ruhmreichen Thaten des deutschen Volkes, ein Erinnerungszeichen für die kommenden Geschlechter zu errichten man jetzt im Begriff ist.

Das Modell zu diesem Denkmal ist bis in die kleinsten Einzelheiten bereits ausgeführt, die Parkanlagen werden schon jetzt

[49]

Die zukünftige Siegessäule in Berlin.
Nach einer der Gartenlaube mitgetheilten Architekturskizze von L.

[50] in Angriff genommen und die Prachtbauten rings um den Platz sind theils vollendet, theils liegen sie in Plänen vor, so daß es nicht uninteressant sein dürfte, uns den Anblick des schönsten Platzes der Hauptstadt so zu vergegenwärtigen, wie ihn in zwei, höchstens drei Jahren die Wirklichkeit bieten wird; es wird der Mühe lohnen, ihn schon heute in seiner künftigen Vollendung zu betrachten.

Mitten auf dem weitausgedehnten, durch eine breite Allee mit dem Brandenburger Thore verbundenen Platze, umgeben von den herrlichsten Bosquets, Springbrunnen und Felsengrotten, hinüberblickend zu den hohen, reichbelaubten Wipfeln des Thiergartens, ragt das hundertfünfzig Fuß hohe Siegesdenkmal in die Lüfte, dreimal so hoch als das Brandenburger Thor. Granitstufen führen zu dem mächtigen Sockel, dessen bronzene, reichvergoldete Reliefs Scenen aus den siegreichen Schlachten darstellen und die Gestalten jener Feldherren verewigen, welche sich unsterblichen Ruhm erworben. Nicht aber sollen diese Schlachtenbilder, wie es eigentlich nach dem Jahre 1866 projectirt war, dem Kriege mit Oesterreich, sondern dem mit Dänemark und Frankreich geführten entlehnt werden. Wohl jeder Deutsche begrüßt diese Aenderung mit Freuden: muß sie ja dem deutschen Bruder in Oesterreich, wenn er einst ganz zu uns steht, ein bitteres Gefühl ersparen!

Eine Treppe führt durch den mächtigen Sockel hinauf zur Siegeshalle. Dieselbe besteht aus braunem, geschliffenem Granit; Säulen aus demselben Steine, deren Bronzecapitäle vergoldet sind, tragen das Dach mit seinen goldblinkenden Löwenköpfen, die sich in gleicher Höhe mit der Siegesgöttin des Brandenburger Thores befinden. Ein vergoldetes Gitter verbindet den Fuß der Säulen, hinter denen, an den granitenen Wänden der Halle, die Namen der Sieger und der Schlachten, die Bilder der ruhmreichen Thaten eingemeißelt sind. Von dieser Siegeshalle aus strebt die eigentliche in drei Etagen gegliederte Siegessäule in die Lüfte, aus ihren Nischen leuchten zweiundzwanzig eroberte bronzene und jetzt vergoldete Kanonenläufe hervor; ein aus preußischen Adlern geformtes Capitäl bildet den Abschluß, der durch eine mächtige, weithin sichtbare und stark vergoldete Siegesgöttin gekrönt wird.

Stolz ragt die Säule in die Lüfte, ihre Pracht spiegelt sich wieder in all’ den herrlichen Bauten, welche sie in weitem Kreise umgeben. Dort liegt Kroll, das beliebteste, feinste Gartenlocal der Berliner, nicht weit ab das herrliche Generalstabsgebäude in seiner mächtigen Ausdehnung, zwischen beiden ein durch Parkanlagen verschönter Platz, auf dem einst die von Friedrich Wilhelm dem Dritten und von Alexander v. Humboldt oft besuchte Beer’sche Villa gestanden, hinter diesem wieder zieht sich die Eichenallee entlang, die den Namen „Generalstabsstraße“ erhalten wird. Die Bauten in dieser Straße werden, nach ihrer vollständigen Vollendung, sich mit den stolzesten Palästen der Pariser Boulevards, des New-Yorker Broadway, des Londoner Westends messen können; einer der reichsten und bedeutendsten Geldfürsten Berlins, der Bankier Magnus Hermann, der durch Benutzung seiner Capitalien zum Ankauf von Grundstücken und zur Ausführung von Prachtbauten nicht wenig zur Hebung von Berlins Architektur, zum segensreichen Gedeihen der arbeitenden Classen beiträgt, hat jene Grundstücke bis hinüber zum Kronprinzenufer erworben und bestrebt sich, die erwähnten, mit allem Luxus und Comfort der Neuzeit ausgestatteten Paläste mit einer der Kaiserstadt würdigen Pracht vollenden zu lassen.

