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Die Gartenlaube (1876)/Heft 21

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1876
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 21.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Im Hause des Commerzienrathes.


Von E. Marlitt.


(Fortsetzung.)


Was war das? .. Alles, was laufen konnte, stürzte aus der Villa und rettete sich hinaus in den Garten – das Haus hatte in seinen Grundvesten bis zum Einsturze gewankt. – Ein Erdbeben! Wie entgeistert, athemlos standen die Menschen draußen, jeden Augenblick erwartend, daß sich die Erde zu ihren Füßen aufthun werde. Schon spie sie Wasserbäche dort über die niedriger gelegenen Rasenspiegel hin; die Lüfte athmeten Brandgeruch und streuten Atome zu Zunder gebrannter Stoffe auf den Kies. … Die mächtigen Scheiben des stolzen Hauses waren zersprungen; und im großen Saale lagen die deckenhohen Spiegel zerschmettert auf dem Parquet, und von dem luftigen Bau der Bühne waren die Sammet- und Seidendraperien abgeschüttelt, und die Arbeiter hatten sich nur mit Mühe vor den schwer niederstürzenden Bronzeverzierungen und Stangen gerettet.

Von der Promenade her stürmten jetzt die Spaziergänger herein, unter ihnen Anton, der aus der Stadt zurückkehrte. „Dort, dort!“ schrieen die Leute der Präsidentin zu, die sich halbohnmächtig auf Flora’s Schulter stützte, und zeigten über den Park hin. Dort brannte es – dicke, schwarze Rauchwolken quollen auf, so intensiv, daß man besonders brennbare Stoffe wie Raketen einzeln in dunkler Nacht emporschießen sah.

„Das Pulver im Thurme hat explodirt,“ rief Jemand aus der Mitte des Menschenknäuels.

„Unsinn!“ antwortete Anton, nahezu lachend, obgleich ihm die Zähne vor Schrecken und Entsetzen zusammenschlugen. „Das taube Zeug explodirt längst nicht mehr, und die paar frischen Prisen, die der gnädige Herr aus Jux d’rüber hergestreut hat, heben keinen Ziegelstein von seinem Platze.“

Trotzdem rannte er wie toll parkeinwärts, quer über die schwimmenden Rasenflächen – er wußte ja seinen Herrn dort drüben, wo es brannte. Der ganze Menschenschwarm brauste hinter ihm drein, während auf dem nahegelegenen Stadtthurm die Feuerglocke zu läuten begann.

Welche Verwüstung! Was war in einer flüchtigen Secunde, die kaum zu einem Athemzug genügte, aus dem paradiesischen Gefild geworden, zu welchem ein verschwenderischer Aufwand von Gold und Arbeit den ehemaligen Lustgarten eines erloschenen Rittergeschlechtes umgewandelt hatte! Wie ein Springquell, der spielend Kiesel in die Lüfte wirft, so hatte dort, wo der schwarze Qualm den Himmel verfinsterte, ein Höllensprudel die Mauerquadern gepackt und in weitem Bogen verstreut, hier einen Granitwürfel tief in den weichen Rasenboden einwühlend, dort starke Baumwipfel wie Rohr unter der Steinwucht einknickend, und drüben nach Süden hin stand das Palmenhaus wie ein gläsernes Sieb, doppelt flimmernd und glitzernd mit seinen Scherbenzacken; ein wahrer Steinhagel mußte sich, wie aus boshafter Knabenhand geschleudert, gerade auf „das Glaswunder“ der Residenz gelenkt haben.

Es war ein Anblick, wohl geeignet, das Haar sträuben und die athemlos Herbeieilenden zurücktaumeln zu machen, als das letzte hohe, verbergende Buschwerk hinter ihnen lag. Hatte die Ahnfrau der Baumgarten in der That die Lunte angelegt, um dem komödienhaften Spiel, das der Parvenü mit den ehrwürdigen Ueberresten ihrer Stammburg trieb, ein Ende zu machen? Aber sie mußten Eisen in die Mauerfugen gegossen haben, die Alten. Wohl war das obere Gelaß mit der Zackenkrone auf dem Scheitel zerstückelt und nach allen vier Winden hingeschleudert worden; von dem unteren Theil des Gemäuers dagegen hatte die Riesengewalt nur eine kleinere Hälfte abzusprengen vermocht; sie lag, herabgestürzt, aber noch festgefügt und unzerstörbar zusammenhaltend, nahe dem Graben, während die andere trutzig und dräuend wie vorher in die Lüfte ragte; aus ihrem Schlund loderten die bleichgelben Flammen empor, jeden Balkensplitter, jeden Zeugfetzen gierig von den Innenwänden leckend.

„Mein armer Herr!“ stöhnte Anton und streckte die Arme verzweiflungsvoll über den Graben hin. Da drunten gurgelten und brodelten die Wasser, die der furchtbare Stoß aus ihren Ufern gehoben und weithin über den Park verschüttet hatte; nun stürzten sie sich zurück in ihr niedriger gelegenes Gebiet, Sand und Rasenstücke und blutige, zerrissene Tauben- und Dohlenleichen mit sich schleppend. Der zierliche Brückenbogen war spurlos verschwunden, der schönberaste, eiförmige Hügelrücken in klaffende Spalten geborsten, und die alten Nußbäume, die er genährt, und die sein Schmuck gewesen, hatte er ausgestoßen; sie lagen hingestreckt, die Aeste wie die Geweihe zweier im erbitterten Kampfe verendeter Hirsche ineinander verrannt.

Was half es, daß immer neue Menschenschaaren zuströmten, daß die Feuerspritzen heranjagten? Da war nichts zu retten. Wer suchte noch dort in dem lodernden Krater die kostbaren Möbelstücke, die berühmte Humpensammlung, die Bild- und Sculpturwerke und Elfenbeinschnitzereien, die reichen Teppiche? Wie in entsetzlichem Hohne war eine der purpurnen Seidengardinen, unversehrt aus dem Fenster fliegend, am Sims hängen geblieben [344] und fiel grauenhaft unbeweglich über die Außenseite des Thurmrestes, wie wenn das Blut unmerklich rinnend einer breiten Wunde entströmt.

Und die Menschen raunten sich von aufgehäuften Gold- und Silberschätzen zu – oder nein, es waren ja Papiere gewesen, Papiere, die den Besitz von Fabriken, Grubenwerken, Landstrecken und dergleichen in unermeßlichem Werthe verbürgten und welche der alte, feste Thurm mit seinen Mauern, seinen unbesieglichen Schlössern und seinem Wassergürtel wie ein Drache gehütet hatte. Wo waren sie? Wo die Eisenplatten, die sie umschlossen? Waren die Geldspinde unzersprengt hinabgestürzt in das Kellergewölbe, inmitten der Flammengluth eine Auferstehung ertrotzend?

Und was war aus ihm geworden, aus dem reichen Manne, von welchem Anton bestimmt wissen wollte, daß er sich vor einer Stunde nach dem Thurm begeben habe, um Weine aus dem Keller zu holen? Alles starrte mit stockendem Athem in das Flammengewoge, während der treue Diener händeringend den Graben umkreiste und den Namen seines Herrn immer wieder über das Wasser hinüberrief. Es war doch eine unverzeihliche Marotte gewesen, Schießpulver da aufzubewahren, wo man mit dem offenen Kellerlicht hantirte.

„Die verkommene historische Merkwürdigkeit hat das nicht gethan; dazu ist ein ganz anderer Sprengstoff nöthig gewesen,“ sagte einer der zuerst herbeigeeilten Spaziergänger, ein Ingenieur, laut und sehr bestimmt in das Stimmengewirr hinein.

„Aber wie wäre denn der in den Keller gekommen?“ stammelte Anton stehenbleibend, indem er den Sprecher blöde und verständnißlos mit seinen angstverschwollenen Augen ansah.

Der Herr zuckte schweigend, mit einer zweideutigen Miene die Achseln und wich mit den Anderen zurück – die Spritzen begannen ihre Arbeit.

Und nun zischten die Wasserstrahlen empor, und die Glocke auf dem Stadtthurm läutete unermüdlich, so lange sich das Feuer ungeberdig gegen seinen Erzfeind aufbäumte; von der Villa her schleppte die Feuerwehr Bretter und Stangen, um eine improvisirte Brücke über den Graben zu schlagen, und der Lärm und das Menschengetümmel wuchs und schwoll von Secunde zu Secunde. Da scholl mitten in das Getöse hinein ein markdurchschütternder Schrei – dort drüben, der Ruine ziemlich nahe, auf dem Wege vom oberen Wehre her, hatten sie den Müller Franz gefunden; ein schwerer Stein hatte ihn zu Boden gerissen und ihm die Brust zerquetscht – der Mann war todt.

Es war, als pflanze sich der Schrei, den die Frau des Müllers im Hinstürzen über den Entseelten ausgestoßen, von Kehle zu Kehle fort – ein solch unbeschreiblicher Stimmenaufruhr wogte über den Park hin.

„Moritz – sie haben ihn gewiß gefunden!“ murmelte die Präsidentin aufschreckend. Sie war unweit des Hauses auf einer Gartenbank zusammengesunken; weiter hatten sie ihre Füße nicht getragen. Jetzt machte sie abermals eine krampfhafte Anstrengung, sich zu erheben – vergebens! Die bisher so standhaft ignorirte Altersschwäche machte sich angesichts einer wirklichen Gemüthserschütterung in bestürzender Weise geltend. „Haben sie ihn? Ist er todt? Todt?“ lallte sie, und die sonst so fest, so vornehm- und kühlblickenden Augen irrten, weit aufgerissen, in wilder Angst den Weg entlang, der in der Richtung der Ruine den Rasenplatz durchschnitt; dabei umklammerte sie Flora’s Arm, die neben ihr stand.

Die schöne Braut war die einzige, die ihre Fassung behauptete. Welch ein Contrast! Dort über den Bäumen zog schwelend und träge der dicke Qualm und färbte weithin den Himmel mit einem schmutzigen Schiefergrau, und hier, vor dem Hause mit seinen zertrümmerten Spiegelscheiben, seinen umgestürzten Orangeriekübeln unterhalb des Balkons, verliefen und versickerten nur langsam die angeschwemmten Wasser und sammelten sich zu rinnenden Bächen in den tiefen Furchen, welche die Räder der Feuerspritzen in die Kies- und Rasenfläche gerissen – dazu das wahnwitzige Geschrei, das durch die Lüfte gellte, das geräuschvolle Vorüberstürzen immer neuer Menschenmassen von der Stadt her, und inmitten dieser Verwüstung, dieses Tumultes eine schneeweiße Braut, weiße Maßliebchen an der Brust und in den blonden Locken, bleich bis in die Lippen, aber zuversichtlich und überlegen in der äußeren Haltung wie immer – eine gegen jedes persönliche Unglück Gefeite.

„Wenn Du meinen Arm nur einmal loslassen wolltest, Großmama!“ sagte sie ungeduldig. „Ich könnte Dich möglicherweise überführen, daß Du Gespenster siehst. Weshalb soll und muß denn Moritz durchaus verunglückt sein? Bah – Moritz mit seinem fabelhaften Glück! Ich bin überzeugt, er ist heil und ganz drüben mitten im Getümmel, und unsere kopflose Dienerschaft, die es, nebenbei gesagt, nicht der Mühe werth hält, nach uns zu sehen, und nur dann und wann im Vorüberrennen albernes Gewäsch in den Himmel hineinschreit, diese bornirten Menschen, sage ich, sehen ihre Herrn mit offenen Augen nicht.“ – Ihr Blick streifte das nasse Terrain, dann sah sie auf ihren Fuß, der sich im weißen Stiefelchen unter den Garnirungen des Tarlatankleides vorschob. „Man wird denken, ich sei auch ein wenig verrückt geworden,“ meinte sie achselzuckend, „aber ich muß hinüber –“

„Nein, nein, Du bleibst,“ rief die Präsidentin und grub ihre Finger in die Falten des weißen Kleides. „Du wirst mich nicht allein lassen mit Henriette, die noch hülfloser ist als ich und mir nicht beistehen kann. O mein Gott, ich sterbe. Wenn er todt wäre, wenn – was dann?“ Ihr Kopf fiel tief auf die Brust, die in Brillanten flimmerte – wie entsetzlich alt sah die Frau aus! Ihre gelbe Moiréschleppe umbauschte wie in grellem Hohn die gebeugte Greisengestalt.

Henriette kauerte auf der anderen Seite der Bank, aschfarben vor Erregung, und mit entsetzten Kinderaugen in das Weite starrend. „Käthe! Wo nur Käthe bleibt?“ sagte sie mit bebenden Lippen wieder vor sich hin, als sei ihr der Satz eingelernt worden.

„Gott im Himmel, schenke mir Geduld!“ murmelte Flora zwischen den Zähnen. „Es ist doch etwas Schreckliches um solche schwächliche Frauenzimmer. … Ich bitte Dich, Henriette, warum schreist Du denn immer nach Deiner Käthe? Die wird Dir doch Niemand nehmen!“

Mit verzehrender Ungeduld überflog ihr Blick das Haus, aber da war kein lebendes Wesen zu sehen, das sie von dem ihr aufgezwungenen Beschützerposten hätte erlösen können – sie waren Alle nach der Ruine gerannt, die bereits angekommenen Gäste aus der Umgegend, die Lakaien, die dienstbaren Geister der Küche; selbst die feinbeschuhten Kammerjungfern waren durch die tiefen Wasserlachen mitgelaufen. Aber von der Stadt her nahte jetzt Beistand – die darstellenden Damen des Festspieles kamen athemlos um die Hausecke.

„Um Gotteswillen, was geht bei Euch vor?“ rief Fräulein von Giese und stürzte auf die verlassene Frauengruppe zu.

Flora zog die Schultern empor. „Im Thurm hat eine Explosion stattgefunden – mehr wissen wir auch nicht. Alles rennt vorüber. Niemand steht uns Rede, und ich kann nicht von der Stelle, weil die Großmama den Kopf verloren hat, und mir in ihrer bodenlosen Angst buchstäblich die Kleider vom Leibe reißt. Sie bildet sich ein, Moritz sei umgekommen.“

Die jungen Mädchen standen wie zu Stein erstarrt vor dieser gräßlichen Vermuthung – der blühend schöne Mann, der vor wenigen Stunden noch „dem herrlichen Leben“ ein Hoch gebracht, dort in den Flammen umgekommen oder in Atome zerstückelt! Das war nicht auszudenken. „Unmöglich!“ stieß Fräulein von Giese heraus.

„Unmöglich?“ wiederholte die Präsidentin unter einem Gemisch von Schluchzen und wahnwitzigem Auflachen; jetzt stand sie wie emporgerissen auf ihren Füßen, aber sie schwankte wie eine Betrunkene und deutete mit einer unsicheren Armbewegung nach dem nächsten Bosquet. „Da – da bringen sie ihn! Gerechter Gott! Moritz, Moritz!“

Dort wurde unter feierlichem Schweigen ein Gegenstand hergetragen, und in dem Kreise neugierig mitlaufender Menschen schritt Doctor Bruck; er war ohne Hut, und seine hohe Gestalt überragte Alle.

Flora flog hinüber, während die Präsidentin in ein lautes krampfhaftes Weinen ausbrach. Beim Anblick der herbeieilenden, gebieterisch schönen Braut trat die Begleitung unwillkürlich aus einander; nach einem raschen Blicke über die hingestreckte Gestalt, die man auf einem Ruhebette trug, wandte sich Flora sofort zurück und rief beschwichtigend: „Beruhige Dich doch nur, Großmama! Es ist ja nicht Moritz –“

„Käthe ist’s – ich wußte es,“ murmelte Henriette halb [345] schluchzend, halb gespenstisch flüsternd mit ihrer heiseren Stimme und wankte hinüber, wo die Träger, Athem schöpfend, für einen Augenblick ihre Last niedergesetzt hatten.

Die Verunglückte lag auf dem altmodischen Ruhebette aus des Doctors Arbeitszimmer – ihre seitwärts niederhängenden Kleider troffen von Nässe. Weiche Bettkissen unterstützten Kopf und Rücken; sie hätte mit ihren sanft geschlossenen Lidern und den zwanglos im Schooße ruhenden Händen ausgesehen wie eine friedlich Schlummernde, wären nicht das Blutgerinnsel an der linken Wange nieder und die Binde über der Stirn gewesen, die von einer Kopfwunde zeugten.

„Was ist’s mit Käthe, Leo? Was in aller Welt hat sie an der Unglücksstätte zu suchen gehabt?“ fragte Flora an das Ruhebett herantretend – Ton und Blick zeigten mehr Aerger über den vermeintlichen Vorwitz der Stiefschwester, als eigentlichen Schrecken.

Der Doctor war vorhin bei ihrer beschwichtigenden Versicherung wie in jäh aufloderndem Zorne emporgefahren; jetzt schien es, als höre er gar nicht, daß sie spreche – so fest lagen seine Lippen aufeinander, und so leer war der Blick, der neben ihr hinstreifte und dann auf Henriette niedersank.

Die arme Kranke stand, nach Athem ringend, vor ihm und ihre thränenumflorten Augen sahen in Todesangst zu ihm auf. „Nur ein einziges Wort, Leo – lebt sie?“ stammelte sie mit bittend gehobenen Händen.

„Ja, die Lufterschütterung und der Blutverlust haben sie betäubt, gefahrbringend sind augenblicklich nur die nassen Kleider; die Stirnwunde ist ungefährlich, Gott sei Dank!“ antwortete er wie aus tiefster Brust in vibrirenden Tönen, und liebreich wie ein Bruder legte er den linken Arm stützend um ihre schwache Gestalt, die sich kaum auf den Füßen zu erhalten vermochte. „Vorwärts!“ befahl er den ruhenden Trägern mit hörbarer innerer Angst und Ungeduld.

