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Die Gartenlaube (1876)/Heft 43

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1876
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[715]

No. 43.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.


Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Vineta.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)

„Ich begreife die Discretion,“ sagte Hubert, der vor Begierde brannte, irgend etwas zu erfahren, was er bei seiner Rückkehr in L. erzählen konnte, wo man sich jetzt mehr als je mit dem jungen Gutsherrn von Wilicza und seiner Mutter beschäftigte. „Aber Sie wissen gar nicht, was für schreckliche Geschichten man sich in der Stadt darüber erzählt. Herr Nordeck soll damals, als er sich so entschieden für uns erklärte, eine ganze Verschwörung auseinandergesprengt haben, die in den Kellergewölben seines Schlosses zusammenkam und bei der Graf Morynski und Fürst Baratowski den Vorsitz führten. Als die Fürstin sich dazwischen werfen wollte, soll ihr der Sohn die Pistole auf die Brust gesetzt und sie ihm ihren Fluch entgegengeschleudert haben, und dann sind sie Beide –“

„Wie kann man in L. solche alberne Märchen glauben!“ rief der Doctor unwillig. „Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, daß auch nicht eine einzige dieser extravaganten Scenen zwischen Waldemar und seiner Mutter stattgefunden hat. Sie sind Beide nicht danach geartet, im Gegentheil, sie stehen sehr – höflich miteinander.“

„Wirklich?“ fragte der Assessor mißtrauisch. Er ließ die Geschichte von der Pistole und dem Fluche augenscheinlich nur sehr ungern fahren – sie sagte ihm weit mehr zu, als diese nüchterne Erklärung. „Aber die Verschwörung hat doch bestanden,“ setzte er hinzu. „Und Herr Nordeck hat sie auseinandergesprengt, er allein gegen zweihundert Hochverräther. Ach, daß ich damals nicht hier gewesen bin! Ich war drüben in Janowo, wo ich leider gar nichts entdeckte. Fräulein Margarethe ist doch sonst so klug. Ich begreife nicht, wie sie sich damals so vollständig täuschen lassen konnte. Jetzt freilich wissen wir, daß das ganze geheime Waffenlager hier in Wilicza versteckt war, wenn Herr Nordeck das auch nun und nimmermehr zugeben will.“

Der Doctor schwieg und sah sehr verlegen aus. Die Erwähnung Janowos brachte ihn noch immer aus der Fassung. Zum Glück waren sie gerade jetzt an die Stelle gelangt, wo der Weg nach dem Schlosse abbog. Fabian verabschiedete sich von seinem Gefährten und dieser ging allein nach dem Gutshofe.

Hier fand inzwischen eine Unterredung zwischen dem Administrator und seiner Tochter statt, die eine erregte Wendung zu nehmen drohte. Gretchen wenigstens hatte eine ganz kriegerische Stellung eingenommen. Sie stand vor ihrem Vater, die Arme trotzig übereinandergeschlagen, den Kopf mit den blonden Flechten zurückgeworfen, und stampfte sogar mit ihrem Füßchen auf den Boden, um ihren Worten mehr Nachdruck zu geben.

„Ich sage Dir, Papa, ich mag den Assessor nicht. Und wenn er noch ein halbes Jahr lang um mich herumseufzt und Du ihm noch so sehr das Wort redest, ich lasse mir kein Ja abzwingen!“

„Aber Kind, es ist ja nicht die Rede davon, Dich zu zwingen,“ beruhigte der Vater. „Du weißt ja, daß Du ganz Deinen freien Willen hast, aber die Sache muß doch endlich einmal zur Sprache kommen. Wenn Du bei Deinem Nein beharrst, darfst Du Hubert wirklich nicht länger Hoffnung machen.“

„Ich mache ihm keine Hoffnung,“ rief Gretchen, fast weinend vor Aerger. „Im Gegentheil, ich behandle ihn ganz abscheulich, aber das hilft nichts. Seit der unglücklichen Schnupfenpflege bildet er sich steif und fest ein, ich erwidere seine Gefühle. Wenn ich ihm heute einen Korb gäbe, so würde er lächelnd antworten: ‚Sie irren sich, mein Fräulein, Sie lieben mich doch‘ – und morgen wäre er wieder da.“

Frank nahm die Hand seiner Tochter und zog sie näher zu sich heran „Gretchen, sei einmal vernünftig und sage mir, was Du eigentlich gegen den Assessor einzuwenden hast. Er ist jung, leidlich hübsch, nicht unvermögend und kann Dir eine höchst angenehme gesellschaftliche Stellung bieten. Ich gebe zu, daß er manche Lächerlichkeiten an sich hat, aber eine vernünftige Frau wird schon etwas aus ihm machen. Die Hauptsache aber ist, daß er Dich bis zur Narrheit liebt, und Du sahst ihn ja anfangs gar nicht mit so ungünstigen Augen an. Was hat Dich denn gerade in der letzten Zeit so gegen ihn eingenommen?“

Gretchen blieb die Antwort auf diese Frage schuldig, die sie etwas in Verlegenheit zu setzen schien, aber sie faßte sich bald wieder.

„Ich liebe ihn nicht,“ erklärte sie mit der größten Bestimmtheit. „Und ich will ihn nicht, und ich nehme ihn nicht.“

Dieser kategorischen Erklärung gegenüber blieb dem Vater nun freilich nichts weiter übrig, als die Achseln zu zucken, was er denn auch that.

„Nun, meinetwegen!“ sagte er unmuthig. „Dann werde ich dem Assessor aber klaren Wein einschenken, ehe er uns diesmal verläßt. Bis zu seiner Abreise will ich damit warten, vielleicht besinnst Du Dich noch bis dahin.“

Die junge Dame machte eine sehr geringschätzige Miene darüber, daß der Vater ihr eine solche Inconsequenz zutraute. Es schien ihre Seelenruhe nicht im Mindesten zu stören, daß sie soeben den Stab über das Lebensglück des armen Assessors [716] gebrochen hatte, denn sie setzte sich gleichmüthig an ihren Nähtisch, nahm ein dort liegendes Buch und begann zu lesen.

Der Administrator ging, noch immer ein wenig ärgerlich, im Zimmer auf und ab; endlich blieb er vor seiner Tochter stehen.

„Was ist denn das für ein dicker Band, den ich jetzt fortwährend in Deinen Händen sehe? Eine Grammatik vermuthlich. Studirst Du so eifrig Französisch?“

„Nein, Papa,“ sagte Gretchen. „Die Grammatik ist viel zu langweilig, als daß ich sie so oft in die Hand nehmen sollte. Ich“ – sie legte feierlich die Hand auf das Buch – „ich studire gegenwärtig die Geschichte des Germanenthums.“

Was studirst Du?“ fragte der Administrator, der seinen Ohren nicht traute.

„Die Geschichte des Germanenthums!“ wiederholte seine Tochter mit unglaublichem Selbstgefühl. „Ein ausgezeichnetes Werk, ein Werk von der allertiefsten Gelehrsamkeit! Willst Du es auch einmal lesen? Hier ist der erste Band.“

„Laß mich in Ruhe mit Deinem Germanenthum!“ rief Frank. „Ich habe genug mit dem Slaventhum zu thun. Aber wie kommst Du denn zu diesem gelehrten Zeuge? Ganz sicher durch den Doctor Fabian, aber das ist gegen die Abrede. Er hat versprochen, Dich im Französischen zu üben, und statt dessen bringt er Dir alte Scharteken aus seiner Bibliothek, von denen Du kein Wort verstehst.“

„Ich verstehe Alles,“ rief das junge Mädchen beleidigt. „Und es ist auch keine alte Scharteke; es ist ein ganz neues Werk, das Doctor Fabian selbst geschrieben hat. Es macht ungeheueres Aufsehen in der Gelehrtenwelt, und zwei unserer ersten wissenschaftlichen Berühmtheiten, Professor Weber und Professor Schwarz, liegen sich bereits in den Haaren darüber und über die angehende dritte, den Doctor nämlich. Aber Du sollst sehen, Papa, er wird noch einmal größer, als beide zusammengenommen.“

„Schwarz?“ sagte der Administrator nachsinnend. „Das ist ja der berühmte Onkel unseres Assessors an der Universität zu J. Nun, da kann Doctor Fabian von Glück sagen, wenn eine solche Autorität sich überhaupt mit seinen Werken befaßt.“

„Professor Schwarz versteht gar nichts,“ erklärte Gretchen zum Entsetzen ihres Vaters und mit der Unfehlbarkeit eines akademischen Richters. „Er wird sich mit seiner Kritik des Fabian’schen Buches ebenso blamiren, wie der Assessor mit der Verhaftung des Herrn Nordeck. Natürlich, es sind ja Onkel und Neffe – das liegt so in der Familie.“

Jetzt schien die Sache dem Administrator doch etwas bedenklich zu werden; er sah seine Tochter forschend an. „Du bist in diesen Universitätsgeschichten ja so bewandert wie ein Student. Du scheinst das unumschränkte Vertrauen des Doctor Fabian zu genießen.“

„Das genieße ich auch,“ bestätigte Gretchen. „Aber es hat sehr viel Mühe gekostet, ihn dahin zu bringen. Er ist so schüchtern, so zurückhaltend, obwohl er doch ein so bedeutender Mensch ist. Ich habe ihm das Alles erst im Laufe der Zeit und Wort für Wort abfragen müssen. Sein Buch wollte er mir anfangs gar nicht geben, aber da wurde ich böse, und ich möchte wohl sehen, was er mir verweigert, wenn ich ihm ein Gesicht mache.“

„Höre, Kind, ich glaube, der Assessor hat einen sehr dummen Streich gemacht, als er Deine französischen Uebungen veranlaßte,“ brach Frank jetzt los. „Dieser stille, blasse Doctor mit seiner sanften Stimme und seinem schüchternen Wesen hat es Dir wahrhaftig angethan und ist allein schuld an der schlimmen Behandlung, die Du dem armen Hubert zu Theil werden läßt. Du wirst doch keine Thorheiten machen? Der Doctor ist nichts weiter als ein ehemaliger Hauslehrer, der bei seinem früheren Zöglinge lebt und eine Pension von ihm bezieht. Wenn er dabei gelehrte Werke schreibt, so mag das ein Vergnügen für ihn sein, aber Geld bringt dergleichen nicht ein und am allerwenigsten ein gesichertes Einkommen. Zum Glück ist er zu schüchtern und auch wohl zu vernünftig, um auf Deine Vorliebe für ihn irgend eine Hoffnung zu bauen, aber ich halte es doch für besser, wenn die französischen Stunden jetzt ein Ende nehmen, und werde das auf schickliche Weise einzuleiten suchen. Wenn Du, die kaum die Geduld hat, einen Roman zu Ende zu lesen, jetzt die Geschichte des Germanenthums studirst und Dich dafür begeisterst, blos weil Doctor Fabian sie geschrieben hat, so ist mir das doch bedenklich.“

Die Tochter sah bei dieser väterlichen Ermahnung sehr unzufrieden aus und bereitete sich zu einem nachdrücklichen Protest, als der Inspector mit einer Meldung eintrat. Gleich darauf verließ Frank mit ihm das Zimmer, und Fräulein Margarethe blieb in einer höchst ärgerlichen Stimmung zurück. Assessor Huber hätte gar nichts Schlimmeres thun können, als in einer solchen Stunde zu erscheinen, aber sein gewöhnlicher Unstern führte ihn natürlich gerade jetzt herein. Er war, wie immer, die Aufmerksamkeit und Artigkeit selbst, der Gegenstand seiner Wünsche aber zeigte eine so ungnädige Laune, daß er eine Bemerkung darüber nicht unterdrücken konnte.

„Sie scheinen verstimmt, Fräulein Margarethe,“ begann er nach mehreren vergeblichen Versuchen, ein Gespräch anzuknüpfen. „Darf man den Grund wissen?“

„Ich ärgere mich, daß gewöhnlich gerade die bedeutendsten Menschen so sehr viel Schüchternheit und so gar kein Selbstvertrauen haben,“ fuhr Gretchen heraus, die mit ihren Gedanken ganz wo anders war.

Das Antlitz des Assessors verklärte sich förmlich bei diesen Worten. Bedeutende Menschen – Schüchternheit – kein Selbstvertrauen – ja freilich, er war damals mitten im Kniefall stecken geblieben und noch heute nicht bis zu einer Erklärung gekommen. Die junge Dame trug allerdings selbst die Schuld daran, aber es verletzte sie doch, daß er so wenig Selbstvertrauen zeigte. Das mußte unverzüglich wieder gut gemacht werden. Der Wink konnte ja gar nicht deutlicher gegeben werden.

Gretchen sah schon in der nächsten Minute ein, was sie mit ihren unvorsichtigen Worten, die Hubert natürlich auf seine eigene Person bezog, angerichtet hatte. Sie brachte schleunigst ihre Geschichte des Germanenthums vor ihm in Sicherheit, denn der Doctor hatte ihr das Versprechen abgenommen, dem Neffen seines literarischen Gegners nichts davon zu verrathen, und beschloß, ihre Uebereilung durch möglichste Ungezogenheit wieder gut zu machen.

