Die Gartenlaube (1874)/Heft 33

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1874
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 33.   1874.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Gesprengte Fesseln.
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.
Von E. Werner.


(Fortsetzung.)


Den duftig klaren Frühlingstagen folgte heiße Sommergluth. Der Golf und seine Umgebungen lagen Tag für Tag da in der ganzen sonnendurchleuchteten Schönheit, aber auch in der ganzen Gluth des Südens, nur die Seeluft bot noch einige Kühlung, und das Meer war deshalb auch das Ziel der meisten Ausflüge, die jetzt noch unternommen wurden.

Dieser wochenlangen Ruhe der Natur folgte endlich ein Ausbruch; ein Gewittersturm tobte in den Lüften und wühlte das Meer auf bis in seine fernsten Tiefen. Das Unwetter war so schnell heraufgezogen, so plötzlich losgebrochen, daß Niemand sich dessen versehen hatte, und jetzt wüthete es schon über eine Stunde mit unverminderter Gewalt.

Durch die schäumenden Wogen schoß ein Boot, das, augenscheinlich von dem Sturme überrascht, sich im Kampfe mit ihm befand. Eine Zeit lang war es in Gefahr gewesen, rettungslos erfaßt und auf die hohe See hinausgeschleudert zu werden, jetzt aber floh es mit vollen Segeln der Küste zu und nach einigen mißlungenen Versuchen glückte es ihm auch wirklich, zu landen.

„Das heißt mit dem Sturme um die Wette jagen,“ rief Hugo Almbach, indem er, über und über naß von Regen und Spritzfluthen, als der Erste an’s Land sprang. „Für diesmal sind wir der nassen Umarmung der Meeresgöttin noch glücklich entgangen. Nahe genug waren wir ihr.“

„Es ist doch ein Glück, wenn man so einen echten Seemann bei sich hat,“ meinte Marchese Tortoni, der in nicht trockenerem Zustande ihm folgte. „Das war ein Meisterstück, Signor Capitano, uns bei diesem Unwetter glücklich an’s Land zu bringen. Ohne Sie waren wir verloren.“

Reinhold hob die halb ohnmächtige Signora Biancona aus dem Boote, die sich zitternd und todtenbleich an ihn klammerte. „Mein Gott, beruhige Dich doch, Beatrice! Die Gefahr ist ja vorüber,“ sagte er ungeduldig, während der letzte Insasse der Barke, der englische Herr, der damals Hugo’s Incognito-Unterhaltung mit dem Maestro Gianelli beigewohnt hatte, gleichfalls den festen Boden gewann.

Inzwischen schüttete Jonas seine ganze Verachtung auf die beiden Schiffer aus, denen ursprünglich die Führung anvertraut gewesen war und die zum Glück die ihnen in deutscher Sprache gespendeten Lobsprüche nicht verstanden.

„Das wollen Seeleute sein – ein Schiff wollen sie regieren, und wenn ein elendes Gewitter heraufzieht, so verlieren sie den Kopf und schreien zu ihren Heiligen. Hätte mein Capitain Euch nicht das Steuer aus den Händen gerissen und ich die Segel auf mich genommen, so lägen wir jetzt drunten bei den Haifischen. Ich wollte, Ihr machtet einmal einen Sturm durch, wie er unsere ‚Ellida‘ packte, ehe wir hier einliefen, da würdet Ihr merken, was das Bischen Wehen auf Eurem Golfe zu bedeuten hat.“

Das „Bischen Wehen“ wäre von jedem Anderen als dem Matrosen für einen ganz erträglichen Sturm gehalten worden. Jedenfalls hatte es die Gesellschaft in Lebensgefahr gebracht, und sie dankte ihre Rettung nur der energischen Führung des Capitains, der soeben die Dankesäußerungen des Marchese und des Engländers abwehrte.

„Ich bitte Sie, Signori! Mir ist ja eine solche Fahrt nichts Neues und Ungewohntes. Ich bedauerte nur Sie wegen der unangenehmen Situation, in die Sie die Laune einer schönen Frau brachte.“

„Ja wohl, die Frauenzimmer sind an Allem schuld,“ brummte Jonas wüthend, während Hugo halblaut fortfuhr:

„Ich wußte bereits vor zwei Stunden, was uns Himmel und Meer trotz ihres heiteren Aussehens prophezeiten. Sie wissen ja, wie ernstlich ich die Fahrt widerrieth. Signora Biancona aber bestand entschieden darauf und geruhte, den ‚furchtsamen Seemann‘ zu verspotten, der sich nicht einmal ‚auf sein eigenes Element wagte‘. Ich glaube nun allerdings, daß mein Muth etwas weniger zweifelhaft geworden ist in ihren Augen, der ihrige dagegen –“ er brach plötzlich ab und that einige Schritte hinüber nach der andern Seite. „Darf ich mich nach Ihrem Befinden erkundigen, Signora?“

Beatrice zitterte noch immer, aber der Anblick ihres Widersachers, der wie die vollendete Artigkeit und die vollendete Malice vor ihr stand, gab ihr doch einigermaßen die Besinnung zurück. Für sie war es genügend gewesen, daß er sich gegen die Fahrt erklärte, um mit dem vollsten Eigensinne darauf zu bestehen und die übrigen Herren mit ihren Spottreden taub gegen jede Warnung zu machen. Die Todesangst der letzten Stunde hatte ihr freilich eine harte Lehre gegeben, und noch härter war es, daß sie gerade dem Capitain ihre Rettung danken mußte, der heute zum Helden geworden war, während sie sich in der Gefahr nichts weniger als heldenhaft benommen hatte.

„Ich danke – mir ist besser,“ antwortete sie, noch kämpfend zwischen Zorn und Verlegenheit.

„Ich bin glücklich, das zu vernehmen,“ versicherte Hugo, [524] indem er ihr mitten im Regen eine tadellose Salonverbeugung machte. „Und jetzt werde ich mich an die Spitze des Entdeckungszuges stellen, der in’s Innere geht. Voran, Jonas, und recognoscire das Terrain! Reinhold, Du bist ja kein Fremder hier in der Gegend; weißt Du nicht, wo wir eigentlich sind?“

„Nein,“ versetzte Reinhold nach einem kurzen und raschen Umblick.

„Und Sie, Marchese Tortoni?“

Cesario zuckte die Achseln. „Ich bedaure, Ihnen gleichfalls keine Auskunft geben zu können. Ich komme wenig über die nähere Umgebung von Mirando hinaus, und überdies ist bei solchem Wetter eine Orientirung fast unmöglich.“

Das Letztere war allerdings wahr, Erde, Himmel und Meer schienen in wogendem Nebel ineinanderzufließen. Man sah kaum einige Hundert Schritte weit in die aufgeregte See und nicht viel weiter in das Land hinein. Kein Berg, keine Ortschaft war zu erblicken; eine dichte graue Dunsthülle hielt Alles gefangen, dennoch schien der Capitain den Einwand nicht gelten zu lassen.

„Unpraktische Künstlernaturen!“ murmelte er ärgerlich. „Da sitzen sie monatelang in ihrem Mirando und gerathen Tag für Tag in Ekstase über die unvergleichliche Schönheit ihres Golfs, aber die Küsten kennen sie nicht, und wenn sie einmal eine Meile abseits sind von der großen Touristenstraße, wissen sie sich nicht zurecht zu finden. Lord Elton, wollen Sie die Güte haben an meine Seite zu kommen? Ich glaube, wir Beide eignen uns noch am besten zu Pfadfindern.“

Lord Elton, der schon bei der ersten Begegnung außerordentliches Wohlgefallen an dem übermüthigen Wesen Hugo’s gefunden, und dem dieser heute vollends imponirt hatte, kam augenblicklich der Aufforderung nach. Mit derselben unverwüstlichen Gelassenheit, die er vorhin in der Gefahr gezeigt, stellte er sich jetzt an die Seite des Seemanns, und man schritt vorwärts, während die anderen beiden Herren mit Beatrice folgten.

„Mir scheint, der Zufall hat uns an eine ziemlich unwirthliche Küste geworfen,“ spottete Hugo, auf dessen Laune das Wetter nicht den geringsten Einfluß übte. „Meiner Berechnung nach müssen wir drei bis vier Stunden von S. entfernt sein, und da zur Linken schimmern durch den Nebel Berge mit sehr verdächtigen Schluchten. Gennaro’s Bande soll ja hier im Gebirge ihr Wesen treiben. Was meinen Sie, Mylord, wenn wir heute noch etwas von der echten Schauerromantik Italiens zu kosten bekämen?“

Der Lord wendete sich mit plötzlicher Lebhaftigkeit den bezeichneten Schluchten zu, die in dem wogenden Nebel allerdings unheimlich genug aussahen, und musterte sie aufmerksam.

Indeed, das wäre sehr interessant.“

„Vorausgesetzt, daß sich eine hübsche Brigantesse dabei befindet, sonst nicht,“ ergänzte Hugo.

„Gennaro’s Bande führt keine Frauen mit sich; ich habe mich genau darüber unterrichtet,“ sagte Jener wichtig.

„Schade! Die Bande scheint noch sehr uncivilisirt zu sein, da sie den billigen Wünschen ihrer geehrten Gäste so wenig Rechnung trägt. Uebrigens wäre das etwas für meinen Jonas. Ein Leben ohne Frauenzimmer! Wenn er das hört, wird er zum Ueberläufer und schwört zu Gennaro’s Fahne; ich werde ihn in Obhut nehmen müssen.“

„So scherzen Sie doch nicht so leichtsinnig!“ mischte sich der Marchese ein. „Bedenken Sie, Signor, wir haben eine Dame bei uns und sind sämmtlich unbewaffnet.“

„Bis auf Mylord, der den sechsläufigen Revolver immer als Taschenfeuerzeug bei sich trägt,“ sagte Hugo lachend. „Wir Anderen hielten es allerdings nicht für nöthig, in Waffen zu starren, als wir die harmlose Spazierfahrt unternahmen. Uebrigens haben wir heute einen wirksameren Schutz, als zwei Dutzend Carabinieri ihn uns gewähren könnten. In dem Regen wagt sich kein Brigant heraus.“

„Meinen Sie?“ fragte der Lord im Tone unverkennbarer Enttäuschung.

„Gewiß, Mylord! Und ich meinestheils halte es auch für besser, wenn die Vergnügungspartie in die Berge für diesmal unterbleibt. Ist es übrigens nicht wunderbar, daß wir Beide, die einzigen Nichtkünstler in der Gesellschaft, zugleich die Einzigen sind, die Verständniß für die Romantik der Situation haben? Mein Bruder,“ hier senkte Hugo die Stimme, „geht wie ein gereizter Löwe neben Signora Biancona her – er ist jetzt überhaupt immer in der Löwenstimmung, und man thut am besten, ihm so wenig wie möglich nahe zu kommen – Signora hat die tragische Verzweiflung auf der Bühne nie so vollendet zum Ausdruck gebracht, wie in diesen Minuten, und Marchese Cesario starrt elegisch in den Nebel, anstatt unseren höchst effectvollen Regenzug zu bewundern. Ah, da schimmert ja endlich etwas wie ein Gebäude hervor, und da kommt auch Jonas zurück von seiner Recognoscirung. Nun, was giebt es?“

„Eine Locanda!“ berichtete Jonas, der vorausgegangen war und jetzt eilig zurückkehrte. „Nun sind wir geborgen,“ setzte er triumphirend hinzu.

„Der Himmel hat Erbarmen,“ rief Hugo pathetisch, indem er sich umwandte, um den Uebrigen die willkommene Mittheilung zu machen. Die Aussicht auf ein nahes Obdach belebte in der That den schon sinkenden Muth der Gesellschaft; man verdoppelte die Schritte und befand sich bald darauf in der geschützten Vorhalle des bezeichneten Hauses.

„Der rauhen Seemannshülle ist heute ein beneidenswerthes Glück zu Theil geworden,“ sagte der Capitain, indem er in der verbindlichsten Art von der Welt seinen Regenmantel von den Schultern Signora Biancona’s nahm. „Ich wußte, daß wir sie heute noch brauchen würden, deshalb erlaubte ich mir, sie mitzunehmen. Der Mantel hat Sie doch vollkommen geschützt, Signora?“

Beatrice preßte hastig die Lippen zusammen, als sie mit einem erzwungenen Danke die schützende Hülle zurückgab. Es war ihr schwer genug geworden, sie gerade von der Hand des Capitains anzunehmen, indessen war er der Einzige, der sich im Besitze einer solchen befand, und ihr blieb keine andere Wahl, wollte sie nicht völlig durchnäßt werden. Aber wie alle leidenschaftlichen Naturen war sie dem Spott nicht gewachsen, und diese verhaßte Ritterlichkeit ihres Gegners erlaubte ihr nie, ihm entschieden feindselig gegenüber zu treten, und hielt sie unerbittlich fest in den Grenzen gesellschaftlichen Umgangs.

Die Locanda, die abseits von der großen Touristenstraße ziemlich einsam am Strande lag, gehörte nicht zu denen, welche von vornehmeren Gästen frequentirt wurden, und ließ an Reinlichkeit und Bequemlichkeit sehr viel zu wünschen übrig, aber das Wetter und ihr völlig durchweichter Zustand erlaubten den Gästen nicht, wählerisch zu sein. Gab es doch hier einige Räumlichkeiten, die wenigstens den Namen von Gastzimmern führten und auch wirklich bisweilen jungen Malern und umherstreifenden Touristen als Nachtquartier dienten. Beatrice entsetzte sich beim Eintritt, und der Marchese blickte mit stummer Resignation auf diese „Zimmer“, die denen seines Mirando allerdings sehr unähnlich waren, der Lord dagegen fand sich besser in das Unvermeidliche, und was die beiden Brüder betraf, so schien Reinhold gegen die Art der Aufnahme sehr gleichgültig und Hugo sehr amüsirt dadurch zu sein. Bei dieser Gelegenheit erfuhr man auch, daß man in der That volle drei Stunden von S. entfernt war, und daß bereits eine Reisegesellschaft hier Zuflucht vor dem Unwetter gesucht hatte. Sie war aber glücklich noch beim Ausbruch desselben und zwar zu Wagen angekommen, hatte also nicht so vom Regen gelitten, wie die eben anlangenden Herrschaften, denen man bereitwillig mit Allem aushalf, was gerade zur Hand war.

Eine Viertelstunde später trat Hugo in das allgemeine Gast- und Empfangszimmer und schob sanftmüthig mit dem Fuße einen schwarzen borstigen Gegenstand bei Seite, der sich in bewundernswerther Ungenirtheit gerade vor die Thür gelagert hatte und jetzt ärgerlich grunzend den Platz räumte.

„Diese lieben Thierchen scheinen hier als salonfähig betrachtet zu werden; bei uns sind sie das höchstens in gebratenem Zustande,“ sagte er ruhig. „Ich wollte sehen, wo Du bleibst, Reinhold. Aber mein Gott, Du bist ja noch immer in dem nassen Anzuge, Warum hast Du Dich nicht umgekleidet?“

Reinhold, der am Fenster stand und auf das Meer hinausblickte, wandte sich um und warf einen zerstreuten Blick auf seinen Bruder, der bereits, wie die übrigen Herren, von den in aller Eile herbeigeschafften Sonntagskleidern des Padrone und seiner Söhne Gebrauch gemacht hatte.

[525] „Umkleiden? Ja so, das hatte ich vergessen.“

„So thue es jetzt!“ drängte Hugo. „Willst Du denn Deine Gesundheit durchaus zu Grunde richten?“

Reinhold wehrte ihn ungeduldig ab. „Laß doch! Welch ein Aufheben um einen Gewitterregen!“

„Nun, der Gewitterregen hätte um ein Haar verhängnißvoll für uns werden können,“ meinte der Capitain. „Uebrigens kann ich als Pilot meiner Schiffsbesatzung das Zeugniß geben, daß sie sich tapfer gehalten hat, mit alleiniger Ausnahme Donna Beatricens. Sie machte von dem Rechte einer Dame, uns erst in Gefahr zu bringen und sie uns dann noch zehnfach zu erschweren, einen etwas ausgedehnten Gebrauch.“

„Dafür hast Du ja auch den Triumph, daß sie Dir ihr Leben verdankt, wie wir Alle,“ warf Reinhold gleichgültig hin.

Hugo fixirte den Bruder scharf. „Was Du für Deine Person sehr wenig zu gelten scheint.“

„Mir – warum?“

Er wartete die Antwort nicht ab, sondern wandte sich wieder dem Fenster zu, aber Hugo war bereits an seiner Seite und legte den Arm um seine Schulter.

„Was hast Du, Reinhold?“ fragte er wieder mit dem Tone jener alten Zärtlichkeit, mit der er einst den jüngeren Bruder umfaßte, den er im Hause der Verwandten unterdrückt und gequält wußte, und die jetzt so selten unter ihnen geworden war. Reinhold schwieg.