Zwischen der Siegessäule aber und der Stadt wird sich auf dem Grundstück des Raczynsky’schen Palais jenes Gebäude erheben, welches auf dem schönsten Punkte der Kaiserstadt den schönsten, durch manches Lustrum unwandelbar treu angestrebten Gedanken aller Deutschen verwirklichen wird – das deutsche Parlament!

C. F. Liebetreu.




Ein verlorener Posten des Deutschthums.


Von C. M. Sauer.


Im Jahre 1854 fuhr ich auf der Eisenbahn von Verona nach Venedig. Als bescheidener Reisender benutzte ich die dritte Classe, die mir dabei den Vortheil gewährte, mit dem Volke in weit unmittelbarere Berührung zu kommen, als in einer vornehmeren Wagenclasse. Bei der Station Vicenza stiegen zwei Herren ein, ein Mann von etwa sechsunddreißig Jahren, im Costüm der dortigen Landgeistlichen, und ein etwas älterer, dem Aussehen nach ein behäbiger Landwirth. Die beiden neuen Passagiere fanden in dem bereits ziemlich besetzten Coupé Bekannte. Man begrüßte einander, und bald war das Gespräch, welches im Dialecte der dortigen Gegend geführt wurde, im besten Gange.

Deutsche Typen sind in der Lombardei und im Venetianischen gerade nichts Ungewöhnliches. Mein Gegenüber, der muthmaßliche Pächter, hatte jedoch ein so urdeutsches Gesicht, daß es mich wirklich überraschte. Hätte der Mann nicht Italienisch gesprochen, so würde ich ihn unbedingt für einen Landsmann gehalten haben. Noch mehr aber wurde ich überrascht, als die Beiden während einer Pause der allgemeinen Unterhaltung mit einander in einem Dialecte zu sprechen begannen, dessen rauhe, harte Accente durchaus nichts Italienisches hatten. Die Sprache klang fast wie Deutsch in der oberbairischen oder schlesischen Mundart; aber obwohl ich mit der gespanntesten Aufmerksamkeit hinhorchte, konnte ich doch nichts davon verstehen, wenn mir gleich hie und da ein Wort bekannt vorkam.

„Was sprechen die Herren für eine Sprache? wenn es erlaubt ist zu fragen,“ sagte ich auf Italienisch zu dem Landgeistlichen, der neben mir saß.

„Wir sprechen Cimbrisch, mein Herr,“ lautete die verbindliche Antwort. „Sie haben wohl noch nie die Sprache der tredici comuni vernommen, nicht wahr?“

Der dreizehn Gemeinden? Richtig, davon hatte ich gehört! Aber so weit ich mich erinnerte, waren es nur sieben deutsche Gemeinden, die sogenannten sette comuni, die hier mitten in dem venetianischen Flachlande eine vereinsamte deutsche Sprachinsel bildeten.

„Man sagt gewöhnlich die sette comuni,“ versetzte der freundliche Abbate auf meine weitere Frage, „aber eigentlich sind es dreizehn und genau genommen noch mehr, in denen noch Cimbrisch gesprochen wird. Da ist Schio, Ricoaro, Toara, Thiene, Arzignano, Asiago, Merostica, Agigliaro, Enego, Bassano, Cassuna und noch verschiedene andere. Interessirt sich der Herr vielleicht für unsere Sprache?“

„Als Deutscher interessire ich mich allerdings für diesen verlorenen Vorposten des Deutschen,“ erwiderte ich.

„Entschuldigen Sie, mein Herr,“ versetzte der Abbate, „unsere Sprache ist das alte Cimbrisch, aber nicht Deutsch. Wir sind Nachkommen der Cimbrer, vor denen einst das allmächtige Rom gezittert hat, aber mit den Tedeschi haben wir nichts gemein.“

Und nun folgte eine lange, gelehrte Abhandlung über die Cimbri, der man jedoch anmerkte, daß sie nicht auf den festesten Füßen stand. Die Tedeschi waren eben damals furchtbar verhaßt in Italien. Kein Wunder, daß der wackere Abbate nichts von der deutschen Verwandtschaft wissen wollte und sich deshalb um so eifriger auf seinen cimbrischen Ursprung steifte. Auf meine Frage, ob es Druckschriften in der „cimbrischen“ Sprache gebe, wußte er mir nichts weiter zu nennen als den „Kloane Catechismo vor de siben Kaméün.“