„Sie brauchen nicht mit einem solchen Polizeiblick um mich herum zu gehen, Herr Assessor,“ sagte sie. „Ich bin keine Verschwörung, und das ist ja doch das Einzige auf der Welt, was Sie interessirt.“

„Mein Fräulein,“ versetzte der Assessor würdevoll, aber doch etwas verletzt, denn er war sich bewußt, schmachtend und durchaus nicht polizeimäßig geblickt zu haben. „Sie werfen mir meinen Amts- und Pflichteifer vor, und doch glaube ich mir gerade daraus ein Verdienst machen zu können. Auf uns Beamten lastet die ganze Sorge für die Ordnung und Sicherheit des Staates; uns danken es Tausende, daß sie Abends ihr Haupt ruhig niederlegen können; ohne uns –“

„Nun, wenn Sie allein für unsere Sicherheit sorgten, dann wären wir hier in Wilicza längst todtgeschlagen worden,“ unterbrach ihn das junge Mädchen. „Es ist nur ein Glück, daß wir Herrn Nordeck haben; der schafft uns nachdrücklicher Ruhe als das ganze Polizeidepartement von L.“

„Herr Nordeck scheint jetzt überall einer außerordentlichen Bewunderung zu genießen,“ bemerkte Hubert empfindlich. „Auch bei Ihnen.“

„Ja, auch bei mir,“ bestätigte Gretchen. „Ich bedaure es aufrichtig, aber meine Bewunderung gilt nun einmal Herrn Nordeck und keinem Andern.“

Sie warf einen sehr anzüglichen Blick auf den Assessor, aber dieser lächelte nur.

„Ah, dieser Andere würde auch niemals das kalte, fremde Gefühl der Bewunderung beanspruchen,“ versicherte er. „Er hofft auf ganz andere Regungen in einer verwandten Seele.“

Gretchen sah, daß die Ungezogenheit ihr gar nichts half. Hubert steuerte unverwandt und unbeirrt auf die Erklärung los. Das junge Mädchen hatte aber gar keine Lust, ihn anzuhören; es war ihr unangenehm, ihm ein Nein geben zu müssen, und sie fand es weit bequemer, das durch ihren Vater abmachen zu lassen. Deshalb fuhr sie mit der ersten besten Frage dazwischen, die ihr gerade in den Sinn kam.

„Sie haben mir ja so lange nichts von Ihrem berühmten Onkel in J. erzählt. Was macht er denn jetzt?“

[717] Der Assessor, der in dieser Frage nur ihre Theilnahme an seinen Familienangelegenheiten erblickte, ging bereitwillig darauf ein.

„Mein armer Onkel hat in der letzten Zeit sehr viel Aerger und Verdruß gehabt,“ berichtete er. „Es existirt an der Universität eine Gegenpartei – welches wahrhaft Große hätte nicht seine Neider und Feinde!? – an deren Spitze Professor Weber steht. Dieser Herr hascht förmlich nach Popularität; die Studenten hängen mit blinder Vorliebe an ihm; alle Welt spricht von seiner Liebenswürdigkeit, und mein Onkel, welcher dergleichen Kunstgriffe verschmäht und sich überhaupt nie um die öffentliche Meinung kümmert, wird von allen Seiten angefeindet. Jetzt hat die Gegenpartei, einzig ihm zum Aerger, einen ganz obscuren Menschen auf den Schild gehoben und unterfängt sich, dessen Erstlingswerk neben die Schwarz’schen Schriften über den Germanismus zu setzen.“

„Es ist wohl nicht möglich,“ meinte Gretchen.

„Neben die Schriften meines Onkels,“ wiederholte der Assessor mit großartiger Entrüstung. „Ich kenne weder den Namen, noch die näheren Umstände. Mein Onkel liebt es nicht, sich in seinen Briefen über Einzelheiten auszusprechen, aber die Sache hat ihn dermaßen geärgert, und sein Conflict mit dem Professor Weber ist zu einer solchen Höhe gediehen, daß er daran gedacht hat, seine Entlassung zu nehmen. Es ist natürlich nur eine Drohung; man läßt ihn in keinem Falle fort. Die Universität erlitte ja durch sein Ausscheiden eine bedenkliche Schädigung, aber er hielt es doch für nothwendig, einen Druck auf die betreffenden Persönlichkeiten zu üben.“

„Ich wollte, das wirkte,“ sagte Gretchen mit einem solchen Ausdruck des Ingrimms, daß Hubert betroffen einen Schritt zurücktrat, aber gleich darauf trat er zwei näher.

„Es beglückt mich sehr, daß Sie ein solches Interesse an dem Ergehen meines Onkels nehmen. Auch er interessirt sich bereits für Sie. Ich habe ihm oft von dem Hause und der Familie geschrieben, wo ich eine so liebenswürdige Aufnahme gefunden habe, und er würde mit Freuden hören, daß ich dieser Familie –“

Da war er schon wieder so weit. Das junge Mädchen sprang in voller Verzweiflung auf, lief an das gerade offen stehende Clavier und begann zu spielen. Aber sie unterschätzte die Beharrlichkeit des Bewerbers, denn schon in der nächsten Minute stand er neben ihr und hörte zu.

„Ah, der Sehnsuchtswalzer! Mein Lieblingsstück! Freilich, die Musik vermag es am besten, die Gefühle des Herzens auszudrücken – nicht wahr, Fräulein Margarethe?“

Fräulein Margarethe fand, daß sich heute Alles gegen sie verschworen habe. Es war zufällig das einzige Stück, das sie auswendig wußte, und sie wagte nicht aufzustehen und Noten zu holen, denn die Miene des Assessors verrieth, daß er nur auf eine Pause im Spiel wartete, um den Gefühlen seines Herzens Worte zu geben. So ließ sie denn den Sehnsuchtswalzer mit vollster Kraft und im Tempo eines Sturmmarsches über die Tasten hinrasen. Es klang fürchterlich, und es sprang eine Saite dabei, aber der Lärm wurde glücklich so arg, daß er jede etwaige Liebeserklärung übertönen mußte.

„Sollte das Fortissimo wohl hier am Platze sein?“ wagte Hubert zu bemerken. „Ich meinte immer, das Stück müsse im schmelzenden Piano gespielt werden.“

„Ich spiele es im Fortissimo,“ erklärte Gretchen und schlug auf die Tasten, daß die zweite Saite sprang.

Der Assessor war etwas nervös; er fuhr zusammen. „Sie werden das schöne Instrument verderben,“ sagte er, sich mit Mühe verständlich machend.

„Wozu giebt es Clavierstimmer in der Welt?“ rief Gretchen. Als sie merkte, daß der musikalische Lärm dem Assessor unangenehm wurde, steigerte sie ihn zu einer ganz unglaublichen Höhe und opferte kaltblütig die dritte Saite. Das half endlich. Hubert sah ein, daß man ihn heute nicht zu Worte kommen lassen wollte, und trat den Rückzug an, ärgerlich, aber mit unerschüttertem Vertrauen. Die junge Dame hatte ihn ja damals beim Schnupfenfieber mit so rührender Aufmerksamkeit gepflegt, und heute hatte sie ihn einen bedeutenden Menschen genannt und ihm Mangel an Selbstvertrauen vorgeworfen. Freilich, ihr Eigensinn blieb unberechenbar, aber sie liebte ihn dennoch.

Als er fort war, stand Gretchen auf und schloß das Clavier. „Drei Saiten sind gesprungen,“ sagte sie wehmüthig und doch mit einer gewissen Befriedigung. „Aber ich habe ihn richtig wieder nicht zur Erklärung kommen lassen. Und das Uebrige kann Papa besorgen.“ Damit setzte sie sich wieder an den Nähtisch, holte das Buch hervor und vertiefte sich auf’s Neue in die Geschichte des Germanenthums. –

Es war einige Stunden später, als Waldemar Nordeck von L. zurückkehrte, wohin er heute Morgen geritten war. Er kam jetzt öfter dorthin; der Verkehr zwischen dem Schlosse und der Stadt war überhaupt lebhafter geworden. Der Umstand, daß Wilicza gerade die Grenzwaldungen einschloß und daß man der dortigen Bevölkerung am wenigsten traute, machte manche Besprechungen und Verständigungen hinsichtlich der zu nehmenden Maßregeln nothwendig, und der Präsident wußte zu gut, welche feste energische Stütze er in dem jungen Gutsherrn hatte, um ihn nicht stets mit der größten Zuvorkommenheit aufzunehmen. Auch heute war Waldemar bei ihm gewesen und dort mit einigen der höheren Beamten und Officieren aus L. zusammengetroffen, und die sämmtlichen Herren fanden auf’s Neue ihre schon früher gehegte Meinung bestätigt, daß der junge Nordeck im Grunde doch eine durchaus kalte unempfindliche Natur sei. Jeden Anderen würde das gezwungen feindselige Verhältniß der eigenen Mutter und dem eigenen Bruder gegenüber doch wenigstens gedrückt und gequält haben, ihn schien es gar nicht zu berühren. Er war wie immer ernst zurückhaltend, aber entschlossen und bereit, die einmal gewählte Stellung bis auf’s Aeußerste zu behaupten.

Waldemar hatte freilich allen Grund, den Fremden diese ruhige Stirn zu zeigen; er wußte, daß sein Verhältniß zu seiner Mutter das Tagesgespräch in L. bildete und daß die abenteuerlichsten Gerüchte darüber die Runde machten – da galt es ihnen wenigstens nicht neue Nahrung zu geben. Jetzt, wo er sich allein und unbeachtet wußte, stand ein Zug verbissenen Schmerzes in seinem Gesichte, der nicht weichen wollte, und die Stirn war so finster umwölkt, wie sie vorhin klar gewesen. Er ritt im Schritte vorwärts, ohne auf die Umgebung zu achten, und hielt bei einer Kreuzung des Weges fast mechanisch sein Pferd an, um einen Schlitten vorbei zu lassen, der in vollem Galopp herankam und dicht an ihm vorüberfuhr.

Normann bäumte sich plötzlich in die Höhe. Der Reiter hatte den Zügel mit so wilder Heftigkeit an sich gerissen, daß das Thier erschrak und einen jähen Sprung seitwärts machte. Dabei geriet es aber mit den Hinterfüßen in einen nur lose vom Schnee verdeckten Graben, der längs der Fahrweges hinlief; es strauchelte und wäre fast mit seinem Herrn zu Fall gekommen.

Waldemar brachte es schnell genug wieder aus dem Graben und auf die Höhe des Weges, aber der leichte Unfall schien ihn, den kühnen unerschrockenen Reiter, gänzlich aus der Fassung gebracht zu haben. Sie fehlte ihm noch vollständig, als er sich dem Schlitten näherte, welcher auf einen Zuruf der Dame still gehalten hatte.

„Verzeihen Sie, Gräfin Morynska, wenn ich Sie erschreckt habe! Mein Pferd scheute vor der plötzlichen Begegnung mit den Ihrigen.“

Wanda war sonst schreckhaften Regungen nicht leicht zugänglich; vielleicht trug weniger der Schrecken als das unerwartete Zusammentreffen – das erste seit drei Monaten – die Schuld an der tiefen Blässe, die noch auf ihrem Antlitze lag, als sie erwiderte:

„Sie haben doch keinen Schaden genommen?“

„Ich wohl nicht, aber mein Normann –“

Er vollendete nicht, sondern sprang rasch aus dem Sattel. Das Pferd hatte offenbar eine Verletzung an einem seiner Hinterfüße erlitten. Es hielt ihn, wie im Schmerz, emporgezogen und verweigerte das Auftreten damit. Waldemar untersuchte flüchtig den Schaden und wandte sich dann wieder zu der jungen Gräfin.

„Es ist nicht von Bedeutung,“ sagte er in demselben kalten gezwungenen Tone wie vorhin. „Ich bitte Sie, Ihre Fahrt deswegen nicht zu unterbrechen.“ Er grüßte und trat zur Seite, um den Schlitten vorüber zu lassen.

„Wollen Sie denn nicht wieder aufsteigen?“ fragte Wanda, als sie sah, daß er die Zügel um seinen Arm schlang.

„Nein! Normann hat sich am Fuße beschädigt und hinkt bedeutend. Es ist ihm schon schmerzhaft genug, nur aufzutreten. Er kann unmöglich noch einen Reiter tragen.“

[718] „Es sind aber noch zwei Stunden Wegs nach Wilicza,“ bemerkte Wanda. „Die können Sie doch nicht zu Fuß und im langsamen Schritte zurücklegen.“

„Es wird mir doch nichts Anderes übrig bleiben,“ versetzte Nordeck ruhig. „Mindestens muß ich mein Pferd bis zum nächsten Dorfe führen, wo ich es abholen lassen kann.“

„Aber dann wird es dunkel, ehe Sie das Schloß erreichen.“

„Das thut nichts; ich kenne den Weg.“

Die junge Gräfin warf einen Blick auf den Weg nach Wilicza, der sich schon nach einer kurzen Strecke im Walde verlor; sie wußte, daß diese Waldumgebung ihm blieb bis in die unmittelbare Nähe des Schlosses.