„Ich hoffte, Du würdest hier endlich die Ruhe finden, die Du so leidenschaftlich suchtest,“ fuhr der Capitain ernster fort, „statt dessen stürmst Du ärger als je seit den letzten acht Tagen. Wir sind kaum mehr als dem Namen nach die Gäste des Marchese. Du reißest ihn und uns alle mit hinein in diesen ewigen Wechsel von Zerstreuungen und Ausflügen. Das geht vom Schiffe in den Wagen, und vom Wagen auf das Maulthier, als ob Dir jede Minute des Ausruhens oder Alleinseins zur Qual würde, und sind wir erst mitten in dem Wirbel, so bist Du oft genug der steinerne Gast in unserer Mitte. Was ist vorgegangen?“

Reinhold wand sich, nicht heftig aber entschieden, aus seinen Armen.

„Das – kann ich Dir nicht sagen.“

„Reinhold –“

„Laß mich – ich bitte Dich!“

Der Capitain trat zurück; er sah, daß die Abweisung nicht einer Laune entsprang; der matte gepreßte Ton verrieth zu sehr den verhaltenen Schmerz, aber er wußte bereits, daß von seinem Bruder in solcher Stimmung nichts zu erreichen war.

„Das Gewitter scheint vorüber zu sein,“ sagte er nach einer kurzen Pause, „an die Rückkehr aber wird wohl vorläufig noch nicht zu denken sein. Auf das erregte Meer können wir uns heute unter keinen Umständen wieder wagen, und der Landweg wird auch arg genug zugerichtet sein. Ich habe den Herren versprochen, ihnen einigermaßen Auskunft darüber zu verschaffen, ob die Rückkehr heute überhaupt noch möglich ist, und ob wir nicht etwa einen zweiten Wolkenbruch zu gewärtigen haben. Die Veranda da oben scheint eine ziemlich freie Aussicht zu bieten; ich werde nachsehen.“

Er verließ das Gemach und stieg die Treppe hinauf. Die Veranda lag an der anderen Seite des Hauses; es war ein großer steinerner Anbau, der wohl noch aus einer früheren Glanzperiode des Gebäudes stammte, jetzt, wie dieses selbst, verwahrlost, halb zerfallen, aber unendlich malerisch in diesem Verfall und mit den wuchernden Weinranken, die sich um Pfeiler und Brüstungen schlangen. Eine lange offene Gallerie führte hinüber, und Hugo war eben im Begriff, sie zu durchschreiten, als er aufgehalten wurde. Dicht vor ihm flatterte eine Taube auf, und ihr nach jagte ein Knabe in vornehm städtischem Anzuge. Das zahme, an Menschen gewöhnte Thier dachte nicht an ernstliche Flucht; es flatterte, wie neckend, am Boden hin, und erst als die kleinen Arme sich ausstreckten, um es zu haschen, schwang es sich leicht empor bis auf das Dach des Hauses, während der ungestüme kleine Verfolger noch im vollen Laufe vorwärts stürzte und dabei gegen den Capitain anrannte.

„Sieh da, Signorino, das hätte ein Zusammenstoß werden können,“ sagte Hugo, indem er den Kleinen auffing, dieser aber, noch im vollen Eifer der Jagdlust, streckte beide Hände in die Höhe und rief lebhaft in deutscher Sprache:

„Ich möchte den Vogel so gern haben. Kannst Du ihn mir nicht fangen?“

„Nein, mein kleiner Jäger, das kann ich nicht, ich müßte mir denn Flügel anbinden,“ scherzte Hugo, während er, überrascht, hier seine Muttersprache zu vernehmen, den Knaben genauer ansah. Er stutzte, sah ihm einige Secunden lang tief in die Augen, und hob ihn dann plötzlich empor, um ihn mit aufflammender Zärtlichkeit in seine Arme zu schließen.

Der Kleine ließ sich die Liebkosung ruhig, wenn auch etwas verwundert, gefallen. „Du sprichst ja grade wie die Mama und Onkel Erlau,“ sagte er zutraulich. „Die Anderen verstehe ich alle nicht, und zu Haus verstand ich doch Jeden.“

„Ist die Mama auch hier?“ forschte Hugo hastig.

Das Kind nickte und zeigte nach der anderen Seite hinüber; der Capitain setzte es rasch auf den Boden und trat mit ihm in die Veranda, wo Ella ihnen bereits entgegenkam, die in sprachlosem Erstaunen stehen blieb, als sie ihren Knaben an der Hand seines Oheims erblickte.

„Müssen wir hier zusammentreffen!“ rief dieser, sie lebhaft begrüßend. „Ich glaubte kaum, daß Sie die Villa Fiorina überhaupt verließen, und noch dazu in solchem Wetter.“

„Es war auch der erste Ausflug, den wir wagten,“ erwiderte die junge Frau. „Das fortgesetzt günstige Befinden des Onkels verleitete uns, eine Fahrt nach den Tempelruinen oben im Gebirge zu unternehmen, aber auf dem Rückwege überfiel uns das Gewitter, und da die Pferde scheu zu werden drohten, so waren wir froh, hier Schutz und Aufnahme zu finden.“

„Wir sind in dem gleichen Falle,“ berichtete Hugo, „Nur ging es uns schlimmer, denn wir kamen zur See an.“

Ueber Ella’s Antlitz flog ein momentanes Erbleichen.

„Wie? Sie sind also in Begleitung Ihres Bruders? Ich ahnte es, als ich Sie erblickte.“

Hugo machte eine bejahende Bewegung. „Sie sagten mir, daß Sie eine Begegnung um jeden Preis vermeiden wollten –“ begann er von Neuem.

„Ich wollte es, ja!“ unterbrach sie ihn fest. „Es ist aber unmöglich gewesen. Wir haben uns bereits gesehen.“

„Dachte ich’s doch!“ murmelte der Capitain. „Daher also seine unbegreifliche Stimmung.“

„Warum haben Sie mir nicht gesagt, daß Sie die Gäste des Herrn von Mirando sind?“ fragte die junge Frau vorwurfsvoll. „Ich glaubte Sie in S. und kam ahnungslos, die Villa zu besichtigen. Erst als es zu spät war, erfuhr ich, wer in unserer nächsten Nachbarschaft weilte.“

Hugo streifte mit einem raschen Blick ihr Antlitz, als wolle er sich ihrer Fassung versichern.

„Sie haben Reinhold gesprochen?“ sagte er in äußerster Spannung, ihren Vorwurf kaum beachtend. „Nun?“

„Nun?“ wiederholte sie mit beinahe herbem Ausdruck. „Fürchten Sie nichts! Signor Rinaldo weiß jetzt, daß er mir und meinem Sohne fern zu bleiben hat. Er wird uns nicht kennen bei einem etwaigen Zusammentreffen, so wenig wie ich ihn kennen werde.“

„Für heute wäre das allerdings unmöglich,“ entgegnete Hugo ernst, „denn er ist nicht allein. Ich fürchte, Ella, auch das wird Ihnen nicht erspart bleiben.“

„Sie meinen eine Begegnung mit Signora Biancona?“ Ella’s Lippen bebten doch, als sie den Namen aussprach, so sehr sie sich auch zwang, ruhig zu scheinen. „Nun denn, wenn es nicht zu vermeiden ist, so werde ich es zu ertragen wissen.“

Sie waren während des Gespräches an die Brüstung der Veranda getreten. Das Gewitter war in der That vorüber und die Schleußen des Himmels schienen sich endlich erschöpft zu haben, aber noch hing es feucht und regenschwer in der Luft. Die nassen Weinranken, vom Sturm zerwühlt und zerrissen, flatterten noch immer auf und nieder, und von dem Heiligenbilde in der nur schlecht geschützten Mauerblende rannen die Tropfen herab. Unten brauste das noch immer wild empörte Meer; der sonst so ruhige azurblaue Spiegel war nur ein wüstes Chaos von schwarzgrauen Fluthen und weißschäumenden Wellenhäuptern, die sich zischend und tosend am Strande brachen. Aber der Nebel, der bisher die ganze Umgebung in einen undurchdringlichen Schleier hüllte, begann endlich zu weichen, schon traten einige Ortschaften deutlich daraus hervor, nur um die [526] Höhenzüge wogte und qualmte es noch, während im Westen bereits ein hellerer Lichtschein mit dem niedergehenden Gewölk kämpfte.

„Woher kannten Sie denn meinen kleinen Reinhold?“ fragte Ella plötzlich in ganz verändertem Tone. „Sie sahen ihn ja nicht bei Ihrem letzten Besuche, und als Sie H. verließen, hatte er kaum das erste Lebensjahr zurückgelegt.“

Hugo beugte sich zu dem Kinde nieder und hob dessen Köpfchen empor. „Woran ich ihn erkannte?“ versetzte er lächend. „An seinen Augen. Er hat ja die Ihrigen, Ella, und die verkennt man nicht so leicht, auch wenn sie einmal aus einem anderen Antlitz blicken. Ich finde sie heraus unter Hunderten.“

Sein Ton hatte eine beinahe leidenschaftliche Wärme. Die junge Frau wich leise ein wenig seitwärts.

„Seit wann machen Sie mir Complimente, Hugo?“

„Sind Ihnen Complimente jetzt so ungewohnt?“

„In Ihrem Munde allerdings.“

„Ja freilich, ich darf bei Ihnen nicht wagen, was jedem Anderen erlaubt ist,“ sagte der Capitain mit einem Anfluge von Bitterkeit. „Der Versuch dazu hat mir schon einmal den ‚Abenteurer‘ eingetragen.“

„Es scheint, Sie können das Wort noch immer nicht vergessen,“ bemerkte Ella mit einem halben Lächeln.

Er warf mit einer trotzigen Bewegung den Kopf zurück. „Nein, ich kann es auch nicht, denn es hat mir wehe gethan, und darum verwinde ich es nicht, bis auf diesen Augenblick.“

„Wehe gethan?“ wiederholte Ella. „Kann Ihnen denn überhaupt etwas wehe thun, Hugo?“

„Das heißt mit anderen Worten: ‚Haben Sie denn überhaupt ein Herz, Hugo?‘ O nein, ich besitze ganz und gar nichts von diesem Artikel, ich bin zu kurz gekommen bei der Austheilung desselben, das müssen Sie ja nachgerade herausgefunden haben.“

„So meinte ich es nicht,“ lenkte die junge Frau ein. „Ich traue Ihnen gewiß die volle Wärme der Empfindung zu.“

„Aber keinen Ernst und keine Tiefe?“

„Nein.“

Der Capitain sah sie einige Secunden lang schweigend an, endlich sagte er leise:

„War es nöthig, Ella, mir eine so herbe Lehre zu geben, weil ich neulich einen Handkuß wagte, der Ihnen vielleicht mißfallen hat? Ich weiß, was dieses ‚Nein‘ bedeutet. Sie sehen, ich verstehe auch Winke und werde den heutigen nützen. Fürchten Sie nichts!“

Ueber die Züge der jungen Frau flog ein leichtes Roth, als sie sich verstanden sah. „Ich wollte Sie nicht kränken, gewiß nicht!“ versicherte sie lebhaft und streckte ihm herzlich die Hand hin, aber Hugo stand trotzig abgewendet und schien das nicht zu bemerken.

„Sind Sie mir böse?“ fragte sie halblaut; es war ein süß bittender Ton, und er verfehlte auch seine Wirkung nicht, der Capitain wandte sich plötzlich um und ergriff die dargebotene Hand, aber in seiner Antwort kämpfte eine mühsam niedergehaltene Erregung schon wieder mit der alten Spottlust, als er entgegnete:

„Wenn der selige Onkel und die Tante uns jetzt sehen könnten, sie würden mit unendlichem Wohlgefallen bemerken, wie ihre Tochter den ‚unverbesserlichen Hugo‘ im Zügel hat, der sonst keinem Zügel gehorchen wollte, wie sie ihn auch nicht einen Schritt hinausläßt über die Grenze, die sie zu ziehen für gut findet. Nein, ich bin Ihnen nicht böse, Ella, kann es nicht sein, aber – Sie müssen mir das Gehorchen auch nicht so schwer machen.“

Die Beiden waren noch in lebhaftem Gespräche begriffen, als Marchese Tortoni und Lord Elton von der Gallerie her gleichfalls in die Veranda traten.

„Sieh da,“ sagte der Erstere überrascht zu seinem Begleiter, „darum also zog sich die Wetterbeobachtung unseres Capitano so endlos in die Länge, daß wir ihn schließlich aufsuchen mußten. Es ist doch eine unverwüstliche Natur. Vor einer Stunde erst hat er unser Boot durch Sturm und Wogen gezwungen und jetzt spielt er schon wieder den Liebenswürdigen bei einer jungen Signora.“

„Yes, ein ausgezeichneter Mensch,“ bestätigte der Lord, der bereits eine so blinde Vorliebe für Hugo gefaßt hatte, daß er an diesem schlechterdings alles vortrefflich fand.

Die unerträglich schwüle Luft in den dunstigen Zimmern schien die ganze Gesellschaft auf die Veranda getrieben zu haben, denn unmittelbar hinter den beiden Herren erschienen auch Beatrice und Reinhold. Wenn seine Gattin auf dieses Zusammentreffen vorbereitet war, so war er es jedenfalls nicht, denn er wurde todtenbleich und machte eine Bewegung wie zur Umkehr, aber in demselben Augenblicke tauchte der blonde Lockenkopf des Knaben hinter der jungen Frau auf und wie gebannt blieb der Vater stehen. Das Auge unverwandt auf das Kind gerichtet, schien er alles Andere um sich her vergessen zu haben.

„Welch ein schönes Kind!“ rief Beatrice bewundernd, indem sie unbefangen die Arme ausstreckte, jetzt aber zuckte Ella empor; mit einer einzigen Bewegung hatte sie den Knaben der beabsichtigten Liebkosung entzogen und preßte ihn fest an sich.

„Verzeihung, Signora,“ sagte sie kalt. „Das Kind ist scheu gegen Fremde, und nicht an solche Liebkosungen gewöhnt.“

Beatrice schien etwas beleidigt durch die Zurückweisung, indessen sah sie darin nichts, als die übertriebene Aengstlichkeit einer Mutter. Sie zuckte unmerklich die Achseln, und ein spöttischer Seitenblick fiel auf die Fremde, aber er blieb bald genug gefesselt an der Erscheinung derselben haften, wenn das Wiedererkennen auch nur auf einer Seite stattfand.

Vor Ella’s Gedächtniß stand noch in vollster Klarheit jener Abend, wo sie allein, ohne Wissen der Ihrigen, den Schleier dicht über das Gesicht gezogen, in das Theater eilte, um diejenige kennen zu lernen, die ihr den Gatten so völlig entfremdet hatte. Sie hatte sie gesehen, im vollen Glanze ihrer Schönheit und ihres Talentes, umrauscht von dem Jubel und den Huldigungen des Publicums, und sie nahm den Eindruck unauslöschlich mit sich fort. Beatrice hatte gleichfalls nur ein einziges Mal die Gattin Reinhold’s erblickt, damals, als sie erst anfing, sich für den jungen Künstler zu interessiren, und Ella noch nichts von ihrem unheilvollen Einfluß ahnte. Der Italienerin genügte eine flüchtige Begegnung von wenigen Minuten, um zu erkennen, daß dieses stille blasse Wesen mit den niedergeschlagenen Augen und dem lächerlich matronenhaften Anzuge nicht einen solchen Mann zu fesseln vermochte, und diese Erkenntniß war hinreichend für sie, um ferner keine Notiz mehr von der jungen Frau zu nehmen. Jedenfalls war es ihr unmöglich, das verblaßte, halb lächerliche und halb mitleidswerthe Bild, das sie in der Erinnerung trug, auch nur entfernt mit jener Erscheinung in Berührung zu bringen, die so unnahbar stolz dort stand, die das blonde Haupt so hoch und frei aufgerichtet trug, und deren große blaue Augen sie mit einem Ausdrucke anblickten, den Beatrice sich nicht zu enträthseln vermochte. Sie sah nur, daß die Fremde sehr hochmüthig, nebenbei aber auch sehr schön war.