Der begleitende Menschenschwarm verlief sich enttäuscht; es war ja keine Gefahr vorhanden; die Meisten kehrten nach der Brandstätte zurück. Das Ruhebett wurde über den Kiesplatz getragen, an der Präsidentin vorüber, die völlig geistesabwesend auf die Ohnmächtige stierte und nichts mehr zu begreifen, zu fassen schien. Die entsetzte Mädchenschaar drängte sich wie gescheucht an einander und blickte rathlos zu dem jungen Arzt empor, der, ohne sie zu beachten, neben dem Ruhebette schritt. Noch hielt er mit dem linken Arme Henriette umschlungen; die Rechte aber hatte er auf Käthe’s Stirn gelegt, um jeder schmerzenden Erschütterung vorzubeugen. Der sonst so scheu sein Inneres verbergende Mann, den man in der letzten Zeit nur noch mit tiefverfinsterten Zügen und gezwungenem Wesen gekannt hatte, sah unverwandt behütend, mit unverhohlener Zärtlichkeit auf das erblaßte Mädchengesicht nieder, als existire nichts Anderes mehr für ihn, als habe er unter Todesqualen sein Liebstes und Heiligstes auf dieses Ruhebett gerettet.

Flora ging der schweigenden Gruppe nach, isolirt, wie wenn nicht das geringste Band sie mit den drei Menschen verkette, die das Unglück plötzlich vor Aller Augen in so innige Beziehung brachte. Dort, wo die Träger gerastet hatten, standen noch tiefe Wasserlachen; sie war mit ihren zierlichen, weißen Stiefeln in das trübe Naß getreten, und die lange Tarlatanschleppe schleifte durchfeuchtet und beschmutzt über den Kies. Mit einem raschen Griff nahm die schöne Braut den weißen Margueritenkranz aus dem Haar; er war zur bitteren Ironie geworden inmitten der entsetzlichen Ereignisse; sie zerdrückte und zerriß ihn mechanisch mit den Fingern, und wo sie gegangen war, lagen die kleinen schneeigen Sterne verstreut.

Aber auch sie schritt an der Großmama und den Freundinnen vorüber, ohne sie anzusehen. Ihr funkelnder Blick maß unausgesetzt die imposante Gestalt des Bräutigams – man sah, sie erwartete von Secunde zu Secunde, daß er sich nach ihr umwende, und so folgte sie ihm Schritt für Schritt über den weiten Platz, über die Schwelle des Hauses. Die Präsidentin rief nach ihr; ein abermaliges, erderschütterndes Gerassel, dem ein emporbrausendes Toben von Menschenstimmen folgte, dröhnte von der Ruine herüber – sie sah nicht zurück; mochte auch hinter ihr die Welt zusammenbrechen – sie ging in unerbittlicher Entschlossenheit „ihren Rechten“ nach.




25.


Auf diesen grauenvollen Tag folgte eine dumpfschweigende Nacht voll todesbanger, athemloser Spannung. Niemand ging zu Bette; alle Gasflammen im Hause brannten; die Dienerschaft schlich ruhelos auf den Zehen umher oder hockte flüsternd in den Ecken zusammen, und nur wenn drüben vom Thurme her die Schritte eines Feuerwächters näher klangen oder eine der nach außen führenden Thüren leise geöffnet wurde, fuhren Alle wie elektrisch empor und rannten hinaus in die Corridore, denn der Herr des Hauses sollte und mußte noch kommen, aber die Nacht verging und das Frühroth brach durch die Fenster – und er kam nie, nie wieder.

Es war ein rosiger, den klarsten Tag verkündender Strahl, der über die Villa Baumgarten hinglitt und die zersprungenen Spiegelscheiben glitzern und flimmern machte. Er lief durch den Festsaal und ließ den Purpursammet des herabgestürzten Brautbaldachins aufleuchten; er küßte das welkende Laub der Festons und das zerknickte Geäst der umgeworfenen Treibhausbäume – welch ein Chaos! Ein einziger Stoß hatte die kostbare, aber leicht gefügte „Feerie aus tausend und einer Nacht“ in ein schauerliches Gemengsel von zahllosen Scherben und Trümmerresten zusammengeschüttelt. Und alle die zierlichen, die bräutliche Freundin verherrlichenden Verse waren ungesprochen geblieben, und da, wo die goldbeflitterten Genien in Rosengewölk hatten herabschweben sollen, spielte der scharf hereinziehende Morgenwind gespenstig mit rosa und weißen Kreppfetzen.

Vielleicht heute zum ersten Male durfte das Frühlicht in die vornehmen Räume schimmern; kein Laden war vorgelegt, kein Rouleau niedergelassen worden; selbst das prächtige Schlafzimmer auf der nordöstlichen Ecke des Erdgeschosses, mit seinen korinthrothen Seidendraperien und seinem kostbar geschnitzten, von Spitzen überdeckten Bette auf hoher Estrade, war ihm preisgegeben, und es durfte sich in den Brillanten spiegeln, die noch in den Lockenpuffen der Präsidentin verstreut lagen. Die Hand der Kammerjungfer hatte die alte Dame nicht berühren dürfen; noch schleppte ihr das gelbe Stoffkleid schwer nach, wie sie immer wieder durch die lange Zimmerreihe wankte, in welcher die umgeworfenen Möbel, die von den Simsen gestürzten Statuen umherlagen.

Die Schleierwolke um Hals und Kinn der alten Dame hatte sich gelöst, und der sonst so sorgfältig verhüllte, fleischlose Unterkiefer hob sich scharf, in hippokratischer Linie von dem vertrockneten Halse. Ja, sie war hochbetagt und für den ausgedörrten Körper stand die Lebenssonne tief, tief im Niedergehen – und dennoch wälzte diese wankende Greisin in fieberhafter Angst den einen Gedanken unablässig durch den Kopf: „Wer wird Moritz beerben?“ Sie selbst hatte nicht den leisesten Anspruch auf die Hinterlassenschaft des so jäh Hingerafften – nicht einmal auf das Bett, in welchem sie schlief, nicht auf das Geschirr, aus welchem sie aß. Der Commerzienrath war früh verwaist; so viel sie wußte, existirten keine Verwandten seines Namens mehr, aber hatte er nicht öfter Unterstützung an eine arme Schwester seiner verstorbenen Mutter an den Rhein geschickt? Sollte sie die Erbin sein? Der Gedanke war zum Rasendwerden. Die Frau eines obscuren Schreibers, eine bedürftige Weißnäherin, nahm Besitz von den kolossalen Reichthümern, und die Frau Präsidentin Urach, die sich schon lange gar nicht mehr vorstellen konnte, wie man ohne seidengepolsterte Equipage von einem Orte zum anderen kommen, wie man ohne Koch und servirende Lakaien anständig essen und in einem Bette ohne Brocatbaldachin schlafen könne, sie mußte ihre alten, auf den Dachboden gestellten Möbel wieder ausklopfen und in eine enge Miethwohnung schaffen lassen, wo es keinen Marstall voll dienstbereiter Pferde, keine Livréebedienung und keine fürstlich splendide Küche mehr gab – denn sie und ihre beiden Enkelinnen waren ja nicht blutsverwandt mit dem Millionär, der ohne Testament aus der Welt gegangen.

Die aus der Umgegend eingeladenen Herren waren bis nach Mitternacht um die alte Dame versammelt geblieben, und wenn man auch diesen Punkt nicht berührt hatte, so war doch schon in die hochgehenden Wogen der schreckensvollen Bestürzung da und dort ein scheues Wort gefallen über die entsetzliche Verwirrung, die der Katastrophe bezüglich der Vermögensverhältnisse [346] des Verunglückten auf dem Fuße folgen müsse, da der Commerzienrath seine Documentenschränke und seine Bücher in dem Thurme verwahrt gehabt habe, und von alledem nicht ein einziges versprengtes Papierblatt gefunden worden sei.

Aber mochten doch da drüben Unsummen in die Luft geflogen sein – stand sie, die alte Frau, nicht hier auf einem Grund und Boden, der nach vielen Tausenden geschätzt wurde? War nicht unter ihren Füßen, in dem festen Steingewölbe die Silberkammer? Standen nicht Pferde der edelsten Racen drüben in den Ställen? Und welcher unermeßliche Werth steckte in der Gemäldesammlung berühmter Meister! Das Alles genügte, um der Frau Präsidentin das schöne luxuriöse Leben einer reichen Frau bis an ihr Ende zu sichern, wenn die hochgeborene Dame den Beweis zu erbringen vermochte, daß das Blut des Seilersohnes auch in ihren Adern fließe.

Und auch von der, die über ihr, in Henriettens Wohnzimmer lag, von der Enkelin des Schloßmüllers war gesprochen worden – man wußte, daß ihr ganzes großes Vermögen in dem Thurme eingeschlossen war. Die Präsidentin, in ihrer nervösen Angst und Unruhe, hatte nur mit halbem Ohre hingehört – was ging sie das Wuchergeld des ehemaligen Müllerknechtes an! Flora dagegen war bei ihrer merkwürdigen Sammlung und objectiven Ruhe, die sie angesichts des grauenhaften Ereignisses behauptete, den möglichen Eventualitäten gefolgt, welche die völlige Vernichtung der Documente für ihre Stiefschwester herbeiführen konnte.

Es hatte etwas Zornmüthiges, Verbissenes in Ihrem schönen, bleichen Römergesichte gelegen, als sie gegen zehn Uhr aus der Beletage herabgekommen war. Sie, der gefeierte Mittelpunkt der geselligen Kreise, das schöne Mädchen, dessen geistiges Uebergewicht, dessen scharfes Urtheil für alle Bekannten maßgebend war, sie hatte zu ihrer tiefsten Indignation die klägliche Rolle einer Ueberflüssigen droben in dem „sogenannten“ Krankenzimmer spielen müssen. Außer Henriette, die, auf einem Sopha campirend, um keinen Preis Käthe verlassen wollte, war auch die Tante Diakonus als Pflegerin erschienen. Sie hatte zugleich ein Asyl in der Villa suchen müssen, denn auf dem Hause am Flusse, das ja der Unglücksstätte am nächsten lag, waren die Schlöte eingestürzt; an der südlichen Hausmauer zeigten sich bedenkliche Risse und Sprünge; die Fenster lagen in Trümmern, und keine der Thüren paßte mehr in Schloß und Angel. … Die neueingezogene Dame war mit der Köchin in der Schloßmühle bei Suse einquartiert worden, und für die Nacht hatte der Doctor zwei Wächter an das verlassene Haus postirt.

Am Bette der Verletzten war kein Platz für Flora gewesen. Zu Häupten hatte die Tante, entsetzlich verweint, in einem Lehnstuhle gesessen, und ihr gegenüber der Doctor. „Die Alte“ hatte sich geberdet, als sei Käthes ungefährliche Stirnwunde, ihre anhaltende Betäubung, das Allerbeklagenswertheste, was der unheilvolle Tag überhaupt gebracht, und der Doctor war nicht von seinem Platze gewichen – er hatte Käthes Hand nur aus der seinen gelassen, wenn der Umschlag auf ihrer Stirn erneuert werden mußte. Ein solch’ besorgnißvolles Gebühren um „das robuste, lange Mädchen mit den Nerven und Gliedern der ehemaligen Holzhackerstochter“ widerspruchslos mit anzusehen, dazu hatte denn doch für Flora ein vollgerütteltes Maß Geduld und Selbstüberwindung gehört.

Des ewigen bangen Geflüsters müde und einsehend, daß sich heute mit all’ den consternirten Menschen kein vernünftiges Wort reden lasse, war die schöne Braut endlich hinabgestiegen, allein und tief ergrimmt – der Doctor hatte sie nicht einmal bis zur Zimmerthür, geschweige denn die Treppe hinabgeleitet. Zu Bette war sie selbstverständlich auch nicht gegangen; sie hatte die verunglückte Polterabendtoilette abgestreift, ihre schmiegsamen Glieder in den weißen Caschmirschlafrock von griechischem Zuschnitte gehüllt und sich gegen Morgen ein wenig auf das rothe Ruhebett hingestreckt.

Das ehemalige Studirzimmer ließ an Oede und Unwohnlichkeit nichts mehr zu wünschen übrig. Der schwarze Schreibtisch stand, abgeräumt und verstaubt in seiner Fensterecke; von den Regalen waren sämmtliche Bücher genommen und lagen verpackt in großen Kisten inmitten des Zimmers. Die Säulenstücken sammt Büsten rollten umgestürzt auf der Erde; darüber her warf die qualmende, von unsicherer Dienerhand angezündete Hängelampe einen häßlich ungewissen Schein, und nun, als die Morgenluft kräftig durch die Fensterscherben zog und der Tag mit seinem energischen Lichte hereinbrach, schaukelte sie leise droben an ihrer Kette in bläßlichem Roth, als glimme der Ruinenbrand in ihrer weißen Schale nach.

Jetzt, mit Tagesanbruch, hatte Flora, hinaufgeschickt und den Doctor zu sich bitten lassen – sie hörte ihn sicheren, militärisch festen Schrittes durch den Corridor kommen. Mit eiligen Händen die derangirten Stirnlöckchen unter den Spitzen des Morgenhäubchens noch einmal zurecht zupfend, drückte, sie das weiße Marmorgesicht tiefer in die rothen Polster und sah blinzelnd nach der Thür, durch die er eintreten mußte.

Er schritt über die Schwelle. Sie hatte ihn noch nie so gesehen, und deshalb erhob sie sich, unwillkürlich, mechanisch, als trete ein fremder Mann herein.

„Ich fühle mich unwohl, Leo,“ sagte sie unsicher und ohne den Blick des Erstaunens von dem Gesichte wegzuwenden, das, bleich und überwacht, und dennoch wie von einem innerem Lichte belebt und durchleuchtet, plötzlich einen so völlig veränderten Charakter angenommen hatte. „Mein Kopf brennt – der Schrecken und durchnäßte Füße haben mir jedenfalls ein Fieber zugezogen.“ Sie setzte das stockend hinzu, während seine Augen kalt prüfend, mit der beobachtenden Ruhe des Arztes über ihre Züge hinstreiften. Dieser eine Blick machte ihr das Blut sieden.

„Nimm Dich in Acht, Bruck!“ sagte sie mit völlig beherrschter Stimme, aber ihr Busen wogte unter gepreßten Athemzügen und die schöngeschwungenen Brauen hoben sich, so daß zwei strenge, tiefe Queerfalten die weiße Stirn durchschnitten. „Ich ertrage es nun schon monatelang geduldig, daß Deine Praxis die Geliebte ist, der ich mich unterordnen muß.“ Sie zuckte die Achseln. „Ich sehe ein, daß das mein Schicksal bleiben wird, und denke groß genug, um mich darüber hinwegzusetzen; denn diese Hingabe an seinen Beruf macht den Mann bedeutend, dessen Namen ich tragen werde.“ Bei diesen Worten wandte sie den hochgehobenen Kopf weg, als überfliege ihr geistiger Blick die weite Welt, die sein berühmter Name erfüllte. So entging ihr die jäh emporlodernde Flammengluth auf seinen Wangen: „Aber ich protestire entschieden gegen jede Zurücksetzung, sobald ich selbst Deinen ärztlichen Rath brauche,“ fuhr sie fort. „Wir Alle haben unter der furchtbaren Katastrophe zu leiden gehabt – ich armes Opfer mußte bei allem Schrecken auch noch die halb wahnwitzige Großmama und Henriette in ihrem trostlosen Zustande unter die Flügel nehmen – eine nicht zu beschreibende Aufgabe. Und doch ist es Dir bis zu dieser Stunde nicht eingefallen, auch nur einmal zu fragen: ‚Wie trägst denn Du das Unglück?‘“

„Ich habe nicht gefragt, weil ich weiß, daß bei Dir dergleichen seelische Eindrücke durch den Verstand controllirt werden, und weil ich auf dem ersten Blick hin sehe, wie wenig Dein körperliches Befinden in Wahrheit beeinträchtigt ist.“

Sie horchte befremdet auf den Ton seiner Stimme – er sollte gelassen, wie immer, klingen, und doch bebte er hörbar, wie in Folge ungestümer Herzschläge.

„Was Deine zweite Behauptung betrifft, so irrst Du,“ sagte sie nach einem augenblicklichen Schweigen; „ich habe in der That nervöses Klopfen in den Schläfen; bezüglich der ersten aber magst Du Recht haben. Ich suche mich jedem Ereignisse gegenüber – gleichviel welchem – stets so rasch wie möglich zu sammeln, um es mit klarem Blicke übersehen zu können. Du scheinst diese meine Taktik zu mißbilligen, wie ich aus Deinem seltsamen Tone entnehme, und doch hast Du gerade heute alle Ursache, sie zu preisen. Ich habe mich nie überreden lassen, mit meinen vom Papa geerbten soliden Obligationen zu speculiren – hätte ich mithin nicht auch bei überschwenglichen Glücksfällen den Kopf oben behalten, dann stünde ich heute hier vor Dir mit leeren Händen – meine Mitgift wäre verpufft, wie das unermeßliche Papiervermögen, das gestern in alle Lüfte geflogen ist. Ja, sieh mich nur scheu an, Bruck!“ sie dämpfte ihre Stimme. „Ich lasse mich nicht düpiren und nenne die Dinge beim Namen. Die Großmama rennt drüben auf und ab und ringt die Hände, daß ‚der kolossale Besitz‘ Fremden zufalle; unsere lieben Gäste haben die halbe Nacht hindurch den reichen Mann beklagt und beweint, der ein Schooßkind des Glückes

[347]

„Brautfahrt auf dem Königsee“.
Nach seinem Oelgemälde auf Holz übertragen von Professor Ludwig Thiersch in München.




gewesen, den die boshafte Ironie des Schicksals in Weise mitten aus seinem Erdenhimmel gerissen aber sage: Der theatralische Abgang war mittelmäßig gesetzt; in den Coulissen ist eine Lücke geblieben, durch die man der Wirklichkeit auf den Leib gehen wird. In der Kürze, vielleicht in den nächsten Tagen schon, werden die Gerichte festgestellt haben, daß Römer – anfangs vielleicht nur ein sehr leichtsinniger Speculant, schließlich aber – ein Schurke gewesen ist.“

Eine einschneidendere Wandlung der Dinge ließ sich nicht denken, als die schöne Dame in diesem Augenblicke zur Geltung brachte. Sie stand in ihrem weißen Iphigenia-Gewande, den rothen Teppich unter den Füßen, die schwebende Hängelampe über der Stirn, genau auf derselben Stelle, wo sie im December, gegenüber dem Commerzienrathe, die ärztliche Wirksamkeit ihres Verlobten gebrandmarkt und gesagt hatte: „Ich dulde nichts Todtgeschwiegenes in meiner Seele.“

(Fortsetzung folgt.)