„Wäre es nicht besser, Sie bedienten sich meines Schlittens?“ sagte sie leise, ohne aufzublicken. „Mein Kutscher kann Ihr Pferd ja inzwischen nach dem Dorfe bringen.“

Waldemar sah sie betroffen an; das Anerbieten schien ihn auf’s Höchste zu überraschen.

„Ich danke. Sie fahren doch jedenfalls nach Rakowicz?“

„Der Umweg über Rakowicz ist nicht groß,“ fiel Wanda hastig ein, „und von dort aus können Sie das Gefährt allein benutzen.“ Die Worte klangen seltsam gepreßt, beinahe angstvoll. Waldemar ließ langsam den Zügel niedergleiten. Es vergingen einige Secunden, ehe er antwortete:

„Ich thue doch wohl besser, direct nach Wilicza zu gehen.“

„Ich bitte Sie aber, das nicht zu thun, sondern mit mir zu fahren.“

Diesmal sprach die Angst so unverkennbar aus Wanda’s Stimme, daß die Weigerung nicht erneuert wurde. Nordeck übergab dem Kutscher, der auf den Wink seiner Herrin abgestiegen war, das Pferd mit der Weisung, es möglichst schonend nach dem bezeichneten Dorfe zu führen, wo es abgeholt werden würde. Er selbst bestieg den Schlitten, aber er schwang sich auf den hinten befindlichen Kutschersitz und ergriff die Zügel. Der Platz neben der jungen Gräfin blieb leer.

Die Fahrt ging in tiefem Schweigen vor sich. Das Anerbieten war so einfach und selbstverständlich; die entschiedene Ablehnung wäre seltsam, ja beleidigend gewesen zwischen zwei so nahen Verwandten, aber die Unbefangenheit hatten die Beiden längst verlernt, und dies unerwartete Wiedersehen raubte ihnen den letzten Rest davon. Waldemar wendete seine Aufmerksamkeit ausschließlich den Zügeln zu, und Wanda hüllte sich fester in ihren Pelz, ohne auch nur einmal den Kopf umzuwenden.

Man stand bereits im Anfange des März, aber der Winter schien diesmal gar nicht weichen zu wollen. Kurz vor dem Scheiden ließ er noch einmal all seine Schrecken los über die arme Erde, die schon dem ersten Frühlingshauche entgegen harrte. Ein tagelang andauerndes Schneegestöber hüllte sie auf’s Neue in das weiße Leichengewand, das sie mühsam abgestreift hatte. Wieder starrte die Landschaft in Schnee und Eis, und Sturm und Kälte stritten miteinander um die Oberhand.

Der Sturm und das Schneetreiben hatten sich zwar seit heute Morgen gelegt, aber trotzdem war es ein so trüber kalter Winternachmittag, als stehe man noch im December. Die Pferde griffen kräftig aus, und der Schlitten schien auf der glatten Bahn zu fliegen, aber der eisige Hauch dieses winterlichen Märztages lag auch auf den beiden Insassen, die in ihrem Schweigen beharrten. Sie waren seit jener Stunde am Waldsee zum ersten Male wieder allein, und so düster und melancholisch jener Herbstabend auch gewesen war, mit seinem fallenden Laube und seinen wogenden Nebelgestalten, damals regte sich doch wenigstens noch das Leben der Natur, wenn auch nur im Sterben, jetzt war auch das zu Ende. Es lag eine Todtenstille auf den weiten Feldern, die sich so weiß und endlos ausdehnten. Nichts als Schnee ringsum, so weit das Auge reichte! Die Ferne verhüllte sich in trüben Nebel, und den Himmel deckte finsteres Schneegewölk, das schwer und träge dahinzog; sonst war Alles starr und todt in dieser winterlichen Oede und Einsamkeit.

Der Weg verließ jetzt das freie Feld und bog in die Waldung ein, die bisher seitwärts geblieben war. Auf dem tieferen windgeschützten Waldwege lag der Schnee so hoch, daß die Pferde nur im Schritte zu gehen vermochten. Der Führer ließ die Zügel sinken, die er bisher straff gehalten hatte, und aus den schwindelnd schnellen Fahrt wurde ein leises Dahingleiten. Die dunklen Tannen zu beiden Seiten beugten sich schwer unter der Schneelast, die sie trugen. Einer der tief herniederhängenden Zweige streifte Waldemar’s Haupt, und eine ganze Wolke von weißen Flocken ergoß sich über ihn und seine Begleiterin. Diese wendete sich jetzt zum ersten Male halb nach ihm um und sagte, auf die Bäume deutend:

„Durch solchen dichten Forst führt der Weg nach Wilicza ununterbrochen.“

Waldemar lächelte flüchtig. „Das ist mir nicht neu. Ich mache den Weg ja oft genug.“

„Aber nicht zu Fuße und bei einbrechender Dämmerung! Wissen Sie es nicht oder wollen Sie es nicht wissen, daß das eine Gefahr für Sie ist?“

Das Lächeln verschwand aus Nordeck’s Zügen und machte dem gewohnten Ernste Platz. „Wenn ich noch daran zweifelte, so würde die Kugel mich belehrt haben, die neulich, als ich von der Grenzförsterei zurück kam, an meinem Kopfe so dicht vorüberflog, daß sie mir fast das Haar streifte. Der Schütze ließ sich nicht blicken; er schämte sich vermutlich seiner – Ungeschicklichkeit.“

„Nun, wenn Sie bereits die Erfahrung gemacht haben, so ist Ihr stetes Alleinreiten geradezu eine Herausforderung,“ rief Wanda, die es nicht vermochte, ihren Schrecken bei dem Berichte vollständig zu verbergen.

„Ich reite niemals unbewaffnet,“ versetzte Waldemar gelassen, „und gegen einen Schuß aus dem Hinterhalte schützt mich keine Begleitung. Den augenblicklichen Verhältnissen in Wilicza gegenüber ist die Macht der Persönlichkeit überhaupt das Einzige, was noch wirkt. Wenn ich Furcht zeige und mich mit Vorsichtsmaßregeln umgebe, ist es zu Ende mit meiner Autorität. Wenn ich fortfahre, den Angriffen allein die Spitze zu bieten, wird man davon ablassen.“

„Und wenn jene Kugel nun getroffen hätte?“ fragte Wanda mit leise bebender Stimme. „Sie sehen doch, wie nahe Ihnen die Gefahr war.“

Der junge Mann beugte sich halb über ihren Sitz.

„Wollten Sie mich einer ähnlichen Gefahr entziehen, als Sie vorhin auf meine Begleitung bestanden?“

„Ja,“ war die kaum hörbare Antwort.

Er schien eine Erwiderung auf den Lippen zu haben, aber wie von einer Erinnerung durchzuckt, richtete er sich plötzlich wieder auf und griff fester in die Zügel, während er mit aufquellender Bitterkeit sagte:

„Das werden Sie schwerlich vor Ihrer Partei verantworten können, Gräfin Morynska.“

Sie wandte sich jetzt vollständig nach ihm um, und ihr Auge begegnete dem seinigen.

„Nein, denn Sie haben ihr offene Feindschaft angesagt. Es lag in Ihrer Hand, uns den Frieden zu bieten. Sie erklärten uns den Krieg.“

„Ich that, was ich mußte. Sie vergessen, daß mein Vater ein Deutscher war.“

„Und Ihre Mutter ist eine Polin.“

„Sie brauchen mich nicht mit diesem Tone des Vorwurfs daran zu erinnern,“ sagte Waldemar. „Der unselige Zwiespalt hat mir allzu viel gekostet, als daß ich ihn auch nur auf eine Minute vergessen könnte. Er verschuldete schon die Trennung zwischen meinen Eltern; mir hat er die Kindheit vergiftet, die Jugend verbittert und die Mutter geraubt. Sie hätte mich vielleicht geliebt wie ihren Leo, wenn ich ein Baratowski gewesen wäre wie er. Daß ich der Sohn meines Vaters war, habe ich bei ihr am schwersten büßen müssen. Wenn wir uns jetzt auch politisch gegenüberstehen, so ist das nur die Consequenz der Vergangenheit.“

„Die Sie mit eiserner Stirn durchführen,“ rief Wanda auflodernd. „Jeder Andere würde eine Aussöhnung, einen Ausgleich gesucht haben; der würde zwischen Mutter und Sohn ja doch möglich gewesen sein.“

„Zwischen Mutter und Sohn vielleicht, aber nicht zwischen der Fürstin Baratowska und mir. Sie stellte mich vor die Wahl, entweder Wilicza und mich selber willenlos ihren Interessen dienstbar zu machen, oder ihr den Krieg zu erklären. Ich habe das Letztere vorgezogen, und sie sorgt dafür, daß auch nicht einen Tag Waffenstillstand ist. Wenn es nicht noch immer den Streit [719] um die Herrschaft gälte, so hätte sie mich längst schon verlassen; mir galt ihr Bleiben gewiß nicht.“

Wanda gab keine Antwort. Sie wußte, daß er Recht hatte, aber es drängte sich ihr unwillkürlich die Gewißheit auf, daß gerade dieser Mann, der allgemein für so kalt und unempfindlich galt, das Verhältniß zu seiner Mutter mit einer grenzenlos tiefen und schmerzlichen Bitterkeit empfand. In den seltenen Momenten, wo er überhaupt sein Inneres aufschloß, kam er immer wieder darauf zurück. Die Gleichgültigkeit der Mutter gegen ihn und ihre unbegrenzte Liebe zu dem jüngeren Sohne war der Stachel gewesen, der sich schon in die Seele des Knaben gesenkt hatte – der Mann konnte das noch heute nicht verwinden.

Die kurze Waldstrecke lag bereits hinter ihnen, und jetzt, wo die Pferde ihre Schnelligkeit zurückgewannen, tauchte auch bald Rakowicz auf. Waldemar wollte in den Hauptweg einlenken, der dorthin führt, aber Wanda wies nach einer anderen Richtung.

„Ich bitte Sie, mich am Eingange des Dorfes aussteigen zu lassen. Ich gehe die kurze Strecke gern zu Fuß, und Sie bleiben auf dem Wege nach Wilicza.“

Nordeck sah sie einen Moment schweigend an. „Das heißt, Sie wagen es nicht, in meiner Begleitung in Rakowicz zu erscheinen. Freilich, ich vergaß, daß man Ihnen das nie verzeihen würde. Wir sind ja Feinde.“

„Wir sind es durch Ihre Schuld allein,“ erklärte Wanda. „Es zwang Sie Niemand, uns den Gegner zu zeigen. Unser Kampf gilt nicht Ihrem Vaterlande; er wird drüben auf fremdem Boden gekämpft.“

„Und wenn die Ihrigen siegen auf diesem Boden?“ fragte Waldemar langsam und scharf. „Wer kommt dann zunächst an die Reihe?“

Die junge Gräfin schwieg.

(Fortsetzung folgt.)




An den Stätten der Frithjofsage.
Norwegische Landschaftsskizze.


Was bei einem Besuche Norwegens in der Regel unsere Bewunderung zuerst wach ruft, das sind seine ungeheueren Raumverhältnisse. Der Westsaum der schroff in’s Meer abfallenden


Der „Baldersten“ im Sognefjord.
Nach einer Skizze auf Holz übertragen von R. Püttner.


Gebirgsmasse Skandinaviens ist hundert Meilen länger als der äußere Bogen des mitteleuropäischen Alpenlandes von der Riviera di Ponente am Mittelmeere bis hinüber zur Donauniederung bei Wien. Thäler und Höhen, der tief in’s Land eindringende Fjord (Meerbusen), Seen und Flüsse verbreiten sich über Räume, die an Längenausdehnung die im mittleren und südlichen Theile unseres Continentes herrschenden Maße oft weit überbieten. Die Vorstellung hiervon ist bei uns zu Lande noch lange nicht allgemein geläufig. Norwegische Binnenseen, welche dem Genfer- oder Bodensee an Ausdehnung gleichkommen oder sie übertreffen, sind bei uns Vielen kaum dem Namen nach bekannt.

Ueber dreißig Meilen, also in einem Umfange wie etwa von München bis Heidelberg oder von Berlin bis an Rügens Nordküste, schneidet der Sognefjord in die hochaufgerichteten Felsmassen des westlichen Norwegens ein. Das Gulbrandsthal, von Anfang bis zu Ende ein reines Gebirgsthal, erstreckt sich über drei und einen halben Breitengrad in seiner Hauptrichtung von Nordwest nach Südost. Man vergleiche einmal damit das Inn- oder Rhonethal, soweit sie dem Alpenbereiche angehören! Das Bergrevier, welches auf der Süd- und Nordseite dem Sognefjord zugekehrt ist und mit seinen steilen Thalschluchten in [720] die große Wasserstraße einmündet, heißt Sogn. Ein Flächenraum von etwa hundert geographischen Quadratmeilen, auf welchem noch nicht vierzigtausend Menschen leben. Es ist das eine eigene Welt für sich, deren Pulsader der mit steigender Pracht seiner Felsufer bis an die Schwelle des norwegischen „Riesengebirges“, der Jotnefjelde, eindringende Fjord bildet. Nach Nord und Süd greifen seine Seitenarme in’s anlagernde Hochland. Das sind die schönsten Partien im Sogn, ein wundersamer Wechsel mannigfacher Stimmungsbilder, die bald bis zum Schreckhaften wild und gewaltig, bald mit überraschender Fruchtbarkeit und lieblicher Scenerie alle Vorurtheile von der Eintönigkeit der skandinavischen Bergwelt zu heben vermögen.