Daß es nichts ist mit den „Cimbern“, erfuhr ich später aus sprachwissenschaftlichen Arbeiten über den deutschen Dialect der „sieben Gemeinden“. Die Bewohner sind ganz einfach deutsche Einwanderer aus Oesterreich und Baiern, deren Ansiedelung sich, meines Wissens, urkundlich nur bis in’s elfte, zwölfte und dreizehnte Jahrhundert zurückverfolgen läßt. So stammt zum Beispiel die dortige Familie Verlati aus Baiern. Ihr Ahnherr, Johann Werl, kam 1014 mit Kaiser Heinrich nach Italien. So wird ferner ein Bertholdus Zuckele und ein Heinrich Dinter im Jahre 1363 in Pieve bei Schio urkundlich erwähnt. Ich besitze ein Verzeichniß deutscher, nur zum Theil italienisirter Namen von alten, in der Provinz Vicenza ansässigen Familien, das mehrere hundert Namen umfaßt. Für meinen speciellen Zweck, nämlich den Lesern der Gartenlaube ein Bild der unaufhaltsam fortschreitenden Verwelschung unserer Stammesgenossen im Venetianischen zu bieten, ist jedoch der oben erwähnte Kloane Catechismo weit geeigneter. Das nur 39 Seiten umfassende Büchlein, welches der Bischof Modesto Farina von Padua im Jahre 1842 neu auflegen ließ (die erste Auflage erschien 1813), weil er, wie er in [51] der Vorrede sagt, „sich bei seinen Besuchen in jener Gegend überzeugt habe, daß man in verschiedenen Dörfern (paesi) noch immer denselben Dialect spricht“, führt uns die Sprache in ihrer heutigen Gestalt so lebendig vor, daß man auch ohne linguistische Fachbildung den Proceß der Auflösung und Verschmelzung mit dem Italienischen leicht verfolgen kann. Es ist nur ein ganz kleines Glied des riesigen deutschen Volkskörpers, das uns hier abstirbt, aber darum kann uns sein Schicksal doch nicht gleichgültig sein. Werfen wir also einen Blick in den „kleinen Katechismus der sieben Gemeinden“.

Greift man den ersten besten Satz aus dem die Literatur unserer transalpinischen Stammesgenossen repräsentirenden Büchlein heraus, so ist es dem des Hochdeutschen kundigen Leser nahezu ebenso unverständlich wie etwa das Althochdeutsche oder das Gothische. Man betrachte zum Beispiel die folgende Stelle:

Brumme de natura un de Divinità von óander ist de natura un de Divinità von den andarn peden och.

Das klingt beinahe wie eine wildfremde Sprache, und doch ist es ganz einfach ein arg verbauertes Deutsch, durchspickt mit fremden Wörtern, dessen Orthographie dem Verfasser augenscheinlich nicht wenig Schwierigkeit gemacht hat. Er war gezwungen, die halb verschluckten Laute zu reproduciren, so gut es eben ging. Die festen grammatikalischen Formen sind abgestumpft und verwischt, die Artikel klingen blos an, die Vocalisation ist unrein, gerade wie bei der mundfaulen Sprache unserer gemeinen Leute. Die einzige Form, welche eine wirklich sprachliche Abweichung bietet, ist das erste Wort Brumme, das jedoch mit „brummen“ durchaus nichts gemein hat, sondern ganz einfach „warum“ heißt, nur mit dem Unterschiede, daß es, gerade wie das italienische perchè, sowohl „warum“ als „weil“ bedeutet. Wir haben hier gleich einen kleinen Beleg für die bereits so weit fortgeschrittene Verwelschung. Der Satz selbst lautet wie folgt:

„Weil die Natur und die Göttlichkeit von einem andern (d. h. von dem einen), ist die Natur und die Göttlichkeit der beiden andern auch.“

Der Einfluß des Italienischen zeigt sich ferner, abgesehen von den ganz in die Sprache hereingenommenen Fremdwörtern natura und divinità, besonders in der Stellung des Wortes ist, welches nicht mehr nach deutscher Art an das Ende des Satzes trat, sondern nach romanischer Weise voransteht. Bei dem Worte óander sind der Artikel und das folgende Wort zusammengezogen; dabei ist das Sprachgefühl schon so abgestumpft, daß der „Cimber“ „von einem andern“ sagt, anstatt „von dem einen“. Italienisch ist die Wendung nicht, denn hier heißt es dell’ uno (des einen) wie im Deutschen. Peden heißt „beiden“ und och heißt „auch“; die Formen de und un sind mundfaule Verstümmelungen von „die“ und „und“.