Letzteres schienen auch die beiden Herren zu finden, die artig grüßend näher getreten waren, denn der Lord schaute Ella mit offenbarer Bewunderung an, und der Marchese, dem Hugo so oft eine sträfliche Gleichgültigkeit gegen Damenbekanntschaften vorgeworfen hatte, sagte mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit zu ihm:

„Sie scheinen Signora zu kennen. Dürfen wir nicht auf das Vergnügen rechnen, ihr vorgestellt zu werden?“

Der Capitain hatte sich wie zum Schutze an die Seite der jungen Frau gestellt. Zwischen seinen Augenbrauen lag eine Falte, die selten auf dieser heiteren Stirn erschien, und sie wurde noch tiefer bei dieser directen Aufforderung, die sich unmöglich ablehnen ließ. Er stellte daher die beiden Herren vor, und nannte ihnen seine Landsmännin, Frau Erlau. Er wußte, daß Ella, um unliebsamen Nachforschungen vorzubeugen, zu denen der Name Almbach leicht hätte Veranlassung geben können, den ihres Pflegevaters trug, so lange sie in Italien weilte.

Beatricens Augen sprühten auf in beleidigtem Stolze. Sie war es nicht gewohnt, daß sie und Reinhold bei solchen Gelegenheiten zuletzt genannt wurden, und hier wurden sie überhaupt gar nicht genannt. Der Capitain ignorirte sie vollständig und schien dies sogar absichtlich zu thun, denn der Zornesblick, den sie ihm zuschleuderte, ward mit empörender Kälte aufgefangen, aber auch Cesario war betroffen über die Tactlosigkeit [527] seines sonst so liebenswürdigen Gastes. Während er der fremden Dame einige Höflichkeiten sagte, wartete er vergebens auf die Fortsetzung der Vorstellung, und als diese nicht erfolgte, übernahm er es, die vermeintliche Unart des Capitains wieder gut zu machen.

„Sie haben das Wichtigste vergessen, Signor,“ sagte er, die Sache rasch zum Scherze wendend. „Signora Erlau würde Ihnen schwerlich dankbar sein, wenn Sie ihr gerade die beiden Namen nicht nennen, die sie ohne Zweifel am meisten interessiren, und die ihr keinesfalls unbekannt sind. Signora Biancona – Signor Rinaldo.“

Beatrice, noch entrüstet über die ihr widerfahrene Beleidigung, grüßte nur mit einer

Photographische Aufnahme nach der Natur.
Nach einer Photographie von K. Muschler in Nürnberg

kurzen Neigung des Hauptes, die ebenso erwidert wurde, plötzlich aber ward sie aufmerksam. Sie fühlte, wie Reinhold’s Arm zuckte, wie er den ihrigen fallen ließ und einen Schritt von ihr wegtrat, als er sich verneigte. Sie kannte ihn allzu genau, um nicht zu wissen, daß er in diesem Momente, trotz seiner scheinbaren Ruhe, furchtbar erregt war. Diese fahle Blässe, dieses nervöse Zucken der Lippen waren das sichere Zeichen, daß er irgend eine leidenschaftliche Aufwallung mit Gewalt unterdrückte, und was sollte dieser Blick, der freilich nur einige Secunden lang dem der Fremden begegnete, aber er flammte in unverkennbarem Trotze und schmolz doch wieder in vollster Weichheit, als er auf das Kind an ihrer Seite fiel. Sie selbst freilich stand ihm völlig unbewegt gegenüber, auch nicht ein Zug regte sich in dem marmorkalten Antlitze, aber auch dies Antlitz war auffallend bleich und die Arme umschlangen den Knaben so krampfhaft fest, als sollte er ihnen entrissen werden. Dennoch erwiderte sie mit vollkommen beherrschter Stimme:

„Ich bin Ihnen sehr dankbar, Signor. Ich hatte in der That noch nicht das Vergnügen, Italiens erste Sängerin und Italiens berühmten Tondichter zu kennen.“

Reinhold’s Blut wallte siedend heiß auf, als ihm von Neuem, und diesmal vor Fremden, die unendliche Kluft gezeigt wurde, die ihn von der einstigen Gattin schied. Jetzt war sie es, welche ihm die Stellung anwies, die er ihr gegenüber einzunehmen hatte, und daß sie dies mit einer solchen Ruhe und Gelassenheit vermochte, brachte ihn auf’s Aeußerste.

„Italiens?“ wiederholte er mit scharfer Betonung. „Sie vergessen, Signora, daß ich von Geburt ein Deutscher bin.“

„Wirklich?“ entgegnete Ella in dem gleichen Tone wie vorhin. „In der That, das wußte ich bisher noch nicht.“

„Man scheint in der Heimath sehr schnell vergessen zu werden,“ warf Reinhold mit einer Art wilder Bitterkeit hin.

„Doch wohl nur, wenn man sich ihr selbst entfremdet. In diesem Falle ist das freilich begreiflich. Sie, Signor, haben ja ein zweites Vaterland gefunden, und wem Italien so viel gegeben hat, der kann die Heimath und ihre Erinnerungen wohl leicht entbehren.“

Sie wandte sich zu den übrigen Herren, wechselte einige gleichgültige Worte mit ihnen und reichte dann ruhig und offen Hugo die Hand zum Abschiede.

„Sie verzeihen, ich muß zu meinem Oheim. Reinhold, sage dem Herrn Capitain Lebewohl!“

Es war nur zu wahr, Ella besaß eine furchtbare Waffe in dem Kinde und verstand sie schonungslos zu gebrauchen, das empfand Reinhold wieder in diesem Augenblicke. Ihm versagte sie den Anblick und die Nähe seines Knaben unerbittlich, trotzdem sie wußte, mit welcher Leidenschaftlichkeit er sich danach sehnte, und jetzt ließ sie es ihm sehen, wie dieser Knabe seinem Bruder die Aermchen entgegenstreckte und ihm den Mund zum Kusse bot, ließ es ihm sehen in Gegenwart der Frau, um deren willen er sie Beide verlassen hatte, und deren Nähe ihm verbot, auch nur eines seiner Vaterrechte geltend zu machen – die Rache traf bis in’s innerste Herz hinein.

Beatrice hatte ganz gegen ihre Gewohnheit sich mit keiner Silbe an dem Gespräche betheiligt, aber ihr dunkelglühender Blick wich nicht von den Beiden, zwischen denen sie eine geheime Wechselbeziehung ahnte, wenn auch ihre Gedanken von der Wahrheit selbst unendlich weit entfernt waren. Für jetzt jedoch machte Ella jeder weiteren Beobachtung ein Ende; sie nahm den kleinen Reinhold bei der Hand, und nach einer kurzen stolzen Verbeugung, die der ganzen Gesellschaft galt, verließ sie mit dem Kinde die Veranda.

„Sie scheinen uns da irgend ein Incognito vorgeführt zu haben, Signor Capitano,“ sagte Beatrice mit schneidendem Spotte. „Vielleicht haben Sie jetzt die Güte, uns zu erklären, welche Fürstin es denn eigentlich war, die soeben geruhte uns zu verlassen.“

„Ja beim Himmel, sehr stolz, aber auch sehr schön!“ rief der Marchese in ausbrechender Bewunderung, während Hugo kühl erwiderte:

[528] „Sie sind im Irrthume, Signora. Ich nannte Ihnen ja den Namen der deutschen Dame.“

Der junge Italiener trat zu seinem Freunde und legte die Hand auf dessen Schulter.

„Signora’s Irrthum ist erklärlich. Meinen Sie nicht auch, Rinaldo? – Mein Gott, was haben Sie denn – was ist Ihnen?“

(Fortsetzung folgt.)




Die diesjährige Aachener Heiligthumsfahrt.


Eine beherzigenswerthe Culturstudie.


Vierzehn Tage hindurch, vom 10. bis zum 23. Juli, war Aachen der Tummelplatz der „Armen am Geiste“ aus Nähe und Ferne. Alldorten flatterten vom Kaiserdome herab die „Oberhüllen der Windeln des Herrn, so der heilige Joseph als Fußlappen getragen,“ das „Lendentuch Jesu, mit zahlreichen Spuren des h. h. Blutes,“ das Tuch, „auf welchem der h. Johannes der Täufer enthauptet und in welches sein Leichnam eingewickelt worden ist“ und – als Prachtstück dieser altisraelitischen Wäsche „das Kleid der allerseligsten Jungfrau und Gottesgebärerin Maria, welches sie trug, da sie den Weltheiland gebar.“ Wer an diesen vier sogenannten großen Reliquien, die der üblichen geistlichen Praxis zuwider ausnahmsweise gratis gezeigt werden, noch nicht genug hatte, dem bot sich gegen Erlegung von zehn Groschen Mammon, außerdem Gelegenheit, noch zwanzig weitere „kleine Heiligthümer“ im Innern des Domes besichtigen zu dürfen, unter welch letzteren uns ein „Fläschchen mit Oel, das aus den Gebeinen der h. Katharina geflossen,“ das „führnehmbste“, weil seltsamste däuchte. Für Heiligthumstiger übermenschlichen Grades aber, welche ihre innere Auferbauung durch diese Anschauungen noch nicht zum befriedigenden Abschluß gebracht glaubten, bot sich in

a) der Pfarrkirche zu St. Adalbert   mit   24   Heiligthümern
b) der Theresianer Kirche 9
c) der Peterskirche 1
d) der Paulus- vormaligen
Dominikanerkirche
2
e) in St. Foilan 1
f) in der Kreuzkirche 2
g) in der Stephanskirche 2

weitere fromme Speise. Außerdem hilft das benachbarte Burtscheid mit 22 und Cornelimünster mit 6 Heiligthümern aus. Summa Summarum 89 Heiligthümer, weiter aber giebt’s keine mehr. Und zu dieser Leistung der altkirchlichen Leinenschränke und Garderoben eilt das Volk aus Nähe und weiter Ferne her. Damit aber männiglich Gelegenheit werde, seine Opfer möglichst gut an den Mann zu bringen, hat das ehrwürdige Stiftscapitel einen zweckmäßigen Turnus in der Zulassung der Processionen aufgestellt. Wir setzen ihn her.

Heiligthumsfahrt.
Reihenfolge der Processionen nach den einzelnen Tagen.
10.   Juli:   St. Foilan, Decanat Köln und Lövenich.
11.     St. Peter, Decanat Bonn, Hersel, Königswinter und
  Erpel.
12.     St. Nicolaus, Decanat Düren, Derichsweiler,
  Aldenhoven und Nideggen.
13.     St. Paulus, Decanat Neuß und Grevenbroich.
14.     St. Jakob, Decanat Gladbach, Euskirchen, Rheinbach
  und Münstereifel.
15.     St. Adalbert und Congregation.
16.     St. Michael, Decanat Düsseldorf, Bergheim
  und Gemünd.
17.     Kreuzpfarre, Decanat Erkelenz, Malmedy, Montjoie,
  Eupen und St. Vith.
18.     Domschule, Decanat Eschweiler, Elberfeld, Solingen,
  Wipperführt und Essen.
19.     Gymnasium, Decanat Heinsberg, Wassenberg,
  Geilenkirchen und Mülheim.
20.     Barmherzige Schwestern mit den Invaliden und
  Waisenkindern, Decanat Burtscheid und Jülich.
21.     Die Realschule und die Provinzial-Gewerbeschule,[1]
  Decanat Crefeld, Kerpen, Lechenich und Brühl.
22.   Juli   Schwestern vom armen Kinde Jesu mit den Kindern
  und die Gesellenvereine.
23.     Die armen Schwestern vom heil. Franciscus und die
  übrigen Mitglieder des Franciscaner-Ordens, Decanat
  Siegburg, Uckerath, Blankenheim und Steinfeld.

Mit Schlag 1 Uhr wird die große Wolfsthür geöffnet; die Processionen ziehen dann ohne Unterbrechung bis Abends 8 Uhr. In einzelnen Fällen jedoch, wo es die Umstände räthlich scheinen lassen, behält sich das Capitel die besondere Anordnung vor.

Aachen, den 15. Mai 1874.
Das Stifts-Capitel:
Dr. Schlünkes, Propst. Dr. Kloth, senior.
Graf Dr. von Spee. Dr. Bock.
Rector Dr. Buschmann. Jansen. Dr. Kessel.

Diesen Processionen schließen sich weiter die herrenlosen Waller an, welche auf eigene Faust gekommen sind. Alltäglich aber, Vormittags zehn Uhr, ist, wie schon gesagt, Gratisvorstellung der vier großen Heiligthümer vom Domthurme aus. So weit das möglich ist, geben wir nachstehend ein Bild dieses traurigen Schauspiels. Von früh acht Uhr an beginnen die Straßen und Plätze in der Umgegend des Domes sich zu füllen, glücklicher situirte Menschenkinder besetzen gegen ein entsprechendes Entrée die von den Hauseigenthümern eigens für diese Tage abgesperrten Trottoirs, noch glücklichere die Fenster, welche nach dem Stockwerke ihrer Lage entsprechende Preise haben; die Dächer gar sind theilweise abgedeckt und zum Schutze gegen die Sonne zeltartig überspannt –

Es brechen fast des Hauses Stützen,
und Kopf an Kopf gedränget sitzen

die frommen Seelen und harren verhältnißmäßig geduldig anderthalb bis zwei Stunden der kommenden Dinge. Wir waren so glücklich, einen Balcon zu erlisten; seiner habhaft zu werden, mußten wir allerdings, obwohl er schon Tags vorher persönlich gemiethet war, uns schon Morgens acht Uhr aufmachen, um das Haus überhaupt noch erreichen zu können. Und da saßen wir nun.

Immer dichter wurden unter uns die Volksmassen, immer verworrener schwirrte das Gewirr der tausend und aber tausend Stimmen an unser Ohr; wohin auch das Auge sah, kein Ruhepunkt war zu erspähen, und unter uns begann der Kampf um’s Dasein, denn – nicht „Raum für Alle hatte die Erde“. Kreischende Weiber und Mädchen, fluchende Männer, weinende Kinder. Hier und dort der ohnmächtige Versuch des gewaltsamen Hervorbrechens Einzelner aus dem Menschenknäuel und in Folge dessen ein partielles Hin- und Herwogen der Menschenmassen. Und welche Typen boten sich dar! Die meisten Gesichter trugen das Gepräge des thierischen Stumpfsinnes, und hier haben wir Respect vor der Vogt’schen Affentheorie bekommen.

Gensdarmen waren bemüht, einen schmalen Pfad offen zu halten; dem Druck ihrer Pferde wich man mit Aufbietung aller Kraft schon aus, aber hinter ihnen schlugen die Menschenwogen sofort mit brandendem Getöse wieder zusammen. Halbohnmächtige Frauenzimmer wurden von mitleidigen Händen über die Bretterverschläge der Trottoirs in die Häuser gelootset, wobei die widerlichsten Scenen vorkamen, welchen der fromme Pöbel cynisch applaudirte. Und über diesem Chaos wimmerte „schwer und bang“ und in langsamem Tempo die große Domglocke. Bei all dem Gewoge, Geschwirre, Getöse fielen wir fast in magnetischen Schlaf.

Endlich zeigte sich Leben auf den Thurmumgängen; unter Musikbegleitung intonirte der Domchor eine Hymne. Welche? Daß überhaupt musicirt wurde, schlossen wir folgerichtig aus dem Glitzern der Instrumente, die an Köpfen hingen, und an dem [529] wie wahnsinnigen Fuchteln mit dem Tactirstock irgend eines capellmeisterlichen Individuums; auch stießen einzelne schreckhafte Posaunen- und Paukensätze, destillirt über die vox humana der frommen Menge unten, gespenstisch an unser Ohr. Und nun trat einer der Herren, die keinen Scrupel darin finden, den eigentlichen schönen Beruf der Geistlichen hinter den materiellen und schwindelhaften Betrieb der Zauberei zurücktreten zu lassen, vor und singt im Tone der Orationen:

„Man wird euch zeigen das h. Kleid, welches die allerseligste Jungfrau trug, als sie den Weltheiland gebar. Bittet Gott den Herrn, daß wir dieses Heiligthum anschauen mögen zur Verherrlichung seiner Ehre und zur Erlangung seiner Gnade und seines Segens. Amen.“

Spricht’s, und heilige Hände halten das vorgebliche „unmittelbare Um- und Ansein“ der Mutter Gottes zum Thurmfenster hinaus. Zwei hochwürdige Assistenten verhindern das h. Gewand durch kreuzweis übergelegte Stäbe am unästhetischen Flattern, welches es in übermüthiger Freude über seine Lüftung unüberlegt vornehmen möchte, und im Hintergrunde blinken Domschweizer, goldene Truhen, Kreuze, Monstranzen und anderes heiliges Geräth pomphaft um die Wette. Das Publicum aber stiert auf den einen heiligen Punkt und murmelt in deutscher, holländischer, vlämischer, wallonischer und belgisch-französischer Sprache oder Mundart seine Gebete. Schrille Mißtöne unterbrechen aber selbst die heiligsten Momente. Hier hat ein wallender Taschendieb die fromme Ekstase eines Nachbarn dazu benutzt, seine Finger zur Abwechselung für einen Augenblick anstatt mit dem Rosenkranze mit der Uhrkette desselben spielen zu lassen; dort stellt eine skeptisch angelegte Natur Vergleiche zwischen dem „unmittelbaren Um- und Ansein“ Maria’s und dem seiner Nachbarin an, ersteres anstierend, letztere umarmend, und diese vergleichende Culturstudie will sich die Dirne unbegreiflicher Weise nicht gefallen lassen. Sie protestirt unter dem Hochdruck von markerschütternden Stimmmitteln, wie man sie in dieser Fülle dem zarten Geschlechte kaum zutrauen sollte. Oben auf dem Thurme aber gehen die heiligen Dinge unbeirrt ihren ruhigen Gang.