In der dreifachen Länge des Genfer Sees trägt der Sognefjord Leben und Verkehr in’s Herz der unwegsamsten Regionen Norwegens. Das ist die hohe Bedeutung der eigenartigen Verschlingung von Land und Meer an der skandinavischen Westküste. Die landschaftlichen Reize allein sind es nicht, die uns die norwegischen Fjorde interessant machen. Als wichtigste Verbindungswege sind sie von unschätzbarem Nutzen für das angrenzende Land. Ohne das belebende Eingreifen dieser Wasseradern in die Gebirgsmasse wäre Norwegen ein plumper, ungegliederter Felskoloß, ähnlich dem wüsten, flacheren Labrador jenseits des Oceans.

Der Fjord ist die große Hauptstraße für alle angrenzenden Thäler, und mehr als die unwegsamen Hochebenen der Halbinsel und die sie durchschneidenden Thäler des Binnenlandes sind die Küsten, Buchten und Vorgebirge der Fjorde und die Schären an ihren Eingängen der Schauplatz der großen Ereignisse, namentlich in der älteren Geschichte Norwegens. Die geschützteren Lagen im Innern dieser Meeresarme mußten frühzeitig zu fester Besiedelung anlocken. Aus ihnen gingen aber auch die Wikingerzüge der Vorzeit hervor; von dort kamen die Raubschiffe der gefürchteten Normannen nach Friesland und England, Irland und Schottland, nach den Küsten Frankreichs, Spaniens und Italiens. An den gesichertsten Stellen der Fjorde tagten auch in alter Zeit jene gemeinsamen Obergerichte, die „Thinge“ der norwegischen Fylke, welche letzteren unseren altgermanischen Gaugenossenschaften entsprechen. So besuchten die acht Fylke der Thrönder alljährlich das Thing zwei Meilen nördlich von Drontheim, welches auf einer tief in die Seebucht einspringenden Landzunge, Frosto, gehalten ward. Der gelehrte Erforscher der skandinavischen Alterthümer, Gerhard Schöning (gestorben 1780 zu Kopenhagen), fand dort noch sechsunddreißig große Steine im Viereck gereiht, mit zwei größeren in der Mitte.

Im Vergleiche mit den anderen größeren Fjorden Norwegens, dem Stavanger- und Hardanger-Fjord mit ihren eigenthümlich umgebogenen Querarmen, oder dem Molde- und Drontheim-Fjord, die polypenartig, wie ungeheuere Krabben, in’s Land eingreifen, hat der Sogne-Fjord eine einfachere und regelmäßigere Zeichnung. Die Länge seines Hauptarmes aber übertrifft die aller anderen. Der von Bergen abgehende Dampfer braucht vom Eingange in den eigentlichen Fjord, von Sognefest im Westen bis nach Laerdalsören im Osten, dreiunddreißig Stunden und ist dabei nicht in alle großen Nebenarme eingelaufen. Würde man in alle größeren und kleineren Seitenfjorde hinein und wieder zurück fahren, so wäre dies von Sognefest bis Skjolden im innersten Winkel des Lysterfjord eine Fahrt von mehr als sechszig norwegischen oder nahezu hundert geographischen Meilen. Die ganze Länge des Bodensees von Bregenz bis Constanz legt man mit dem Dampfer bekanntlich in drei und einer halben, die ganze Thalfahrt von Mainz bis Köln in beiläufig sieben Stunden zurück. Wo in der Mitte des Sognefjords der große Seitenarm des Fjärlandsfjord nordwärts biegt, am Balestrand, ist der angebliche Schauplatz der Frithjofssage. Dort, glaubt man, war das kleine Reich des Königs Bele gelegen. Auf dem steilen Felsvorsprung, der noch den Namen der Baldershöhe trägt, stand der Sage nach der Tempel, welchen Frithjof in Asche legte. Gegenüber aber lag Framnäs, die Wohnung Frithjof’s. Unweit davon ist auch die historische Stätte jener denkwürdigen Seeschlacht zwischen den beiden jugendlichen Kämpfern um die norwegische Königskrone, des Magnus Erlingsson und Sverrir’s, jenes Heldenkampfes in der magischen Helle einer nordischen Juninacht (1184), der mit der Niederlage des ersteren endigte. Zwei Tage nach der blutigen Schlacht zog man die Leiche Königs Magnus aus der Wassertiefe.

Jetzt zeigt die Landschaft das Bild einer großartigen Ruhe. Es ist einer der gesegnetsten Striche des Sogn; Gehöft an Gehöft, Fruchtgarten an Fruchtgarten reiht sich auf meerumrauschten Hügeln, über welchen hochgebirgige Massen aufsteigen. Und zwischen den Wohnstätten der Gegenwart ragen am Seegestade noch jene Bautasteine empor, die kunstlosen Obelisken der nordischen Vorzeit, von welchen unsere Abbildung einen der größeren, den sogenannten „Baldersten“, zeigt.

Die landschaftliche Scenerie des Sognefjord, namentlich in den inneren Verzweigungen desselben, steht an wilder Großartigkeit auch hinter den berühmtesten Partien eines Vierwaldstätter Sees nicht zurück. Ich habe diese Felsenscenerien bei strahlender Tagesbeleuchtung und in später Nachtstunde, im Sonnenroth erglühend, gesehen. Mir schien, als stiegen die Bergkolosse des Sogn in viel wuchtigeren Gebilden aus den Wassertiefen auf als jene der Alpen. Und wo sie zurückweichend dem Meeresgewässer neue Eingänge eröffnen, weit hinein in den Schooß des Gebirges, da tritt uns mitten im wilden Felsbereich oftmals eine unerwartete Anmuth und Fülle der Vegetation entgegen.

Einige Striche des Sogn sind in Norwegen als das eigentliche Revier berühmter Bäume bekannt. Ein ganzer Kirschwald breitet seinen Schatten über den grasigen Abhang bei Urnes, am Fuße der gewaltigen Felsreihen des Lysterfjord. In den Obstgärten des schönen Sognedalsfjord, einer anderen nördlichen Verzweigung des großen Sognefjords, werden unter dem 61. Grade nördlicher Breite nicht nur mancherlei Sorten von Aepfeln und Birnen, sondern auch edlere Obstarten gezogen, die auf den Markt nach Bergen wandern; in günstigen Sommern reift dort sogar die Traube am Spalier. Und doch ist man nur wenige Stunden von dem Bereiche des ewigen Schnees und der Gletscher entfernt, von der kolossalsten Firnenmasse des europäischen Festlandes, des Jostedalsbrae. Seine Eisströme reichen weit hinab, bis auf einige hundert Meter an das obere Ende der Seitenfjorde des Sogn.

Einst war auch das ganze Bett des jetzigen Sognefjords mit Gletschermassen angefüllt. Die Spuren des sogenannten „Schliff“ folgen von der Höhe des Gebirges herab den zum Hauptfjord sich hinabziehenden Thälern und den Ufern des Fjords selbst; draußen an den Suleninseln, am Eingange in denselben, sind sie heute noch erkennbar. Da und dort ziehen auf dem Grunde des Meeresarmes mächtige Barren von Ufer zu Ufer, vielleicht die Endmoränen einstiger Gletscher.

So hat denn auch diese Felsen- und Wasserwelt in ihrer erhabenen Schönheit schon die Forschung auf jenem Gebiete der naturwissenschaftlichen Erkenntniß wach gerufen, welches uns in die ungemessenen Zeiträume der Erdgeschichte hinaufführt.
M. R.




Ein neues Reichsinstitut.


Wer eine einigermaßen bedeutende Zeitung zur Hand nimmt, erblickt darin seit Beginn dieses Jahres in jeder Nummer an bestimmter Stelle die Publication eines Instituts, das, erst seit kurzer Zeit vollständig organisirt, schon zu den schönsten Hoffnungen berechtigt. Es ist, wenn auch nur mittelbar, eine jener Errungenschaften, welche wir dem Jahre 1870 verdanken. Denn nur ein geeinigtes deutsches Reich, im Besitz von überall gleich organisirten Verkehrsanstalten, war befähigt ein Institut in’s Leben zu rufen, das infolge seines umfassend nationalen, ja theilweise sogar internationalen Charakters mehr als manche andere Reichsanstalt eine Concentrirung aller Kräfte, ein ungestörtes Ineinandergreifen aller Organe zur Lebensbedingung hat.

Wenn man in Hamburg auf der sogenannten Elbhöhe steht und von da aus die ungemein anziehende Aussicht auf die hier schon recht breite Elbe mit ihren Häfen, Quais, Werften und dem hohen stolzen Mastenwald von Hunderten vor Anker liegender Schiffe genießt, erblickt man zur Rechten, jenseits des jetzt in schöne Gartenanlagen verwandelten ehemaligen Stadtgrabens einen [721] stattlichen Ziegelsteinbau in Eckhausform, in dessen Mitte ein kurzer Thurm mit hoher Fahnenstange und Windfahne sich erhebt. Dieses von prangendem Grün umgebene Gebäude ist das sogenannte „Seemannshaus“, in welchem beschäftigungslose Seeleute ein gutes und billiges Unterkommen, erkrankte die nöthige Pflege finden und das gleichzeitig alten in Sturm und Wetter ergrauten „Theerjacken“ für die letzten Lebenstage ein ruhiges, stilles Asyl gewährt. In diesem Gebäude befindet sich nun auch gleichzeitig das neue Reichsinstitut, die deutsche Seewarte.

Schon im Jahre 1865 ergingen von verschiedenen Seiten, besonders von Frankfurt am Main, in Folge des damals zuerst auftretenden Projects einer deutschen Nordpolexpedition auch Anregungen zur Gründung eines Instituts, welches nach Art der in England und Nordamerika schon länger bestehenden ähnlichen Anstalten, durch Bearbeitung der von deutschen Capitainen zur See geführten meteorologischen Journale zur Sicherung und Abkürzung der Seereisen beitragen sollte. In Folge der damaligen politischen Verhältnisse konnte erst im Jahre 1868 die Hamburger Handelskammer mit der Errichtung einer „Norddeutschen Seewarte“ vorgehen, wobei sie von den Bremer und vielen anderen bedeutenden deutschen Rhedern unterstützt wurde. Der private Charakter der Anstalt aber und die geringen Mittel, über welche sie verfügte, gefährdeten ihre Existenz und ihr Ansehen im In- und Ausland, obgleich das inzwischen neu erstandene Reich eine Subvention bewilligt hatte und 1872 in Folge dessen der Name des Instituts in „Deutsche Seewarte“ umgeändert wurde. Namentlich fehlte jede größere Ausdehnung des Sturmwarnungswesens und der Wettertelegraphie. Die Reichsregierung beschloß daher die Uebernahme des Instituts in das Reichsbudget. Der dahin gehende Gesetzentwurf wurde vom Reichstag am 14. December 1874 unverändert angenommen, obwohl sich Stimmen gegen den Sitz der Anstalt in Hamburg erhoben und dieselbe vielmehr als eine deutsche Centralanstalt für die Physik der Erde nach Berlin verlegt wissen wollten.

Für die Neuorganisation wurden als einmaliger Aufwand 65,000 Mark und für den Betriebsfond als jährliche Unterstützung 74,800 Mark bewilligt, wovon 50,000 Mark auf Besoldung und Remunerationen und 24,800 Mark auf sächliche Ausgaben kommen. An Stelle des bisherigen Leiters des Instituts, Wilhelm von Freeden, trat der wirkliche Admiralitätsrath Professor Neumayer, dessen Streben schon von Jugend an auf das Inslebentreten eines solchen Instituts in Deutschland gerichtet gewesen war und der, wenn auch oft fern vom Vaterlande, stetig dafür gewirkt hatte. Durch seine weiten Seereisen in das Südpolarmeer, ferner als langjähriger Leiter des Observatoriums zu Melbourne in Südaustralien und später als Hydrograph der kaiserlich-deutschen Marine war er wohl mit am befähigtsten, die schwierige Stelle eines Vorstehers der neu zu organisirenden Anstalt zu übernehmen.

Die Hamburger Centralstelle der Seewarte zerfällt in vier Abtheilungen mit je einem Vorstand, welcher direct unter dem Leiter derselben steht. Es sind dies die Herren Wagner, Koldewey, Köppen und Rümker. Letzterer ist zugleich Director der Hamburger Sternwarte. Außer sechs Hülfsarbeitern und mehreren Bureau- und Unterbeamten sind noch neunzehn Nebenstellen vorhanden, nämlich Agenturen ersten und zweiten Ranges und Vorstände der Normalbeobachtungsstationen. Das ganze Institut ist dem Chef der kaiserlichen Admiralität unterstellt.