Wie tief das italienische Element in den deutschen Sprachkörper eingedrungen ist, beweisen nicht nur die massenhaften Fremdwörter, sondern auch, und mehr noch, die ganz italienischen Sprachwendungen, welche oft einen gar seltsamen Eindruck machen. Was die Fremdwörter betrifft, so bietet die Verwelschung des Deutsch der „Siben Kameün“ ein höchst anschauliches Bild davon, wie Mischsprachen entstehen. Man sieht hier denselben Proceß vor sich gehen, den z. B. einst das Englische durchgemacht hat. Bekanntlich sind im Englischen die Ausdrücke, welche abstracte Begriffe, Kunstproducte, Präparate, Einrichtungen des verfeinerten Lebens etc. bezeichnen, vorwiegend dem normannischen Sprachschatze entnommen, während der Kern der Sprache deutsch geblieben ist. Man vergleiche z. B. calf und veal, ox und beef, high und sublime, god und divinity, hut und cottage etc. Ganz dieselbe Erscheinung bietet das Deutsch der sieben Gemeinden. Hier sind alle abstracten Begriffe fast ausschließlich italienisch, zuweilen zwar mit einer deutschen Endung, aber öfter noch ohne dieselbe. So heißt das Wort „Geist“ stets spirito, „reiner Geist“ ist puaret (puro) spirito; Dreifaltigkeit, trinité; Menschwerdung, incarnaziun; Erlösung, redenziun; Stolz, superbia; Glaube, fede; Hoffnung, speranza; Nächstenliebe, carità; Versuchung, tentaciun; Sinn, minte (italienisch mente) etc.

Ich erwähnte oben, daß die vielen italienischen Sprachwendungen in dem Deutsch der „sieben Gemeinden“ oft einen ganz merkwürdigen Eindruck machen. An diesen grellen Italianismen merkt man, daß dem Volke das deutsche Sprachbewußtsein schon fast gänzlich abhanden gekommen ist. Ein paar Beispiele mögen als Belege dienen. Bekanntlich gebraucht die italienische Sprache das reflexive Zeitwort weit häufiger als die deutsche. Besonders wird das deutsche „man“ im Italienischen durchweg mit „sich“ und dem rückführenden Zeitwort umschrieben. So sagt z. B. der Italiener anstatt „was man nicht sieht“ reflexiv: „was sich nicht sieht“, che non si vede. Das Deutsch der sieben Gemeinden ahmt die Wendung getreulich nach: ba (was) sich net sighet. Der Satz: „Er ist Mensch geworden“ heißt italienisch: si è fatto uomo, wörtlich „hat sich Mensch gemacht“, und gerade so drückt sich das verwelschte Deutsch aus: hat sich gemacht man. Dabei sind, wie in allen romanischen Sprachen, die Begriffe „Mann“ und „Mensch“ in einen zusammengeflossen. Anstatt „heißt“ sagt man rufetsich ganz wie das italienische sichiama, französisch s’appelle. Auch die doppelte Verneinung ist gewissenhaft nachgeahmt, z. B. Ear hat net koan korp, „er hat keinen Körper nicht“. Doch ist hierbei nicht zu vergessen, daß die Verneinung bei „kein“ in der älteren deutschen Sprache noch gäng und gebe war.

Noch auffallender als in den bisherigen Beispielen, die ich auf's Gerathewohl unter hundert ähnlichen herausgegriffen habe, zeigt sich die Verwelschung in dem Gebrauche des besitzanzeigenden Fürworts mit dem Artikel. Anstatt „unser Herr“ sagt man dar unzar Herre (der unsere Herr), ital. il nostro signore; ebenso d’eür imagine, ihr Bild, ital. la loro imagine etc. Ebenso erscheint, wie im Italienischen, der Infinitiv äußerst häufig sowohl mit dem bestimmten als mit dem unbestimmten Artikel. So wird z. B. die Sünde als an volghen net Gotte me Herren, das heißt als „ein Gott dem Herrn nicht Folgen“ (ital. un non seguire etc.) definirt. Der Geiz ist an sainan zo viil vor z’guut von disar earden, d. h. ein zu viel für das Gut dieser Erde sein; der Stolz ist an bélensich högarn übar d’andarn, ein sich Erhöhenwollen über die Andern, wobei genau wie im Italienischen das Fürwort „sich“ an den Infinitiv angehängt ist (ital. un volersi inalzare sopra gli altri). Auch zeigt sich das enteilende Sprachbewußtsein recht deutlich darin, daß nahezu alle starken Zeitwörter zu schwachen geworden sind. So heißt „gethan“ getant; „gestanden“ gastannet etc.