An neun verschiedenen Stellen baumelt unter Musik und Litaneien das Muttergotteskleid, um dann bis zum anderen Tag in seiner prächtigen silbernen Truhe der Ruhe zu pflegen. Darauf – ein anderes Bild: „Man wird euch zeigen die Windeln, worin Jesus Christus nach der Geburt von seiner Mutter eingewickelt ward. Bittet den allmächtigen Gott, daß wir dies Heiligthum anschauen mögen zur Vermehrung seines Lobes und zur Erlangung der ewigen Seligkeit. Amen.“ Wiederum neunmalige Aushängung.

Ferner: „Man wird euch zeigen das Tuch, das h. Kleid, worauf der Leib des h. Johannes nach der Enthauptung gelegt ward. Bittet Gott den Herrn, daß wir dieses Heiligthum anschauen mögen zur Ausbreitung seiner Ehre und zur Erlangung der ewigen Seligkeit. Amen.“

Und dann viertens und letztens: „Man wird euch zeigen das Tuch, das h. Kleid, das der Herr Jesus Christus getragen, da Er am Kreuze den bittern unschuldigen Tod für uns gelitten hat. Bittet Gott den Herrn, daß wir dies unschätzbare Heiligthum so anschauen mögen, daß sein Lob ausgebreitet und seine Ehre erhöht werde, und daß seine Leiden und sein unschuldiger Tod, durch den wir von allen Sünden befreit sind, an uns kräftig bleiben möge. Amen.“

Mit diesem „unschätzbaren Heiligthum“ wird der Segen ertheilt, und was Platz zum Knieen hat, fällt anbetend nieder. Die Ceremonie ist zu Ende, doch nur langsam entwirrt sich das lebendige Menschenknäuel. Jeder ist geschunden am Leibe, aber auferbaut an der Seele.

Von Nachmittags eins bis Abends acht Uhr kann man nun im Innern des Domes nach vorherigem Erlöse einer Karte zu zehn Groschen an den großen und kleinen Heiligthümern sich vorbeidrängen und ‑puffen lassen. Eine werthvolle Collection, man lese:

1) Das dunkelweiße Kleid der Mutter des Heilandes. 2) Die Windeln des Heilandes. 3) Das Tuch, in welches der Körper des h. Johannes des Täufers nach der Enthauptung von seinen Jüngern gelegt worden. 4) Das Leintuch, welches um Jesu Lenden lag in jener schweren Stunde, als er, an’s Kreuz genagelt, freiwillig den Tod zur Erlösung der Menschen starb. 5) Eine Monstranz mit dem linnenen gewebten Leibgürtel Maria’s. 6) Der lederne Leibgürtel (cingulum), Jesu Christi in einer kostbaren Monstranz. 7) Eine Monstranz mit einem Theile des Strickes, womit der Heiland bei seinen Lenden gebunden ward. 8) In einem runden, sonnenähnlichen, von zwei Engeln getragenen Reliquiengefäß: a. ein Stück vom Schwamme, womit der Heiland getränkt wurde; b. ein Splitter vom h. Kreuze; c. Haare des h. Apostels Bartholomäus; d. Gebeine Zachariä, des Vaters Johannes des Täufers; e. zwei Zähne des h. Apostels Thomas. 9) In einem die Aufopferung Jesu im Tempel darstellenden Behälter befindet sich ein Theil eines Armes des h. Greises Simeon, und in einem Fläschchen Oel, das aus den Gebeinen der h. Katharina geflossen. 10) In einem in gothischem Stile gearbeiteten Kasten: a. die Spitze eines der Kreuznägel; b. ein Splitter vom h. Kreuze; c. ein Zahn der h. Katharina; d. ein Unter- oder Schienbein (tibia) Kaiser Karl’s des Großen. 11) In einem mit Perlen und Schmelz verzierten Gehäuse in Gestalt einer gothischen Kirche: a. ein Stück vom Rohrstamme, womit der Heiland verspottet worden; b. ein Stück vom Schweißtuche, womit sein Angesicht im Grabe bedeckt gewesen; c. Haare des h. Johannes des Täufers; d. eine Rippe des Erzmärtyrers Stephanus. 12) In einem einen großen Arm darstellenden Reliquiengefäß der Obertheil des rechten Armes Karl’s des Großen. 13) Das Jagdhorn Karl’s des Großen. 14) Ein Brustbild Karl’s des Großen, einen Theil der Hirnschale des Kaisers enthaltend. 15) Ein goldenes Kreuz enthält ein Stück vom h. Kreuze. 16) Ein Kasten mit dem Haupte des h. Mönchs Anastasius. 17) Ein Standbild des h. Apostelfürsten Petrus, in der Hand ein Glied der Kette haltend, woran dieser vielverfolgte und hartgeprüfte Felsenmann im Kerker gefesselt gewesen. 18) Der die größeren Reliquien umfassende höchst kunstreiche Kasten. 19) Kasten, worin die Heiligthümer bei der Vorzeigung auf den Thurm getragen werden. 20) Gefäß, worin das Pectoralkreuz Karl’s des Großen aufbewahrt wird.

Vielleicht sind unter diesen Heiligthümern auch einige der Knochen, die der bekannte Anatom, Professor Müller in Berlin, obwohl selbst ein treuer Katholik und Reliquienverehrer, bei einer Untersuchung mit schwerem Herzen als – Kalbsknochen bezeichnen mußte.

Hier werden auch Rosenkränze und Medaillen zu mehrerer Kräftigung ihrer Heiligkeit angestrichen. Es gab Tage, an denen bis zu zehntausend Menschen diesen Vorbeizug mitmachten, während der Massenzudrang überhaupt während der ganzen Dauer der Fahrt über eine Million betragen haben mag. Wie hatten aber auch die Kanzeln allüberall zu dieser Wallfahrt gepreßt! Die diesjährige Heiligthumsfahrt war offenbar eine effectvoll inscenirte Demonstration der verfolgten Kirche. Und doch klagt Canonicus Bock in seiner Schrift „Das Heiligthum zu Aachen“ über das Schwinden des gläubigen Sinnes: „Ueber die Heiligthumsfahrt des Jahres 1496 meldet die Cölnische Chronik, es seien an einem Tage vom Thorwächter hundertzweiundvierzigtausend Pilger gezählt worden.“ Weiter sagt er bei Aufzählung der verschiedenen Nationen, die früher herpilgerten: „Wahrscheinlich würden wir zur Erbauung unserer so sehr glaubensarmen Zeit auch heute noch die edle Nation der Ungarn zu den Aachener Heiligthümern mit Andacht pilgern sehen, wenn nicht der ‚aufgeklärte‘ Kaiser Joseph der Zweite am 23. Februar 1776 diese Wallfahrt förmlich untersagt hätte.“

Mit grollendem Grimme und zugleich unter tiefem Seelenschmerze lenkten wir unsere Schritte heimwärts, wir hatten eine traurige Culturstudie gemacht. Hoffen wir, daß die deutsche Gesetzgebung Mittel finde, solch frommen Unfug für die Folge energisch zu untersagen!

Sch.




[530]
Ein märkisches Zwinguri.


Von Georg Horn.


Zwischen den Städten Brandenburg und Magdeburg, von ersterer eine Meile Wegs entfernt, liegen auf dem linken Ufer der Havel Schloß und Städtchen Plaue. Letzteres mag wohl etwas über zweitausend Einwohner haben und steht nach Süden mit einem Schlosse in Verbindung, das durch seine Lage zu den herrlichsten Landsitzen der jetzigen Provinz Brandenburg gehört. Es ist auf einer Landecke gelegen, die sich in den Plauer See vorschiebt; derselbe, eine immense Wasserfläche, mit sehr starkem Wellenschlag, umspült diese Landzunge im Süden; im Osten fließt die Havel vorbei, die, von Brandenburg kommend und der Mündung in die Elbe zueilend, eigentlich durch den See ihren Durchgang nimmt. Die Umfassungsmauern der Front des jetzigen Schlosses gehen unmittelbar in die Fluth hinab, und wenn man auf der Terrasse vor der Ostfront des Schlosses steht und den Blick seitwärts wendet, kann man sich auf einem Schloß am Meere glauben; so imposant breitet sich die dunkelblaue Wasserfläche nach dieser Richtung hin aus; in so weiter Perspective treten die Contouren des anliegenden Ufers zurück; so bewegt ist die Fluth, bis man sich nach Osten wendet und von drüben in einer Entfernung von etwa sechzig Ruthen das rechte Havelufer mit seinem Baum- und Wiesengrün herüberwinkt; dann freilich wird man aus seinen stolzen Illusionen der Meerregion auf den richtigen Standpunkt des Binnengewässers zurückgebracht, aber auch dann wendet man den Blick doch nicht so leicht wieder von dem herrlichen Ausblick nach dem Plauer See ab.

Das Schloß Plaue war durch seine natürliche Lage einer der wichtigsten Punkte im Havellande. Es beherrschte im Osten die Wasserstraße, die Pulsader des Landes, nach Süden die Straße, die von der Mark in Magdeburgisches Gebiet führte. Bis zu dem Ende des vierzehnten Jahrhunderts war das Schloß im Besitze des Erzbischofs von Magdeburg gewesen, dann hatte es dieser in einer Fehde an den Landeshauptmann der Mark Lippold von Bredow verloren; dieser behielt es für sich, als Pfand für Schuldforderungen, die er an seinen Landesherrn hatte, und gab es später seinem Schwiegersohne Johann von Quitzow als Heirathsgut mit. Von da begann eigentlich die nicht uninteressante Geschichte dieses Schlosses, das durch Jahrzehnte hindurch der Schrecken und der Bann der umliegenden Städte und Dörfer und ihrer Bevölkerung, ein wahres Zwinguri für die durch rohe Willkür, durch frevelhaften Uebermuth und eine ungezügelte Rauf- und Fehdesucht ihres Adels arg heimgesuchte Mark Brandenburg war.

Seit dem Aussterben der Askanier, die das Land von dem letzten eingebornen Wendenfürsten ererbt und durch eine kluge und energische Regierung zu einem hohen Grade der Cultur und des Wohlstandes gebracht hatten, war die Mark für die nachfolgenden Kaiser, die baierische und luxemburgische (böhmische) Dynastie die melkende Kuh geworden, die immer Milch d. h. Geld geben mußte. Die Landesherren kamen nur dann in das Land, wenn ihr Säckel leer war, sonst bekümmerten sie sich nicht um dasselbe, mieden es sogar. Die Gegenden des Landes waren fast nur Sumpf, Sand und Kiefernwald; es lag über denselben ein grauer frostiger Himmel und die Menschen waren so rauh und knorrig wie alte Eichen; in Baiern und Böhmen dagegen ließ es sich viel besser und lustiger leben, aber Geld konnte die Mark geben.

„Thut Geld in meinen Beutel,“ war die stete Mahnung des Landesherrn an das unglückliche Land. Wenn dann die Städte und die Bürger, die durch Handel und Gewerbefleiß meistens im Besitz des baaren Geldes waren, schwierig wurden und den unaufhörlichen Anforderungen des Landesherrn nicht genügten, dann wurden Freiheiten und Privilegien aller Art an Gemeinden und Corporationen verkauft, immer flott um den Preis des Meistbietenden; hielt auch dann der Bürger die Hand fester an die Tasche, vielleicht weil nicht mehr viel darin war, dann ging man an den Adel und versetzte diesem als Pfand eines der Orte und Schlösser nach dem andern, auch Städte, sogar Hoheitsrechte.

So kam es, daß unter dem Markgrafen Jobst von Mähren gegen Ende des vierzehnten Jahrhunderts mehr als die Hälfte des Landes in den Händen des Adels war, aber die Folgen einer solchen frivolen, hirn- und heillosen politischen und finanziellen Wirthschaft ließen nicht lange auf sich warten. Zuletzt war es ein unaufhörlicher Krieg Aller gegen Alle; es waren staatliche Verhältnisse, von denen sich ein Mensch des geordneten Rechtszustandes des neunzehnten Jahrhunderts nur schwer einen Begriff machen kann.

Der friedliebende Bürger saß hinter den festen Mauern seiner Städte und war froh, wenn ihn der Klang der Sturmglocke aus seinem bürgerlichen Gewerbe nicht in den Harnisch und auf die Wälle zur Vertheidigung der durch einen Ueberfall bedrohten Stadt trieb. Das Gewerbe der Adeligen dagegen waren die ritterlichen Künste und Fertigkeiten; ihr Geschäft war Kampf und Krieg. Der Adel war der Herr der Situation und beutete dieselbe mit dem ganzen Aufgebot der märkischen Stammes-Eigenschaften mit Angriffslust und Energie, muthiger Unerschrockenheit und zäher Ausdauer, körperlicher Gewandtheit und geistiger schneller Auffassung nach jeder Richtung hin aus. Die eigentlichen Regenten der Mark waren die vier vornehmsten Adelsfamilien, die Gans zu Putlitz, die Rochows, die Bredows und die Quitzows. Letztere standen im Range den vorigen vielleicht nach, denn sie waren Lehensleute der Gans zu Putlitz, die wie sämmtliche der genannten Familien zu den eingeborenen Wendenfamilien gehörten; die Putlitze, von denen, nebenbei gesagt, der liebenswürdige Dichter Gustav zu Putlitz abstammt, waren Abkömmlinge alter Wendenfürsten; aber durch ihre persönlichen Eigenschaften überragten die beiden Quitzows alle ihre Standesgenossen.

Zu den oben genannten nationalen Eigenschaften gesellte sich bei ihnen eine todesverachtende Verwegenheit, die, nichts berücksichtigend, weder Dinge noch Menschen, geradezu auf ihre Ziele losging und Alle, die mit ihnen verbündet waren, zu ihren willenlosen Werkzeugen machte, ferner ein kühner Ehrgeiz, dem nichts zu hoch und unerreichbar schien, und jene brutale Selbstsucht, welche die Menschen in Herren und Sclaven theilte, für sich alle Freiheit und Willkür in Anspruch nahm, und das Recht des Stärkeren als das höchste Sitten- und Staatsgesetz hinstellte.

Dietrich von Quitzow war vier Jahre älter, als sein Bruder Johann. Jener besaß vielleicht mehr diplomatische Klugheit, dieser hingegen war hier und da einer großmüthigen Regung der Seele fähig. Mit ihren Interessen waren die Brüder eng zusammengewachsen. Es lebte in ihnen das stärkste Familiengefühl; dieses offenbarte sich in einer geradezu zärtlichen Liebe, in einer unerschütterlichen Anhänglichkeit, aber über die Familie und deren Interessen hinaus gab es für die Beiden nichts mehr, keine Pflicht, keine Achtung, keine Rücksicht, kein Gewissen; sie hatten kein Gefühl für das gemeine Wohl; sie anerkannten ein Vaterland nur in sofern, als sie als Freigeborene die erste Stelle in demselben beanspruchten.

Der Sinn für gesellschaftliche Ordnung, der moderne Staatsbegriff, der damals zum Durchbruch kam, fand in ihnen nicht nur kein Verständniß, sondern die entschiedensten Gegner. Sie hatten sich mit ihrem ganzen Sein und Thun auf die eigene Persönlichkeit und die Willkür gestellt, keine obrigkeitliche oder gesetzliche Gewalt über sich anerkennend; sie und ihre Ziele waren sich selbst das höchste Gesetz, und diese Ziele gingen dahin, sich auch dem Rechte nach zu Herren der Mark zu machen wie sie es schon der Sache nach waren, höchstens nur den Kaiser als obersten Lehnsherrn anzuerkennen, und auch diesen nur insoweit, als er ihnen nicht entgegen war in der Ausführung ihrer Pläne.