Die erste Abtheilung ist für maritime Meteorologie bestimmt, und werden an derselben nur mit dem Seewesen ganz Vertraute, ehemalige Capitaine etc., angestellt, während an den anderen Abtheilungen auch durch Universitätsstudien hinreichend Vorgebildete, die mit dem Seewesen nicht bekannt zu sein brauchen, Anstellung finden. Alles, was sich auf die physikalischen Verhältnisse des Meeres und auf die meteorologischen Erscheinungen, soweit deren Kenntniß der Schifffahrt von Nutzen ist, bezieht, wird von dieser Abtheilung gesammelt und bearbeitet. Zu dem Zwecke wurden im Laufe dieses Geschäftsjahres an über zweihundert Schiffe meteorologische Beobachtungsjournale von dieser Section abgegeben, von denen innerhalb desselben Zeitraums fast hundertfünfzig, mit Beobachtungen gefüllt, wieder zurückgeliefert wurden. Da man aber beabsichtigt, in nächster Zeit den Grundsatz in aller Strenge durchzuführen, nur solche Journale anzunehmen, deren Beobachtungen mit Instrumenten der Seewarte selbst gewonnen worden sind, so wird sich wohl nach den Erfahrungen, die das meteorologische Büreau in London hierbei gemacht hat, die Zahl derselben vermindern. Dafür wird man aber die Sicherheit haben, daß nur genaue Beobachtungsreihen in Rechnung gezogen werden. Eine specielle Aufgabe dieser Abtheilung ist ferner die Bearbeitung aller nautisch wichtigen Beobachtungen, die sich auf den atlantischen Ocean zwischen zwanzig und fünfzig Grad nördlicher Breite beziehen. Auf Grund derselben wird auch beabsichtigt, ein Segelhandbuch für dieses Meer herauszugeben. Außerdem wurden auch besondere schriftliche Segelanweisungen für bestimmte Routen an fünfzig Capitaine auf deren Verlangen abgegeben; in Zukunft beabsichtigt man gedruckte Segelanweisungen zu publiciren. Die Arbeit, welche dieser Abtheilung durch die Verwaltung und Controle der zahlreichen Agenturen der Seewarte in verschiedenen Hafenstädten der Nord- und Ostseeküste erwächst, ist eine nicht unbedeutende. Der Abtheilungsvorstand hat auch den Verkehr mit dem nautischen Publicum zu besorgen, namentlich durch Erklärung der Segelanweisungen und Besprechung der zu wählenden Seewege das Verständniß der Capitaine für die Ziele und Absichten der Seewarte zu heben und so indirect auch auf die Rheder einzuwirken.

Die zweite Abtheilung befaßt sich mit der Prüfung von Instrumenten und hat die literarischen Publicationen des Instituts zu besorgen; auch ist derselben die Bibliothek der Seewarte untergeordnet. Letztere ist, wenn auch natürlich noch nicht umfangreich, so doch schon recht werthvoll. Sie besteht hauptsächlich aus dem elfhundert Bände ausmachenden Theile der Bibliothek des berühmten Meteorologen Professor Dove, welchen die Anstalt zu einem mäßigen Preise erworben hat. Außerdem enthält sie noch zahlreiche Land- und Seekarten.

Der wiederholt bei Gelegenheit von Unglücksfällen zu Tage tretende bedauerliche Umstand, daß von mechanischen Werkstätten zuweilen ganz unbrauchbare, fehlerhafte Instrumente an Schiffsführer verkauft werden, welche letztere meist nicht im Stande sind, dieselben auf ihre Güte hin genau zu prüfen und sich vor Schaden zu bewahren, hatte schon längst die Aufmerksamkeit der Sachverständigen auf sich gezogen, und es erschien sehr wünschenswerth, diesen großen Uebelständen abzuhelfen. Es übernahm deshalb diese Abtheilung die Prüfung der von den Capitainen eingelieferten Barometer und Thermometer, Sextanten und Compasse, von welchen Instrumenten besonders die beiden letzteren Gattungen eingehende Beachtung finden. Es hat sich diese Einrichtung als eine sehr nützliche erwiesen. Die Mechaniker verwenden seitdem mehr Sorgfalt auf die Anfertigung ihrer Apparate, lassen dieselben sogar schon theilweise selbst durch die Seewarte prüfen, was ihnen dann durch besondere Certificate bescheinigt wird. Dadurch ist es den Capitainen ermöglicht, wirklich brauchbare und zuverlässige Instrumente zu erlangen. Es wurden im ersten Jahre sechshundert derartige Apparate geprüft, und ist diese Einrichtung ein nicht zu unterschätzender Nutzen der Seewarte.

Die Magnetnadel ist bekanntlich für den Seemann eines der unentbehrlichsten Instrumente, die ihn mitten durch die großen Wasserwüsten der Oceane den sicheren Weg finden lehrt. Nun erleidet dieselbe jedoch durch die Nähe von Eisenmassen bedeutende Störungen und Ablenkungen (Deviationen). Mit der wachsenden Zahl eiserner Schiffe, die durch das Nieten und Hämmern bei ihrem Baue stets magnetisch werden, wächst mehr und mehr die aus diesen Störungen und Ablenkungen entstehende Gefahr. Die Nichtbeachtung derselben zählt jedenfalls mit zu den Ursachen der Katastrophen, die neuerdings verschiedene große Eisendampfer betroffen haben.

Eine genaue Untersuchung des Verhaltens der Compasse an Bord eiserner der Schiffe war daher eine Hauptaufgabe dieser Section. Eine angemessene Zahl solcher Fahrzeuge wurde bisher schon darauf hin untersucht, was durch gleichzeitige sich gegenseitig controlirende Beobachtungen am Lande und an Bord bei Richtung der Schiffslängsaxe nach den zweiunddreißig Compaßstrichen geschieht; ferner wurde Schiffsbaumeistern in Bezug auf die beste Construction der Compaßaufstellung Rath ertheilt, wie auch für eine Zahl älterer eiserner Segelschiffe und Dampfer Deviationstabellen berechnet wurden. Ein kleines Modell, das in einem Zimmer der Seewarte aufgestellt ist, veranschaulicht deutlich die Ablenkungsfehler, welche durch die eisernen Deckbalken, Maste etc. bei einer Cursänderung des Schiffes entstehen. Dieser Abtheilung [722] lag es in dem vergangenen Winter ferner ob, an die kaiserliche Admiralität Berichte über Untersuchungen und Verbesserungsvorschläge in Betreff des einer Reorganisation so sehr bedürfenden Nebel- und Nachtsignalwesens der Schiffe abzugeben.

Die angestrengteste Thätigkeit, deren Resultate dem Publicum wohl auch am meisten vor Augen kommen, liegt der dritten Abtheilung ob, die sich mit Küstenmeteorologie und Sturmwarnungswesen beschäftigt. Ihr war bei der Errichtung der Seewarte die sehr schwierige Aufgabe gestellt, eine vollständig neue Organisation der Beobachtungsweisen und der Stationen, gemäß den Beschlüssen des ersten Meteorologencongresses zu Wien, in’s Leben zu rufen. Dies ist ihr vollständig gelungen. Ein geordnetes meteorologisches Beobachtungssystem ist nun schon fünfzehn Monate in voller Thätigkeit, und seit dem 15. Februar werden täglich Witterungsberichte und Karten herausgegeben, die Großbritannien, Scandinavien, fast das ganze europäische Rußland, Oesterreich-Ungarn, Italien, Frankreich und Deutschland umfassen. Diese sogenannten synoptischen Karten, auf denen die zu gleicher Ortszeit an den verschiedenen Stationen angestellten Beobachtungen eingetragen sind, lassen den Witterungszustand dieser Länder sofort erkennen. Die auf Null Grad und auf das Meeresniveau reducirten Barometerstände sind neben den Stationen in Millimetern eingetragen. Nach diesen Zahlen werden Linien gezogen, die durch alle die Orte gehen, welche gleiche Barometerhöhen haben; um die Karten nicht unübersichtlich zu machen, geschieht dies jedoch nur für je fünf Millimeter Differenz. Diese Linien, die Isobaren heißen, geben die beste Uebersicht über die Vertheilung des Luftdruckes. Die Windrichtung wird durch mit der Luftströmung fliegende Pfeile angegeben; die Windstärke läßt sich an der Zahl der Federn an der Fahne der Pfeile erkennen, und zwar steigt dieselbe mit der Stärke des Windes von eins bis sechs; es bedeutet mithin ein Pfeil mit sechs Federn einen heftigen Orkan mit einer Geschwindigkeit von über dreißig Meter die Secunde, oder circa hundertzwanzig Kilometer die Stunde, was einem Luftdruck von über fünfundneunzig Kilogramm auf den Quadratmeter gleichkommt. Ein Pfeil mit einer Feder dagegen bedeutet ganz schwachen Wind von ein bis vier Meter Geschwindigkeit die Secunde, oder vier bis vierzehn Kilometer die Stunde, mithin nur einen Druck von circa 1,5 Kilogramm auf dieselbe Fläche.

Die Art der Bewölkung erkennt man an dem Aussehen der kleinen Kreise, welche die Stationen darstellen. Wenn das Innere derselben leer ist, so ist der Himmel an den betreffenden Orten ganz heiter; ist das obere rechte Viertel der Kreise schwarz ausgefüllt, so ist der Himmel leicht bewölkt; halb bedeckt ist er dagegen, wenn die rechte Hälfte schwarz ist; fast bedeckt, wenn nur noch das obere linke Viertel weiß gelassen ist; ein ganz schwarzer Kreis bedeutet endlich ganz überzogenen Himmel. Eine zweite derartige synoptische Witterungskarte stellt ferner die Temperaturverhältnisse, den Niederschlag (Regen wird durch einen schwarzen Punkt in der Station, Schnee durch einen Stern, Hagel durch ein schwarzes Dreieck, Gewitter durch eine Zickzacklinie bezeichnet) und den Seegang an den Küstenstationen dar.

Das zur Construction dieser Karten nöthige meteorologische Material wird der Seewarte außer von den sieben von dem Institute unmittelbar abhängigen Normalbeobachtungsstationen (Memel, Neufahrwasser, Swinemünde, Keitum, Borkum etc.) noch von sämmtlichen deutschen Stationen, unter denen wir nur Crefeld, Münster, Karlsruhe, Bamberg, Trier, Leipzig, Kassel, Berlin, Breslau und Thorn nennen wollen, täglich ein- oder von manchen sogar zweimal telegraphisch eingesandt und ist diesen Depeschen vor allen anderen Privattelegrammen der Vorrang eingeräumt. Hierzu kommen noch die täglichen telegraphischen Witterungsberichte von sechsundvierzig Stationen des Auslandes, deren Zahl man bald auf sechszig zu bringen hofft, wenn England, das bis jetzt nur von Valentia an der Westküste von Irland, Thurso an der Nordspitze Schottlands und Yarmouth Berichte einsendet, ferner Schweden und Italien mit ihren sämmtlichen Stationen diesem telegraphischen Wechselverkehre beigetreten sein werden. Es hat eine unendliche Arbeit und Geduld erfordert, bis dieser ausgedehnte Depeschenaustausch in’s Leben getreten ist, dessen Zustandekommen ein nicht geringes Verdienst des bewährten Leiters des Instituts ist.

Da die Seewarte seit Kurzem mit allen Stationen in directer telegraphischer Verbindung steht, so ist das sehr beschwerliche Abholen der Depeschen von dem fast eine halbe Stunde entfernten Telegraphenamte Hamburg weggefallen. Gegen halb zehn Uhr Morgens kommen die ersten Depeschen an, denen dann rasch die übrigen folgen, sodaß um zehn Uhr sämmtliche Berichte des Inlands zur Hand sind. Eine Auswahl derselben wird sofort auf telegraphischem Wege an ausländische Institute, so z. B. nach London, Paris, Brüssel, Stockholm, Petersburg, Wien etc. und außerdem noch an einige größere deutsche Zeitungen, die Abendnummern herausgeben, gesandt. Kaum ist dies geschehen, so laufen schon die Berichte obiger ausländischer Institute ein, und nun wird sofort mit der Bearbeitung des gewonnenen Materials begonnen. Die inländischen Telegramme werden nach Berechnung der Aenderungen geordnet und mit autographischer Tinte auf besonderes Papier geschrieben. Behufs Versendung dieser Berichte an alle größeren Zeitungen mit den Nachmittagsschnellzügen muß diese Arbeit um zwölf Uhr beendet sein, worauf sogleich die Absendung in die Druckerei und von da zur Post erfolgt.