Anstatt weiterer sprachwissenschaftlicher Vergleichungen dürften dem Leser vielleicht einige Strophen des Halghe Gasang von der Geburt Christi erwünscht sein, aus denen man ein weit unmittelbareres Bild der Sprache der siben Kameün gewinnen wird. Ich gebe dieselben mit der Uebersetzung.

Darnach viartáusong jahr Viertausend Jahre danach,
Az dar Adam hat gavélt, Als der Adam hat gefehlt (gesündigt),
Ist kemmet af disa belt Ist gekommen auf diese Welt
Dar ünzar libe Gott. Unser lieber Gott.
   
Köt von Engheln in Schafarn   Verkündet von Engeln den Schäfern,
Baz gang in Betlem gamacht Welche (wörtl. was) (einen) Gang
   nach Bethlehem gemacht,
Seü gheent in de mittenacht Sie gehen in der Mitternacht
Zo naighen[2] z’halghe Kint, Zu verehren das heilige Kind,
   
Gabüart in bintar-zait Geboren zur Winterszeit
In armakot un vrise; In Armuth und in Frost;
Z’öxle allóan, mit plise,[3] Das Oechslein allein, mit dem Felle,
Un z’esele haltenz barm. Und das Eselein halten es warm.

Soviel als Probe der Sprache unserer verwelschten Stammesgenossen. Ich habe dieselben einen verlorenen Posten des Deutschthums genannt, und sie sind in der That für uns verloren. Alle Schulen, die ganze Intelligenz jener Districte sind italienisch, und ehe noch die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zurückgelegt sein wird, dürfte auch die letzte Spur des Deutschthums dort verwelscht sein. An diesem sich mit Naturnothwendigkeit vollziehenden Processe ist nichts zu ändern, und das gewaltige Deutschland hat keinen Beruf, sich mit krankhaften Nationalitätsbestrebungen abzugeben. Wenn wir also die Deutschen der „sieben Gemeinden“ von uns scheiden sehen auf Nimmerwiederkehr, so haben wir dabei wenigstens die Beruhigung, daß sie in einem befreundeten Culturvolke aufgehen. Der größte humoristische Dichter des neuen Italiens, Arnaldo Fusinato, ist aus Schio, einer der Sette comuni, gebürtig. Wir sehen hieraus, daß unsere verwelschten Landsleute uns in der neuen Volksheimath wenigstens keine Schande machen.


  1. Es wird unsern Lesern interessant sein, den Dichter der beiden Dramen „Die Gräfin“ und „König Erich“, Heinrich Kruse, den bekannten Redacteur der Kölnischen Zeitung, hier von einer neuen Seite kennen zu lernen, die um so mehr Beachtung verdienen dürfte, als gerade der Humor in der Literatur der Gegenwart nur sehr spärlich vertreten ist.            Die Redaction.
  2. Das ital. inchinare, d. h. durch Verneigung begrüßen.
  3. Das ital. pelliccia, Pelz, oder wahrscheinlicher noch das deutsche „Vließ“.




[52]
Blätter und Blüthen.


Noch ein Düsseldorfer Meister. (Mit Abbildung und Portrait.) Es war Ende der Vierziger Jahre, als, mit den socialen Bestrebungen jener Zeit zusammenfallend, in Düsseldorf ein Bild entstand, das berufen war, dort und dann später überall in Deutschland das größte Aufsehen zu machen. Wir meinen die noch heute vielbewunderten „Schlesischen Weber“; der Künstler aber, aus dessen begabter Hand das Bild hervorgegangen, und der seinen Ruhm damit ebenso rasch als dauernd begründet hatte, hieß Karl Wilhelm Hübner, dessen wohlgetroffenes Portrait wir unseren Lesern in der heutigen Nummer der Gartenlaube bringen. Mit diesem Bilde hatte K. W. Hübner – damals ein noch junger, ehrgeiziger Künstler – nach manchem Ringen und mancher Anstrengung, die sich bis dahin nur im engern Kreise belohnt und anerkannt gesehen, ein neues Gebiet betreten, dem man späterhin die Bezeichnung „Tendenziöse Richtung“ gab, und das ihm von Anfang an zu reiche und glänzende Erfolge bot, als daß er nicht befriedigt, belohnt und hoffnungsfreudig hätte weiter streben müssen auf der neubetretenen Bahn.