[348]

Die deutsche Loango-Expedition im Kriege.[1]
Von Dr. Pechuel-Loesche.


Chinchoxo, 7. Februar 1876.

Man ist wohl noch vielfach unklar darüber, wie ungünstig die Verhältnisse an der Westküste Afrikas, besonders an dem hiesigen Küstenstriche sind, wie unsicher, unberechenbar die Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen, wie erfolglos bisher alle Versuche waren, selbst für den auch den Eingeborenen directen Nutzen bringenden Handel neue Stützpunkte binnenwärts vorzuschieben und zu erhalten.

Was ehemals hier geschehen, was noch geschieht, erbt sich fort unter den Negern als eine böse Tradition, welche in ihrem ohnehin nicht gutangelegten Charakter nur die schlimmsten Eigenschaften ausbildet, das Bessere im Individuum sehr bald ertödtet und den Verkehr mit diesem Volke zu einem äußerst schwierigen macht. Grenzenlos habgierig, feige, indolent, als höchstes Gesetz nur die Selbsterhaltung kennend, sind diese Neger politisch vollständig zerfallen, in unzählige kleine Gemeinschaften aufgelöst, die, in Besorgniß um die eigene Existenz, einander fürchten, heimlich und zuweilen auch offen befehden. So lange ihnen darum nicht Männer erstehen, die alle Fähigkeiten besitzen, Massen zu fanatisiren, zu verschmelzen, zu führen, sind sie den weißen Elementen, wenn es sich um deren Existenz überhaupt handelt, nicht gefährlich; die Einzelnen jedoch, die an der Küste in ihren meist einsam gelegenen Factoreien sitzen, des Handels wegen ihrer bedürfen, lassen sie ihre bösen Neigungen im vollsten Maße empfinden, namentlich in Form unzähliger „Palaner“, Erpressungen, und jener endlosen Scherereien, in denen es die Schwarzen durch lange Uebung zu einer unglaublichen Virtuosität gebracht haben.

Leider haben die Weißen durch eigene Schuld diese Zustände so bedenklich heranwachsen lassen. Die Concurrenz ist keineswegs gering; die Handelsinteressen bedeutender Firmen, welche viele Factoreien unterhalten, und die der selbstständigen Händler beherrschen in gleicher Weise die Beziehungen der einzelnen Vertreter unter sich und mit den Negern. Natürlich werden, wie aller Orten, nicht immer ganz lautere Mittel angewandt, wenn es gilt einen Concurrenten auszumanövriren. In diesem rechtslosen Landstriche ist dies jedoch eine höchst verderbliche, kurzsichtige Politik, durch welche die Teufeleien der Eingeborenen erst recht begünstigt werden und bei welcher letztere allein dauernd gewinnen, zum Nachtheile aller mit ihnen verkehrenden Parteien. Jeder Händler ist somit im Verkehre gewöhnlich auf seine eigenen geringen Hülfsmittel angewiesen, denn die Verbindung an der Küste ist langwierig und Hülfe von etwa zugehörigen Factoreien nicht schnell zu erhalten. Allerdings haben sich öfter schon an wichtigen Punkten die verschiedenen dort etablirten Häuser zu Schutz und Trutz verbunden, und zwar mit gutem Erfolge; die Coalitionen jedoch, durch augenblickliche gemeinsame Gefahr hervorgerufen, wurden sehr bald wieder, durch Ueberwiegen der Einzelinteressen, illusorisch. Die Neger wissen recht wohl, was sie dem Einzelnen bieten können, und verfolgen ihren Vortheil mit einer grenzenlosen Unverschämtheit, und zwar in der beleidigendsten Form derselben: der Unverschämtheit der Feigheit. Eine angemessene Bestrafung wird ihnen fast nie zu Theil für ihre Uebergriffe, weil die Geschädigten nur selten gemeinsam, und dann nicht nachdrücklich genug vorgehen. Auch ist es schwierig genug, den Uebelthätern beizukommen, da sie im Nothfalle mit ihrer Habe die Dörfer verlassen und sich in den dichten Wäldern verbergen, von diesen aus aber und in den mit hohem Grase bestandenen Campinen den Angreifenden gefährlich werden. Ein Niederbrennen ihrer leeren Schilfhütten ist gar keine Strafe für Eingeborene, welche dieselben mit geringer Mühe schnell wieder erneuern können.

Der Wilde muß anders gefaßt werden. Er hat nur zwei wunde Punkte: seine Persönlichkeit und seine Existenzmittel. Wer nach den Ideen der Civilisation mit Menschen Krieg führen will, welche jene gar nicht würdigen können, sie nur als Schwäche ansehen, der wird stets im Nachtheile bleiben, bis er endlich auch die eisernen Gebote der Nothwendigkeit rücksichtslos durchführt.

Die Humanität ist eine schöne Doctrin, doch ihre Grundlage ist die Gerechtigkeit; wo diese in den allgemeinen Zuständen zu walten aufhört, da findet auch jene ihre praktischen Grenzen – und überdies sollte sie doch zunächst jene Partei begünstigen, welche die tüchtigste, für die Menschheit brauchbarste ist. Wem solche Lehrsätze allzuhart erscheinen, der möge bedenken, daß sie auf einem unerschütterlichen Naturgesetze beruhen, dessen ehernes Walten allgemein mit dem Schlagworte „Kampf um’s Dasein“ bezeichnet wird; er möge bedenken, wie viel Leben und Eigenthum an hiesiger Küste verloren wurde, wie viele schutzlose Factoreien überfallen, nach Ermordung der Weißen ausgeraubt und niedergebrannt wurden. Auch die deutsche Expedition hat früher, ehe sie sich zu ihrer jetzigen Macht entwickelte, Vieles zu leiden gehabt; wurde doch unter Anderem gerade heute vor einem Jahre unser Herr Lindner auf der Büffeljagd unweit Chinchoxo wenige Schritte von mir meuchlerisch angeschossen, obgleich einer der angesehensten und sicherlich einer der vortrefflichsten Häuptlinge der Küste unser Jagdgeber war.

Diese Zustände an der Loangoküste werden so bleiben, so lange nicht jeder schlechten That der Eingeborenen die Strafe auf dem Fuße folgt, und das kann erst geschehen, wenn dieser wichtige Küstenstrich nicht mehr herrenlos ist.

Besonders günstige Gelegenheit für Unternehmungen der Neger bietet der für den Handel wichtige Fluß Chiloango (Dschiloango) eine Wegstunde im Süden von Chinchoxo (Dschintschotscho). Bis einige Meilen oberhalb der Mündung liegen an diesem eine Reihe einzelner Handelshäuser, vorgeschobene Posten der Hauptfactoreien von Landana, ein halbes Stündchen südlich vom Flusse, an der Bai gleichen Namens. Da der Chiloango schmal ist und beide Ufer dicht bewaldet sind, wird er von den Bewohnern der umliegenden Gebiete vollständig beherrscht und als eine Art Schraube benutzt, um ebensowohl ihre schwarzen Brüder, die Producte aus dem Inneren herabführen, wie auch die Weißen nach Belieben auszupressen. Auf irgend welchen nichtigen Grund hin wird der Fluß von Bewaffneten durch querüber gezogene Seile gesperrt und die Verbindung mit den Factoreien gewaltsam unterbrochen; Boote und Canoes mit Gütern werden weggenommen, bis ihre Forderungen erfüllt sind. Schlau genug [349] operirt man gewöhnlich nur gegen einen oder einige Händler, sodaß andere sich momentan im Vortheile befinden, denselben ausnutzen wollen und keineswegs geneigt sind, mit den gerade Geschädigten gemeinsam vorzugehen. Ein hierzu verpflichtendes Bündniß besteht allerdings seit langer Zeit, aber nur auf dem Papiere. Unter solchen Umständen summirt sich natürlich die Rechnung der Neger am besten – sie sind stets die Gewinner.

Der Hauptanstifter solcher Streiche ist der Mataenda, ein Häuptling, welcher einen kleinen District mit mehreren theilweise großen Dörfern rings um Landana sein eigen nennt. Er und seine Anhänger haben die Nutzbarmachung der Weißen zu einem anerkennenswerthen System herangebildet, dessen letztes Mittel immer dasselbe bleibt: Flußsperre, bis Bezahlung erfolgt. Ist die Angelegenheit für die Neger wieder einmal befriedigend geordnet, der Fluß geöffnet, so taucht binnen Kurzem ein neues Palaner auf – für Gründe zu diesen sind Schwarze nie in Verlegenheit – welches nun vielleicht ein anderes Haus betrifft, und das alte Stück spielt sich wieder ab.

In Folge der ihnen wenig imponirenden Haltung der Händler wurden diese Flußpiraten im Laufe der Zeit unternehmender und übermüthiger. Endlich wagten sie es sogar, bei einem Geschäftsbesuche in Landana – am 9. December vorigen Jahres – einen Weißen in seinem eigenen Hause zu insultiren, indem sie einen Privateingang mit Gewalt zu öffnen suchten und, als der Besitzer ihnen das verwehren wollte, denselben beschimpften, in’s Gesicht schlugen, ihm die goldene Uhrkette abrissen, dann aber schleunigst entflohen, weil die Crumanos des Letzteren zu den Gewehren eilten, – die leider verschlossen waren.

Die Aufregung in Landana war eine große; man befürchtete sogar einen allgemeinen Angriff der Neger und zog von entfernten Factoreien so viel Bewaffnete wie möglich heran. Auch wir empfingen eine formelle Bitte um Hülfe und sagten unsere Mitwirkung zu, im Falle man nun endlich ernstlich gegen die Eingeborenen vorgehen wolle, um das Ansehen der Weißen hier nachhaltig zu heben. Wir sandten Raketen nach Landana und verabredeten Signale für den Fall der Noth. Unsere kleine Armee war mobil; eine für hiesige Verhältnisse furchtbare Macht, weil jederzeit schlagfertig und durch keinerlei Rücksichten behindert. Unsere kriegslustigen Leute spähten erwartungsvoll aus nach Landana und etablirten Nachts sogar eine Wache vor der Station, um ja die Signale rechtzeitig zu bemerken. Es geschah aber gar nichts von Seiten der Händler, und dieser unter den obwaltenden Umständen beispiellose Vorfall blieb ohne gebührende Vergeltung.

Natürlich wurde nun die Haltung der Neger noch herausfordernder; Landana befand sich in Belagerungszustand, in beständiger Furcht und Aufregung erhalten durch einen Haufen frechen Gesindels. Am 17. December wurden wir durch einen Gesandten im Namen aller übrigen Bewohner Landanas ersucht, am nächsten Tage mit unserer ganzen Macht dorthin zu kommen, da diese unerträglichen Zustände beendet werden sollten. Wir folgten bereitwillig dem Rufe und marschirten am nächsten Morgen ab, Herr Dr. Falkenstein, Herr Lindner und ich mit vierundzwanzig Mann. Herr Soyaux, welcher nach seiner langwierigen Krankheit noch der Schonung bedurfte, blieb mit dem Rest der Leute zum Betriebe der Station zurück. Am Strande flüchteten alle Fischer und Herumtreiber vor unserem stattlichen Zuge.

Unsere Crumanos, welche aus dem fernen Süden stammen und ebensowohl durch einen natürlichen kriegerischen Sinn und persönlichen Muth, wie auch, seitdem sie mit uns und unseren Zwecken vertrauter geworden sind, durch ruhiges Betragen, eine gewisse Gutmüthigkeit und Zuverlässigkeit sich vortheilhaft vor hiesigen Negern auszeichnen, – obgleich sie sonst wild genug und, wie sie gar nicht verhehlen, ganz reguläre Menschenfresser sind – besitzen auch eine ungewöhnliche musikalische Begabung und manche fesselnde eigenartige Melodieen. Eine der bemerkenswerthesten ist ihr Kriegsgesang, ein Wechselgesang von Solo und Chor, vielfach modulirt, je nach den gerade improvisirten Worten, dessen Hauptmotiv, aus unvermittelt auf einander folgenden Mollaccorden bestehend, einen wunderbaren, unter Umständen schauerlichen Eindruck macht, umsomehr als der Rhythmus ein seltsam zögernder ist; die Melodie, klagend und wild zugleich, ist so mächtig packend, daß sich Niemand ihrer Einwirkung entziehen kann. Unter den weitschallenden Klängen dieses Kriegsgesanges rückte die „Cannibalen-Armee“ in dem die deutschen Farben mit allen Flaggen begrüßenden Landana ein.

Hier war man keineswegs einig über die weiteren Schritte. Macht war genug vorhanden, aber der abgehaltene Kriegsrath ließ ihre Verwendung noch unentschieden. Ein wohlbekannter hoher Häuptling, der an den letzten Vorfällen nicht direct betheiligt war, hielt sich in einem nahen Dorfe auf; durch ihn sollte das Ultimatum den übrigen bekannt werden. Er folgte auch dem Rufe, brachte aber, trotz der dies als Friedensbruch ganz speciell verbietenden Verträge, einen Haufen Bewaffneter mit sich. Sein übriges Gefolge drängte ihm nach in das Berathungszimmer, besetzte ungenirt Stühle und Bänke und behielt, wie er selbst, mit herausfordernder Vermessenheit die Kopfbedeckungen auf. Dem Häuptling wurde in sehr bestimmter drohender Sprache mitgetheilt, er habe sofort Boten zum Mataenda zu senden, damit die Hauptschuldigen zur Aburtheilung ausgeliefert würden, andernfalls würden die Weißen mit Gewalt sich Genugthuung verschaffen und Krieg beginnen; er selbst mit den Seinen habe in L. zu bleiben, bis eine befriedigende Antwort einträfe. Der schlaue Neger wußte recht wohl, was er von diesen Bestimmungen zu halten habe. Gegen Abend, als natürlich keinerlei Antwort erfolgte, sagten die Internirten einfach: sie wünschten fort zu gehen, und sie gingen – man ließ sie gehen. Darauf wurde wieder Kriegsrath abgehalten, aber trotz der so bestimmt abgegebenen Drohungen behielten die selbstsüchtigen Handelsinteressen abermals den Sieg, und die Schwarzen triumphirten. Später erst wurde auch noch bekannt, daß zu derselben Zeit ein Händler schon wieder an sie bezahlt hatte, um sich ihre specielle Gunst zu sichern.

Nachdem wir so einige Tage nutzlos verloren hatten, kehrten wir nach Chinchoxo mit der Versicherung zurück, daß wir fernerhin nur dann zu Hülfe kommen würden, wenn Landana brenne oder wir den Kampf dort sehen könnten.

Nun wurden die Neger noch kühner als je zuvor. Eine Woche später war der Chiloango schon wieder gesperrt, aber nicht blos durch Seile, sondern durch eine regelrechte Stockade, auf lange Dauer berechnet und von vielen Bewaffneten geschützt. Ein leeres Boot, welches den Fluß hinauffuhr, wurde vom Mataenda mit der hohnvollen Bemerkung zurückgesandt: der Weiße könne doch nicht verlangen, daß er ein leeres Boot wegnehmen sollte, er möge doch wenigstens ein beladenes schicken!

Eine der Hauptfactoreien hatte schon vor einiger Zeit beschlossen, ihr Haus oben am Fluß zu schließen und die Güter aus demselben herunter zu schaffen. Am 3. Januar traf der kleine, sehr langsame Dampfer „Fanny“ ein, um dies zu bewerkstelligen. Am 5. Januar empfingen wir eine schriftliche Bitte, uns am andern Tage mit zwanzig Mann auf demselben einzuschiffen, da es auf dem Chiloango leicht zu Thätlichkeiten kommen könnte. Natürlich schlugen wir es ab, die Interessen eines einzelnen Hauses zu schützen.

Früh am 6. Januar dampfte die „Fanny“ über die Barre und den Chiloango hinauf. Der Besitzer derselben hatte einen angesehenen Neger, der zu den Uebelthätern gehörte, rufen und, als derselbe erschien, festnehmen und als Geisel an Bord bringen lassen. Als man aber oben am Hause angekommen war und ein großer Haufen von dessen Angehörigen, zum Theil bewaffnet, seine Freilassung verlangte, ließ man ihn auch laufen, statt mit Kartätschen unter die Sippschaft zu schießen. Hätten die Schwarzen nur einmal blutigen Ernst gesehen, so hätten sie nichts weiter zu thun gewagt, namentlich wenn man den Gefangenen später am Steuer festgebunden hätte. Am nächsten Tage waren die Güter an Bord der „Fanny“ untergebracht, und diese trat die Rückfahrt an. Hatten die Flußpiraten vorher die Verpfählung theilweise hinweggeräumt, so hatten sie dieselbe nun eilig um so fester geschlossen und glaubten ihrer werthvollen Beute ganz sicher zu sein. Längs der Ufer im Walde verborgen, theils hinter den Stämmen, theils oben in den Bäumen lauernd, begannen die unsichtbaren Feinde ein heftiges Feuer auf das kleine Schiff; glücklicherweise gelang es diesem nach einigem Arbeiten die Stockade zu durchbrechen. Hierbei wurde der Mann am Steuer durch einige Schüsse schwer verwundet [350] und das Fahrzeug lief in die Mangroven, wurde aber noch rechtzeitig freigemacht und kämpfte sich bis zur Flußmündung durch, wo es vor der dort befindlichen englischen Factorei in Sicherheit ankerte. Von den vier Weißen, welche sich an Bord befanden, war keiner verwundet, wohl aber sechs von der Schiffsmannschaft mehr oder weniger schwer, obgleich alle möglichst geschützt gewesen waren.