Dietrich wohnte in Quitzhövel, dem alten Stammgute der Familie, Johann nach seiner Verheirathung mit Agnes von Bredow in Plaue, aber die Lage beider Schlösser an der Havel war so günstig, daß sich die Brüder bei allen Unternehmungen die Hand reichen, daß sie, auf diese festen Plätze sich stützend, mit ihrem Anhange nicht nur die Mark, sondern auch die angrenzenden Gebiete der Nachbarfürsten in Schach halten konnten. Der Name Quitzow ging wie ein Angst- und Schreckensruf durch das Land; vor seinem Klange erzitterten der Bauer und der [531] Bürger; er bedeutete ihnen Sengen und Brennen, Raub und Plünderung, Mißhandlung und Gewaltthätigkeit jeder Art; vor seinem Klange bebten die eigenen Standesgenossen, wenn sie nicht mit den Trägern desselben in Freundschaft lebten. Die Bischöfe von Havelberg, von Brandenburg und der Erzbischof von Magdeburg, die Herzöge von Mecklenburg, Pommern, sie Alle fürchteten die beiden Brüder und ihr Name ging wie ein Schlacht- und Siegesruf, aber auch wie ein Verhängniß und eine Landplage, wie ein Fluch und eine Verwünschung durch das Land.

Dietrich hatte später Quitzhövel mit dem größeren und schöneren Schlosse von Friesack vertauscht; beide waren vortreffliche Ehegatten und Familienväter, aber zu Hause litt es sie nicht lange; Ruhe und Friede waren ihnen ein Gräuel, Krieg und Fehde ihre Lust, und wenn kein Grund zu einer solchen vorhanden war, so wurde irgend ein Anlaß dazu vom Zaune gebrochen; heute ging es gegen Den, in einem Monate gegen einen Anderen. „Heute Freund, morgen Feind“ war die Quitzow’sche Losung. Von Plaue gingen fast alle Unternehmungen aus, und wenn dann so ein Strauß glücklich ausgefochten war, dann wurden die Beute und die Gefangenen nach Plaue geführt. Unheimlich, fast gespenstisch stiegen die festen, für unbezwinglich gehaltenen Mauern aus der Havelfluth auf. Nächst dem Burgfried ragte ein gewaltiger dicker Thurm über die Giebel des Wohngebäudes und die Mauerthürme empor; das war der Fuchsthurm, der Aufenthaltsort für die Gefangenen, aus dem sie nicht eher wieder herauszukommen Hoffnung hatten, als bis ein schweres Lösegeld für sie erlegt worden war. In diesem Thurme schmachtete außer vielen Bürgern und Adeligen auch der Herzog Johann von Mecklenburg-Stargard. Er war der vom Kaiser eingesetzte Landeshauptmann der Mark und in seinem Bestreben, Ordnung in dem Lande herstellen zu wollen, den Quitzows ein Dorn im Fleische. Johann von Quitzow hatte ihm in einem Hinterhalte aufgelauert, ihn angefallen, abgefangen und nach Plaue geführt. Damit er nicht entweichen konnte, wurde er in den tiefsten und festesten Kerker gebracht, barfuß, nur mit einem Hemde bekleidet. Die Brandenburger jedoch, in dankbarem Gefühle für die von ihm empfangenen Wohlthaten, hatten Mittel und Wege gefunden, ihn mit Hülfe eines Bäckergesellen, der in Plaue arbeitete, aus seinem Gefängnisse zu bringen. In demselben Zustande, wie er in seinem Gewahrsame war, harrte der Herzog, mitten im Winter, an einer Stelle im Schilfe der berittenen Reisigen, die ihn aus der Gewalt der Quitzows nach seinem Lande zurückbringen sollten. Unglücklicherweise waren diese, entgegen der Verabredung, an einer andern Stelle versteckt. Johann von Quitzow aber bekam durch das Zeichen des Thurmwächters von dem Entweichen seines Gefangenen Kunde, und wie ein Schweißhund nach einem Stück Wild, so durchstreifte er die Gegend in der Nähe des Schlosses, fand auch den Herzog und brachte ihn in seine Gewalt und in einen noch festeren Gewahrsam zurück; hier verblieb der unglückliche Fürst so lange, bis Johann von Quitzow einen Einfall in mecklenburgisches Gebiet machte, dort gefangen und später gegen den Herzog ausgewechselt wurde.

So wurden die Quitzows für ihr eigenes Vaterland nicht minder wie für fremde Territorien unheilvoll; der Jammer ging ihren Zügen voraus; die Zerstörung folgte ihnen. Je höher ihre Macht und ihr gefürchtetes Ansehen stieg, desto tiefer sank das unglückliche Land in Verwüstung und Verwilderung. Zuletzt hatten sie jeden Widerstand ertödtet. Niemand wagte, sich ihnen ernstlich zu widersetzen, und schon sahen sie sich dem Ziele ihres hochfliegenden Ehrgeizes, sich reichsunmittelbar und zu Regenten der Mark zu machen, nahe, als eine Nachricht in Plaue eintraf, die zuerst vielleicht ziemlich eindruckslos an Johann von Quitzow’s Ohr vorbeiging. Sie kam aus Ofen, wo sich damals König Sigismund aufhielt und wohin die Abgeordneten der Städte der Mark und als Vertreter des Adels der Freund der Quitzows, Caspar Gans zu Putlitz, gegangen waren, um dem Kaiser zu huldigen. Das Oberhaupt des Reiches hatte den Abgesandten mitgetheilt, daß es den Burggrafen Friedrich von Nürnberg aus dem Hause Hohenzollern zum obersten Landesverweser in der Mark erwählt habe. Das war es, was die Abgesandten mit nach Hause brachten, für einen Quitzow gerade keine Neuigkeit von Belang. Der Kaiser hatte schon manchen Statthalter nach der Mark gesetzt, und mit allen waren sie fertig geworden. Warum sollten sie nicht auch mit dem „Nürnberger Tand“ fertig werden?

So mochte Johann von Quitzow in seinem Plaue denken. Zugleich hatte er aber vernommen, daß sich die Abgeordneten der märkischen Städte über sein und seiner Genossen Treiben beim Kaiser bitter beschwert hatten, und da mochte er erkennen, daß die Ernennung des Nürnberger Burggrafen, dieses damals bereits mächtigen, reichen und einflußreichen Fürsten, eine an ihn und seine Genossen gerichtete stille Mahnung und Warnung sei. Was hatte man sich hier im Norden bisher auch um einen Nürnberger Burggrafen gekümmert! Sehr wenig; das Eine lag nahe, daß man über dessen Persönlichkeit Erkundigungen einzog. Jedenfalls mußten die Resultate derselben für Johann von Quitzow insofern entmuthigend sein, als er vernehmen mußte, daß der neue Statthalter eine Persönlichkeit sei, die den Kampf mit ihnen aufzunehmen wohl im Stande wäre. Seine persönliche Erscheinung in der Mark war nur zu sehr angethan, diese Befürchtung zu bestätigen. Es war am Johannistage des Jahres 1412, als der Burggraf als der erste Hohenzoller in die Stadt Brandenburg einritt. Er war aus dem schönen Frankenlande über Wittenberg gekommen, nicht über Magdeburg; sonst hätte er an Plaue vorüberziehen müssen, und wer weiß, ob nicht Johann von Quitzow auf dem Lug gelegen hätte, um auch diesen obersten Landeshauptmann ebenso abzufangen, wie er es mit dem Mecklenburger gethan hatte; verwegen genug war er dazu. Aber der Burggraf zog, begleitet von seinen fränkischen Rittern, eine Straße, die ihm sicherer dünkte.

Je mehr Johann von Quitzow und seine Anhänger aus den ersten Regierungsmaßnahmen Friedrich’s die Gefahr, welche ihnen durch den Burggrafen drohete, ahnten und fühlten, desto höher wuchs ihr Trotz. Sie gingen unter sich eine Verbindung oder Verschwörung ein, zu dem Zwecke, dem Burggrafen keine Huldigung zu leisten, ihm überhaupt, wie und wo sie konnten, allen Widerstand entgegenzusetzen. Die Städte hatten dem neuen Herrn bereits gehuldigt; das konnten die tief verachteten Krämer zwar thun; sie aber würden sich niemals dazu bequemen. Als sie vollends vernehmen mußten, daß Friedrich aus seinem Lande am Maine fränkische Hülfsvölker kommen ließ, um ihre Widersetzlichkeit zu bezwingen, du rüsteten auch sie sich und verbanden sich mit den Herzögen von Pommern; ihre Empörung war vollständig, und so rückten beide Gegner in’s offene Feld. Am Cremmener Damme kam es zwischen dem Landesherrn und seinen aufständigen Vasallen zu einer Schlacht; in dieser zog der Burggraf leider den Kürzeren, und verlor auch noch seinen Freund und Waffengefährten, den Grafen Johann von Hohenlohe, der mit ihm aus Franken gekommen war. Das war ein harter Schlag für einen Charakter wie Friedrich, der nach der Mark gekommen war, mit dem festen Entschlusse, dem kleinen durch Despotismus arg heimgesuchten Lande Ruhe und Ordnung und gesetzmäßige Zustände zu bringen, aber er verzagte nicht. Er zog über die Eisenfaust, die er dem Adel gezeigt hatte, einen Sammethandschuh und versuchte es in gütlichem Einvernehmen mit ihm. Namentlich handelte es sich um die Schlösser Friesack und Plaue; sie waren nur in Pfandbesitz der Quitzows, und wenn der Landesherr die darauf haftende Pfandsumme zurückzahlte, dann waren die bisherigen Inhaber verpflichtet, die Objecte an ihn wieder zurückzugeben. Friedrich sah diese beiden wichtigen Vertheidigungspunkte der Mark zwar sehr ungern in den Händen unruhiger Köpfe, wie der Quitzows, aber schließlich mußte er den Umständen dennoch Rechnung tragen und ihnen die Schlösser als Lehne auftragen, jedoch mit dem besonderen Bemerken, daß dies keine Nothwendigkeit und keine Pflicht von ihm sei, sondern nur ein Act des Vertrauens.

Die beiden Brüder rechtfertigten dieses Vertrauen sehr schlecht. Eine Weile hielten sie zwar wirklich Ruhe, aber Friede und Ordnung war nicht das Element, in dem sie sich wohl fühlten. Im Anfange vertrieb sich Johann von Quitzow die Zeit damit, das feste Haus zu Plaue, vielleicht für gewisse Fälle, in wehrhaften Zustand zu versetzen. Als das aber geschehen war, dann wurde es ihm schwül innerhalb der steinernen Mauern; die gegen den Burggrafen eingegangenen Verpflichtungen beengten und bedrückten ihn, und schon nach zwei Jahren fing er das alte Treiben wieder an und erklärte an den [532] Erzbischof von Magdeburg, mit dem sein Landesherr noch dazu verbündet war, auf eigene Faust den Krieg.

Friedrich wollte vermitteln, Frieden stiften, aber Johann von Quitzow antwortete auf die Mahnung seines Landesherrn nur mit Stillschweigen, mit Fortsetzung seiner Verheerungen und Plünderungen. Er erschien auch nicht auf die Citation des Burggrafen, sich wegen solchen flagranten Bruches des Landfriedens zu verantworten; da traf gegen den 20. Januar 1414 im Schlosse von Plaue ein Pergament Kaiser Sigismund’s ein, mit der verhängnißvollen Nachricht, daß von Kaiser und Reich die Reichsacht über ihn ausgesprochen sei. Was das bedeuten sollte, das wußte er recht gut. Er war für rechtlos und vogelfrei erklärt. Jeder konnte ihn tödten, ohne zur Verantwortung gezogen zu werden; er war seiner Lehen und all seines Eigenthums für verlustig erklärt. Ein Gleiches war mit Caspar Gans zu Putlitz und Wichert von Rochow geschehen. Johann von Quitzow hatte nicht geglaubt, daß der Burggraf so weit gehen würde, aber dessen Geduld und Langmuth war vorüber – er ging noch weiter.

Am 7. Februar des Jahres kündigte der Thurmwächter auf Plaue seinem Herrn an, daß von allem Seiten Kriegsvolk gegen das Schloß im Anzuge sei. Johann stieg auf den Thurm und erkannte, daß es die Fähnlein des Magdeburger Erzbischofs seien. Warum gerade dieser, warum nicht der Burggraf gegen ihn anrückte? Das konnte er sich nicht deuten; das sollte ihm erst später offenbar werden. Er lachte im Innern über die geringe Anzahl der gegen ihn anrückenden Streitmacht. „Der Erzbischof,“ dachte Johann bei sich, „soll sich nur an den vierzehn Fuß dicken Mauern meines Plaue seine Zähne ausbrechen! Den Quitzow wird so leicht Keiner kriegen, trotz Burggraf und trotz Reichsacht!“ Von Süd und Ost war das Schloß vom Plauersee und von der Havel umflossen; letztere war zwar zugefroren, aber das Eis doch nicht dick genug, daß es das Lager der Magdeburger hätte tragen können. Der Führer des Magdeburgischen Heeres begnügte sich daher, nur auf das gegenüberliegende Havelufer eine Abtheilung Fußvolk zu legen, mit den übrigen umlagerte er die Nord- und Ostseite des Schlosses, aber auch hier von der Landseite war das Herankommen an dasselbe sehr schwer, denn von dieser Seite schützten es sehr tiefe Gräben und hohe Mauern. Mit Hohn und Lachen sah Johann in den ersten acht Tagen allen Vorbereitungen und Anstrengungen der Magdeburger, das Schloß zu umlagern, zu; am 13. Februar aber lachte er nicht mehr. Da mochte ein lähmendes Entsetzen sein Herz fassen und eine tödtliche Blässe seine Mienen überziehen, als er bei einem Rundgange durch das Schloß einen erschütternden Donner hörte und gleich darauf von dem Thurme Steine und Geröll um ihn niederfiel. Das Winseln des wachehaltenden Knechtes veranlaßte ihn, sich nach demselben umzusehen, und was mußte er schauen? In Stücke zerrissen lag derselbe am Boden. Waltet ein böser Zauber? oder was war Das?

Johann von Quitzow sollte über die Ursache dieser Verheerungen nicht lange in Zweifel bleiben. Eine dunkle Steinkugel, die mit dem Gerölle auf den Boden gefallen war, war seine Belehrung. Dieselbe war aus der großen Donnerbüchse gekommen, die ungesehen von ihm auf dem gegenüberliegenden Havelufer in einer dazu erbauten Batterie aufgestellt und gegen die Mauern des Schlosses gerichtet worden war. Der Burggraf hatte sie von dem ihm befreundeten Markgrafen Friedrich dem Streitbaren von Meißen, Landgrafen von Thüringen, geliehen. Die Feuerwaffen waren zu damaliger Zeit zwar nicht mehr unbekannt, aber von solchem Caliber, wie die gegen das Schloß aufgefahrene, war in der Mark noch keine gesehen worden. Sie hatte in wenigen Tagen in die Mauern des Schlosses Friesack Bresche geschossen und Dietrich von Quitzow zur Flucht gezwungen, und nun sollte sie sich auch gegen Plaue bewähren. Diese Steinkugel, die auf dem Schloßhofe von Plaue lag, war die Vorbotin von anderen Hiobsposten; der Burggraf hatte mit Hülfe von Bundesgenossen, der Herzöge von Sachsen, der Grafen von Anhalt und der märkischen Städte, vier Quitzow’sche Schlösser und ein Rochow’sches zu gleicher Zeit belagert, damit Keiner dem Anderen zur Hülfe kommen konnte. Vor Friesack hatte er selbst gelegen; vor Plaue war sein Verbündeter, der Erzbischof von Magdeburg, gezogen.

Die teuflische Donnerbüchse hatte jedoch nur einige Schüsse gethan, dann schwieg sie mehrere Tage. „Sollte sie geborsten sein?“ fragte sich Johann von Quitzow. „Dann muß sie unschädlich gemacht werden, ehe der Schaden wieder gut gemacht werden kann.“ Er sammelte die Seinigen und machte aus dem Schlosse einen Ausfall, um die Schanze, hinter der das Geschütz aufgestellt war, zu stürmen, um dasselbe zu nehmen. Fast wäre es ihm auch gelungen, aber noch zur rechten Zeit deckten die Magdeburger die Batterie, so daß Johann von Quitzow unverrichteter Sache wieder abziehen mußte.

Die Donnerbüchse oder, wie wir sie zum besseren Verständniß nennen wollen, die Kanone, hatte aber nur darum geschwiegen, weil von Friesack die nöthigen Kugeln noch nicht angekommen waren, nun aber waren diese da, nun zog auch der Burggraf mit seiner verfügbar gewordenen Streitmacht heran, und nun donnerte und blitzte es gegen die märkische Zwingburg, rissen die Kugeln Löcher und Oeffnungen in die Mauern und Thürme des Schlosses, daß Johann von Quitzow zuletzt einsehen mußte, wie nutzlos seine Vorsicht war, das Schloß in dieser Weise zu befestigen, wie ohnmächtig die festesten Mauern gegen diese neue Macht sich erwiesen. Ob der von Verzweiflung erfüllte, verwegene und gewaltthätige Mann im Angesichte des Feuerschlundes, der ihn und seine ganze Existenz vernichtete, wohl inne geworden sein mag, daß der eherne Mund da drüben das Urtheil über sein und seines Anhangs Thun und Treiben spreche, daß dieser Donner die Stimme eines neuen Geistes und einer neuen Zeit sei, die ihrem trotzigen und gewaltthätigen Wesen, ihrem allem Gesetz Hohn sprechendem Handeln ein Ende mache, einer neuen Zeit, die unter der Aegide des Hohenzollers, der sie gegen ihn aufgefahren habe, dem geängstigten Lande die ersehnte Ruhe, gesetzmäßige Zustände und friedliche Entwickelung unter den Segnungen der Cultur zurückbringen würde?