Mit welchem Glücke ihm dies gelingen werde, davon hat sich der heute im siebenundfünfzigsten Lebensjahre stehende Künstler als Knabe wohl noch wenig träumen lassen. Denn als der Sohn eines einfachen, wenn auch sehr thätigen Bauhandwerkers war er eben wieder zum Baufach bestimmt und hätte vielleicht dem Willen des Vaters Folge leisten müssen, wenn ihm das Glück nicht in der Schule seiner Vaterstadt Königsberg in Ostpreußen einen Zeichenlehrer zugeführt hätte, der den von ihm als talentvoll erkannten Knaben auf’s Eifrigste angefeuert und es verstanden hätte, auf seine Fortschritte die Augen vieler mit der Kunst vertrauter Männer zu lenken.

Nach einem ersten Unterricht in der edeln Malerkunst durch den Prof. J. Wolf, dessen Andenken der ehemalige Schüler heute noch mit dankbarem Herzen ehrt, fanden sich denn auch durch die Unterstützung des menschenfreundlichen und für alles Schöne begeisterten Kaufmanns F. .W. Kahle in Königsberg die Mittel, den ehrgeizigen Jüngling auf die Akademie zu Düsseldorf zu schicken, wo er nach beendigten zweijährigen Vorstudien in das Atelier des für die Kunst zu früh geschiedenen Professors Karl Sohn trat, in welchem er bis zum Jahre 1841 verblieb. Nach dieser Frist arbeitete er selbstständig, immer vorwärts strebend, nach immer größerer Vervollkommnung ringend, bis er endlich mit dem schon erwähnten Bilde „die schlesischen Weber“ jenen großen Wurf that, der jedem Menschen Einmal im Leben glücken muß, wenn er es zu etwas Besonderem und Außerordentlichem bringen will.

Bei dem hohen Interesse, das man von nun an dem jungen Maler entgegentrug, lag für ihn die Gefahr nahe, auch minder gute Bilder auf Kosten der von ihm gefaßten hohen Meinung zu schaffen. Aber die Kunst stand ihm zu hoch; er vertiefte sich nur in ein desto fleißigeres Studium der schönen Menschennatur, die ihm stets das höchste Vorbild seiner Darstellungen war, und hat denn so als wirklicher Meister Bilder geliefert voll ergreifender Wirkung, voll dramatischer Größe, ausgezeichnet durch markige Farbe und treue Nachbildung des Lebens. Dabei ist Hübner einer der fleißigsten Künstler; denn sein Pinsel hat eine staunenswerthe Anzahl von Bildern geschaffen, unter denen sich viele von beträchtlichen Dimensionen befinden. Hier ist uns leider nur möglich, einzelne aus der großen Reihe anzuführen, namentlich: „Arme Weberfamilie, der Hülfe in der Noth kommt“; „der eingeschlafene Holzdieb“; „die Auspfändung“; „die Wucherer“; „Mittagsruhe der Landleute“; „ein Waisenpaar am Grabe der Eltern“; „der Wilddieb und sein Sohn“; „die Rettung aus der Feuersbrunst“ etc. Hübner’s Gemälde sind wohl in allen bedeutenden Galerien und Gemäldesammlungen vertreten. In den letzten Jahren gehen die Werke des Meisters, der Düsseldorf nicht mehr verlassen hat, wo er der Akademie als Professor angehört, fast alle nach Nordamerika; dort hat sein Name einen guten Klang, ja es befinden sich selbst in Südamerika mehrere seiner Schöpfungen.

Zu den jüngsten derselben gehört das Bild, das wir gleichzeitig mit dem Portrait des Malers unsern Lesern vorführen und das sich deutlich genug von selbst erklärt, ohne daß es unserer Unterschrift bedurft hätte: „Erster Besuch der Schwiegereltern bei den Zwillingen“. Der Schauplatz ist ein holländisches Schifferhaus, in welchem sichtbarer Wohlstand herrscht und in das nun auch der Storch seine Doppelgabe getragen hat. Vater und Mutter des jungen Mannes sind eben gekommen, sich die drallen Kleinen zum ersten Mal anzusehen, die zu Füßen der glücklichen Mutter, im schmucken Korbe schlummernd und friedfertig sich ihres jungen Daseins freuen. Die Schifferstube ist reich mit Schildereien geschmückt; auf den Regalen stehen die silberblanken Schüsseln und feinen Gläser, beides der Hausfrau Freude und des Mannes Stolz, der Manches davon aus fernen Landen mitgebracht hat. An der zierlichen Takelage des Schiffsmodells aber ist fürwahr die schwielige Hand nicht zu verkennen, die sonst in Sturm und Wetter, in Hitze und Kälte das Steuer führt und die Segel refft.