Eine spätere Besichtigung des Dampfers zeigte, wie heiß es hergegangen war. Er war mit Kugelspuren bedeckt; Taue waren zerschossen; Holz war zersplittert; das Sonnenzelt hing in Fetzen. Als ein Beweis, was Negergeschosse – gehämmerte Eisenkugeln, Nietköpfe, sonstige Metallstücke – leisten können, diene die Thatsache, daß die Bollwerke und Seiten des Fahrzeuges, aus mehr als viertelzölligem Eisen bestehend, an verschiedenen Stellen glatt durchschlagen waren; als Curiosum, daß ein anderes Geschoß, welches ein englisches Militärgewehr – Snider-rifle – von der Seite, einige Zoll unterhalb der Mündung traf, den Lauf nicht nur verbogen, sondern die starke Wand auch vollständig durchbohrt hatte. Dieses interessante Rohrstück befindet sich jetzt in meinem Besitz.

Wir empfingen die erste Kunde von diesen Vorgängen schon am Nachmittage durch die Kanonen der „Fanny“, die wir vom Fluß her hörten; nach Mittag wurden dann die Verwundeten gebracht, um, wie gewöhnlich, bei Herrn Dr. Falkenstein Hülfe zu finden. Die Einbringung derselben bewirkte natürlich einen großen Auflauf im Gehöft; Neger der Umgegend kamen in großer Menge herbeigeströmt; es war sehr auffallend, wie diese sonst so geräuschvollen Afrikaner kleinlaut waren als sie die stöhnenden Opfer sahen, an welchen der Arzt seine Kunst übte. Einige Stunde später erhielten wir von der englischen Factorei am Chiloango die hastig geschriebene Anzeige, daß die Neger im Begriff seien, Landana selbst anzugreifen. Bald darauf hörten wir plötzlich das wohlbekannte Gellen und Jauchzen unserer Leute, welche aus den Plantagen hereinströmten in wildem Kriegsjubel: in Landana wurde geschossen. Wirklich sahen wir auch dort die Rauchwölkchen an den Hügeln hängen und aus dem Gebüsch aufwirbeln; ein Kanonenschuß wurde abgefeuert, und das lange Stück weißen Zeuges flatterte an der Fahnenstange empor: das verabredete Nothsignal.

Die Aufregung, der Tumult in der Station war unbeschreiblich. Diese Menge ganz kriegstoller Leute, die ihre besten Kleider anlegten, die Gewehre an sich rissen und prüften, ihre Macheten – große, säbelähnliche Buschmesser – schnell noch einmal schärften, die dazwischen umherlaufenden Weiber, welche ihren Männern noch einzelne Gegenstände zutrugen, die vielen fremden Neger, welche angstvoll auseinander stoben und das Weite suchten, Rufe, Befehle, welche fast ungehört in dem allgemeinen Stimmengewirre verhallten, dieses Durcheinander von dunkeln Gestalten in ihrer entfesselten Wildheit, einzelne schon mit hochgeschwungenen Waffen den Kriegstanz beginnend – das war ein echt afrikanisches Bild. Und nun brach er wieder los mit seinen mächtigen Accorden, dieser erschütternde Kriegsgesang der Mbalundus, während die Leute, wie das ihre Art war, in geschlossener Masse sich um die deutsche Fahne, ihren „Kriegsfetisch“, schaarten. Die „Cannibalen-Armee“ war wieder einmal mobil. Nun ging es wie die wilde Jagd an dem wie ausgestorbenen Strande entlang; Boten über Boten trafen uns, zur höchsten Eile zu mahnen; ein Haus sei schon fast genommen, hieß es. Als wir den Chiloango erreichten, brach ein heftiges Gewitter los, und wir regneten in der englischen Factorei ein; nach kurzem Aufenthalte setzten wir jedoch in der Dunkelheit über den Fluß, zogen in vollem Regen ganz still nach und durch Landana und besetzten die Mission.

Auf diese war der Angriff der Neger zunächst gerichtet gewesen, obgleich dieselbe natürlich ganz außerhalb aller Streitigkeiten mit den Händlern steht. Die Angreifenden mochten geglaubt haben, die vier dort befindlichen frommen Herren und ihre wenigen zuverlässigen Leute würden sich aus der schutzlosen weitläufigen Besitzung leicht verjagen lassen, hatten sich aber sehr verrechnet, denn diese entwickelten eine Kriegstüchtigkeit, welche, wenigstens für den Augenblick, den Anschlag vereitelte. Auf der Mission wurde nun Kriegsrath gehalten. Selbst jetzt noch waren die Meinungen getheilt. Mancher hätte wohl gern nochmals in alter Weise mit den Negern unterhandelt, um wieder eine kurze trügerische Sicherheit zu erkaufen; zum Unglück lag der erfahrenste und tüchtigste Küstenmann tödtlich erkrankt an schwerem Fieber; erst früh zwei Uhr wurde der einstimmige Beschluß erlangt, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, einem neuen Angriffe zuvorzukommen und bei Tagesgrauen selbst anzugreifen.

Zur festgesetzten Zeit versammelte sich die für die Offensive bestimmte Macht auf der Mission, zehn Weiße und achtundneunzig Crumanos. Letztere trugen als Erkennungszeichen je ein Stück rothes Zeug um den Kopf. Während unsere Leute nur Vorderlader, schwere Militärgewehre, führten und pro Mann nur fünfzehn Patronen hatten – mehr wollten sie gar nicht; das sei genug für einen Krieg –, waren die übrigen Crumanos größtentheils mit vortrefflichen, leichten englischen Rückladern bewaffnet und besaßen Jeder die vier- bis sechsfache Anzahl scharfer Patronen. Bei ihrer Art der Kriegführung waren solche Massen von Munition auch nothwendig. Der beschlossene Angriffsplan, nach welchem wir zunächst die am weitesten landein liegenden Dörfer und dann die übrigen nach der See zu angreifen wollten, wurde geändert, als es hieß, daß auf den Hügeln Bewaffnete von dem nächsten Dorfe, Levula, uns beobachteten. Nachdem das Nöthigste geordnet und namentlich Allen eingeschärft war, sich sofort zu sammeln und das Feuern einzustellen, sobald Herr Lindner auf einem Signalhorne blasen würde, übernahmen wir, mit zwei der streitbarsten Herren von der Mission und unseren Leuten, die Führung, schärften denselben ein, möglichst viele Gefangene zu machen, und rückten aus.

(Schluß folgt.)




Die Corruption des amerikanischen Beamtenthums.[2]


Wenn die bürgerliche Tugend und der moralische Sinn des Volkes der Maßstab ist, mit welchem der Werth eines Landes, seine Wohlfahrt und Lebensdauer gemessen werden muß, so möchten wenige Staaten der civilisirten Welt einen trüberen und hoffnungsloseren Anblick darbieten als die Republik der Vereinigten Staaten im Jubeljahre ihres hundertjährigen Bestehens. Kein Bürger der Union kann, ohne daß ihm die Schamröthe in’s Gesicht steigt, nach den Enthüllungen der letzten Monate daran denken, daß das Auge der ganzen civilisirten Welt gerade jetzt auf sein Vaterland gerichtet ist, welches mit seiner Weltausstellung sich an die Spitze der Cultur und des Fortschrittes stellt und die Nationen der Erde einladet, herüberzukommen, um zu sehen, welche Erfolge in Kunst und Wissenschaft es im ersten Jahrhundert seiner Existenz errungen hat und welche natürliche Hülfsmittel ihm dabei zu Gebote gestanden haben. Je verschwenderischer die Natur dieses Land mit den reichsten Schätzen jeder Art ausgestattet hat, je günstiger die politischen und socialen Verhältnisse für die Entwickelung der Größe und des Wohlstandes des Staates gewesen sind, je freier und ungehinderter der einzelne Bürger sich bewegen und sein Talent, seine ganze Energie zur Geltung bringen konnte, je vollständiger alle Bedingungen gegeben waren, um zu einer wahrhaft gesunden Blüthe in jeder Richtung zu gelangen, desto unverantwortlicher und schmählicher ist es, heute am Ende dieses ersten Jahrhunderts vor einem solch bodenlosen Abgrunde der Corruption stehen zu müssen, in welche das Volk gefallen ist, weil es sich in thörichtem Leichtsinne von verderbten Parteien und von nichtswürdigen Parteiführern von Jahr zu Jahr hat [351] leiten lassen, ohne seine souveräne Macht gegen diese Landesverderber zu gebrauchen, bis es endlich selbst den moralischen Halt verloren hat und, wie es fast scheint, unfähig geworden ist, die schmählichen Fesseln, welche es sich selbst geschmiedet hat, abzuschütteln.

Nirgends ist diese Corruption widerwärtiger und schamloser hervorgetreten, als im Beamtenthume der Republik, von dem geringsten Stadtbeamten an aufwärts durch alle Stufen bis in die Nähe des höchsten Beamten der Republik, der im Weißen Hause zu Washington in hoher Majestät thront. Gerade hier sind in letzter Zeit Thatsachen aufgedeckt worden, die doch selbst unser gleichgültiges Volk, das für solche Enthüllungen gewöhnlich nur ein cynisches Lächeln hat, ein wenig aufrütteln. – Es gab eine Zeit, da die demokratische Partei für alles Unheil und für alle Sünden, die das Land befleckten, verantwortlich gemacht wurde, und die Republikaner von vielen Bessergesinnten als die Retter des Staatsschiffes angesehen wurden. Allerdings hatten die Demokraten viel zu verantworten. Sie hatten während des Bürgerkrieges, zum Theil wenigstens, mit den Südstaaten sympathisirt; sie hatten den Ultramontanen manche Concessionen gemacht; sie hatten sich von so durch und durch verkommenen Verbindungen, wie die berüchtigte Tammany-Gesellschaft in New-York, deren Seele und Leiter der Millionendieb Tweed war, blindlings leiten lassen, sodaß sie endlich der Verachtung aller Rechtlichgesinnten des Landes anheim fielen.

Aber auch die republikanische Partei erfüllte die auf sie gesetzten Hoffnungen nicht. Sie versprach Reformen, verfehlte aber dieselben vorzunehmen; sie erniedrigte sich zu einem gefügigen Werkzeuge des Präsidenten und versank immer mehr in eine selbstsüchtige Parteipolitik, welcher die wahren Interessen des Landes schmählich geopfert wurden. Der Versuch, eine Reformpartei zu gründen, welcher von redlichen Patrioten wie Schurz, Greely, Sumner und Anderen gemacht wurde, scheiterte theils an der Macht der herrschenden Partei, theils an unwürdigen Intriguen im Lager der Reformer selbst, und so hatte die corrumpirte Grant-Partei, mit welchem Namen die Republikaner während der letzten Jahre mit Recht bezeichnet worden sind, freies Feld, um ihre unheilvolle Politik nach allen Seiten hin auszuüben. Offenkundige Bestechlichkeit, frecher Nepotismus, schmähliche Günstlingswirthschaft und der schamloseste Diebstahl am öffentlichen Eigenthum bezeichnen diese traurige Periode unserer Geschichte, die in den Enthüllungen der letzten Monate ihren Höhepunkt der Schmach und Schande erreicht hat. Eine kurze Uebersicht dieser Enthüllungen wird nicht nur den Grad der Corruption, auf welchem das amerikanische Beamtenthum angelangt ist, sondern auch einige Ursachen, welche diesen traurigen Zustand erzeugt haben, beleuchten.

Wer den Verhandlungen des Congresses einige Aufmerksamkeit geschenkt hat, wird sich erinnern, wie die Volksvertreter vor einigen Jahren den Versuch machten, das Land um eine bedeutende Geldsumme unter dem Namen einer Gehaltserhöhung zu beschwindeln. Ihr bisheriger, wahrlich nicht geringer Gehalt von fünftausend Dollars schien ihnen für die Anforderungen des Washingtoner Hoflebens nicht mehr genügend; sie erhöhten ihn also auf siebentausendfünfhundert Dollars, und zwar sollte das neue Gesetz selbst auf das verflossene Amtsjahr rückwirkende Kraft haben. Damit aber ihr Herr und Meister keine Hindernisse in den Weg legen möchte, wurde sein bisheriger Gehalt von fünfundzwanzigtausend Dollars verdoppelt. Das Gesetz passirte, und nur einige Congreßmitglieder waren ehrenhaft genug, die schnöde Bewilligung mit Entrüstung zurückzuweisen; die Meisten steckten sie ohne alle Scrupel in die Tasche, indem der Präsident mit gutem Beispiele voranging. Dieses Gebahren war indeß dem Volke doch zu stark; ein Sturm der Entrüstung erhob sich im ganzen Lande und der moralische Druck wurde so stark, daß die saubere Gesellschaft das Gesetz widerrief, und den Raub wieder herauszugeben für gut befand. Nur Einen rührte des Volkes Stimme nicht: den Mann im Weißen Hause. Grant behielt vergnügt lächelnd seine fünfundzwanzigtausend Dollars.

Die Gesetzgeber wußten sich anders zu helfen. Um die großen schwindelhaften Eisenbahnunternehmungen in Scene zu setzen bedurfte man einer Unterstützung aus dem Schatze der Nation; diese konnte aber nur der Congreß gewähren. Und er öffnete denselben auf’s Freigebigste. Die Centralpacifische Eisenbahn, die vollendet wurde, und die Nordpacifische, die mit dem Falle des Hauptunternehmers, Jay Cooke, als Seifenblase zerplatzte, erhielten fürstliche Landschenkungen längs den Bahnlinien, nebst anderen großartigen Bewilligungen und Vergünstigungen, die dem gewissenlosesten Verschleudern des öffentlichen Eigenthums gleichkamen. Freilich umsonst that der Congreß dies Alles nicht, aber für Geld, Actien und andere Werthpapiere war Alles zu haben, das Vermögen des Volkes, sowie die eigene Ehre nicht ausgenommen. Die Sache wurde laut, eine Untersuchung fand statt und enthüllte das ganze unredliche Treiben. Nicht nur als corrumpirt bekannte Congreßmitglieder, sondern Männer, die bisher als Muster der Unbescholtenheit gegolten hatten, wurden compromittirt, und obwohl manche freigesprochen, blieb der Makel der Bestechlichkeit doch auf ihnen haften; des Volkes Stimme verurtheilte sie, und mit Recht.

Gewöhnt, die Mehrzahl seiner Vertreter in Washington sowohl wie in den Legislaturen als feile Diener der großen Corporationen und Monopolisten anzusehen, den Präsidenten aber als einen Mann, der, zu kurzsichtig oder zu schwach, um dem Treiben seiner Parteigenossen zu steuern, selbst einem Nepotismus huldigte und eine Günstlingswirthschaft einführte, die allem Rechtsgefühle Hohn sprach, war das Volk doch nicht auf eine so totale Verrottung des ganzen Beamtenstandes bis in die höchsten Regionen hinein vorbereitet, wie sie durch die Enthüllungen der letzten Monate bloßgelegt worden ist.

Die unverhältnißmäßig hohe Steuer, welche von manchen Fabrikaten erhoben wird, war schon längst der Gegenstand vieler Klagen gewesen; namentlich hatten Destillateure und Brauer unter diesem Drucke hart zu leiden. Die Steuer auf destillirte und gegohrene Getränke war im Verhältnisse zum Marktpreise derselben so hoch, daß die Fabrikanten bei einer gewissenhaften Beobachtung der Gesetze nicht bestehen konnten; die Versuchung zur Umgehung derselben lag demnach sehr nahe, und dies war denn auch in den letzten Jahren in einem unglaublichen Grade geschehen. Die Steuerbeamten bei der Revision der Brauereien und Brennereien zu hintergehen, wurde zu gefährlich; man mußte also diese Herren mit in’s Interesse ziehen und den Betrug gemeinschaftlich treiben. Diese Aufgabe war keine allzu schwierige; Geld ebnete auch hier alle Wege, und es gab Wenige, die nicht gegen gute Bezahlung nichts sahen, was die Fabrikanten verborgen zu halten wünschten. Die meisten Beamten wurden wahre Blutegel, die für ihr Schweigen enorme Summen erpreßten, ja, es kam so weit, daß sie den Destillateuren die Quantität von unversteuerten Spirituosen, die sie monatlich fabricren mußten, förmlich vorschrieben, damit sie die hohen Bestechungssummen unverkürzt beziehen konnten. Die Unterbeamten waren allerdings fast gezwungen, hohe Preise zu fordern, denn auch sie konnten den Betrug nicht gefahrlos treiben, ohne die Oberbeamten mit in’s Complot zu ziehen, und diese thaten so wenig wie ihre Collegen etwas umsonst. Diese großartige Verschwörung, bekannt unter dem Namen des „Whiskey-Ringes“, war ein öffentliches Geheimniß. Jedermann wußte darum, die Regierung selbst am genauesten, denn in Washington liefen die Fäden, welche die Operationen dieser hochachtbaren Diebsbande verknüpften, schließlich zusammen. Und dennoch geschah nichts, um dem Unwesen zu steuern – wer sollte es auch thun? Der „Whiskey-Ring“ war reich und einflußreich und konnte alle Versuche, ihn zu brechen, zum Verderben des Anklägers niederwerfen.

Da wagte es doch endlich ein muthiger Mann; der neuernannte Finanzsecretär Bristow, ein Mann von unbestechlicher Rechtlichkeit und großer Energie, befahl eine durchgreifende Untersuchung der ganzen Angelegenheit. In den ersten Städten des Landes wurden die meisten Brennereien und Brauereien geschlossen, die Eigenthümer sowie die Steuerbeamten vor Gericht gezogen, und da die Beweise der Schuld nicht wegzuleugnen waren, so folgte Verurtheilung auf Verurtheilung. Geld half diesmal nichts; die reichen Fabrikanten und die feilen Beamten mußten in’s Zuchthaus wandern und hohe Strafsummen erlegen, und zwar wurde den Beamten als meineidigen Staatsdienern mit Recht gewöhnlich das höchste Strafmaß zuerkannt.