Der im Innersten gebrochene Mann mußte gefühlt haben, daß solcher Macht gegenüber sein Widerstand vergeblich sei, daß der Fall von Plaue nur noch die Frage der Zeit von wenig Tagen sei. Und wenn auch Alles um ihn zusammensinke, ihn selbst sollten die Belagerer doch nicht in ihre Hände bekommen.

Durch eine kleine Pforte nach der Stadt zu war es ihm gelungen, ungesehen von seinen Feinden zu entkommen. Er versteckte sich, wie früher der Herzog Johann, so lange im Schilf und Röhricht, bis sein getreuer Knecht Dietrich Schwalbe ihm seinen Hengst zuführen konnte, mit Hülfe dessen er dann das Weite suchen wollte, vielleicht um ebenfalls, wie sein Bruder Dietrich, bei den Herzögen von Pommern ein Unterkommen zu suchen. Dietrich Schwalbe kam auch mit dem Pferde und Johann von Quitzow hielt sich schon für gerettet, aber als er das Thier am Zügel fassen wollte, scheute es, bäumte sich, machte einen hohen Satz und im Nu war es auf und davon. Es nahm spornstreichs seinen Weg mitten in das Magdeburgische Lager. Dort befand sich der Schulze von Schmitsdorf, der ebenfalls zum Kriegszug gegen Plaue aufgeboten worden war. Dieser hatte Johann von Quitzow in früheren Zeiten oft gesehen und den Hengst als dessen Eigenthum erkannt. Wo das Pferd war, da konnte der Herr auch nicht weit entfernt sein, dachte der pfiffige Landmann und ging in der Richtung, in der das Thier angesprengt gekommen war, auf die Suche aus. Er war auf richtiger Fährte; gar nicht lange brauchte er sich im hohen Röhricht dahin zu schleichen, so fand er den Gürtel und den Schild, welchen Johann von Quitzow abgenommen und auf das Eis niedergelegt hatte. Unbemerkt brachte der Schulze die beiden kostbaren Beweisstücke, daß Johann von Quitzow im Röhricht versteckt sei, in das Magdeburgische Lager zurück.

Der Befehlshaber des erzbischöflichen Heeres schickte unter Anführung des Schulzen Leute aus, welche die Rohrlache umzingelten und den entflohenen Johann von Quitzow gefangen nahmen, gerade so, wie er es vor sieben Jahren mit dem Mecklenburger Herzoge gemacht hatte. Gebunden wurde er in das Lager und dann durch das Städtchen in die Kirche gebracht und dort in den sogenannten Stock mit Ketten geschlossen. Die ganze Nacht blieb er in der Kirche und das ganze Heer kam dahin, um sich den Mann anzusehen, der während zehn Jahre der gefürchtetste, aber auch der mächtigste Mann in der Mark und weit über dieselbe hinaus war, und der nun, herabgestürzt von seiner Höhe, an Händen und Füßen angekettet, ein Gefangener, der Gnade seines Feindes, des Erzbischofs anheimgegeben war.

[533] Er hatte nur ein Auge, um die Blicke aller Derer zu ertragen, die da kamen, um ihre Augenweide an ihm zu haben, das andere Auge hatte er früher in einer Fehde gegen einen Wulffen verloren, aber dieses eine Auge ließ den stolzen, frevelhaften und gewaltthätigen Mann genug sehen, um ihm das Herz vor Gram, Schmerz und Wuth im Innersten erbeben zu lassen. So groß jedoch war selbst in seinem Falle noch die Furcht vor seinem Ansehen, daß, wie der Chronist bemerkt, Keiner von Allen denen, die nach der Kirche geströmt kamen, eine Spottrede gegen ihn gewagt hätte. So endete ein Mann, in welchem bedeutende Charaktereigenschaften vereint waren, aber auch ungezügelte Leidenschaften.

Was hätte Johann von Quitzow seinem Vaterlande werden können, wenn in ihm Mäßigung und Selbstbeherrschung gewohnt hätten! Aber solche kommen nur aus der Achtung vor den Rechten Anderer, aus der Unterwerfung unter das Gesetz. Die neue Ordnung der Dinge, die Anfänge der Gestaltung des modernen Staatsbegriffes, die mit dem ersten Hohenzollern in die Mark einzogen, waren germanisch, die Auflehnung der großen eingeborenen Familien der Mark dagegen war noch das letzte Aufflackern des wilden Kampfes, den seit Jahrhunderten das in diesen Gegenden seßhafte Slaventhum gegen das mächtig eindringende deutsche Wesen unternommen und geführt hatte. Unter der neuen Dynastie kam letzteres zum vollständigen Siege, und mit dem in Stock und Eisen gesetzten Johann von Quitzow war das Slaventhum vollständig und für immer besiegt und bewältigt. Später unterwarf er sich dem Burggrafen, der unterdeß wirklicher Landesherr und Kurfürst von Brandenburg geworden war; die Acht wurde von ihm genommen und auf seinem Schlosse Lentzen, das ihm vom Kurfürsten zu Lehen gegeben war, beschloß er 1437 im siebenundsechszigsten Jahre sein vielbewegtes Leben. Sein Bruder Dietrich war schon früher gestorben; er hatte sich dem Kurfürsten nicht gebeugt.

Jahrhunderte lang lebte das Andenken der Quitzows im Gedächtnisse der Mark fort, freilich in einer Form, die ihrem Andenken nicht schmeichelhaft war. Wenn der Märker Jemandem etwas Böses wünschen wollte, so sagte er: „Det dy de arge Quitz!“ (Daß Dich der arge Quitzow!) Von der Familie sind in neuester Zeit nur noch wenige Mitglieder übrig; die preußische Militärrangliste, die in solchen Dingen ein sicherer Führer ist, zeigt nur noch drei Quitzows auf, und Grundeigenthum besitzen sie in der Mark nicht mehr.

Von dem Schlosse Johann von Quitzow’s ist fast gar nichts mehr vorhanden; die Kugeln der großen Donnerbüchse scheinen die Mauern ganz zerstört und das Wohnhaus kaum bewohnbar gelassen zu haben. Später baute ein fränkischer Ritter, Georg von Waldenfels, dem es vom Kurfürsten in zweiter Hand übergeben worden war, das Schloß wieder auf, aber auch von diesem Baue ist nichts mehr zu sehen. Vom Quitzow’schen sind die Untermauern geblieben und im Innern kolossale Gewölbe mit labyrinthischen Gängen; noch im Jahre 1711 stand der Thurm, in dessen Gewölben Herzog Johann von Mecklenburg gefangen gesessen hatte. Der damalige Besitzer von Plaue, der preußische Minister von Görner, hatte in den Jahren 1711 bis 1716 das jetzige imposante Schloß mit einer Façade nach der Havel und zwei Seitenflügeln nach dem Garten zu in dem Schloßstile damaliger Zeit auf den alten Quitzow’schen Fundamenten aufbauen lassen. Als König Friedrich Wilhelm der Erste, der Vater Friedrich’s des Großen, auf seinen Reisen zu den Revuen nach Magdeburg bei seinem Minister in Plaue einkehrte, frug er diesen, ob er den Fuchsthurm habe stehen lassen, um etwa noch einmal einen Markgrafen darin festzusetzen. Der Minister von Görner hatte ihn allerdings bis etwa auf acht Fuß über der Erde stehen lassen, aber der Kerker, in welchem der mecklenburgische Herzog über ein Jahr lang als Gefangener festgehalten wurde, ist noch heute sichtbar, ein enger, dumpfer, niedriger Raum, in den kaum der Schimmer eines Lichts fällt und wie ihn nur die Rohheit und das Rachegefühl eines Quitzow einem Gefangenen anweisen konnte.

Heutzutage ist das Schloß Plaue im Besitze des Grafen Königsmark. In den Gemächern desselben erinnern nur noch alte Waffen und Rüstungen an seinen einstigen berüchtigten Besitzer; sonst ist nichts mehr vorhanden. In einem großen Saale des Mittelgeschosses befindet sich eine Ahnengalerie der gräflichen Familie Königsmark, aber dieselbe ist neu gemalt und von keiner historischen Bedeutung. Erwähnenswerth ist die Inschrift über der Thür dieses Saales: „Je ruhmreicher Eure Vorfahren, desto größer Eure Pflicht“, und eine andere über dem gegenüberliegenden Eingange zu den Familiengemächern: „Auch über Euch wird die Nachwelt zu Gerichte sitzen; vergesset das keinen Augenblick“. Umsonst sucht man in dem Schlosse nach einem Portrait jenes Philipp von Königsmark, des Freundes der Gemahlin Georg’s des Ersten, des Opfers der Rache der Gräfin Platen, der im Schlosse von Hannover einen so schmählichen Tod fand, und dessen Körper, um die Spur des Verbrechens zu tilgen, in ungelöschten Kalk geworfen und so zerstört wurde. Von einer andern notabeln Persönlichkeit der Familie, von Aurora von Königsmark, der Geliebten August’s des Starken, sind in einem Parterreraume noch zwei Bilder vorhanden, eines aus ihrer Blüthezeit, ein Brustbild, aus welchem in leuchtenden Zügen ihre Schönheit und ihr Reiz strahlen; sie hat das dunkle Haar einfach geordnet, mit Perlen und Diamanten geschmückt, und auf ihren Lippen das bezauberndste Lächeln; auf dem andern ist sie schon als Stiftsdame von Quedlinburg dargestellt, im schwarzen klösterlichen Gewande, aber die schöne schlanke Aurora ist hier alt und dick geworden, nur eine Schönheit ist ihr geblieben, die kleine Hand, und die einzige Freude der Welt scheint ihr auch in einem kleinen Mohrenknaben in ungarischer Tracht zu blühen, den sie glücklich umfaßt hält.

Vier Jahrhunderte sind seit den Zeiten der Quitzows vergangen; mit den Fluthen der Havel sind die Zeiten hier vorübergerauscht, und Geschlechter haben sich auf dieser Scholle festgesetzt und dieselbe dann wieder verlassen. Alles war dem ewigen Gesetze der Bewegung, des Wechsels unterworfen, nur die herrlichen klaren tiefblauen Wasser, die frischen grünen Ufer der Havel und das bewegte Leben auf dem Strome, nur die Natur und Alles, was mit natürlichen Bedingungen und Gestaltungen zusammenhängt, nur das war geblieben, und das ist’s, was der große Dichter mit seinem Worte sagen will: Nur die Natur ist redlich.




Das National-Denkmal auf dem Niederwald.


In diesem Frühjahre verkündete ein Anschlag an der Akademie zu Berlin, daß der neue Schilling’sche Entwurf zum National-Denkmale zur Erhebung des deutschen Volks und Wiederaufrichtung des Reichs in Dresden aufgestellt sei. Längst hatten mich die Werke dieses Meisters der Plastik angezogen, die sich alle durch ihre sinnige Auffassung, Schönheit und Vollendung der Form und vor Allem durch die Wiedergabe echt deutschen Charakters auszeichnen. Was sind das für liebliche deutsche Kindergesichter an den Gruppen: Morgen, Mittag, Abend und Nacht auf der Brühl’schen Terrasse in Dresden; wie zeichnen sich seine Frauengestalten durch edle Weiblichkeit und alle die Formen und Züge aus, die wir an unsern Mädchen schätzen, wenn wir sie schön und edel zugleich nennen; welche ideale Gestalt ist sein Schiller, und wie ergreifend wirkte der sieggekrönte Entwurf zu dem Kriegerdenkmal, welches Hamburg seinen gefallenen Söhnen errichten will! Mit hohen Erwartungen betrat ich den Uhrsaal im Akademiegebäude. Sie wurden aber weit übertroffen durch das ausgestellte Werk, dessen plastische Ruhe und äußere Vollendung noch durch den günstigen Aufstellungsort und das einfallende Oberlicht gehoben wurden.

Obwohl Photographie und Zeichnung ein plastisches Werk nur unvollkommen wiedergeben können, wird sich der Leser doch an der Abbildung erfreuen, und ich bin sicher, daß er meine Eindrücke theilt. Bezaubernd durch seine geniale Erfindung und Schönheit, bewunderungswürdig klar und verständlich, zog mich das Modell an, und je länger ich dasselbe betrachtete und von allen Seiten umging, desto mehr wurde ich dafür eingenommen. Ich urtheilte nur als Laie und als Mitglied des großen

[534]

Das National-Denkmal auf dem Niederwald.
Zum Andenken an die einmüthige siegreiche Erhebung des deutschen Volkes und die Wiederaufrichtung des deutschen Reiches.
Nach dem Modell des Professor Johannes Schilling in Dresden.

[535] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [536] Publicums. Als kurze Zeit darauf auch die Jury das Werk als überaus gelungen bezeichnete und zur Ausführung empfahl, da überzeugte ich mich auf’s Neue, daß das wirklich Schöne auch von dem Laien herausgefunden wird und daß man sich darin auf sein eigenes Gefühl verlassen kann. Ein einfacher klarer Gedanke, getragen von dem Volksgenius und verkörpert in tief empfundener Weise, erringt sich auf dem Kunstgebiete die allgemeine Anerkennung, und ich bin mir klar darüber geworden, daß darin wesentlich der Zauber in dem Schilling’schen Entwurfe liegt.

Wenn in Zukunft das Denkmal auf Bergeshöhe thront, bedarf es keines Commentars und keines Erklärers. Es redet selbst davon, wie das Volk sich einmüthig erhob und die lange verlorene und ersehnte Einheit wiedergewann. Schmucklos und einfach stehen auf dem Postamente die Worte:

Zum Andenken
an die einmüthige siegreiche Erhebung des deutschen Volkes
und die Wiederaufrichtung des deutschen Reiches.

Aber so einfach die Worte sind, so inhaltsvoll reden sie.

Als der Friede geschlossen war und der Aufregung des Kriegs die erhebende Freude über das Errungene folgte, da gab sich im ganzen deutschen Volke eine Bewegung kund, die große durchlebte Zeit in dauernden Erinnerungszeichen festzuhalten. Fast in jedem Dorfe rauscht jetzt eine Friedenseiche; aller Orten wurden dem Gedächtniß der ruhm- und siegreich gefallenen Brüder Denkmale gesetzt. Aber wie sich alle Einzelinteressen zu einem großen Ganzen vereinigten und wie die lang erträumte Einheit überall als der höchste Gewinn empfunden wurde, so regte sich auch alsbald der Gedanke, in einem gemeinsamen Denkmale die große Zeit zu feiern und den kommenden Generationen in Stein und Erz vor Augen zu halten, was die einige Nation errungen hat und wie sie allein das Vaterland und ihre höchsten Güter schützen kann. Auf freier Bergeshöhe, im Mittelpunkte des geeinten Nordens und Südens, an den Ufern des Rheins, um den der Kampf entbrannt war, da sollte sich die Nation selbst ihr Denkmal errichten.

Dem Gedanken folgte rasch die That. Männer aus allen Parteien und allen Theilen Deutschlands traten zusammen und forderten unsere ganze Künstlerwelt zur Lösung der Aufgabe in freiem Wettbewerbe auf. Die edelsten Kräfte widmeten sich derselben; Sculptur und Architectur stritten wiederholt um die Palme des Siegs. Sie wurde Professor Johannes Schilling von Künstlern und Publicum in voller Uebereinstimmung zuerkannt.

Zur Lösung der gestellten Aufgabe hat der Künstler an das Lied: „Die Wacht am Rhein“, welches in den Kriegsjahren zum Ausdrucke der nationalen Begeisterung geworden ist, angeknüpft. Die Hauptdarstellung an dem quadratischen Postamente gilt diesem Liede. Links steht der Kriegsgenius, der den jähen Kriegsruf erschallen läßt. Das große Relief in der Mitte versinnbildlicht, wie die ganze Wehrkraft Deutschlands sich um den königlichen Feldherrn schaart, um einzustehen für die Unantastbarkeit des deutschen Vaterlandes. Die Gestalt des Friedens, der dem deutschen Boden erhalten blieb, schließt die Darstellung auf der rechten Seite ab. Das Relief und die Genien stehen in directem Zusammenhange mit dem darunter befindlichen Texte des Liedes: „Die Wacht am Rhein“.