Zu „Eismeer und Tintenfaß“ Nachträgliches. Jener Artikel ist, wie wir zu unserem Leidwesen erfahren, von verschiedenen Seiten falsch aufgefaßt worden, indem man in demselben eine Abmahnung gegen fernere Unternehmungen von Nordpol-Expeditionen im Allgemeinen erkennen wollte. Das liegt der Redaction der Gartenlaube so fern, wie irgendwelche Opposition gegen vaterländische Unternehmungen. Wir haben einfach gethan, was wir schon so manchmal thun mußten: uns eines öffentlich in seiner Ehre Gekränkten angenommen. Das Verdienst der Herren Payer und Weyprecht würde sicherlich allgemein freudig anerkannt worden sein, wenn dasselbe nicht zugleich zur Zurücksetzung des Verdienstes Koldewey’s wäre mißbraucht worden; das ist um so mehr zu bedauern, als, wie wir aus sicherster Quelle vernehmen, Payer und Koldewey Freunde sind, die recht gut wissen, was sie an einander zu achten haben.

Die offene und männliche Aufklärung, die wir Einem der zunächst Betheiligten hierüber verdanken, bezieht sich auch auf den unleidlichsten Theil des Zwistes die Geschichte von den dreitausend Thalern. In der „General-Rechnungs-Ablage über A. Petermann’s Nordpol-Expeditionen“ finden wir darüber folgende Stelle: „Die freie Disposition über diese dreitausend Thaler hatte ich bei Abgabe der von mir beschafften beiden Schiffe (‚Germania‘ und ‚Hansa‘) an unsern deutschen Nordpol-Verein in einer Sitzung zu Bremen am 8. Mai 1871 mir ausdrücklich vorbehalten.“ Wenn nun ursprünglich auch dieser Vorbehalt die Absicht nicht ausschloß, für vielen Zeit- und dadurch Erwerbsverlust, den die Agitationen für diese Fahrten verursachten, entsprechende Entschädigung zu sichern, so hatte doch, noch ehe die Zeitschrift „Hansa“ die Notiz über diese Sache brachte, Dr. Petermann die ganze Summe zur Förderung der Nordpolforschungen bestimmt. Namentlich hat er sie Weyprecht und Payer angeboten, falls sie eine Ueberwinterung in Ostspitzbergen oder Nowaja Semlja wagen wollten. Da aber Beide an dem Recognoscirungs-Charakter ihrer Fahrt festhielten, so sagte Petermann diese Summe der größeren Expedition dieses Jahres zu, für welche der österreichische Graf Wilczek bereits dreißigtausend Gulden bestimmt hat.

Möge auch dieser Fahrt sich die öffentliche Theilnahme werkthätig zuwenden! Wie zur Wahrheit, wird auch zum Nordpol auf verschiedenen Wegen vorwärts gestrebt, und schließlich ist nur ein Weg der rechte. Sollen darum all die muthigen Männer, die den rechten Weg verfehlten, als Verdienstlose dastehen? Und sollte es nicht auch einige Berücksichtigung verdienen, ob Einer für eine Sache sein Leben, oder nur eine Ansicht einsetzt?




Unsere Feuilleton-Beilage. Einen schönen Beweis von dem regen Wohlthätigkeitssinn unserer Landsleute im Auslande und von der innigen Theilnahme, welche sie allen großen und kleinen Vorgängen ihrer Heimath widmen, haben wir erst wiederum vor dem Feste erhalten. Unter der Ueberschrift „Zum Lehrerelend“ haben unsere „Deutschen Blätter“ kürzlich einen kleinen Artikel gebracht, in dem auch der herzerschütternden Lage des hochbetagten und erblindeten Lehrers Karl Schützler in Auxkallen bei Insterburg gedacht war. Kaum hatte ein braver Deutscher in Moskau, Herr Hohorst aus Memel, diese Mittheilung gelesen, als er sofort unter seinen näheren Bekannten, namentlich in den Kreisen des dortigen Turnvereins und der Liedertafel, eine kleine Sammlung veranstaltete, die den Betrag von zweihundert Thalern ergab. Die liebreiche Gabe traf hier noch rechtzeitig bei der Redaction ein, um bereits am Weihnachtsabend als eine trost- und hülfreiche Freudenbotschaft auf dem Tische der kranken und hartbedrängten Lehrerfamilie liegen zu können. Es ist doch etwas Schönes um den einigen Familiengeist eines großen Volkes. In einem ostpreußischen Dorfe erliegt ein alter hülfloser Lehrer mit den Seinigen der grausamen Pflichtwidrigkeit schnöder Staats- und Gemeinde-Einrichtungen, und in dem fernen Rußland werden durch das deutsche Wort deutsche Herzen erweckt, daß sie in die Nacht des darbenden Landsmanns einen Strahl erwärmenden Lichtes senden!