Unter den Angeklagten befand sich auch General Babcock, Privatsecretär und intimster Freund des Präsidenten. Es fanden [352] sich Depeschen von ihm an Obersteuerbeamte in St. Louis vor, aus welchen deutlich hervorging, daß er in das ganze Complot mit eingeweiht war und in Washington als Schildwache an höchster Stelle diente, um die Operationen der Betrüger zu decken, ihnen Winke nahender Gefahr zu geben und seinen Einfluß zur Förderung ihrer Interessen zu verwenden.

Die Regierung war in St. Louis durch den sehr tüchtigen Districtsanwalt Henderson vertreten, welcher bei diesen Untersuchungen schon die wichtigsten Dienste geleistet hatte und ganz vorzüglich befähigt war, auch diesen Fall bis auf den Grund zu sondiren. Er that dies unerschrocken und scharf, war aber so unzart, den Namen des Präsidenten selbst in seinem Argumente zu nennen, als ob dieser möglicher Weise etwas von den Geschäften seines Günstlings gewußt haben könnte. Die Folge dieser Majestätsbeleidigung war die augenblickliche Absetzung Henderson’s und die schleunige Freisprechung Babcock’s, obwohl die Nachfolger Henderson’s ihm ebenfalls scharf zu Leibe gegangen waren. Um die Freisprechung zu erleichtern, hatte der Justizminister Pierrepont, ein treuer Freund und Anhänger Grant’s, während des Processes ein Rescript erlassen, in welchem alle solche Angeklagte, die als Staatszeugen auftreten würden, ausdrücklich verwarnt wurden, nicht übereilt zu handeln, indem ihre Dienste in diesem Falle keine Milderung ihrer Strafe zur Folge haben würden. Durch solche grobe Einschüchterungen wurde manches Zeugniß, welches hochstehende Personen compromittirt haben würde, zurückgehalten, und Herr und Diener kamen mit einem blauen Auge davon.

Babcock wurde nach seiner Freisprechung mit Gratulationen der Grantianer aus dem ganzen Lande überschüttet, während Grant selbst, was für die Situation höchst bezeichnend war, von seinen Freunden fast noch mehr Glückwünsche als sein Günstling empfing, gerade als ob nicht dieser, sondern er selbst auf der Anklagebank gesessen hätte. Das Volk aber ließ sich weder durch die Advocatenkniffe, noch durch die Regierungsmaßregeln, welche Babcock gerettet hatten, blenden und sprach trotz des „Nicht-schuldig“ der Geschworenen sein „Schuldig“ über den Favoriten aus, der denn auch nach längerem Sträuben seines Herrn aus dessen Dienste als Geheimsecretär entlassen wurde.

Gleichzeitig mit diesem scandalösen, das Weiße Haus sehr empfindlich berührenden Processe erregte ein anderer Vorfall in der diplomatischen Welt Amerikas und Englands das größte Aufsehen. Der amerikanische Gesandte in London, General Schenck, wurde der Theilnahme an einer unter dem Namen des Emmaminenschwindels bekannten betrügerischen Speculation angeklagt. Mit diesem gemeinen Betruge verhielt es sich kurz folgendermaßen: Ein gewisser Lyons hatte vor einer Reihe Jahren eine ergiebige Erzader in Utah bearbeitet. Während einer längeren Abwesenheit desselben hatten andere die Arbeit aufgenommen und daraufhin das Besitzrecht beansprucht. Die Folge war ein Proceß, in welchem der damalige Senator von Nevada, Stewart, als Anwalt des Lyons fungirte. Später kauften californische Speculanten die Ansprüche der Gegner Lyons’ auf, und dieser fand es schließlich für das Beste, mit denselben gemeinschaftliche Sache zu machen.

So wurde im Winter 1872 die Emmaminencompagnie mit einem Actiencapitale von fünf Millionen Dollars gebildet. Nun waren aber die werthvollen Erze der Mine bereits erschöpft, was die Unternehmer ganz genau wußten; die ganze Sache war also ein Schwindel erster Classe. Sie wählten vorzüglich England zum Schauplatze ihrer Operationen, die mit großem Erfolge geführt wurden. Ein Professor Silliman wurde mit einem der englischen Directoren nach Utah geschickt, um die Erze zu analysiren, und berichtete Wunderdinge von ihrer Reichhaltigkeit. Mit den pomphaftesten Ankündigungen wurden die Actien auf den Markt geworfen, und um das Vertrauen des Publicums zu ködern, beschloß man, den amerikanischen Gesandten in London, General Schenck, in’s Geschäft hineinzunehmen. Es wurde ihm eine Directorstelle mit fünfhundert Actien angeboten und er griff zu. War es doch schwer, wie im Zeugenverhöre ausgesagt wurde, mit siebenzehntausend Dollars jährlichem Gehalte die Würde der Republik am britischen Hofe aufrecht zu erhalten – wie konnte man es ihm also verdenken, wenn er nebenbei „Geld zu machen“ suchte! Der Gesandte benutzte somit, ob bewußt oder unbewußt, müssen wir vorläufig dahingestellt sein lassen, seine amtliche Stellung, als Vertreter des Volks, um einer der frechsten Schwindelunternehmungen Vorschub zu leisten, mit welcher die Bürger des Landes, in welchem er seine Regierung repräsentirte, betrogen werden sollten. Die Actien fanden guten Absatz; hieß es doch, die Mine repräsentire einen Werth von siebenzehn Millionen Dollars, obwohl sie schon im Juni 1872 gänzlich zusammensank, um nie wieder aufgenommen zu werden. Durch allerhand Vorspiegelungen und falsche Berichte wurden die Actionäre von Zeit zu Zeit beschwichtigt, sodaß trotz des Nichterscheinens der verheißenen Schätze die Actien doch in die Höhe gingen, bis endlich der ganze großartige Schwindel an den Tag kam und die Actionäre sich um ihr ganzes in dem Unternehmen angelegtes Geld betrogen sahen. Schenck wurde durch Lyons selbst als Mitwisser und Theilnehmer an dem Betruge denuncirt und entging einem Verhaftsbefehle der englischen Gerichte nur durch seine Abreise.

Es schien eine Zeitlang zweifelhaft, ob Grant den Gesandten abberufen würde, weil allerhand technische Einwendungen gegen dessen Schuld gemacht wurden. Weil die Angelegenheit aber vor einem demokratischen Congreßcomité zur Untersuchung kam, von welchem wenig Rücksicht für einen republikanischen Gesandten zu erwarten war, so sah der Präsident sich bewogen, seinen Freund zu ersuchen, zu resigniren. Der speculative Diplomat hat sich unterdeß dem Congreßcomité zur Verfügung gestellt, und auch in diesem Falle werden keine Mittel unversucht gelassen werden, ihn wenigstens von bewußter Mitschuld an dem verübten Verbrechen frei zu sprechen.

Alles dies wurde indeß völlig in den Schatten gestellt durch die Enthüllungen im Kriegsdepartement, welche vor einigen Wochen das Land erschütterten, und den bisher hochgeachteten Kriegsminister, General Belknap, zu einem gewissenlosen Beamten stempelten. Die hierbei zu Tage geförderten Einzelheiten zeigen ein so abschreckendes Bild der moralischen Verkommenheit der vornehmen Gesellschaft unserer Republik, daß sie eine etwas eingehendere Schilderung verdienen.

Caleb Marsh war früher einer der angesehensten Bürger Cincinnatis, wo er sich im Eisengeschäfte ein bedeutendes Vermögen erworben hatte; später zog er nach New-York und gehörte dort zu dem hohen Geldadel, der in pompösen Palästen das aristokratische Viertel der fünften Avenue und Umgegend bewohnt. Sein größter Schatz war indeß seine Frau, die erste Modedame jenes glänzenden Quartiers, in welchem der Werth eines Menschen einzig und allein nach der Pracht der Toiletten, der Menge der Diamanten und der Eleganz der Equipagen abgeschätzt wird. Frau Marsh leistete in diesen Punkten das Möglichste, gab mindestens 25,000 Dollars im Jahre aus und hatte dafür die Genugthuung, von den Größen der „Shoddy-Aristokratie“ New-Yorks als mustergültig bewundert und beneidet zu werden. Während ihr Herr Gemahl seinen eigenen Vergnügungen in Spielsälen und Rauchsalons nachging, genoß sie, strahlend von Diamanten und in die neuesten Erzeugnisse der Pariser Mode gehüllt, am Arme irgend eines Löwen der Gesellschaft ihre Triumphe für sich; ganz besonderes Vergnügen aber gewährte es ihr, jungen Damen ihre jugendlichen Verehrer wegzucapern worin sie, trotz ihrer vierzig Jahre, eine ganz vorzügliche Geschicklichkeit entfaltete.

Diese würdige Dame hatte eine „Freundin“, Frau Bowers, die junge Wittwe eines ehemaligen Rebellenobersten, ausgezeichnet durch Schönheit und durch das brennende Verlangen, baldmöglichst wieder einen Mann mit mindestens einer halben Million Vermögen zu bekommen. Die junge Wittwe ging nach Europa, traf mit ihrer Freundin Marsh in Paris zusammen, wo die letztere ihre obenerwähnte Kunstfertigkeit an den Anbetern der schönen Freundin mit Erfolg ausübte, sodaß es dieser gar nicht gelingen wollte, einen Nabob zu fangen. Sie kehrte nach Amerika zurück und beschloß jetzt, es mit einem Minister zu wagen. General Belknap war das erkorene Opfer; er fiel auf den ersten Angriff; sie wurde Frau Kriegsminister Belknap und zog in die Hauptstadt der Republik ein. Um aber dort als erste Salondame zu glänzen – und etwas Geringeres ließ ihr Ehrgeiz ihr natürlich nicht zu – dazu gehört, seit Präsident Grant seinen Hofstaat auf europäischen Fuß eingerichtet hat, Geld, sehr viel Geld, viel mehr Geld, als so ein Minister durch seinen [353] einfachen Gehalt in die Hände bekommt. Geld also mußte geschafft werden, und der Wege dazu gab’s in so hoher Stellung gar manche. Wie diese Wege aber beschaffen waren, was kümmert das eine Modedame unserer heutigen Gesellschaft, wenn sie nur ihres Herzens Gelüste befriedigt sieht!

Dasselbe Bedürfniß nach mehr Geld mochte auch die liebenswürdige Frau Marsh in New-York empfinden, und so wurde ein Plänchen ausgesonnen, das beiden „Freundinnen“ zugleich helfen sollte. Im Sommer 1870 besuchte Frau Belknap ihre Freunde in New-York. Im Gespräch mit Marsh fragte sie diesen, ob er sich nicht um ein Handelsprivilegium an einem der Militärposten beim Kriegsdepartement bewerben wolle. An allen Militärstationen und Forts, von denen es über zweihundert giebt, meist im Westen in den Indianergebieten gelegen, wird das Privilegium, mit den Indianern Handel zu treiben und die Soldaten mit allem Nöthigen zu versehen, vom Kriegsminister an einzelne Personen vergeben, die dadurch in den Stand gesetzt sind, ihre Waaren zu fast beliebigen Preisen zu verkaufen. Diese Händler sind die schamlosesten Blutegel, die sich am Marke der armen Soldaten und der noch ärmeren Indianer in einem so erstaunlichen Grade dick und fett saugen, daß wahrhaft unglaubliche Summen gezahlt werden, um dieses Privilegium zu erlangen. Zur Zeit des Besuches der schönen Verführerin war der Posten im Fort Sill erledigt, und obwohl der bisherige Inhaber desselben, Evans, sich wieder darum bewarb, erklärte Frau Belknap, wenn Marsh ihn wünsche, so werde sie die Sache beim Kriegsminister in Ordnung bringen. Die Idee leuchtete dem Geschäftsmanne ein, und seiner Gemahlin noch mehr. Er setzte sich also mit Evans in Verbindung und man kam überein, wenn Marsh den Posten bekomme, solle Evans ruhig in seiner Stellung verbleiben, dafür aber dem eigentlichen Inhaber, dem es gar nicht einfiel, sein Leben in New-York mit dem in einem abgelegenen Fort zu vertauschen, einen monatlichen Tribut von tausend Dollars entrichten.

So geschah es denn auch. Marsh bekam den Posten. Evans trieb den Handel im Fort wie bisher, zahlte jährlich zwölfttausend Dollars in monatlichen Raten an Marsh, welcher seinerseits dann jährlich sechstausend Dollars zuerst an Frau Belknap, später an den Kriegsminister selbst als Abfindungssumme einschickte. Und wer waren die Opfer dieses niederträchtigen Schachers eines habgierigen Ministers zum Besten einiger Weiber? Kärglich besoldete Armee-Officiere, arme Soldaten, unwissende Wilde und Einwanderer, die gezwungen waren, ihre Lebensmittel und sonstigen Bedürfnisse an dem Militärposten einzukaufen, und denen das Fünffache des wirklichen Werthes der verkauften Artikel abgefordert wurde. Diese maßlosen Gelderpressungen datiren seit der Amtsverwaltung Belknap’s, nicht nur auf einem Posten, sondern überall. Protestationen von Officieren waren ohne allen Erfolg – der Minister beharrte bei seiner Praxis und beschützte die wucherischen Händler, wo er konnte.

Die ersten Spuren dieser Betrügereien und Bestechungen wurden von dem Congreßcomité bei Prüfung der Rechnungen des Kriegsdepartements aufgefunden. Marsh wurde vorgeladen und legte ein umfassendes Geständniß des ganzen Scandals ab. Er hätte vielleicht geschwiegen, aber hier war die so ersehnte Gelegenheit für Frau Marsh gekommen, ihre Rache an ihrer „Freundin“ zu kühlen. Sie war nämlich, in Folge einer in Paris gegen die Freundin verübten Liebesintrigue, zur Belknap’schen Hochzeit nicht eingeladen worden; dafür hatte sie Rache geschworen; jetzt war ihre Stunde gekommen. Sie bewog ihren Mann, der so ziemlich unter dem Pantoffel der Gestrengen stand, Belknap ohne Rücksicht bloßzustellen, was dieser denn auch pflichtschuldigst that. So erfuhr die Hauptstadt am Morgen des 2. Mai, daß der bisher hochgeachtete Kriegsminister ein Verbrecher sei, der soeben selbst vor dem Comité mit bebenden Lippen zugestanden hatte, daß er die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen nicht leugnen könne.

(Schluß folgt.)




Die Vögel im Volksglauben.
Von Moritz Busch.
Die Schwalbe, ein Glücksvogel. – Der Storch, der Liebling der Familie. – Der Kukuk als Prophet. – Der Rabe und die Rabensteine. – Die Elster, ein Unglücksvogel, wie Dohle und Eule. – Die Glück bringenden Kreuzschnäbel, Rothschwänzchen u. A. – Die Nachtigall, eine verwünschte Schäferin.


Unsere Freunde, die Sommervögel, sind nun vollzählig wieder da. Einer nach dem andern stellten sie sich ein, wie eine nach der andern die Blumen aufblühten. Die Schwalbe baut unterm Thorbogen und an das Fenstergewände ihr Nest, und auf dem Dachfirste klappert ein ernstes Storchenpaar. In den Wipfeln und Hecken der Gärten zirpt und zwitschert vergnügtes kleines Federvolk in bunten Kleidern. Stieglitze und Zeisige, Hänflinge und Meisen, Rothkehlchen und Rothschwänzchen, Drosseln und Laubsänger lassen sich hören. Die Amsel flötet; die Wachtel schlägt ihr „Pickerwick“ im Getreidefelde; aus tausend Kehlen wirbelt über der grünen Saat das Geschlecht der Lerchen den Preis des Frühlings in den blauen Himmel hinein. Im Schilfe am See ertönt das dumpfe Brüllen der Rohrdommeln. Die einsame Haide ist belebt von Stimmen. Auch das Orchester des Waldes ist nun vollständig besetzt. Durch alle Zweige huscht die Farbenpracht seines Gefieders. Liebe und Sehnsucht, Freude an der Morgensonne, hundert andere Empfindungen bilden trillernd, schmetternd, langtönend von allen Schattenplätzen her das Concert der erwachten Natur. An den Säumen und Lichtungen des Waldes lassen Edelfink, Grasmücke und Nachtigall, die Meistersänger der Thierwelt, uns ihren Strophen lauschen. Weiter drinn erfüllt die wilde Taube mit ihrem Girren und Rucksen das dämmernde Dickicht. Der Specht weckt mit schallendem Hämmern den Widerhall zwischen den hohen Stämmen, und aus fernen geheimnißvollen Gründen und Breiten trifft unser Ohr der tiefe Ruf des Kukuks und die helle Stimme des Pirols. Mit dem grauenden Tage beginnt die Musik, nur in den Mittagsstunden wird es still, sodaß auch das niedere Volk der Kerbthiere zu Worte kommt, das nun in der Schwüle sein schwermüthig stimmendes Summen wie das Murmeln eines fernen Meeres vernehmen läßt, bis die sinkende Sonne die Vögel auf’s Neue zum Gesange anregt.

Daß dies Alles sehr artig und anmuthig ist, daß es auf das Gemüth, dem nicht alle Thüren zum Naturgenuß verschlossen sind, einen tiefwirkenden Zauber ausübt, sehen wir auch an dem sogenannten geringen Manne und bei ihm vielleicht am meisten, namentlich, wo Wohnort und Beruf ihn viel in Wald und Feld verkehren lassen. Wer hätte nicht von dem feinen Gehöre des thüringer Waldbewohners und des Harzers gehört, das im Schlage des Finken gegen zwanzig Nüancen unterscheidet und auch anderer vornehmer und gemeiner Vögel Sprache und Musik versteht? Und wer kennt nicht die Rolle, welche die Vogelwelt in unseren Volksliedern spielt?