Den Ausgang des großen Kampfes stellt die Germania dar, vor ihrem Throne stehend, gestützt auf das lorbeerumwundene, zum Frieden gesenkte Schwert, im Siegeskranz die deutsche Kaiserkrone, das Symbol der vollendeten Einigung, emporhaltend.

Wie edel ist diese Gestalt erfunden! Wie stolz und freudig-erregt schaut das Auge von der Höhe des gewaltigen Aufbaus herab auf die deutschen Gauen, die das Volk in Waffen dem Vaterlande erhalten hat, bis hinüber zu den erweiterten Grenzen; wie echt deutsch ist diese jugendschöne Germania, so deutsch, daß man sagen könnte: lebte diese herrliche Frauengestalt, ihre blauen Augen würden uns tief in das Herz hineinschauen!

In der Mitte des breiten Sockels auf hervorspringendem niedrigem Postamente zeigt uns die, ist reizvollen Linien componirte Gruppe den gewappneten Vater Rhein, welcher das Wachthorn an die jugendliche Mosel abgiebt.

Mit dem Relief in gleicher Höhe sind an den drei andern Seiten große Schrifttafeln angebracht, auf denen die Geschichte der Erhebung, des Kriegs und der Wiederaufrichtung des Reichs verewigt werden soll. Die Namen der großen Siege aber sollen auf den oberen Seitenflächen des bekränzten Postaments ihren Platz finden, welches mit dem schirmenden Reichsadler und den Wappen aller deutschen Staaten geschmückt ist. Den großen Festplatz vor dem Monumente begrenzt beiderseits eine terrassenförmig abgestufte Mauer, die in der Basis mit kolossalen Candelabern endigt. Damit das Ganze in seinem Aufbau von verschiedenfarbigem Granit und mit seinen ehernen Figuren auch in der Ferne einen imponirenden Eindruck mache und sich in scharfen Contouren frei gegen den Himmel abhebe, wird das Monument eine Höhe von circa 26 Meter und die Germania insbesondere eine solche von 8,75 Meter erhalten.

Das ist das Denkmal, das in seinen großartigen und harmonisch schönen Formen die jüngsterlebte Zeit zu monumentalem Ausdrucke bringen soll. Stände es nur schon auf der schönen Bergeshöhe, umrauscht vom deutschesten Strome, dem Rheine, umklungen von der Sage und Dichtung, umringt von fröhlichem deutschem Volke, das von weit und breit herbeiströmt, um dort unter dem Sinnbilde der Einigkeit, der Stärke und des Friedens seine nationalen Feste zu feiern!

Noch habe ich den Eindruck tief im Herzen, den der Niederwald auf mich gemacht hat. Erhaben über dem Gedränge und Treiben der Menschen, über dem Jagen der Schiffe und Bahnen thront ein Hochwald, dessen majestätischer Dom eine weihevolle Stimmung hervorruft. Tritt man hinaus an den Saum des Waldes, so haftet das Auge entzückt auf der Schönheit der Landschaft. Breit strömt der Rhein dahin, von Inseln mit hohen Baumschlägen malerisch unterbrochen, an seinen Ufern mit Städten und Dörfern übersäet, umsäumt von Hügeln, auf denen die Rebe glüht, und von den in herrlich geschwungenen Linien langsam zurücktretenden Höhen des Taunus. Wie ein breites Silberband windet sich von weit her die Nahe dem Rheine zu, um vereint mit ihm das Felsenthor zu durchbrechen, als dessen Hüter noch heute der Mäusethurm dasteht. Wie rauschen die Wasser, wie schäumen die Wellen über die öden Felsenklippen der Lurlei zu! Wie lenkt sich der Blick auf die redenden Zeugen vergangener Jahrhunderte: auf die verfallenden Ritterburgen und die in Trümmer gesunkenen Schlösser alter, längst ausgestorbener Geschlechter! Aber oben auf der Höhe, über den Marksteinen der alten und der neuen Zeit, da thront der Niederwald in immer gleicher Ruhe und mit nie verwehender Poesie.

Wem öffnet sich nicht das Herz, wenn er hinunterschaut in die gesegneten Fluren des Rheingaus und des Nahethales, und wer empfindet nicht jetzt heißen Dank, daß diese Perle deutscher Lande durch das Blut seiner Söhne dem Vaterlande erhalten worden ist? Als die Kriegswolke drohend aufzog, da durchzuckte, wie ein Blitz, Entrüstung Aller Herzen; wie Donnerklang ertönte plötzlich nur ein Gesang durch ganz Deutschland, und alsbald ergossen sich wie ein Strom, dem nichts Widerstand leisten kann, die Heeresmassen an den Rhein. Da unten zogen sie Alle vorbei, und herauf ertönte alsbald der Schlachtendonner von den Spicherer Höhen und die schmetternden Victorias aus allen Städten und Dörfern. Als vollgültiger Zeuge erzählt der Niederwald, wie unsere Heere hinausgezogen, wie die Verwundeten mit liebevoller Pflege empfangen, wie die Sieger heimgekehrt und wie wieder ein deutscher Kaiser zuerst den freien deutschen Rhein begrüßte, den er so kraftvoll an der Spitze von Deutschlands einigen Söhnen geschirmt hatte. Das Alles hat der Niederwald gesehen, und reden möchte er durch Künstlers Hand, was ein einiges Volk vermag.

Unser Kaiser hat die Sprache gebilligt, welche der Niederwald reden will. Prüfend hat er dem Entwurfe des Denkmals seinen Beifall gezollt; ausschauend von dem zukünftigen Standorte in das herrliche Rheinthal hat er die baldige Ausführung dort gewünscht, und werkthätig, wie immer, hat er bestimmt, daß die Germania aus eroberter Geschützbronze gegossen und die Werkzeuge des aufgedrängten Krieges in die Gestalt des Friedens verwandelt werden.

Und jetzt überall Hand an das Werk! Wir selbst, die Nation, wollen uns das Denkmal, einen Triumph deutscher Kunst und ein Zeichen wiedergefundener Einheit, erbauen.

So lange die Idee noch keine Gestalt gewonnen hatte, [537] blieben die Hände zweifelnd geschlossen: jetzt aber wirke Jeder mit, daß die Bausumme, die dreimalhunderttausend Thaler, rasch zusammengebracht werden! Binnen Kurzem wird der Verein von Männern, welche sich als Comité an die Spitze des Unternehmens gestellt haben, einen warmen Aufruf zur Beisteuer von Gaben zur Vollendung des Denkmals erlassen. Und wer sich nicht gedulden kann, bis dieser Aufruf erscheint, der folge meinem Beispiele! Ich habe die geniale Idee eines zukünftigen Finanzministers, von jedem wohlhabenden Deutschen einen Thaler durch Postvorschuß zu erheben, für zu umständlich gehalten und gedacht, man könne mich am Ende vergessen. Ich habe mir erfragt, daß das Haus S. Bleichröder zu Berlin und die Deutsche Vereinsbank zu Frankfurt am Main die Beiträge sammeln, und habe meinen Thaler dorthin geschickt. Wer folgt mir nach?

O. S.




Blätter und Blüthen.


Beitrag zum Volksaberglauben. Daß in Bezug auf wichtige Familienereignisse im Volke noch ein Stück Aberglauben herrscht, ist wohl mehr oder weniger Jedem bekannt, der Gelegenheit gehabt hat, mit dem Volke zu verkehren, und mit Interesse dem Denken und Thun desselben gefolgt ist. Doch sind auch wieder in verschiedenen Gegenden unseres Vaterlandes die Aeußerungen des Volksaberglaubens selbst so verschieden, daß es wohl für den Forscher die Mühe lohnt, dem inneren Zusammenhang desselben in verschiedenen Gegenden nachzuspüren. Nachfolgende Zeilen, deren Stoff dem nördlichen Theile der Mark Brandenburg angehört, mögen Beiträge hierzu liefern.

Ein Wohnungswechsel darf nicht am Montag stattfinden, wenn er nicht unglückbringend sein soll; am Donnerstag darf kein Dienstbote seinen neuen Dienst antreten; am Freitag darf keine größere Reise unternommen werden, wie auch der Beginn der Fahrt am Freitag dem Schiffer ein böses Omen ist. Die Kamille wird in jedem Hause als Hausmittel gehalten, ist aber besonders wirksam und heilkräftig, wenn sie am Johannistage (24. Juni) gepflückt worden ist. Dem Neugebornen muß, wenn es ein Knabe ist, der Vater den ersten Kuß geben, damit er einen ordentlichen Bart bekomme, der das Mädchen verunzieren würde. Dieses bekommt deshalb den ersten Kuß von der Mutter oder von sonst einem weiblichen Wesen. Das erste Zeug, Hemdchen etc. sei nicht neu, sonst zerreißen die Kinder zu viel Kleider, wenn sie größer werden. Darum wird das Zeug der älteren Geschwister für spätere Fälle sorgsam aufbewahrt. Beim Erstgebornen muß eine Freundin oder Nachbarin mit gebrauchter Wäsche aushelfen. Kommen die Nachbarinnen während des Wochenbettes zum Besuch, so sollen sie gemeiniglich das kräftige, wohl auch schon das kluge Aussehen des Kindes loben dürfen, dabei aber ja nicht vergessen hinzuzufügen: „Unberufen!“ oder „segne’s Gott!“ Selbstverständlich findet jede sogleich die größte Aehnlichkeit mit dem Vater oder der Mutter heraus. Daß dabei zuweilen die wunderlichsten Dinge zu Tage kommen können, beweist folgende Geschichte, die sich vor mehreren Jahren im Dorfe M. zugetragen hat. Dem Schreiber dieses wurde sie von einem nahen Verwandten der Familie selbst mitgetheilt.

Bei strenger Winterkälte wurde die Frau eines kleinen Kossäthen von einem Knaben entbunden. Wie gewöhnlich wurden die Fenster dicht verhängt, so daß es im Zimmer ziemlich dunkel war. Den Säugling hatte die Mutter zu sich in’s Bett genommen. Vor dem Bette stand zwar die Wiege; in diese hatte man aber eines der kleinsten, wenige Tage alten Ferkelchen gebettet, weil es draußen im Stalle fast erfroren, oder, wie der volksthümliche Ausdruck heißt, „verklahmt“ war. Gegen Abend kommt eine der Nachbarinnen, um sich nach dem Befinden zu erkundigen und den „lütten Jung’n“ zu sehen. Nach den ersten einleitenden Redensarten beugt sie sich denn vorsichtig über die Wiege und bricht gewohnheitsmäßig gedankenlos in die schmeichelhaft sein sollenden Worte aus: „Du lever Gott, de lett doch justement wie de Oll!“ (Der sieht doch gerade aus wie der Vater!) Erschrocken schlägt die Wöchnerin die Hände zusammen und entgegnet: „O nä, Vaddersch, Du büst woll goar nich recht klook – dat is joa uns lütt Farken. Den Jung’n hew’k bi mi in’t Bett.“ Darauf setzt sie ihr denn die Veranlassung zu dieser ominösen Verwechselung auseinander.

Jungen Mädchen soll es Glück bringen, wenn sie zum ersten Male bei einem Knaben Gevatter stehen, besonders aber, wenn sie diesen über dem Taufbecken halten oder wohl gar nach Hause tragen dürfen. Dieses Letztere soll aber im Geschwindschritte geschehen. Während der Taufe ist es nöthig, daß die Mutter neunerlei Arbeiten verrichte, damit der Täufling fleißig und geschickt werde. Ist es ein Knabe, soll sie lesen, schreiben etc., damit er tüchtig lerne; wogegen die Mutter während der Taufe eines Mädchens weibliche Handarbeiten und häusliche Verrichtungen vornehmen soll. Dadurch wird bei dem Täuflinge Liebe zu den betriebenen Beschäftigungen hervorgebracht. Dabei soll sie wenig sprechen und nicht aus dem Fenster sehen, sonst wird das Kind geschwätzig und neugierig; auch soll sie während dieser Zeit nicht essen oder trinken, damit das Kind später nicht Alles verbringe. Bis zur Taufe soll die Mutter nicht aus dem Hause gehen, und erst nach dieser und nach dem am nächsten Sonntage stattfindenden Kirchgange darf sie die erhaltenen Besuche erwidern.

Auch bei Trauungen sind gewisse Gebräuche wohl zu beachten, da sie glückbringend sind. Während des Ganges zur Kirche sowohl wie auch in dieser selbst darf von den Brautleuten keines sich umsehen, denn es sieht sich ja dann schon nach einem zweiten Gatten um, und der neben ihm stehende muß bald sterben. Die Braut thut wohl, sich in einen Schuh ein Stück Geld zu legen, damit sie im Wohlstande bleibe, respective in denselben komme; beim „Ja“-Sagen soll sie nicht so laut sprechen, aber leise dem Bräutigam auf den Fuß treten, daß ihre Herrschaft im Hause gesichert bleibe. Beim ersten Ueberschreiten der Schwelle des Wohnhauses geht die Frau voran, sie darf aber nicht auf die Schwelle treten, sondern sie muß über dieselbe hinwegschreiten. Ein Stück Brod von der Hochzeitstafel, aufbewahrt beim Brautkranze, bewirkt, daß die Eheleute später ihr Brod haben.

Bei Sterbefällen giebt es der abergläubischen Gebräuche sehr viele. Wie der Tod selbst für das schlichte Gemüth etwas Geheimnißvolles ist, so wird auch Alles, was mit demselben zusammenhängt, Begräbnißfeierlichkeit etc., geheimnißvoll behandelt. Weniger als bei anderen Gelegenheiten wird nach Gründen, nach dem Zusammenhange von Ursache und Wirkung gefragt.

Federn vom Hahn stopft man nicht in Betten, weil dadurch dem darin Sterbenden der Todeskampf zu sehr erschwert werden soll. Ist für den Schwerkranken ersichtlich der Augenblick des Sterbens gekommen, so wird schweigend ein Fenster oder die Thür geöffnet, damit die Seele einen Ausgang habe. Selbst in der Nacht soll jedes Familienmitglied munter sein, und sollte bei ganz kleinen Kindern es unthunlich sein, sie aus dem Bett zu nehmen, so werden sie zum wenigsten munter gemacht und ihnen sogleich die Nachricht gesagt, sollten sie auch nichts davon verstehen. Der Tod des Hausherrn oder der Hausfrau wird den Hausthieren, dem Vieh im Stalle angezeigt. Ist er Bienenzüchter, so muß so auch den Bienen von dem Verlust des Pflegers Anzeige gemacht werden. Ist es Winter, wo die Bienen nicht fliegen, so klopft der Bote an den Korb und sagt es ihnen leise; sie möchten sich sonst todt grämen und der Bienenstand eingehen. Auch müssen die Blumentöpfe im Zimmer von der Stelle gerückt werden. Nachbarn graben das Grab und nehmen zu demselben mit zwei dünnen Ruthen an dem Sarge nach Länge und Breite Maß. Diese Stäbe dürfen aber nicht anderweit verwendet werden, sondern bleiben auf dem Grunde des Grabes liegen, so daß der Sarg auf ihnen steht. Der Leiche wird eine kleine Geldmünze in den Mund gesteckt, analog dem Gebrauch der Griechen, dem Todten einen Obolus für Charon, den Fährmann der Abgeschiedenen, mitzugeben. So lange die Leiche im Zimmer steht, wird der Spiegel verhängt. Ist am Begräbnißtage der Leichenzug vom Gehöft herunter, so wird etwas Wasser aus der Hausthür gegossen, auch wohl mit dem Besen vor derselben gefegt, damit der Verstorbene nicht wiederkomme und gespenstisch umgehe. Vom Gefolge darf sich Niemand umsehen, sonst stirbt in demselben Hause bald wieder Jemand. Dieser Glaube, wie der folgende, zeigt offenbar deutliche Aehnlichkeit mit dem Vampyrglauben. Kein Leidtragender soll eine Thräne in den Sarg fallen lassen, denn der Todte würde keine Ruhe im Grabe finden und bald den Weinenden nachholen. Aus demselben Grunde soll nichts Ererbtes ober mit fremdem Namen Gezeichnetes mit begraben werben. Wozu das führen kann, mag folgende wahre Geschichte beweisen, die sich vor zwei Jahren in M., unweit der mecklenburgischen Grenze, zugetragen hat, und die schließlich mit gerichtlicher Untersuchung und Bestrafung der Betheiligten endigte.