Nun wird sofort zur Zeichnung der Wetterkarten mit bereits fertigem Netz und Länderumrissen geschritten, die nach Vollendung auf autographischem Wege vervielfältigt werden. Bis um vier Uhr sind dieselben soweit fertig, daß die erste Pause eintreten kann, die bis etwas nach fünf Uhr dauert, wo dann die Nachmittagsberichte einlaufen, deren Bearbeitung theilweise in der Druckerei selbst erfolgen muß, damit dieselben noch in die soweit zum Drucke fertigen Karten eingetragen werden können; außerdem kommt noch eine kurze Uebersicht über die Aenderungen seit den Morgenbeobachtungen hinzu. Um acht Uhr sind diese Karten fertig und werden durch die Nachtschnellzüge an den Ort ihrer Bestimmung gebracht. Der jedenfalls sehr billige Preis (inclusive täglicher portofreier Zusendung) von fünfzehn Mark vierteljährlich ermöglicht es Manchem, der Interesse für Meteorologie hat, diese höchst belehrenden und sauber ausgeführten Karten durch das nächste Postamt zu beziehen. Die allgemeine Verbreitung derselben würde für das Publicum wegen der daraus zu ziehenden Wetterprognosen von großem Nutzen sein. Könnten nicht auch die Besitzer großer Restaurants, die jährlich für Zeitungen so viel Geld verausgaben, auf diese Karten abonniren? Sie würden dadurch gewiß manchem ihrer Gäste einen erwünschten Dienst erweisen. Doch davon später!

Die dritte Abtheilung besorgt außerdem noch die Sturmwarnungen. Zu diesem Zwecke soll schon in diesem Herbste ein hoher Signalapparat vor dem weithin sichtbaren Seemannshause aufgestellt werden, an dem durch verschiedenartige Stellungen von Flaggen und aus Weidengeflecht hergestellten großen Kugeln und kegelförmigen Körpern der Seemann erkennen kann, ob Gefahr im Anzug ist. Ein solcher Apparat soll später in allen größeren Häfen aufgestellt werden, und es steht dann zu hoffen, daß durch ihn gar mancher Unglücksfall vermieden werden wird. Waren doch in England im Jahre 1872 auf hundert Sturmwarnungen einundsechszig wirkliche Stürme und zwanzig starke Winde gefolgt. – Die vierte Abtheilung beschäftigt sich ausschließlich mit der Prüfung von Chronometern, die dem Seemanne zu genauen Ortsbestimmung so unentbehrlich sind. Es ist zu hoffen, daß durch diese Einrichtung die deutsche Chronometerfabrikation, die der von England bislang noch etwas nachstand, dieser bald ebenbürtig werden wird.

So hat die deutsche Seewarte in der kurzen Zeit ihres Bestehens schon bedeutende Beweise ihrer Leistungsfähigkeit gegeben. Aber nicht allein dem Handel und Seeverkehr ist Gelegenheit geboten, bedeutende Vortheile aus der Anstalt zu ziehen, sondern auch im Binnenlande giebt es einen Erwerbszweig, dem die Segnungen des Instituts in reichem Maße zugewandt werden könnten, wenn wir Deutsche nur sozusagen hinreichend meteorologisch erzogen wären. Nicht genug, daß mancher Rheder, durch Assecuranz seiner Schiffe gesichert, geradezu ein Feind solcher Institute, wie die Seewarte, ist, weil die Warnungen derselben seine Capitaine bestimmen könnten, nicht zu der festgesetzten Zeit in See zu gehen, oder daß viele Seeleute und Fischer aus Trägheit sich nicht einmal die Mühe nehmen, die Warnungssignale verstehen zu lernen, nein, auch unsere gesammte politische Presse, deren Endzweck doch schließlich Belehrung des Publicums über alle wichtigen Erscheinungen und Neuerungen in der menschlichen Gesellschaft sein soll, hat in Betreff der Meteorologie ihre Pflicht noch [723] durchaus nicht erfüllt. Was helfen die spaltenlangen Zahlenreihen und trockenen Berichte, die man in den größeren Zeitungen Deutschlands findet? Es werden sich wohl nur Wenige die Mühe nehmen, diese Zahlen mit Aufmerksamkeit zu vergleichen.

Es klingt bitter und doch muß es offen eingestanden werden, daß uns in diesen Beziehungen die Franzosen, die Engländer und besonders die Nordamerikaner bei Weitem überlegen sind. Dort hat ein großer Theil der bedeutenderen Zeitungen die ihnen hierin obliegende Aufgabe erkannt: hinzuweisen und hinzuarbeiten auf eine weite Verbreitung meteorologischer Kenntnisse. Das konnte aber einzig und allein geschehen durch Veröffentlichungen von täglichen synoptischen Witterungskarten, welche die gleichzeitige atmosphärische Situation mehrerer Nachbarländer schnell überblicken lassen, oder von Zeichnungen, welche die wichtigsten meteorologischen Elementen bestimmter Orte, als da sind: Temperatur der Luft, Druck und Bewegungsgeschwindigkeit derselben, Größe des Niederschlags etc., graphisch darstellen. Nur dadurch ist es möglich, die Aufmerksamkeit des Publicums wachzurufen und zu erhalten. Das hat der praktische Sinn der Amerikaner vor allen und zuerst erkannt. Die täglich dreimal erfolgenden Publicationen des unter dem Kriegsminister stehenden meteorologischen Instituts zu Washington, die zu Hunderttausenden von den Zeitungen reproducirt und außerdem noch an den Straßenecken der Städte angeschlagen werden, sind das staunenswerthe Resultat eines über das ganze ungeheure Land verzweigten Beobachtungssystems, und ist die jährlich für diesen Zweck aufgewandte Summe von zweihundertfünfzigtausend Dollars in Anbetracht des namentlich für die Landwirthschaft dadurch geschaffenen Nutzens gewiß keine zu hohe. England hat nach Vorgang der „Times“, die jährlich zehntausend Mark meteorologischen Zwecken opfert, noch folgende Zeitungen aufzuweisen, die in mehr oder minder großem Maßstabe tägliche Witterungskarten veröffentlicht: Das „Journal Graphic“, die Zeitschrift des Lloyd, und den „Observer“. In Frankreich veröffentlicht seit Kurzem das wöchentlich erscheinende Journal „Les Mondes“ meteorologische Curven. Am hervorragendsten von allen sind aber die Leistungen des Pariser Journals „L’Opinion“. Mit einem rastlosen Eifer und dankenswerthem Fleiß hat es diese Zeitung dahin gebracht, daß ihre Karten wohl als die besten und am reichlichsten ausgeführten von allen derartigen Zeitungspublicationen dastehen. Bei dem Streben nach Genauigkeit und Vollkommenheit der Karten und der aus ihnen zu ziehenden Wetterprognosen ist es der Redaction gelungen, selbst noch die Beobachtungen darin aufzunehmen, welche im letzten Augenblick vor der Drucklegung, um sechs Uhr Abends, angestellt werden.

Man wende uns nicht ein, daß für Deutschland die Herstellungskosten dieser graphischen Darstellungen zu hoch seien. Die hierzu nöthigen Clichés werden von der Anstalt für chemische Gravirung der Herren Yves und Barret in Paris, welche sich um die Publicationen der praktischen Meteorologie große Verdienste erworben haben, zu dem gewiß mäßigen Preise von fünfhundertundzwölf Mark jährlich geliefert; das macht tägliche Unkosten von ein Mark vierzig Pfennig. Ein in der Druckerei der betreffenden Zeitung anwesender Graveur kann mit Hülfe eines Grabstichels nach der ihm vom Beobachter übergebenen Zeichnung der Curven diese selbst in wenigen Minuten in eines dieser bereits vorbereiteten Clichés eingraviren, und damit ist die Arbeit für die Zeitung gethan.

Weder Preßgesetze noch geringe Abonnentenzahl, wohl aber Bequemlichkeit und Mangel an jenem Unternehmungsgeist, der die Resultate der Wissenschaft praktisch zu verwerten und für das Gemeinwohl nützlich zu machen strebt, sind die Gründe für das auffällige Fehlen eines solchen Unternehmens bei uns. Sollte es wohl im ganzen Reich nicht eine einzige Zeitung geben, die Willens wäre, den Wettstreit mit unseren westlichen Nachbarn in der Popularisirung der Meteorologie aufzunehmen, um in dieser Beziehung die Achtung vor Deutschland und seiner Presse zu wahren?
v. D.




Merkwürdige Krankheitsfälle.
1. Der schlafende Ulan.


Seit anderthalb Jahren bringen die Berliner Zeitungen ziemlich regelmäßig in bestimmten Zwischenräumen Nachrichten über das Befinden eines kranken Soldaten im Potsdamer Militärlazarethe, eines Schlesiers Namens Gurs, und zwar ausführliche „Bulletins“, wie wir sie sonst nur gewöhnt sind über das Befinden eines kranken Fürsten, oder eines vieltheuren Hauptes der Kunst oder Wissenschaft zu erhalten. Es war, wie leicht erkennbar, in diesem Falle nicht der Kranke, sondern seine Krankheit, welche ein weitergehendes Interesse wachrief: der Mann wurde nämlich von einem Nervenübel heimgesucht, dem man in früheren Zeiten häufig einen übernatürlichen Ursprung zugeschrieben hat, von der mit einer tiefen Schlafsucht (Lethargie) verbundenen Starrsucht (Katalepsie).

Die Krankheit des dem dritten Garde-Ulanen-Regimente angehörenden Soldaten hatte sich bereits im Herbste 1874 durch heftige Kopf- und Rückenschmerzen angekündigt, und letztere hatten schließlich so zugenommen, daß der Kranke gegen Ende Mai 1875 von Nauen nach dem Garnisonlazarethe in Potsdam gebracht werden mußte. Hier nun trat nach kurzer Zeit jene Wendung der Krankheit ein, welche den Patienten zum Gegenstande einer weit über die Mauern des Krankenhauses hinausreichenden Aufmerksamkeit machte. Er war in einen Starrkrampf verfallen, während dessen er nicht nur wochenlang völlig regungslos in der angenommenen langausgestreckten Lage verharrte, sondern auch die Gliedmaßen eines Leichnams darbot. Längere Zeit hindurch war man genöthigt, ihm den Mund mit Gewalt zu öffnen und einen Knebel zwischen die Zähne zu stecken, um ihm die Nahrung, die in der ersten Zeit nur aus Fleischbrühe bestand, mit Gewalt einzuflößen. Sobald man die gewaltsame Ernährung bewirkt und den Keil entfernt hatte, fielen die Zähne mit einem lauten Schlage zusammen.

Daß hier nicht eine der in Militärlazarethen nicht eben selten vorkommenden Krankheitsheucheleien vorlag, ergab außer den übrigen Symptomen die bei solchen Kranken gewöhnliche Unempfindlichkeit gegen schmerzhafte äußere Eingriffe, z. B. gegen den elektrischen Strom eines sogenannten Inductionsapparates. Bei der Anwendung dieses Probirsteins hält die Verstellungskunst selten Stich, sodaß er häufig dienen muß, die Aufrichtigkeit einer Krankheit zu erproben, wobei er vor den Foltermaschine der alten Zeiten den Vorzug voraus hat, keinen Schaden an der Gesundheit anzurichten. Bei dem „schlafenden Ulanen“ konnte ein Mißtrauen, wenn überhaupt, doch nur sehr vorübergehend auftauchen, denn die genauere Beobachtung ergab alsbald, daß man es hier mit einem schwer Kranken zu thun habe.

Da der Vater desselben angab, daß auch er in seiner Jugend einen ähnlichen Anfall gehabt und damals durch das Ansetzen eines Blutegels hinter’m Ohr geheilt worden sei, so versuchte man das einfache Mittel auch hier, aber ohne den früheren Erfolg. Der Zustand der völligen Gliederstarre und Geistesabwesenheit dauerte nicht ganz so lange, wie derjenige der berühmten Siebenschläfer, aber er währte doch länger als einen Monat, und bis zu dem völligen Erwachen aus der Geistesnacht sollte mehr als ein ganzes Jahr hingehen.

Man darf aber nicht aus dem ihm gegebenen Beiworte schließen, daß der Kranke diese ganze Zeit hindurch im eigentlichen Sinne des Wortes geschlafen habe, denn oftmals sah man ihn auch mit geöffnetem, starr gegen die Zimmerdecke gerichtetem Auge daliegen, und dann zuckten die Wimpern, wenn man dem Auge mit einem Schlage drohte. Allein offenbar befanden sich seine Geistesorgane auch während dieses scheinbaren Wachens und lange nachdem der Starrkrampf der Glieder nachgelassen hatte, in einem schlafähnlichen Zustande: Schmerzenslaute, wenn man die steifgewordenen Glieder zu biegen versuchte, und einzelne unverständliche polnische Worte waren nach Monaten die ersten Zeichen des wiederkehrenden Bewußtseins. Indessen öffnete sich nun auch der Mund, sodaß man nur nöthig hatte, die Nahrung hineinzubringen und Mund und Nasenlöcher zusammen zu drücken, um den Kranken zum Hinunterschlucken zu nöthigen. Auch das war zuletzt nicht mehr erforderlich.