Weniger an diese Anmuth der Gestalt, der Farbe und Stimme denkt der Volksglaube in Betreff der Vögel, der wie aller Volksglaube im Wesentlichen der neben dem modernen Denken und Empfinden hergehende Nachhall altheidnischer Vorstellungen ist und in einer Anzahl von gefiederten Geschöpfen nicht sowohl schöne als heilige Thiere erblickt. Warum sie heilig sind, weiß er in der Regel nicht. Die Wissenschaft aber weiß es: sie sagt uns, daß sie einst zu den Göttern unserer Urväter in Beziehung standen. Damit wird sich das Meiste erklären, was ich im Folgenden zu einem Gesammtbilde zusammengestellt habe.

Ich beginne mit den Schwalben, über welche das Volk in ganz Deutschland einig ist, daß sie heilige Vögel sind, die Glück bedeuten und nicht beleidigt oder gar umgebracht werden dürfen.

Die Schwalben, wegen ihrer rothen Brust einst wahrscheinlich dem rothbärtigen Gewittergotte Donar heilig, haben nach dem Volksglauben allerlei wunderbare Eigenschaften. In Schwaben heißen sie „Herrgottsvögel“, in Tirol, wo man im Oberinnthal sagt, sie hätten Gott Vater den Himmel bauen geholfen, und ebenso in einigen Strichen Schlesiens „Muttergottesvögel“. Bei Meran ist ihr Erscheinen und Verschwinden durch die Feste der heiligen Jungfrau bestimmt: Sie kommen an Mariä [354] Verkündigung und gehen an Mariä Geburt. Allenthalben herrscht die Meinung, daß das Haus, in welchem sie nisten, gesegnet und vor Unheil geschützt ist. Im Oberinnthale heißt es: Wo Schwalben sich anbauen, giebt es keinen Unfrieden; im Oetzthale: Die Anwesenheit von Schwalben macht ein Dorf reich, und mit ihnen verläßt der Segen das Haus. Im Vinschgau und ebenso in ganz Schwaben und Westphalen glaubt man, daß da, wo sie ihr Nest haben, der Blitz nicht einschlage, zu Crombach bei Olpe, daß ein solches Haus überhaupt vor Feuersgefahr sicher sei. Um diesen Glücksvögeln den Eingang nicht zu verwehren, lassen in anderen westphälischen Gegenden manche Leute im Sommer Tag und Nacht die Fenster offen. Früher ging in diesen Landstrichen an den Tagen, wo man ihre Wiederkehr erwartete, die ganze Hausgenossenschaft, den Familienvater an der Spitze, ihnen entgegen bis an das Heck, das heißt das Thor des Gehöftes. Festlich wurde ihnen die Scheune geöffnet. Die Schwalbe kümmere sich, so meinte man, um die Wirthschaft; sie fliege bei ihrer Ankunft durch Diele und Scheune und gucke in alle Ecken und Winkel. Finde sie Unordnung und zu geringe Vorräthe, so schelte sie:

„To Joar, ar ik fut genk,
Wören alle Skoppen un Skiuren vull;
Nu, ar ik weer kam,
Is Alles verquickelt, verquackelt, verheert un verteehrt.“

Das heißt: „Vorm Jahre, als ich fortging, waren alle Schuppen und Scheuern voll; jetzt, wo ich wiederkomme, ist Alles verlottert, verzettelt, verheert und verzehrt.“

In der Neumark muß man sich, wenn man die erste Schwalbe sieht, sogleich waschen, denn wer das unterläßt, dem verbrennt die Sonne das Gesicht. In Tirol soll man beim Anblick der ersten Schwalbe sogleich stehen bleiben und mit einem Messer unter dem linken Fuße die Erde aufgraben; man wird dann eine Kohle finden, die das kalte Fieber vertreibt. Ebendaselbst heißt es, daß die Schwalben, wenn sie sieben Jahre in einem und demselben Neste gebrütet haben, darin ein Steinchen zurücklassen, welches große Heilkraft, vorzüglich bei Augenübeln, besitze. Im Eggethale sind zwei Bauern, die einen solchen Stein haben. Er soll von wunderbarer Schönheit sein. Im Unterinnthal verschafft man sich die Springwurzel, die alle Schlösser und Riegel öffnet, dadurch, daß man ein Schwalbennest mit starken Fäden umwickelt und so den Eingang verschließt. Dann kommt die alte Schwalbe mit jener Wurzel, macht das Nest damit auf und läßt sie darauf fallen. Nur im Lippeschen scheint der Glaube zu herrschen, daß man da, wo Schwalben nisten, keine Kälber groß ziehen könne, und nur in westphälischen Dörfern kommt die Meinung vor, daß eine Kuh, wenn eine Schwalbe unter ihr weggeflogen sei, Blut statt Milch gebe. Sonst gilt die Schwalbe allgemein für glückbedeutend, ihr Fernbleiben für gefährlich und ihre Verletzung oder Störung für Frevel, der sich rächt. Im Pusterthal, bei Bühl in Schwaben sowie im Lechrain hat der, welcher eine Schwalbe tödtet, Unglück mit seinem Viehe, namentlich geben ihm dann die Kühe rothe Milch. Zu Nauders in Tirol stirbt dem Frevler Vater oder Mutter; in dem benachbarten Telfs „theilt sich bei solcher Unthat der Himmel“, das heißt es blitzt; im Oberinnthal folgt als Strafe, daß das Haus des Thäters binnen Kurzem niederbrennt. Zu Sarsans in Tirol sowie im Oetzthale kostet das Zerstören oder Ausnehmen eines Schwalbennestes die beste Kuh im Stalle. Ferner sind die Schwalben auch prophetische Vögel. In gewissen Strichen Westphalens muß man, sobald man die erste im Jahre kommen sieht, unter seinen Füßen nachsuchen, ob da ein Haar liegt. Findet sich eins, so ist es von der Farbe der Haare, welche die zukünftige Frau trägt. Ziehen im Unterinnthal die Schwalben während des Sommers aus einem Hause, so wird bald Jemand sterben. Wieder allgemein ist die (vielleicht richtige) Ansicht, daß Hochfliegen der Schwalben gutes Wetter, Tieffliegen schlechtes bedeute. Endlich kommt die Schwalbe in einem sympathetischen Zauberspruche des Harzes vor, mit dem Flechten beschworen werden und der folgendermaßen lautet:

„De Schwale und de Flechte,
De floge wohl ober dat wille Meer;
De Schwale, de kam wedder,
De Flechte nimmermehr.“

Ein sehr alter Aberglaube, der schon im dreizehnten Jahrhunderte aufgezeichnet wurde, ist der, daß die Störche, zu denen wir uns jetzt wenden, nur bei uns in Vogelgestalt leben, in den fernen Gegenden aber, nach denen sie von uns im Herbste wegziehen, Menschen sind, welche alle Jahre sich in Störche verwandeln. Diese Meinung, schon bei Gervasius von Tilbury zu finden, herrscht noch gegenwärtig in Ostpreußen. Auch in der Nachbarschaft von Uchte in Westphalen hält man die Störche für verwandelte Menschen und erklärt daraus ihr eigenthümliches Wesen. Wenn die Jungen flügge geworden sind, sollen sie hier in der Luft über dem Neste tanzen. Im Herbst ziehen sie mit den Alten fort, aber im nächsten Frühjahr kommen nur diese wieder. In Schwaben sagt man: wenn der Storch eine Zunge hätte, so würde er reden und dann Land und Leute verrathen, weil er Alles sieht und hört. Wo indeß etwas Besonderes vorgeht, giebt er noch immer ein Zeichen, indem er klappert. Sieht man den Storch zum ersten Male, so wird man, wenn er klappert, in diesem Jahre viel Geschirr zerbrechen, wenn er steht, faul sein, wenn er fliegt, fleißig arbeiten – sagt der Bauer in Mecklenburg und Hannover. In der Altmark aber bedeutet dann der fliegende Storch einem Mädchen, daß sie bald heirathen, der stehende, daß sie nächstens Gevatter stehen wird. In Niedersachsen heißt es, wenn man beim Anblick des ersten Storches Geld in der Tasche hat, so hat man dessen das ganze Jahr über. Allgemeiner Kinderglaube ist, daß der Storch die kleinen Brüder und Schwestern bringe. In Schleswig-Holstein und Mecklenburg rufen daher die Knaben ihm, wenn er über sie hinfliegt, zu:

„Attebar, Du goder,
Bring mi en lüttjen Broder,
Attebar, Du bester,
Bring mi ’ne lüttje Söster.“

In Schlesien meint man, wenn ein Storch über das Haus fliege, so gebe es darin bald ein Kind, und auf der Insel Rügen ist man der Ansicht, daß, wenn die Störche keine Eier legen, in dem Hause, auf dem sie nisten, keine Kinder geboren werden, und daß, wenn die jungen Störche sterben, auch die kleinen Kinder in dem Hause unter ihnen nicht am Leben bleiben. Auch der Storch ist unverletzlich, und auch er schützt das Haus, auf dem er sich ansiedelt, vor Wetterschlag – ein im Norden wie im Süden verbreiteter Glaube. Wer sein Nest zerstört oder ihn selbst tödtet, hat den Blitz zu fürchten – sagt man in Schwaben, und auf Rügen darf man auf ihn nicht schießen; denn wenn er angeschossen ist, so weint er große Thränen, von denen jede ein Vorzeichen großen Unglücks ist. Auf eine Beziehung zur Ehe weist ferner hin, daß man in Westphalen glaubt, der Storch verlasse das Dach, unter dem Unfrieden herrsche, und daß man in Schwaben wissen will, wenn die Störche sich im Herbste versammelten, um fortzuziehen, und unter ihnen sich ein „Ungrader“ befinde, d. h. ein Männchen oder Weibchen, das sich nicht paaren könne, so werde es von den Uebrigen todtgehackt. Ebenfalls hierher gehört der westphälische Aberglaube, nach welchem der Storch, der „unpaare“ Brut im Neste habe, eines davon für den Teufel herauswerfe. Naiv und komisch ist die im Oldenburgischen hier und da zu hörende Meinung, die herbstlichen Versammlungen der Störche seien Zusammenkünfte der Freimaurer, wobei mitunter auch einer todtgebissen würde. Wo man dem Storch ein Nest macht, was häufig durch Aufstecken eines alten Wagenrades, in dessen Speichen man Zweige flicht, bewerkstelligt wird, wirft er nach norddeutschem und schwäbischem Volksglauben das erste Jahr zum Danke eine Feder, das zweite ein Ei und das dritte einen jungen Storch herab.

Der Kukuk, der ebenfalls zu den Göttervögeln des deutschen Heidenthums gehörte, indem er zu Donar und Freia in naher Beziehung stand, gilt allenthalben als Prophet. Wenn er nach Johanni ruft, so giebt es nach der Meinung der tiroler Landleute Mißwachs oder einen kalten Winter. Schreit er auf einem Hause, so steht darin ein Todesfall oder sonst ein Unglück nahe bevor. In ganz Nord- und Mitteldeutschland und ebenso in Tirol und Schwaben geht die Rede, daß er Einem, wenn man ihn zum ersten Male im Jahre rufen höre, die Frage beantwortet könne, wie lange man noch lebe. Man zählt nach getaner Frage nach, wie oft er schreit, und so viel Rufe man vernimmt, so viel Jahre hat man noch zu erwarten. Fast ebenso allgemein glaubt man, wer beim Hören des ersten Kukuksrufes Geld in der Tasche habe, dem könne es im ganzen Jahre nicht daran fehlen; doch muß man in der Neumark, in dem westphälischen Büren und in

[355]

Pfingstwäsche im Gebirge.
Originalzeichnung von Conrad Beckmann in München.




Schwaben dabei mithelfen, indem man mit dem Gelde klimpert oder es umdreht. In Nord- und Mitteldeutschland endlich giebt der Kukuk den Mädchen und Burschen auf ihre Frage an, wie viel Jahre sie noch ledig bleiben. Der Tag, an dem man in Westphalen den weissagenden Waldvogel zum ersten Male auf eigenem Grunde und Boden rufen hörte, war früher ein festlicher. Wer den ersten Kukuksruf melden konnte, bekam ein Ei, das er sich briet. Er begrüßte die ihm Begegnenden nicht Mit „Guten Tag!“ sondern mit den Worten „Der Kukuk hat gerufen.“ Bei Hilchenbach in Westphalen wälzte sich der Glückliche im Grase; dann that ihm das ganze Jahr der Rücken nicht weh. Eigenthümlich ist die zu Pill in Tirol herrschende Meinung,

[356] daß der Kukuk von „Brandelen“, das heißt Rothschwänzchen, ausgebrütet werde, dann ein Jahr lang Kukuk, darauf ein zweites Stoßgeier sei, als welcher er seine Stiefbrüder fresse, und endlich im dritten ein Hennengeier werde.

Ungemein viel Aberglauben knüpft sich ferner an die Raben, die Vögel des Göttervaters Wuotan. Wenn sie in Schwaben in der Luft gegen einander fliegen, so bedeutet das Krieg. Kreisen sie im Oetzthale über einer gewissen Stelle auf der Alm und fahren sie dann plötzlich zu Boden, so geht dort binnen drei Tagen ein Stück Vieh zu Grunde. Allgemein ist der Glaube, daß ihr Krächzen vor oder auf einem Hause einen in demselben zu erwartenden Todesfall anzeige. Die Raben sind die klügsten Vögel; „sie riechen das Pulver in der Flinte“ – sagt man in Tirol. Zu Derendingen in Schwaben weiß man, daß, wenn man Rabeneier ausnimmt, kocht und dann wieder in ihr Nest legt, der alte Rabe eine Wurzel herzubringt, die man sich holen und stets bei sich tragen muß, indem man dann bei allen Käufen und Verkäufen Glück hat. In Tirol herrscht ein ähnlicher Glaube. Nur holt der alte Rabe, wenn er die gekochten Eier findet, aus dem Meere einen Stein, der unsichtbar macht. In dem tirolischen Nonsberg weiß man mehr von diesen Rabensteinen, die sich beiläufig auch in den Nestern von Elstern und Gratschen (Hähern) finden sollen, zu erzählen. Dieselben machen hier nicht blos unsichtbar, sondern verleihen, auf der bloßen Haut des rechten Armes getragen, Glück in allen Dingen. Wer einen solchen suchen will, muß wissen, daß er in gewissen Nestern liegt. Diese aber kann man nur vermittelst eines Spiegels finden, da der Stein Alles, was in seiner unmittelbaren Nähe ist, für den direct darauf gerichteten Blick unsichtbar macht. In Neuvorpommern und auf Rügen ist das Verfahren ein anderes. Wer einen Rabenstein haben will und ein Rabennest weiß, dessen ältere Bewohner bereits hundert Jahre alt sind, der muß hinaufsteigen und einen der jungen Raben tödten, der aber ein Männchen sein muß und nicht über sechs Wochen alt sein darf. Nun steigt man von dem betreffenden Baume herab, merkt sich aber dessen Stelle. Denn gleich darauf kommt der alte Rabe zurück und legt den kostbaren Stein in den Schnabel seines Söhnchens, worauf Baum und Nest sofort unsichtbar werden. Darauf fühlt man nach dem Baume, steigt wieder nach dem Horste des Rabenpaares hinauf und holt sich den Stein. Auf Rügen glaubt man, daß ein solcher Erwerb nur mit Hülfe des Teufels gelinge, dem der Betreffende dafür seine Seele versprechen müsse. Schwäbischer Bauernglaube ist, daß die jungen Raben die ersten neun Tage hindurch nur vom Thau des Himmels leben. Weil sie nämlich nackt und hell sind, so meinen die Alten, es sei nicht ihre Nachkommenschaft, und bringen ihnen kein Futter. Doch sehen sie bisweilen nach dem Neste, und bekommen die Jungen am zehnten Tage schwarzen Flaum an der Brust, so holen sie ihnen das erste Aas.

Eine ähnliche Stellung wie der Rabe nimmt im Volksglauben mancher Gegenden die Elster ein, die in enger Beziehung zu verschiedenem Zauberwerke steht. Sie ist ein Unglücksvogel. Zwar sagt man in Schlesien, wenn sie recht munter „schackere“, das heißt schwatze, so habe man liebe Gäste zu erwarten, sonst aber weiß ihr „Schackschackerack“ nur Unangenehmes zu prophezeien. Wenn in Tirol Elstern um ein Dorf schreien, so hat dasselbe Hungersnoth oder große Sterblichkeit zu erwarten. Fliegen sie um ein Haus, so giebt es darin Unfrieden oder einen Unglücksfall oder auch unwillkommenen Besuch. In Westpreußen und Hessen giebt es in dem Hause, vor welchem eine Elster schreit, an demselben Tage noch Zank und Streit, und in der Wetterau bedeutet der Flug eines solchen Vogels quer über ein Dorf, daß man hier bald einen Leichenzug sehen wird. Wenn neun Elstern beisammen sind, sagt man im Lechthal, so ist unfehlbar eine Hexe darunter. Wer zu Münster im untern Innthale eine Suppe ißt, in der man eine Elster gesotten hat, der wird irre. In der Mark dürfen Elstern nicht geschossen werden, weil das Unglück bringt. Dasselbe gilt in der Wetterau von den Bachstelzen, die in Tirol sich gern bei Kühen aufhalten, „weil sie früher Kühe waren“.