Wie fast in jedem Orte, giebt es auch hier Familien, die Generationen hindurch als wohlhabende und angesehene Leute ansässig waren und deßhalb eine ausgedehnte Verwandtschaft haben. Eine solche Familie – nennen wir sie Buchhorst, da den richtigen Namen zu nennen die Rücksicht auf die Betheiligten verbietet – war in mehreren nahe verwandten Linien hier heimisch. Eine alte kinderlose Tante, eine verwittwete Fuhrmeister, war im Orte allgemein geachtet und beliebt, so daß Jung und Alt sie schlechthin nur „Tanten“ nannte. Sie starb vor nun bald drei Jahren. Da ihr Begräbniß ein „großes“ werden sollte, mußte dasselbe, der dazu nöthigen Vorbereitungen wegen, so weit als möglich hinausgeschoben werden. Da „Tanten“ ziemlich corpulent gewesen war, schwoll der Leib stark auf. Um dieses nach Möglichkeit zu verhindern, wurde auf den Unterleib eine große zinnerne Schüssel gelegt, um, vermöge ihrer Schwere, das gewaltige Auftreiben in etwas zu verhüten. Nun war aber diese Schüssel, wie das übrige Küchengeschirr, theilweise schon seit über hundert Jahren Eigenthum der Familie gewesen und in derselben fortgeerbt, auch, wie das gebräuchlich ist, gezeichnet mit dem Namen des ersten Besitzers und der Jahreszahl der Anschaffung.

Nach dem Tode von „Tanten Fuhrmeister“ erkrankte bald ein zweites Glied der Familie Buchhorst und starb, kurze Zeit darauf ein drittes. Als in nicht allzulanger Zeit das Haupt einer dieser Familien nun auch von einer langwierigen Krankheit befallen wurde, die schon früher ein Mitglied der Familie hingerafft hatte, wurden bald im Geheimen bedenkliche Reden geflüstert. „Tanten“, die doch bei Lebzeiten in allgemeiner Achtung gestanden hatte, holte die ganze Familie nach.

Endlich fand die Leichenwäscherin die vermeintliche Ursache dieser sehr bedenklichen Erscheinung. Sie fragte bei den am nächsten Betheiligten nach, ob bei „Tanten’s“ Begräbniß auch Jemand die zinnerne Schüssel aus dem Sarge genommen habe. Niemand hatte sie im Besitz, es wollte sie auch Niemand herausgenommen haben. Jetzt wurde man sich klar über die häufigen Todesfälle in der Familie und sah mit Entsetzen die traurige Gewißheit vor Augen, daß binnen Kurzem die ganze Familie aussterben müsse, denn die gezeichnete Erbschüssel war mit „Tanten“ begraben worden und Tante holte unerbittlich alle Familienmitglieder in Bälde nach, so lange die verhängnißvolle Schüssel bei ihr im Grabe ruhte.

Nach längeren und, wie man sich vorstellen kann, gewiß ernsthaften, eingehenden Familienberathungen wurde endlich ein verzweifelter Entschluß gefaßt, den nur finstrer Aberglaube und ängstlichste Liebe zum Leben eingeben kann. „Tanten’s“ Grabesruhe mußte gestört werden. Der Todtengräber wurde in’s Geheimniß gezogen, und in einer dunklen Nacht wurde mit dessen Hülfe beim Schein einer Blendlaterne von den Betheiligten das Grab geöffnet, vom Sarge der mit Schrauben befestigte


Hierzu die „Allgemeinen Anzeigen zur Gartenlaube“, Verlag von G. L. Daube & Comp.

[538] Deckel abgehoben und die verhängnißvolle Schüssel herausgenommen. Bei Tagesanbruch war Alles wieder wie vorher.

Doch wurde später diese That bekannt, und die Betheiligten wurden laut richterlichen Erkenntnisses wegen Uebertretung der §§ X. des Strafgesetzbuches unter Annahme mildernder Umstände zu einigen Wochen Gefängniß verurtheilt. Der Todtengräber wurde abgesetzt. Da aber bis jetzt weiter keine Sterbefälle in der Familie vorgekommen sind, so tröstet sich Jeder über seine Strafe mit dem Bewußtsein, der „seligen Tante“ Ruhe im Grabe verschafft, sich und den Seinigen aber das Leben gerettet zu haben.

Spricht wohl noch irgend Etwas energischer für die Forderung vernünftiger Volksbildung und gesunder Volksaufklärung?

G–k.




Die Wildschützen der baierischen Berge. Aus den Bergen namentlich den baierischen, sind neuerdings wiederholt Berichte über Wilddiebereien der kühnsten und verwegensten Art eingegangen. Die Unerschrockenheit und zähe Beharrlichkeit, welche die Wildschützen bei der Ausübung ihres Handwerks den drohenden Gefahren desselben entgegenbringen, ist psychologisch nicht uninteressant und läßt auf die dämonische Gewalt schließen, welche das unerlaubte Waidwerk auf das menschliche Gemüth ausübt. Es hat Erlebnisse in seinem Gefolge, die oft schauriger Natur sind.

Schilderungen von Jägern, die an’s Kreuz geschlagen oder an Baumstämme gebunden wurden und verhungern mußten, sind zur Genüge bekannt und nicht immer ganz wahr; die nachfolgende Geschichte ist mir von einem der Helden vollkommen verbürgt und überdies im Munde des Volkes.

Vor einigen Jahren war in Gmund am Tegernsee ein Förster angestellt, der bald durch strenge Ahndung jeglichen Forstfrevels den Haß der Bevölkerung auf sich gezogen hatte. Statt, wie es das Vernünftigste gewesen wäre, sich in ein anderes Revier versetzen zu lassen, lachte er des stillen, ohnmächtigen Grimmes und wurde immer unduldsamer. Eines Tages traf er im Walde einen harmlosen, vierzehnjährigen Buben, der ein einspänniges Wägelchen lenkte. Auf letzterem lag, mit Tannenreisern bedeckt, ein frischgeschossener Hirsch. Die Frage des Försters, woher das Wild sei, beantwortete der junge Bursche, wie sich später herausstellte, in wahrheitsgetreuer Weise; er sagte nämlich, ein Jagdgehülfe habe ihn gedungen, an einem bezeichneten Orte das erlegte Wild abzuholen. Jedenfalls hatte der dürftig besoldete Gehülfe die Beute auf eigene Faust verwerthen wollen; allein der Förster, der den wirklichen Sachverhalt wohl erkennen mochte, erklärte den Burschen dessenungeachtet als seinen Gefangenen und ließ ihn vor sich her im Schritte dem Forsthause zufahren. Dort schlug er den Armen mit einem Knüppel, bis er ohnmächtig war, und band ihn mit Händen und Füßen an das Treppengeländer, wo er ihn die ganze Nacht schweben ließ. Am nächsten Morgen mußte der gequälte Bube mit dem Förster auf’s Gericht nach Miesbach; doch noch bevor sie dahin gelangten, ging dem jungen Menschen, der wieder allein auf dem Wägelchen war, das Pferd durch. Obwohl an eine Flucht nicht zu denken war, nahm doch der Förster den Stutzen vom Rücken und schoß den Burschen mitten durch den Kopf.

Auf diese That hin lohte der mühsam verhaltene Zorn der Bevölkerung der Nachbarschaft in lichten Flammen auf; laut erscholl der Racheschwur im ganzen Bezirke. Kein Jäger wagte sich mehr allein in den Wald; nur gruppenweise und in mondhellen Nächten streiften sie scheu durch die Berge. In einer solchen Nacht – es war im September – schritt der erwähnte Förster mit zwei Gehülfen durch das Gehölz am Abhange des Westerberges; die Büchsen glänzten im Strahle des Mondes, und in den Gebüschen spielten die gespenstischen Schatten der drei Männer, die manchmal vorsichtig lauschend stehen blieben. Vor einer Waldlichtung machten sie Halt, um abzuwarten, bis der Mond hinter eine Wolke treten würde, da sie nicht wagten, den hellbeleuchteten schutzlosen Plan zu überschreiten. Endlich setzen sie ihren Marsch fort; schon ist das Ende der Lichtung erreicht; da brechen plötzlich sieben vermummte Burschen hinter den Tannen hervor, und es entspinnt sich ein grausiger Kampf. Die Jäger wehren sich tapfer, aber sie erliegen der Uebermacht. Von Schlagringen und Messern gräßlich bearbeitet, sind sie in’s Moos gestreckt, und zufrieden mit ihrer Rache entfernen sich die Mörder von der blutigen Stätte. Aber bald kehren zwei zurück, um zu untersuchen, ob die Opfer auch wirklich todt sind.

„Hies (Matthias)!“ sagt der Eine, „ich mein’ der Jagdg’hülf von Schliers lebt noch. Geben wir ihm den Rest!“

„Warum nit gar? Der ist maustodt und steht nimmer auf. Dem hat mein Knicker ’s Lebenslicht auf ewig ausblasen,“ ist die selbstbewußte Antwort des Andern, und die Beiden entfernen sich.

Aber der Jagdgehülfe war nicht todt und hatte die Mörder erkannt. Er brachte sie zur Anzeige, und eine langjährige Gefängnißstrafe gab denselben Gelegenheit über das Entsetzliche ihrer Handlungsweise nachzudenken. Trotz der Sühne des Gesetzes nahmen auch noch die Jäger Privatrache und erschossen den Sohn eines der betheiligten Männer, den sie beim Wildern ertappt hatten. Der bejahrte Vater lebt jetzt noch als begüterter Bauer nicht weit vom Orte des nächtlichen Mordüberfalles.

Aehnliche Vorfälle ereigneten sich früher in allen Bezirken des bairischen Hochlandes und sind auch gegenwärtig noch immer zu befürchten.

Doch hinweg von diesen blutigen Scenen zu ein paar lustigen Wildschützenstücklein der letzten Jahre!

Der „Schuß-Maxei“ ist ein weitbekannter Bauer, der, wenigstens früher nicht mit Unrecht, im Verdachte des Wilderns stand. Lange hatte er sein Handwerk betrieben, ohne erwischt zu werden; er war den Jägern immer zu schlau gewesen. Aber einmal, als er eben einen schweren Rucksack nach der ihm gehörigen Almhütte tragen wollte, begegnete ihm ein Forstgehülfe und hielt ihn an. Richtig war im Rucksack ein Rehbock. „Nun, jetzt bin ich halt a mal eingangen,“ sagte gutmüthig der Maxei. „Jetzt geh’ ich in Gottes Namen mit Dir auf’s Gericht; den Kopf werden’s mir nit ’runterreißen.“

Der Jäger nahm ihm die Büchse ab, und Beide stiegen in bester Eintracht thalabwärts, der Gehülfe froh über seinen guten Fang und der Schuß-Maxei heimlich in sich hineinlachend. Als sie am Hause des Letzteren vorbeikamen, meinte Dieser, es schicke sich doch nicht, in seinem schmutzigen Anzuge zum Herrn Landrichter zu gehen; er wolle erst sein Feiertaggewand anlegen. Der Herr Jäger könne indeß ein paar Gläschen Kirschengeist bei ihm trinken. Dieser machte zwar einige Einwendungen, allein die Aussicht auf den genannten geistigen Genuß überwog endlich seine Bedenken.

Im Hausflure legte Maxei den Rucksack in eine Ecke und trat mit dem Jäger in die Wohnstube, wo sein Weib war. Mit einigen Worten setzte er ihr die Situation auseinander und flüsterte ihr rasch etwas zu, als der Jagdgehülfe sich eben in den aus dem Wandkasten geholten Schnaps vertiefte.

Das Weib eilte hinaus und brachte das „schöne Gewand“ ihres Mannes, der sich trotz dem Drängen des Jägers mit seiner Toilette nicht sonderlich beeilte. Endlich mußte er doch aufbrechen und nahm im Flure seufzend den schweren Rucksack wieder auf. Unterwegs nach dem Gerichte seufzte er dem Gehülfen eine ganze Jeremiade vor, von dem Unglücke, in das er gestürzt werde, bat ihn, daß er ihn für diesmal noch gehen lasse, er wolle gewiß nicht mehr wildern – aber der grausame Jäger blieb unerbittlich. Maxei mußte auf’s Gericht. Der Landrichter empfing den Arrestanten lachend und sagte:

„Haben sie Dich endlich einmal ertappt, Maxei?“

Aber Dieser nahm die treuherzigste Miene an, die ihm zu Gebote stand, und antwortete:

„Gnaden, Herr Landrichter, ich weiß nit, was der Mann da hat; er muß nit recht bei Trost sein. Fangt mich da ab, wie ich ganz still von meiner Alm ’runter ’n Gaisbock trag’n will, den ich heut’ abg’stochen hab’, und sagt, ich müßt’ auf’s G’richt.“

Da macht der Maxei seinen Rucksack auf und zieht an den Hörnern einen Gaisbock heraus, den seine Frau hineinprakticirt hatte. Natürlich brachen die Beamten und Schreiber in ein lautes Gelächter aus, während der Jäger sich gewaltig ärgerte; wenn auch Alle den Sachverlauf ahnten, so war doch nichts zu machen, und Maxei trug lustig und sich in’s Fäustchen lachend seinen Gaisbock wieder nach Hause. –

Ein andermal kam ein Jagdgehülfe athemlos zum Förster nach Schliers und erzählte, daß er den ältern Stubenbauer auf dem Brecherspitz wildernd getroffen und erschossen habe. Fünf Minuten später trat der Todtgeglaubte zur Thür herein und erklärte, dem Förster das noch schuldige Holzgeld zahlen zu wollen. Er war wirklich von der Kugel des Jägers in den Schenkel getroffen worden und hatte sich mühsam heruntergeschleppt. Um den Verdacht von sich abzuwenden, falls ihn der Gehülfe erkannt hätte, hielt er es für’s Beste, sich dem Förster als gesund zu zeigen, und es gelang ihm auch mit Aufwand aller Kräfte, denselben zu täuschen. Aber die Sache wurde doch ruchbar, und ein paar Tage darauf kam der Bezirksarzt, um den Stubenbauer zu untersuchen. Nicht wissend, daß die Stubenbauern zwei Bruder waren, visitirte er den Jüngern, an dem sich natürlich keine Spur einer Schußwunde fand, während sich der Schuldige in der Kammer daneben auf seinem Schmerzenslager befand.

Derartige Geschichten circuliren nach Dutzenden und söhnen wieder etwas mit dem Wildschützenwesen aus; aber trotz alledem ist es doch zu wünschen, daß der gesetzliche Sinn im Volke endlich Platz greift und den Vergehen gegen Wald und Wild ein Ende macht oder, wenn das nicht möglich ist, sie doch auf einzelne Fälle reducirt.

Fr. Kr.




Vom großen Unbekannten. Zehn Jahre sind nun verflossen, seit der Tod das Räthsel löste, das über dem Leben eines Mannes geschwebt, dem wir unbeirrt den Rang unter den ersten deutschen und englischen Romanschriftstellern einräumen dürfen. Drei Nationen stritten sich ähnlich wie bei dem mythischen Homer um die Ehre der Landsmannschaft des Dichters Sealsfield. Der „große Unbekannte“, wie Rudolf Gottschall ihn nannte, scheint nun aber das Loos aller großen Männer theilen zu müssen, er, dessen Leben zwei Welten umspannte, dessen Ruhm die ganze gebildete Welt erfüllte, scheint gerade am wenigsten im Gedächtnisse seiner engeren Landsleute zu leben. Nichts erinnert in Znaim bisjetzt daran, daß es die Stätte der Jugendzeit Sealsfield’s gewesen, daß das hiesige Gymnasium dem regen Geiste desselben die erste Nahrung geboten.

Nur im einsamen Walde draußen, auf einem romantisch von aller Welt abgekehrten Plätzchen, das die Tradition als Lieblingsstätte des Gymnasiasten Karl Postel bezeichnet, hat ein Verehrer des Schriftstellers ein schlichtbescheidenes, aber sinniges Denkmal improvisirt. Auf einem riesigen, weiß übertünchten Felsblocke ist in schwarzen Lettern folgende Inschrift angebracht:

P
Den Manen
unseres großen Landsmannes
Charles Sealsfield.
Geb. zu Poppitz, den 3. März 1793.
Gest. zu Solothurn den 26. Mai 1864.

Ueber der ersten Zeile befindet sich ein aus den Buchstaben S und C gebildetes P, wie es Sealsfield für sein Grabmal in Solothurn angeordnet hatte. Der in Todesschweigen ruhende Gedenkstein inmitten einer prachtvollen wildromantischen Gegend, die als „mährische Schweiz“ bekannt ist, erweckt in dem Beschauer eigenthümliche Regungen und den Wunsch, ein würdiges Monument endlich in’s Leben treten zu sehen.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Sind Realschule und Provinzial-Gewerbeschule zu Aachen wirklich als Schulen, also in corpore zu solchem Zauber geführt worden? und wenn, kann das ohne ernste Rüge geschehen? Bescheidene Anfrage an die k. Regierung zu Aachen, bez. das k. Provinzial-Schulcollegium zu Coblenz.