Da wir hier der „Deutschen Blätter“ gedacht, glauben wir zugleich die Aufmerksamkeit unserer jetzt neu eingetretenen Abonnenten auf diese „Politisch-literarische Feuilleton-Beilage zur Gartenlaube lenken zu müssen. Die seit nunmehr sechs Jahren von Dr. Albert Fränkel redigirten und zum großen Theil auch von ihm geschriebenen „Deutschen Blätter“ haben sich die Aufgabe gestellt, eine selbstständige Ergänzung der „Gartenlaube“ zu sein, das heißt Das zu bieten, was die „Gartenlaube“, bei der längeren Zeit, welche der Druck jeder ihrer Nummern erfordert, nicht immer ganz frisch aus dem Laufe der Tagesereignisse zu bieten vermöchte: eine kritische Wochenübersicht aus dem gesammten Bereiche des Culturlebens, vor Allem des deutschen, in einer bunten und mannigfaltigen Reihe von kleinen und anregenden Artikeln.

Erfreuen sich die „Deutschen Blätter“ einer starken Verbreitung und eines nicht geringen Ansehens und Einflusses in weiten Kreisen des deutschen Lebens, so haben sie diesen Erfolg nicht allein ihrem reichen, vielseitigen und interessanten Material und nicht blos der frischen, volksthümlichen und doch scharf pointirten Art zu danken, mit der sie ihre feuilletonistisch gehaltenen Randglossen in neuer lebendiger und sorgfältig-eleganter Darstellung vorzuführen wissen; weithin anerkannt ist vielmehr auch der entschiedene Freisinn des Blattes, der warme und wachsame Gesinnungsernst, mit dem Dr. Fränkel, der auch den Lesern der Gartenlaube aus seinen trefflichen cultur- und literarhistorischen Beiträgen wohl bekannt ist, bisher fort und fort die Ehre und die Interessen des Vaterlandes vertreten und den Kampf für das Befreiungs-, Bildungs- und Humanitätswerk des Jahrhunderts gegen die reactionären Mächte der Finsterniß geführt hat. Sind daher die „Deutschen Blätter“ jenem beträchtlichen Theile unserer Leser, der sich gern in regelmäßiger Folge auf die wichtigsten Fragen, Erscheinungen und Vorgänge der Zeitströmung verweisen läßt, längst zu einer unentbehrlichen Lectüre geworden, so konnten wir diese Hinweisung nur in Bezug auf Diejenigen nicht für überflüssig halten, deren Beachtung die „Deutschen Blätter“ bis jetzt entgangen sind.




Ein vermißter Deutscher in Brasilien. Karl August Cichorius aus Grimma in Sachsen, Kaufmann, jetzt 41 Jahre alt, übersiedelte 1856 nach Joinville in der Colonie Donna-Francisca in Süd-Brasilien. Briefe von ihm datiren vom 3. September 1858 aus Campa-Boa-Vista bei Villa de Lape, vom 1. December 1859 aus Couritibans in der Provinz St. Catharina, vom 1. Juni 1860 aus Capao daz Pompes bei Freguazie „Palmero“; – die letzte Nachricht vom 11. December 1864 aus Estancia Sao Philippi im District Sao Gabriel, Provinz Sao Pedro do Sul in Brasilien. Ein nach letzterem Orte auf zwei verschiedenen Wegen gesandter Brief ist ohne Erledigung und ebenso ein Aufruf des norddeutschen Consuls in der dortigen Colonie-Zeitung und der deutschen Zeitung in Porto-Alegre vom Juli 1869 bis jetzt ohne Erfolg geblieben. Vielleicht ist’s einem unserer Leser möglich, über das Schicksal des Vermißten uns Kunde zu geben.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.