Andere Unglücksvögel sind die Dohlen, die, wenn sie in Schaaren ziehen, in Tirol Sturm, in der Wetterau Krieg verkünden, die Eule, die allenthalben durch Krächzen in der Nähe eines Hauses einen Sterbefall anzeigt, und in der Mark, Schlesien und Oesterreich der Hahn, wenn er in ein Haus hineinkräht. Auch eine krähende Henne bedeutet Unglück; doch kann man dasselbe abwenden, wenn man ihr sofort den Hals umdreht. Wenn ein Hahn sieben Jahre alt ist, legt er ein Ei, aus dem ein Drache entsteht – heißt es in Tirol. Ebendaselbst verheißt es Glück, wenn Einem bei Geschäftsgängen ein weißer Hahn begegnet. Träumt Einem aber von weißen Hennen, so stirbt bald ein guter Freund.

Glücksvögel sind wieder der Kreuzschnabel und das Rothschwänzchen, jener vermuthlich, weil sein Schnabel die Rune Donars bildete, die später als Kreuz aufgefaßt wurde, dieses aus ähnlichem Grunde wie die rothbrüstige Schwalbe, das heißt als Donarsvogel. Der Kreuzschnabel hält im Harze den Blitz von dem Hause fern, in dem er wohnt. In Tirol heißt es, wenn in einem Hause eine Krankheit ausbreche, so fahre sie in diesen Vogel; er schütze ferner die Bewohner desselben vor „bösen Leuten“, das heißt vor Hexen, und das Wasser, in dem er sich gebadet, sei gut gegen die Gicht. Die Rothschwänzchen sind wie die Schwalbe und der Kreuzschnabel ein Schutz vor dem Wetterstrahle, der andererseits Dem in’s Haus fährt, welcher sie tödtet oder ihnen die Jungen aus dem Neste holt. Im Zillerthale wird ein solcher von der Epilepsie befallen; im Oberinnthale giebt alles Vieh des Mörders oder Räubers rothe Milch, und sogar das Wasser in seinem Hause nimmt eine Blutfarbe an; in anderen tirolischen Thälern verliert er die beste Kuh im Stalle; wieder anderswo sagt man, so viele Rothschwänzchen man aus einem Neste nehme, so viele Verwandten stürben Einem in den nächsten zwölf Monaten. An einigen Orten in Tirol haben diese Vögel indeß nicht die Rolle von glückbringenden oder schützenden Vögeln; denn in Absam sagt man: wo „Brandelen“ nisten, schlägt der Blitz ein, und in Schwaz heißt es, in dem Hause, über das ein Rothschwänzchen fliege, sterbe bald Jemand von der Familie.

Der Wiedehopf, „des Kukuks Knecht“, liefert in Tirol ein Zaubermittel. Wer Augen von ihm in der Tasche hat, ist bei allen Menschen beliebt und hat vor dem Richter Glück, und wer den Kopf eines solchen Vogels bei sich trägt, kann von Niemand betrogen werden. Auf ein Feld, auf welchem Wachteln nisten, fällt in der Oberlausitz kein Hagelschlag, und in Schlesien, Hessen, Süddeutschland und Tirol begegnen wir der Meinung, daß dieser Vogel auch Prophetengabe besitze. So viele Male er bei seinem ersten Schlage im Frühjahre ruft, heißt es hier, so viele Jahre bleibt ein Mädchen oder Junggesell noch unverheirathet, oder so viel Gulden oder Thaler wird nach der nächsten Ernte der Scheffel Korn oder Dinkel kosten. Bei Schwaz meint man, wenn ein mit der Fallsucht Behafteter von dem Wasser trinke, in dem ein Gimpel sich gebadet habe, so genese er von seiner Krankheit, und bei Lienz im Innthale herrscht der Glaube, daß in dem Hause, in welchem ein solcher Vogel gehalten werde, Niemand den Rothlauf bekomme. Im Unterinnthale haben auch die Zeisige in ihren Nestern Steine, welche unsichtbar machen, und die man deshalb „Blendsteine“ nennt. Auf der Insel Rügen heißt es von der Nachtigall, dieselbe sei eine verwünschte Schäferin, die ihren Liebsten, einen Schäfer, schlecht behandelt habe, da sie ihn ihre und seine Heerde bis tief in die Nacht hinein habe treiben lassen. Lange schon habe sie ihm versprochen gehabt, seine Frau zu werden, niemals aber Anstalt dazu gemacht, sodaß Jener endlich im Zorne ausgerufen habe, er wünsche, daß sie bis an den jüngsten Tag nicht schlafen könne. So ist’s denn auch – wie die beiläufig nicht aus dem Volksglauben, sondern aus einem Wortspiele entstandene Geschichte weiter berichtet – richtig gekommen: die hartherzige Schäferin kann auch bei Nacht nicht schlafen und singt ihr Klagelied darüber in folgenden Worten:

„Is Tid, is Tid,
To wit, to wit,
Trizi, Trizi, Trizi,
To Bucht, to Bucht, to Bucht!“

Das heißt: ’s ist Zeit, ’s ist Zeit, zu weit, zu weit, Trizi (der Name des Hundes), zur Bucht, zur Bucht, zur Bucht! (der gewöhnliche Schäferruf, wenn der Hund die Schafe im Bogen treiben soll). Darauf pfeift sie noch dreimal und schweigt dann.


[357]
Blätter und Blüthen.

Die „Vineta“ in Südamerika. Wir empfangen aus der Republik Peru folgende Originalzuschrift: „Wenn auch die in fremden Landen zerstreuten Deutschen freudig bekennen, daß ihre Nation, was einheitliche Macht betrifft, nicht mehr hinter anderen Völkern zurückstehe, so schaut doch noch Mancher mit wehmüthigem Gefühle auf die engeren Verhältnisse zurück, welche ihm in ihrer Beschränkung selbst werth und durch eine lange Gewohnheit ehrwürdig geworden. Da zog der Herr Consul von Hamburg an Sonn- und Festtagen seine hübsche Flagge auf und betrachtete vergnügt sein Wappenschild, oder der Herr Vertreter von Bremen machte dem Minister des Auswärtigen einen Besuch und freute sich mittheilen zu können, daß die Beziehungen beider Republiken an Herzlichkeit nichts zu wünschen übrig ließen, oder Mecklenburg schloß sich am Neujahrstage in großer Gala dem diplomatischen Corps an, um dem Staatsoberhaupte zum Jahreswechsel Glück zu wünschen. Mit den gewaltigen Ereignissen der letzten Jahre ist Deutschland aus der bescheidenen Zurückhaltung getreten, die so lange unser Loos war; die schwarz-weiß-rothe Flagge mit deutschem Aar hat die Sinnbilder deutscher Uneinigkeit verdrängt, und deutsche Vertreter nehmen jetzt überall die Gerechtsame des deutschen Kaufmanns wahr; Deutschland muß jetzt den Ehrenplatz behaupten, den es in gemeinsamen Heldenkämpfen errungen, damit seine Söhne durch die Achtung, die sie unter den Völkern genießen, ihren nationalen Wohlstand befestigen und mit ihrer Macht und Selbstständigkeit die Sicherheit unseres wirthschaftlichen Lebens erhöhen. Ist doch der freie und sichere Verkehr wie auf dem Lande so zur See eine Grundbedingung für den Wohlstand, und ein Volk, welches die Ausfuhr seiner Erzeugnisse und die Zufuhr seiner Waaren, die es von auswärts bezieht, Fremden preisgiebt, wird nicht blos wirthschaftlich ausgebeutet, sondern entbehrt auch der wirksamsten Hebel der Thatkraft. Darum können Kaufleute in fernen Zonen nicht anders als mit aufrichtigster Freude hinblicken auf den Schutz, den die gemeinsame Flagge dem deutschen Handel gewährt, und wohl erklärt dies den Jubel, der die deutsche Colonie von Lima ergriff, als die Nachricht kam: die ‚Vineta‘ wird auf ihrer Fahrt nach China auch unseren Hafen, wenn auch nur auf kurze Zeit, anlaufen.

Um so eifriger rüstete man zur Aufnahme und Bewirthung der deutschen Seeleute. In den Vordergrund trat mit vollem Rechte der deutsche Club ‚Germania‘. Derselbe vereinigt in seinen gemüthlichen Räumen Alles, was nur einigermaßen auf Stellung und Bildung Anspruch macht; unsere lebensfrischen jungen Leute wissen hier Feste zu schaffen, deren geschmackvolle Durchführung und munterer Ton uns überaus anheimeln und vergessen lassen, daß unermeßliche Wasserstraßen uns von der deutschen Heimath trennen. Hier also, wo das deutsche Leben, die deutsche Sitte in besonders hoher Stimmung pulst, fand der vom Vorstande angekündigte Plan, den Officieren der ‚Vineta‘ einen vergnügten Abend zu bereiten, einen jubelnden Wiederhall. Kaum war daher die Corvette in der Bai von Callao vor Anker gegangen, als auch schon eine Deputation des Clubs an Bord erschien und die Einladung zu einem Festabende überbrachte, die von den angenehm überraschten Herren sogleich angenommen wurde.

Bald folgten andere Einladungen. In der Nähe von Lima liegt am Meeresstrande das Landstädtchen Miraflores. Hier, in sandiger wasserloser Gegend, hat sich Herr S. einen prunkenden Sitz errichtet und die trotzige Ungebundenheit der Natur durch Zucht und Regel gebändigt. Besonders verdienstlich wirkte er in Miraflores selbst; durch den belebenden Strom freigebig gespendeter Summen wandelte er den schmutzigen Ort in ein freundliches Seebad um, das besonders von uns Deutschen stark besucht wird. Dieses Miraflores wurde der zweite Mittelpunkt der Feste. Nachdem ein üppiges Mahl in S.’s Hause, an dem die meisten Officiere Theil nahmen, das Eis gebrochen, folgte am nächsten Tage ein Pickenick im Walde, veranstaltet vom deutschen Geschäftsträger, Dr. Lührsen. Unser Vertreter, Hamburger von Geburt, steht mit unseren Landsleuten hier auf dem besten Fuße: ein tüchtiger Jurist, vereinigt er mit einer eifrigen, nie den Einzelinteressen sich versagenden Amtsthätigkeit den jovialen Humor des erfahrenen Welt- und Lebemannes. Am Sonntag Morgen (12. März) trabte eine Gesellschaft von Herren und Damen mit ihren Gästen auf flinken Rossen in scherzender Unterhaltung über die braunen Fluren nach einer benachbarten Hacienda, verbrachte dort, angefeuert zu munterem Wesen durch Ceres’ und Bacchus’ Gabe, einige prächtige Stunden und kehrte dann nach Miraflores zurück, um sich zum Clubfeste vorzubereiten.

Um acht Uhr Abends schlossen die geschmückten Räume des Vereins ‚Germania‘ eine freudestrahlende Gesellschaft in sich; die junge Männerwelt, in der sich die stattlichen Gestalten der deutschen See-Officiere malerisch abhoben, umdrängten den reizenden Kranz der jungen Damen; das wogte und summte so vergnügt durch einander, bis das Zeichen der Glocke den Anfang des Festes verkündete. Ein Lustspiel, trefflich eingeübt, in welchem besonders Herr Clausen durch wohlgelungene Komik fesselte und reichen Beifall erntete, leitete den Abend ein; dann begann der Ball, der in der hellsten, ungetrübtesten Stimmung verrauschte und gewiß unseren Gästen ein schönes Bild der Erinnerung zurücklassen wird. Erst lange nach Mitternacht verhallten die letzten Klänge des Jubels, die letzten munteren Scherze.

Bald nahete die Scheidestunde; am Dienstag Abend wollte die ‚Vineta‘ wieder die Anker lichten. Zuvor noch lud der Commandant, Graf Monts, eine Anzahl Herren und Damen an Bord seines Schiffes zu einem fröhlichen Tänzlein. Freudig wurde der Einladung entsprochen. Da sah man aus den tonangebenden Kreisen der höheren Handelswelt die Chefs der ersten Firmen nebst manchen anderen Deutschen, und die Damenwelt war bei diesem Abschiedsfeste zahlreich vertreten. Bald begann die Capelle der ‚Vineta‘ eine muntere Quadrille aufzuspielen; das junge tanzlustige Volk ordnete sich zu den Figuren, und während aus dem Munde des Capitains von Lindequist die Commandoworte: ‚En avant deux, chaîne des dames‘ erschollen, setzten sich die älteren Herren um eine reichbesetzte Tafel und stießen beim perlenden Rheinwein an auf das vivat, crescat, floreat der jungen deutschen Marine. So verstrich denn schnell in gemüthlichster Unterhaltung die Zeit, und als die Sonne sich in prachtvoller Gluth über den Saum der fernen Gewässer legte, erhob sich Alles zum Abschied; herzliche Worte wurden getauscht, manch’ kräftiger, deutscher Händedruck gewechselt, dann stieg man in die Boote; geschaukelt von den grünen Wogen der sonnenbeglänzten Bai standen nun nochmals die bewirtheten Herren auf und sandten der ‚Vineta‘ aus begeisterter Brust ein hallendes Hoch zu. Und kaum war das letzte Hurrah verklungen, so gab die ‚Vineta‘ donnernd den Gruß aus dem ehernen Mund ihrer Geschütze zurück, zugleich als Ehrensalve für Dr. Lührsen, den Vertreter des deutschen Reichs.

Fahre hin, du wackeres Schiff, unseren Landsleuten in China zur stolzen Freude, zu starkem Schirme, und zeige jedem Feinde deutscher Flagge die mächtigen Fänge unseres Aars!

     Lima, den 28. März 1876.
H. R.“

Zwei Bilder aus Oberbaiern. (Mit Abbildungen S. 347 u. S. 355.) Das stimmungsvolle Bild unserer heutigen Nummer, Professor Thiersch’s „Brautfahrt auf dem Königssee“ erweckt mir lebhaft die Erinnerung an jene schönen Tage von München, wo ich, eben zurückgekehrt von einem Ausfluge zu diesem Könige unter den deutschen Seen, Gelegenheit fand, mich in das naturfrische Gemälde unseres Meisters zu versenken und mich so zurückzuträumen an die schönheitumstrahlten Ufer von Bartholomä. Mit welch vollendeter Kraft schöpferischer Gestaltung hat der Künstler den geheimnißvollen Reiz des See’s nachempfunden! Als ich betrachtend vor seinem Bilde stand, sah ich sie leibhaftig vor mir, die in dem gewaltigen Felsenbecken ruhig fluthenden Wasser, und fühlte mich auf’s Neue hineingezogen in den Zauber dieser herrlichen Landschaft.

Die Tauern flehen im Dunste der heißen Nachmittagssonne, hoch droben die Schönfelsspitze wie in duftigem Schleier. Schweigen ringsum über den Tiefen des See’s, das Gemüth berührend wie die Ruhe eines Kirchhofes. Der Falkenstein stürzt sich steil und jäh in die Fluth – eine melancholische Wand: Tannen umdüstern das Gestein, und dunkler Epheu rankt sich daran empor, das ernste Zeichen eines Kreuzes aber hebt sich leuchtend von dem Felsrücken ab. Es mahnt uns, daß diese blaue Wasserebene wirklich ein Kirchhof ist; denn wer sie befährt, dessen Kiel geht über Gräber hinweg.

Ein Nachen gleitet im Schatten des Falkensteins daher. Drei Menschen sitzen darin, der Fährmann und – man sieht es diesen strahlenden Augen an – ein glückliches junges Ehepaar, das wohl erst gestern am Altare stand. Der sonnenverbrannte Mann aus den Bergen, der das Ruder führt, zeigt mit der markigen Hand zum Kreuze da oben hinauf, und dann erzählt er den Beiden die traurige Geschichte von einem anderen glücklichen Paare – o, ich kenne sie wohl, diese traurige Geschichte. Das war auch so ein blutjunges Paar. Noch hingen wohl von den Blättern des Brautkranzes die Reste in dem blonden Haar des mädchenhaften jungen Weibes; noch perlten vom Hochzeitsweine wohl die verlorenen Tropfen in dem Barte des frischblühenden Mannes. Und dieses junge Glück sollte schon heute enden! Sie standen mit verschlungenen Armen hoch oben auf dem Falkenstein und blickten hinab in die krystallene Fluth des Königssee’s. Ob sie sich wohl fragten, was tiefer sei, die Wasser, die da unten die zackigen Wände des unergründlichen Felsenkessels umspülten, oder ihr holdes, eben erst erwachtes Liebesglück? Da – es war ein entsetzlicher Augenblick – brach ein morsches Erdstück unter ihren Füßen hinweg, und in jähem Falle stürzte tief hinab in die Fluth mit Glückes- und Zukunftsträumen das noch eng umschlossene unselig-selige Liebespaar.

Das war ehedem. Und heute? Der Nachen mit dem andern Hochzeitspaare – wie umfließt ihn das Licht der Nachmittagssonne so heiter! – Das leichte Fahrzeug entzieht sich meinen Blicken. Noch seh’ ich die Furchen, die es in dem stillen Wasser zurückgelassen. Dann verschwinden auch sie. „Seid glücklich, Ihr Zwei!“ ruf’ ich ihnen nach. „Das Glück ist ein flüchtiger Geselle, flüchtig wie das Leben selbst. Ihn haschen und halten, wo er sich zeigt, das ist die ganze schwere Kunst, ach, und wie ohnmächtig sind Menschenhände!“ – –

Das schöne Baierland ist reich an Zaubern der Natur, und das Volk, das in seinen Thälern, auf seinen Höhen und an seinen Seen lebt, es ist von einer köstlichen Ursprünglichkeit, die das Herz des Fremden erquickt und erfreut.

Hat uns das Thiersch’sche Bild einen Blick in die erhabene Natur des oberbairischen Gebirgslandes thun lassen, so führt uns das Conrad Beckmann’sche, das zweite unserer heutigen Nummer, eine Scene aus dem Volksleben von drastischer Naivetät vor – zum Ernste gesellt sich der Humor. Diese „Herrgottswäsche“, wie man das Bild unseres trefflichen Künstlers nennen könnte, ist ein Stück Sittengeschichte, zu deren näherer Erklärung wir dem Meister selbst das Wort geben.