[724] Im Laufe des letzten Sommers, das heißt also Jahr und Tag nach dem Beginne der Krankheit, waren die geistigen Thätigkeiten noch immer so herabgedrückt, daß der Kranke erst auf mehrmaliges lautes Anrufen eine meist verwirrte Antwort gab, wie wenn Jemand aus einem tiefen Schlafe plötzlich erweckt wird. Er befindet sich nunmehr auf dem Wege der Wiederherstellung, die bei ihm recht langsam fortschreitet. Nicht allein, daß er das Gehen verlernt hat, was ja eine gewöhnliche Erscheinung nach langwierigen Krankheiten ist, er muß auch wie ein kleines Kind wieder sprechen und schreiben lernen, als hätte sich der Geist um zwanzig Jahre verjüngt. Leider soll auch das Gehör ein wenig gelitten haben.

Das Interesse, welches sich an diesen Krankheitsfall knüpft, ist ein vielfaches. Sonst war die Starrsucht am häufigsten bei religiösen Schwärmern und sogenannten Somnambulen beobachtet worden, die während ihrer Verzückungen sich fast freiwillig in diesen Zustand versetzen zu können scheinen und dann sowohl ungewöhnliche Stellungen lange beizubehalten, wie empfindliche Schmerzen ohne Zucken auszuhalten pflegen. Sie erzählen in der Regel von inzwischen gehabten Visionen und wollen den Zuschauer glauben machen, daß die Seele während des Anfalls den wie ein Leichnam daliegenden Körper verlassen habe, um inzwischen in allen Welten, in Himmel und Hölle frei umherzuwandeln und nachher in den Körper zurückzukehren. Schon im Alterthum gingen derartige Geschichten um. Plato, Cicero und Plutarch erzählen uns die Berichte wiederaufgelebter „Todten“ über den Zustand der andern Welt, und Lucian hat uns das traurige Ende eines Philosophen überliefert, dessen Seele öfters spazieren ging, aber eines schönen Tages bei ihrer Zurückkunft den Körper nicht wie sonst auf dem Lager antraf, sondern leider erfahren mußte, daß die boshaften Gegner seiner Lehren ihn schleunigst dem Scheiterhaufen überliefert hatten. Die Volkssage erzählt, daß bei solchen Personen die Seele in Gestalt einer Maus, eines Schmetterlings oder einer Schlange aus dem offenen Munde davoneile, und warnt, ja nicht inzwischen die Lage des Körpers zu verändern, weil sonst die Seele den Rückweg nicht mehr finden könne.

Die Beobachtung einer solchen Krankheit ergiebt leicht, wie in den Köpfen ungebildeter Beobachter derartige Meinungen entstehen können, und auf die naheliegende Frage der Angehörigen an den nach Tagen oder Wochen aus seinem Starrkrampf Erwachten, was er inzwischen getrieben und gesehen, wo er gewesen sei etc., sind, wie man sieht, oftmals sehr erwünschte und befriedigende Antworten ertheilt worden. Unser Ulan, obwohl seine Seele über Jahr und Tag auf Urlaub gewesen, wußte keine solche interessanten Auskünfte über das unbekannte Land zu geben; seine Krankheit besaß keinen mystischen Schimmer, und daß sie uns vor der Hand unverständlich ist, theilt sie mit den meisten anderen Krankheiten.

Uebrigens genügte die oberflächlichste Beobachtung, um noch einige andere Vorurtheile zurückzuweisen, die sich im Volke vielfach an diese Nervenzufälle knüpfen. So wurde oftmals von derartigen mystischen Kranken, bei denen die Starrsucht fast immer einen Act der Schaustellung ausmacht, behauptet, daß sie ohne jede Nahrung in diesem Zustande bleiben könnten. Ein oberflächlicher Beurtheiler könnte in der That vermeinen, so ein starr und ohne Bewegung in todtenähnlichem Schlafe liegender Körper verbrauche keine Nahrung. Allein so lange das Leben dauert, kann auch der Stoffwechsel niemals ganz ruhen, und in dieser Hinsicht zeigte der „schlafende Ulan“ das bemerkenswerthe Verhalten, daß er trotz der ruhigen Lage und trotz der kräftigsten Nahrungsmittel nach einer kurzen Zunahme beträchtlich an Körpergewicht verlor.

Eine andere Wahrnehmung, die man an dem Kranken machen konnte, betrifft ein auch den Gebildeten geläufiges Vorurtheil. Wer erinnert sich nicht mit einem unangenehmen Frösteln der überall umlaufenden Geschichten von den im Starrkrampfe unter das Secirmesser gerathenen oder lebendig begrabenen Scheintodten. Nichts scheint näher zu liegen, als die Verwechselung eines tagelang in regungslosem Krampfe befindlichen Kranken mit einem Gestorbenen. Da läßt sich nun zur Beruhigung der aufgeregten Gemüther sagen, daß schwerlich jemals ein verständiger Arzt einen im Starrkrampf Liegenden für einen Todten halten kann, denn an dem starren Körper bleibt der Puls fühlbar; die Herz- und Athemgeräusche sind mehr oder weniger deutlich, und die Körperwärme wird durch geeignete Prüfung sogleich erkannt. Und sollte jemals ein Arzt – denn nur von ihm kann ein Urtheil gegeben werden – in Zweifel gerathen, so besitzt er nach den neueren Untersuchungen von Professor Rosenthal in Wien ein ganz sicheres Mittel, den wirklich erfolgten Tod vom Scheintode zu unterscheiden, in dem schon oben erwähnten Inductions-Apparate, den man deshalb auch Lebenserwecker genannt hat. Die Empfindlichkeit von Muskel und Nerv nimmt nämlich nach dem wirklich erfolgten Tode sehr schnell ab, sodaß nach höchstens drei Stunden jede Spur derselben geschwunden ist. Wenn also in einem zweifelhaften Falle der elektrische Strom nach dieser Zeit noch Zuckungen hervorzurufen vermag, so wird er die Vermuthung nahe legen, daß noch eine Spur Leben in dem Körper vorhanden sei.

Sehr lehrreich in dieser Beziehung war auch eine Kranke Namens Marie Lecomte, die im vorigen und laufenden Jahre im Pariser Hospital Cochin behandelt worden ist. Dieses vierundzwanzigjährige Mädchen fiel nach mancherlei hysterischer Zufällen am 5. April 1875 in einen todtenähnlichen Schlaf, der so tief alle Organe umschlossen hielt, daß weder schmerzhafte Eingriffe ein Erwachen herbeiführten, noch selbst die unwillkürlichen Bewegungen eintraten, wenn man die Nasenlöcher mit einer Federfahne berührte oder den Finger bis zur Stimmritze führte. Am Tage darauf trat, wie bei dem „schlafenden Ulan“, eine vollkommene Gliederstarre ein; der Körper lag mit an den Rumpf herangezogenen Armen unbeweglich wie eine ägyptische Mumie auf seinem Lager ausgestreckt. Aber bei dieser vollkommenen Leichenähnlichkeit, die sechs Tage und Nächte ohne Unterbrechung anhielt und während welcher der behandelnde Arzt, Dr. Després, nicht einmal Nahrung einzuflößen wagte, behielt der Puls deutlich siebenzig Schläge in der Minute, und das Thermometer stieg in den Achselhöhlen bis auf 38 Grad.

Bei dieser Kranken wurde eine andere viel umfabelte Eigenheit ihrer Krankheit in ausgezeichneter Ausbildung beobachtet. Wenn man Gewalt anwendete, ließen sich die Glieder derselben nämlich in jede beliebige Lage bringen und verharrten in den gezwungensten Stellungen, wie sie ein gesunder kräftiger Mensch höchstens eine Viertelstunde festzuhalten vermag, stundenlang; schließlich kehrten sie ruckweise in eine den Gesetzen der Schwere mehr entsprechende Lage zurück. Dieses Verharrungsvermögen der Muskeln ging so weit, daß Fingereindrücke auf muskulöse Theile minutenlang sichtbar blieben. Es ergiebt sich aus diesen Beobachtungen auch für den Laien völlig klar, daß in solchen Fällen nicht von einem Erschlaffen der Muskeln und Nerven die Rede sein kann, sondern vielmehr umgekehrt von einer gesteigerten Thätigkeit und beständigen Anspannung derselben, von einem wirklichen Krampfe. Wir können einen ähnlichen Zustand bei einem Jeden hervorrufen, wenn wir die Kolben eines kräftig wirkenden Inductions-Apparates in seine Hände legen. So sehr er wünschen wird, die seine Arme in Krampfzustände versetzenden Kolben wegzulegen, so wenig wird er doch bei aller Willenskraft im Stande sein, die Finger zu öffnen und diese Folterwerkzeuge fallen zu lassen. Man kann sich eine ähnliche bewußte Ohnmacht bei einem im Starrkrampfe Daliegenden wohl denken, und wenn man den Romanschreibern glauben wollte, käme sie häufig vor, vertrauenswürdige Berichte der Art scheinen aber desto seltener zu sein, und wenn bei solchen Zuständen überhaupt ein Bewußtsein vorhanden ist, pflegt es ein traumhaftes zu sein. Man will ähnliche Zustände künstlich durch Genuß des indischen Hanfharzes (Haschisch), dessen sich Asiaten und Afrikaner als Berauschungsmittel an Stelle des Opiums bedienen, herbeigeführt haben, doch sind diese Angaben, ebenso wie das ganze Wesen dieser Krankheit, noch ziemlich dunkel.

Nach dem Gesagten ergiebt sich von selbst, daß die Todtenstarre eine ganz andere Erscheinung sein muß, als der Starrkrampf. Die Erstere tritt bekanntlich erst eine oder mehrere Stunden später als der Tod ein; das Sterben löst vielmehr die Glieder und Muskeln – krampfhafte Verzerrungen der Glieder und der Schmerzensausdruck im Antlitz eines unter schweren Leiden Dahingeschiedenen verschwinden, indem die Muskeln in die natürliche Lage des Schlafes zurücksinken, und wenn dann die Todtenstarre eintritt, so fixirt sie ein für die Angehörigen überaus tröstliches Bild der Ruhe und des Friedens. Sie wird durch [725] einen physiologischen Proceß, durch das allmähliche Gerinnen einer in den Muskeln enthaltenen Eiweißverbindung hervorgerufen und schwindet daher wieder, wenn bei der beginnenden Verwesung diese Eiweißkörper wieder aufgelöst werden.

Dagegen tritt unter noch nicht völlig klargestellten Umständen, wenn gesunde Menschen plötzlich, zum Beispiel durch einen sofort tödtenden Schuß hingestreckt werden, die Starre, und zwar dann doch wohl durch eine Art Krampf so plötzlich ein, daß die schmerzverzerrten Züge und die augenblickliche Stellung von Hand und Fuß festgehalten werden und die Bezeichnung des Todes als des „gliederlösenden“ und „langhinstreckenden“ nicht Stich hält. Auf den Schlachtfeldern der Krim, Italiens und Frankreichs haben verschiedene Aerzte augenblicklich getödtete Soldaten mit dem Gesichtsausdruck und in der Stellung angetroffen, in welcher sie das tödtliche Geschoß überraschte. So fand Dr. Roßbach auf dem Schlachtfelde von Sedan eine Gruppe von sechs Franzosen, die ein einziger Granatschuß in dem Augenblicke getödtet hatte, als sie in einer Erdvertiefung beisammensaßen, um ihr Frühstück zu genießen. Da sie eng aneinandergesessen, so stützten sich die Leichen gegenseitig; der eine Soldat, dem der Splitter nichts vom Kopfe gelassen als den Unterkiefer auf dem Rumpfe, hielt in der erhobenen Hand, zierlich zwischen Daumen und Zeigefinger, die zinnerne Tasse, deren Rand noch die Lippe berührte. Seinem Nachbar war der Hinterkopf weggerissen worden, während er wahrscheinlich über eine lustige Bemerkung seiner Cameraden lachte, und dieses Lachen hatte der Tod festgehalten. Ein durch die Brust geschossener Deutscher wurde gefunden, wie er auf seinem Tornister halb auf der Seite lag, und in der längst erstarrten Hand die Photographie seiner Frau oder Geliebten vor die gebrochenen Augen hielt. Derselbe Beobachter hat noch mancherlei ähnliche Fälle in Virchow’s Archiv beschrieben, wir müssen aber nach dieser Abschweifung zu der letzterwähnten Kranken zurückkehren.

Marie Lecomte erschien noch deshalb studirenswerth, weil ihre Krankheit, obwohl in Entstehung und Verlauf lebhaft an diejenige religiöser Schwärmerinnen erinnernd, doch ebenso wie der schlafende Ulan gänzlich jedes mystischen und religiösen Hintergrundes entbehrend, rein als das erschien, was sie war, als schweres Nervenleiden. Bei der Lecomte wurden nämlich die starrsuchtartigen Zustände, nachdem sie am siebenten Tage aus denselben erwacht war und zu trinken verlangt hatte, und nachdem neue Anfälle von abnehmender Dauer (vierzig Stunden, sechszehn Stunden, acht Stunden) in kurzen Pausen gefolgt waren, gerade wie bei der Maria von Mörl, Louise Lateau etc. von Traumphantasien abgelöst, in denen sie beständig sprach, nur daß ihre Aeußerungen durchaus keinen religiösen oder theatralischen Charakter hatten. Unter Anderem behauptete sie zwei Tage lang völlig blind zu sein und rieb sich beständig die Augen. Görres würde diese Abart der „heiligen Krankheit“ jedenfalls zu der „teuflischen“ Sorte gerechnet haben. Sie war vier Wochen nach ihrem ersten Anfalle völlig hergestellt, hat aber im Beginne dieses Jahres einen neuen kürzeren Anfall zu bestehen gehabt. Der Arzt bedarf des Studiums solcher Krankheitsfälle nicht, um sich in der Ansicht zu stärken, die schon Altmeister Hippokrates von den sogenannten „heiligen“ oder „dämonischen“ Krankheiten äußerte, aber ihr Auftreten wird, so lange der Schleier, der die ihnen zu Grunde liegenden körperlichen Vorgänge verhüllt, nicht völlig gelüftet ist, immer das höchste Interesse erregen, besonders wenn sie einen so ungemischten Charakter darbieten, wie in den hier erwähnten beiden Fällen.
C. St.