„Das Pfingstfest war schon eingeleitet,“ erzählt der Maler, „als wir, mein lustiger College und ich, die enge Gasse eines oberbairischen Dorfes – was weiß ich, wie es hieß? – durchschritten. Ueberall wurde ‚hergerichtet‘, um das Fest würdig zu begehen. Da scholl es plötzlich an unser Ohr: ‚Komm, Greth, hilf mir den Herrgott tragen!‘, und durch die enge Thür eines Bauernhauses, die steilen Stufen zur Gasse herab, trugen Greth und die alte Mutter ein derb geschnitztes Bild des Gekreuzigten.

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Gesäubert stehen Bänk’ und Tische,
Rein ist die ganze Siedelei.
Nun kommst du auch in deiner Nische,
Du alter Herrgott, an die Reih’.
Es braucht’s, daß man dich wasch’ und putz’
Von Ofenrauch und Fliegenschmutz –

so hatte mein humorvoller Begleiter bei diesem Anblick in sein Taschenbuch geschrieben – und so war’s in der That. Sie legten den heiligen Leichnam auf das Pflaster der Gasse, brachten Besen und Wassereimer, Schwamm und Seife herbei, und nun machten sie sich daran, den lieben Heiland, als wär’s ein profanes Möbel, zu säubern und zu waschen. ‚Fertig, Greth!‘ rief dann die kräftige Stimme der Alten, und – eins, zwei, drei – hatten sie das sauber gewaschene Heiligenbild wieder auf der Schulter und trugen es die Stufen zum Hause hinauf, in’s Stübchen zurück. Durchs Fenster sahen wir, wie der noch wassertriefende Welterlöser wieder an seinen gewohnten Platz in die Nische gestellt wurde, und dann machten Mutter und Tochter vor ihm in aller Ehrfurcht drei Knixe, knieeten nieder und beteten ihn an, ihn, den da vor Zeiten geformt hatten mit Hobel und Meißel der Gevatter Schreiner und Bildschnitzer und den da heute gewaschen hatten mit Seife und Besen Mutter Barbel und Greth, ihr schmuckes Töchterlein. Es war ein erbaulicher Anblick, der uns viel zu denken gab über die liebe Einfalt vom Lande und – die noch immer große Macht des orthodoxen Glaubens in den bairischen Bergen.“


Ein Geisterseher moderner Art. Zu welchen wahnsinnigen Phantasiegebilden sich die Anhänger der Lehre vom Spiritualismus versteigen, das beweist die im Nachstehenden wiedergegebene Stelle aus den Werken von A. J. Davis in New-York, welcher als Vorläufer des Spiritualismus unter den Gläubigen der „Harmonischen Philosophie“ einen hohen Rang einnimmt. Wir drucken den für die heutigen spiritistischen Verirrungen sehr bezeichnenden Passus aus einer kleinen Flugschrift von Richter Edmonds ab, welche unter dem Titel „Giebt es ein Leben nach dem Tode?“ auch in Deutschland eine ziemlich große Verbreitung gefunden hat. „In der Schlacht bei Fort Donelson,“ schreibt Davis, „sah ich, wie ein Soldat durch eine Kanonenkugel augenblicklich getödtet wurde. Sein einer Arm flog über die hohen Bäume weg. Das Gehirn war zum Theil in weite Ferne geschleudert, zum Theil auf dem Boden umher verspritzt. Seine Glieder und Finger huschten über die Todten und Sterbenden dahin. Nun, wie bekam dieser Mann einen geistigen Körper? Aehnliche Dinge habe ich zu öfteren Malen erschaut. Keine Todesfälle durch Kanonenkugeln, sondern ähnliche Todesarten durch Unglücksfälle oder Explosionen. Von diesem Manne also, dessen Körper beim Fort Donelson so vollständig vernichtet worden, sah ich alle geistigen Atome emporströmen und in der Luft sich sammeln. Die Atmosphäre war von solch goldenen Partikelchen – Ausströmungen der Todten – über dem ganzen Schlachtfelde angefüllt. Ungefähr Dreiviertel einer englischen Meile über dem Dampfe des Schlachtgetümmels, über all dem düstern Gewölk des finstern Haders, das Wald und Hügel bedeckte, dort oben in den reinen Lüften war es herrlich anzuschauen, wie die neue geistige Formbildung des plötzlich getödteten Soldaten vor sich ging; wie seine Finger und Zehen, sein Herz und Hirn sich wiederfanden. Da stand er nun, der neue geistige Körper, dreiviertel Meile über all dem Streit und Getöse, über aller Zerstörung des wüthenden Kampfes! Und gleichzeitig kamen die Leiber vieler Anderer aus verschiedenen Richtungen daher, sodaß ich im Umkreis von einer halben bis zu drei und fünf Meilen in der Höhe in der klaren ruhigen Luft sehen konnte, wie die geistigen Organismen sich bildeten und alsdann nach allen Seiten aufstiegen. Erst sah ich das Antlitz aus der Atome Goldwirbel sich entwickeln, alsdann den Kopf, den Hals, die Schultern und Arme. Das Ganze etwas schlanker, als der natürliche Körper, im Uebrigen aber ihm ganz gleich, sodaß Ihr augenblicklich die Gestalt und Gesichtszüge Eures alten Freundes erkennen würdet. Nur möchtet Ihr ausrufen: ‚Ei, Jakob, wie hast Du Dich zu Deinem Vortheil verändert! Du siehst viel klarer und hübscher aus. Deine Züge sind sanfter und liebreicher.‘ So ganz natürlich ist der geistige Körper, den der gute Gott in seiner Weisheit aus dem irdischen Staube erneut und verjüngt aufsteigen läßt.

Wie war nun die ‚Empfindung‘ des so plötzlich getödteten Mannes? Sie war für einige Zeit aufgehoben. Es gab für ihn kein Dasein. Denkt Euch den Fall. Es war ein gesunder, kräftiger Maschinenarbeiter, der mit seiner geladenen Muskete wacker in den Kampf gegangen war, um für das Sternenbanner zu streiten, das niemals sinken soll. Sein plötzlicher Tod war für ihn, was der Hammer für ein Stück Kiesel ist. Wenn ein harter Kieselstein schnell genug getroffen wird, zerstiebt er als Staub im Winde. Wäre der Schlag langsamer erfolgt, alsdann würde der Stein weder zermalmt noch zerstört worden sein. Es ist die Plötzlichkeit des Streiches, was die ‚Cohäsion‘ (den Zusammenhang) in dem Kiesel überrascht, gleichwie die Kanonenkugel die ‚Empfindung‘ der Individualität in dem Manne für den Augenblick vernichtet hatte. Die Individualität kehrt gewöhnlich bei plötzlichem Todesfalle nach einiger Tage Aufenthalt in einer Wohnstätte des Geister- oder Sommerlandes wieder. Die so plötzlich Verstorbenen werden in der Regel zu irgend einer Bruderschaft gebracht, in ein Hospital oder zu einem gastfreundlich geöffneten Pavillon, woselbst sie bewacht und sorgsam gepflegt werden, gleich all denjenigen, die aus den niedern Welten anlangen. Rückt nun der Augenblick heran für des Geistes Erwachen, alsdann wird entweder durch eine himmlische Musik die ‚Empfindung‘ wachgerufen, oder durch leise Handbewegungen und sanftes Anhauchen über dem Antlitze des Schlafenden, oder auch durch das melodische Murmeln eines nahen Silberbächleins. Und so wird der neue Ankömmling eingeführt in das Sommerland.“


Deutsche Musik im Auslande. Aus London erhalten wir folgende Zuschrift, deren Inhalt wir der Beachtung an maßgebender Stelle empfehlen: „Wenn die Handlanger deutscher Maurer und Zimmerleute während ihrer Mußezeit im Winter behufs Erweiterung ihrer Sprach- und Weltkenntniß Kunstreisen in’s Ausland unternehmen, so läßt sich kaum etwas dagegen einwenden, obwohl sie sich möglicher Weise daheim nützlicher beschäftigen könnten, als anderwärts mit ihrer Meßmusik den Leuten die Ohren zu zerreißen und den Hanswursten der englischen Bühne Stoff zur Unterhaltung des Publicums zu bieten.

Es giebt aber noch eine andere Gattung von fahrenden Tonkünstlern, welche bestrebt sind, die musikalische Begabung des deutschen Volkes den Ausländern zu veranschaulichen. Dies sind Mädchen im Alter von zwölf bis fünfzehn Jahren, die, mit Blechinstrumenten bewaffnet, unter Führung von älteren, jedoch nicht alten Frauenzimmern in den Straßen von London umherziehen und Vocal- und Instrumental-Concerte geben.

Möglich, daß diese Beschäftigungsweise der Gesundheit zuträglich ist; es scheint so, da die jungen Damen nichts zu wünschen übrig lassende Beweise von der Kraft ihrer Lungen geben.

Daß aber eine derartige Landstreicherei – ich halte diesen Ausdruck für nicht zu stark – einen entschieden ungünstigen, verderblichen Einfluß auf die Sittlichkeit ausüben muß, ist wohl unzweifelhaft. Ich bin der Meinung, daß da, wo gewissenlose Eltern oder Vormünder dem Kindesalter kaum entwachsene Mädchen allen mit dem Nomadenleben verbundenen Gefahren aussetzen, statt sie zu einer nützlichen Beschäftigung anzuhalten, die betreffenden Gemeindevorsteher oder nöthigenfalls selbst die Landesregierungen einschreiten sollten.

Die Mädchen, welche ich gestern auf der Straße singen hörte, sind aus Rheinbaiern, von woher die meisten dieser wandernden Künstler zu kommen scheinen, denn die, welche ich vor dem Jahre 1870 häufig im südlichen Frankreich gesehen und gehört habe, stammten ebenfalls aus jener Gegend.
W. N.“

Eine Rückert-Reliquie. Auf der Kneipe der Burschenschaft „Arminia“ zu Marburg hängt unter Glas und Rahmen das Original eines bisher noch ungedruckten Gedichtes von Fr. Rückert, welches derselbe der genannten Corporation als Antwort auf die „dem Dichter der geharnischten Sonette“ zu seinem fünfundsiebenzigsten Geburtstage überbrachten Glückwünsche zusandte. Dasselbe lautet:

Der Marburger „Arminia“.

Was helfen uns geharnischte Sonette!
In andern Waffen steh’n die Feinde da.
Ja Feinde fern und nah;
Daß gegen sie nur einen Hermann hätte
Germania!
Dich stärke, der einst brach die Kette,
Mit seines Namens Amulette.
Arminius, Arminia!

     Neuses. Ende Mai 1863.
Fr. Rückert.

Für den alten Kolter gingen wieder ein: aus der Sparcasse einer angehenden Künstlerin 3 Mk.; Einer, der früher in Oschatz einen Knopf anstatt des Geldes in die Kolter’sche Büchse gesteckt, 3 Mk.; Eckenraw hier 15 Mk.; Einer, der sich früher in die „Funkenburg“ bei Kolter’schen Vorstellungen eingeschmuggelt, 3 Mk.; aus Brieg 3 Mk.; J. M. Clanssen in Riesenburg 7 Mk.; B. R. in Marienburg 3 Mk.; J. A. in Wittenberge 3 Mk.; H. S. in W., für den alten Kolter, der ihn in Eisenach vor langen Jahren zu einem seiner ersten Gedichte veranlaßte, 5 Mk.; Mittwochsgesellschaft bei Lautsch 15 Mk.; aus Magdeburg 5 Mk.; aus Köln 3 Mk.; L. Club bei Otto Birnbaum 10 Mk.; Th. F. und Gebrüder R. v. F. 10 Mk.; Gebrüder Wohlfarth in Altenburg 7 Mk.; A. Kern und B. Leyrath in Creuzburg 10 Mk.; aus Bautzen 3 Mk.; von einer nordöstlichen Tischecke in Magdeburg 20 Mk.; von der „Quetzsche“ in Zwickau 30 Mk.; Klanig in Nördlingen 3 Mk.; gesammelt in einer Kindergesellschaft in Berlin 3 Mk.; Gastwirth Bergmann in Neuweisstein 16 Mk.; P. P. 5 Mk.; W. A. in Schnepfenthal 15 Mk.; von fünf fröhlichen Brüdern aus Aderstedt, die sich jetzt noch an dem Kolter-Marsche erfreuen, 18 Mk.; zwei Eisleber in Berlin 20 Mk.; gesammelt vom Baurathe S. am Gosen-Stammtische 12 Mk. 50 Pf. und F. K. für ein Partout-Billet auf einer Pappel der Lindenauer Chaussee 4 Mk.; die Stammgäste von Grebe’s Kaffee-Hause in Berlin 5 Mk.; Krüger in Dresden 5 Mk.; aus Petersburg 3 Rubel mit folgender Zuschrift:

„St. Petersburg, am 6/18. December 1875.

Ich war ein kleines Mädchen, vielleicht acht Jahre alt, als mich ein Hebräer, Herr Rosenheim, der in unserem Gasthause zu Nordhausen am Harz längere Zeit logirte und für den ich so manchen kleinen Weg that, dafür belohnte, indem er mich zu Kolter’s Vorstellung mitnahm. Es war an einem Sonnabend; wir Beide, ich im Sonntagskleide, gingen zur Vorstellung. Auf den Haagen angekommen, sagt Herr Rosenheim: ‚Höre, Paulinchen, mein Kind! Man wird jetzt gleich einsammeln, da sag’ nur: heute ist Schabbes‘. (Bekanntlich dürfen orthodoxe Juden am Schabbes kein Geld anrühren.) Ich that, wie er mich lehrte. Heute, Sonnabend, nehme ich die ‚Gartenlaube‘ zur Hand und lese von Kolter – und wieder ist heute Schabbes – aber mit Freuden entnehme ich meiner Casse drei Rubel und sende für Herrn Kolter, wenn auch nach vierundfünfzig Jahren, mein schuldiges Entree.“

Geschenk der Commune Glogau 75 Mk. und Ertrag einer vom Magistrate dort angeregten Sammlung 104 Mk. 65 Pf., zusammen 179 Mk. 65 Pf.

D. Red. d. Grtl.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Loango-Expedition“ nennt die deutsche „Afrikanische Gesellschaft“ die Unternehmung, durch welche sie einen etwa siebenzigtausend Geviertmeilen großen Theil Afrikas südlich vom Aequator der Forschung erschließen will. Zu diesem Behufe sandte die Gesellschaft, die ihren Sitz in Berlin hat, im Mai 1873 den Dr. Güßfeldt; den Geologen Dr. Lenz und den Major von Homeyer an die Loangoküste, von wo aus diese drei Männer, unter Güßfeldt’s Oberleitung, in drei Abtheilungen in das Innere aufbrechen sollten, und zwar Dr. Lenz am Ogowe hin, Major Homeyer von Angola und Güßfeldt selbst von Chinchoxo aus, wo für die Expedition eine feste Station eingerichtet und erhalten worden war. Den genannten Reisenden gesellten sich im März des folgenden Jahres noch der Arzt Dr. Falkenstein, der Mechaniker Lindner, der Botaniker Soyaux und der den Lesern der „Gartenlaube“ schon durch seine Forschungen über den Wal und den Fang desselben, bei welchem letzteren er selbst einige Jahre thätig war, bekannte Dr. Pechuel-Loesche aus Leipzig zu. Leider stellten gerade dem von Güßfeldt geführten Zuge sich die größten Hindernisse entgegen, denn während die beiden anderen Führer glücklich vorwärts kamen, hatte jener erst unbeschreibliche Schwierigkeiten bei dem Aufbringen der vielen nöthigen Träger zu überwinden, dann brach unter den Eingeborenen eine Blattern-Epidemie aus; es starb der einflußreichste Gönner des Unternehmens im Lande, und als endlich dies Alles überwunden schien, ergriffen im Augenblicke des Aufbruchs der Expedition die Träger bis auf den letzten Mann die Flucht. Zwar wußte Güßfeldt sich andere Träger zu verschaffen, und es gelang ihm, am Quillu bis zu den vorher noch unerreichten Katarakten von Bumina vorzudringen, aber die Feindseligkeit der dortigen Negerstämme äußerte sich in so bedenklicher Weise, daß auf Güßfeldt’s persönliche Berichterstattung vor einer Versammlung der Delegirten und des Vorstandes der Gesellschaft am 3. October 1875 in Berlin der Beschluß gefaßt wurde, die Station Chinchoxo aufzuheben und die Reisenden zurückzuberufen. Doch ist damit nicht das ganze Unternehmen aufgegeben, sondern es soll mit erneuten Kräften eine Expedition am rechten Ufer des Congo entlang versucht werden. Für die Erhaltung der Station Chinchoxo sind mit großem Eifer Dr. Falkenstein und Pechuel-Loesche aufgetreten, denen dieselbe manche neue Schöpfung und Verbesserung zu verdanken hat. Wie auch hierüber entschieden werden möge, immer werden unsere Leser einen Bericht Pechuel-Loesche’s aus jener deutschen Station in Afrika mit Theilnahme entgegennehmen. Wer sich genauer über die ganze Angelegenheit unterrichten will, den verweisen wir auf das „Correspondenzblatt der Afrikanischen Gesellschaft, herausgegeben im Auftrage des Vorstandes von Professor Dr. R. Hartmann“ in Berlin.
    D. Red.
  2. Um einer etwaigen irrigen Auffassung des obigen Artikels zuvorzukommen, wollen wir den Hinweis nicht unterlassen, daß so ziemlich alle berufenen Beurtheiler der amerikanischen Zustände mit uns darin einig sind, daß die Corruption des Beamtenthums jenseits des Oceans durchaus nicht in der republikanischen Staatsform, vielmehr in der bunten Zusammenwürfelung der heterogensten Bestandtheile der dortigen Gesellschaft, in ihrem Mangel an wahrhaft sittlicher Bildung und einigen anderen tiefgreifenden socialen Zuständen zu suchen ist. Daß Absolutismus und Despotismus nicht vor Beamtencorruption schützen, lehrt uns hinlänglich die Geschichte.
    D. Red.