Bilder und Skizzen aus Potsdam.
Von Fedor von Köppen.
Mit Originalzeichnungen von Hermann Lüders.
(Schluß.)


5.

Im Jahre 1831 beherrschte die Cholerasucht die Gemüther so entsetzlich und drückend, daß kaum noch Jemand sein Haus zu verlassen sich getraute. Die Maßregeln, durch welche man das damals noch unbekannte asiatische Gespenst fern zu halten suchte, thaten mehr dazu, diese Furcht zu steigern, als sie zu beschwichtigen. Damals zog der königliche Hof nach Charlottenburg, dessen Schloß vollständig abgesperrt wurde. Die in Sanssouci zurückbleibenden Prinzen und Prinzessinnen mit ihren Hofstaaten mußten hier eine Art von Belagerungszustand über sich ergehen lassen. Sämmtliche Zugänge zu den königlichen Schlössern und Gärten wurden militärisch besetzt, Briefe und Lebensmittel nur vermittelst Glasstäben in Empfang genommen und desinficirt. Jedermann, der in Sanssouci einpassiren wollte, mußte sich durch eine Bescheinigung des Polizeidirectors von Potsdam als unverdächtig legitimiren und dann noch einem Räucherungsproceß unterziehen, welcher daran bestand, daß unter einem Stuhle, auf welchem er sich niederzulassen veranlaßt wurde, Chlorkalk- und Essigdämpfe entwickelt wurden.

Um diese Zeit, als die Cholerafurcht ihren Gipfel erreicht hatte, trug sich hier ein für die Geschichte des königlichen Hauses von Preußen hochbedeutsames Ereigniß zu. Den rechten Flügel des Neuen Palais im Sanssoucigarten bewohnte damals Ihre königliche Hoheit die Prinzessin Wilhelm von Preußen, jetzt Kaiserin und Königin Augusta, welche zum ersten Male ihrer Niederkunft entgegensah. Am 18. October, jenem großen Gedenktage in der deutschen Geschichte, Morgens um zehn Uhr, erklärten die Aerzte, daß die Entbindung unmittelbar bevorstehe, und der damalige Adjutant des Kronprinzen, Hauptmann von Willissen, legte mit dieser Nachricht den Weg vom Neuen Palais nach dem Sanssoucischlosse in so schnellem Laufe zurück, daß er nur acht Minuten Zeit dazu gebrauchte. Gleich darauf erschien der Kronprinz, spätere König Friedrich Wilhelm der Vierte, auf einem Schimmel reitend und vom Gefolge umgeben, in der Hauptallee des Parkes, um sich im Galopp nach dem Neuen Palais zu begeben. Ihm folgte der vierspännige Wagen mit der Frau Kronprinzessin auf demselben Wege. Gegen einhalbelf Uhr öffnete sich eine der Thüren des Flügels, und es erscholl der laute Ruf: „Ein Prinz!“ worauf sogleich zwei Adjutanten, der eine nach Charlottenburg, der andere nach der Stadt sprengten, um dem Könige, sowie der großherzoglichen Familie in Weimar die frohe Nachricht zu überbringen. Die Feuerzeichen, welche an demselben Abende auf den Höhen um Potsdam zum Gedächtnisse der großen Völkerschlacht bei Leipzig aufloderten, konnten somit auch als ein Ausdruck der Freude des Volkes über die Geburt eines königlichen Prinzen angesehen werden. Dieser Prinz aber war kein Anderer, als der Kronprinz des deutschen Reiches und von Preußen, Friedrich Wilhelm, der gegenwärtige Bewohner des Neuen Palais.

Das Neue Palais war bekanntlich von Friedrich dem Großen in den Jahren nach dem siebenjährigen Kriege in dem westlichen Theile des Parkes von Sanssouci erbaut und in seinem Innern mit außerordentlicher Pracht ausgestattet worden. Wie man sagte, wollte König Friedrich mit diesem Baue, der einen Kostenaufwand von etwa drei Millionen Thalern erforderte, der Welt beweisen, daß es ihm noch lange nicht an Mitteln zur Fortsetzung des Krieges gefehlt haben würde, und im Volksmunde geht jetzt noch die Sage, daß die drei Genien auf der Kuppel des Schlosses, welche die Königskrone tragen, Niemanden anders vorstellen sollten, als seine drei Gegnerinnen, die Kaiserinnen Maria Theresia, Elisabeth von Rußland und die Marquise von Pompadour.

Die Nachfolger des Königs richteten ihr Augenmerk theils auf neue Bauten, theils auf die Erweiterung und Verschönerung der alten Anlagen von Sanssouci. Da sollte – einhundert Jahre nach seiner Gründung – auch für diesen letzten Prachtbau Friedrich’s des Großen eure neue Aera beginnen, als Prinz Friedrich Wilhelm nach seiner Vermählung mit der Prinzessin Victoria von Großbritannien hier für die Dauer seinen Sommeraufenthalt einrichtete und die hohe Frau die nächsten Umgebungen der Geburtsstätte ihres Gemahls mit feinem Kunstverständnisse und Geschmacke in einen Garten verwandelte, der schon jetzt an Schönheit nicht weit mehr hinter dem weltberühmten Parke von Sanssouci zurücksteht.

Die breite Hauptallee des Gartens von Sanssouci führt in westlicher Richtung gerade auf die Mitte der imposanten Hauptfront des Neuen Palais, während der Fahrweg von Schloß Lindstädt nach [726] der Wildparkstation von Norden nach Süden in senkrechter Richtung zu jener über den zum Theil mit Klinkern gepflasterten, zum Theil mit Rasenbeeten bedeckten Hof, die sogenannte „Mopke“, zwischen der Rückseite des Neuen Palais und den Communs, hinwegführt. Die letzteren sind zwei durch eine korinthische Säulenhalle verbundene Schlösser, welche früher die Wohnungen der Hofcavaliere und Hofdamen enthielten, jetzt als Caserne des Lehrbataillons benutzt werden. Die Anlagen hinter den Communs (das ist westlich des genannten Fahrwegs) sind die eigentlichen Vorrathskammern für die Schmuckanlagen vor dem Palais und nach den speciellen Anordnungen der Kronprinzessin von dem königlichen Hofgärtner Sello (seit 1864) eingerichtet worden. Hier finden sich in dem einen Quartier die zartesten Blumenarten – englische Veilchen, Reseden, Primeln, Rosen etc. – beetweise mit einander abwechselnd;


Kinderfest im Garten des Neuen Palais.


in dem anderen eine Baumschule für die schönsten Waldbäume, in welcher die jungen Stämmchen ebenfalls gruppenweise geordnet und theils von der Frau Kronprinzessin selbst gezogen, theils unter ihrer Leitung von den jungen Prinzen gesetzt wurden.

Durch diese Anlagen hinter den Communs hat der Kronprinz eine vierfache Lindenallee führen lassen, welche bei dem Römischen Triumphbogen in der Colonnade zwischen den beiden Commnusschlössern beginnt und gewissermaßen die Fortsetzung der Hauptallee von Sanssouci hinter dem Neuen Palais bildet.

Unmittelbar vor der Hauptfront des Neuen Palais liegt ein halbkreisförmiges Rasenparterre, welches von hohen Orangebäumen umgeben und durch die Hauptallee von Sanssouci in zwei Viertelkreise getheilt wird. Auch dieses Parterre ist nach den eigenen Zeichnungen der Frau Kronprinzessin von dem Hofgärtner Sello mit zierlichen Blumenrabatten geschmückt worden. Um das halbkreisförmige Parterre legen sich die von hohen, geschorenen Buchshecken eingerahmten verschiedenen Reviere des Gartens. Die Quartiere südlich des Hauptweges sind als Obstgärten nach englischem Muster eingerichtet worden. Hier werden die edelsten Obstsorten gepflegt und geerntet. Der größte Theil der Bäume ist von den kronprinzlichen Herrschaften selber gepflanzt.

Die nördlichen Quartiere, vor dem von den kronprinzlichen Herrschaften bewohnten Nordflügel des Palais, sind die eigentlichen Schmuckgärten. Hier sind die durch hohe Laubwände von den großen Parkwegen abgeschlossenen, stillen Gärtchen mit duftigen Bosquets und glatten Rasenteppichen, mit zierlichen Vasen und kleinen Springbrunnen, mit Rosenlauben und Nischen, wo die hohe Frau sich ganz dem Glücke des Familienlebens widmet. Ihre Lieblingsplätze sind so gewählt, daß sie zugleich die Gärten und Spielplätze der Kinder vor Augen hat. Neben dem Theehäuschen mit dem eigentlichen Heimgarten der Kronprinzessin ist der Obstgarten für die Kinder eingerichtet mit reichtragenden Johannisbeer- und Stachelbeersträuchern, Himbeeren, Erdbeeren und Obstbäumen. Aber wer genießen will, muß auch pflanzen; selbst müssen die Kinder unter der mütterlichen Leitung für die Unterhaltung ihrer kleinen Lustgärten Sorge tragen.

Ueberall ist mit dem Angenehmen das Nützliche verbunden. Zwischen den Blumengärten liegt ein Apotheken- und Kräutergarten, welcher eine Sammlung der heilsamen und schädlichen Kräuter – Fenchel, Anis, Kümmel, Thymian, Salbei, Wermuth, Hollunder etc. – in verschiedenen Abtheilungen zur Unterweisung der Kinder enthält, die eigene Schöpfung der sorglichen Hausfrau.

Ein freier, weiter Rasenplatz, von alten Eichen und dunkeln Blutbuchen begrenzt, von hohen Linden beschattet, ist der Spiel- und Tummelplatz der kronprinzlichen Kinder. Zwei junge Eichen in der Nähe, welche, wie die daran hängenden Täfelchen besagen, vom Kronprinzen und der Kronprinzessin am 18. October 1873 gepflanzt sind, haben vielleicht die Bestimmung, noch späten Nachkommen Schatten zu geben. In einer Ecke sind Turngerüste, Barren, Reck und Schaukel aufgestellt; daneben ist im düsteren Grün der Tannen der Schießstand für Bolzenbüchsen mit Schießhütte und Graben angelegt. In einem anderen Theile des Platzes erhebt sich eine nach allen Regeln der Befestigungskunst erbaute kleine Schanze mit Graben und Palissaden, davor Laufgräben im Zickzack vorschreitend, Schanzkörbe und Faschinen. Hier lernen die jungen Prinzen unter der Leitung erfahrener Militärs spielend die Künste des Krieges, den Bau der Schanzen, die Belagerung und Vertheidigung der Festungen, und das Auge des Vaters folgt mit Wohlgefallen ihrem emsigen Treiben. Auch für sie könnte ja die Zeit kommen, da die Spiele der Jugend einen ernsten Nachhall im Leben finden und die jungen Hohenzollernaare den alten Wahlspruch „Nec soli cedit“ („Auch der Sonne weicht er nicht“) zu bewähren haben.

Auch die Flotte ist vertreten. Nur wenige Schritte von jenem dem Mars geweihten Platze steht ein vollständig aufgetakelter Mastbaum mit Raaen und Stengen. Er ist dem kleinen Maste der „Hela“ genau nachgebildet. Matrosen der kaiserliche Marine ertheilen hier den jungen Prinzen praktischen Unterricht, und oft sieht man den Prinzen Heinrich sich auf den Raaen schaukeln oder an den schwanken Strickleitern bis zur höchsten Spitze des Mastes emporklimmen.

Für die jungen Prinzessinnen und ihre Gesellschafterinnen ist eine Rasenfläche nördlich des Schlosses zum Criquetspiele eingerichtet.

Aber nicht allein für die kronprinzlichen Kinder sind die [727] Freuden dieser Spielplätze. Alljährlich findet hier – gewöhnlich am Geburtstage der Prinzessin Charlotte (geb. 24. Juli 1860) – ein fröhliches Kinderfest statt, welches das kronprinzliche Ehepaar als Gutsherrschaft des benachbarten Bornstedt der Schuljugend dieses Dorfes giebt.

Zur bestimmten Stunde erscheinen die Kinder auf dem grünen Vorplatze des Neuen Palais, sämmtlich in ihren Sonntagskleidern, und werden von den jungen kronprinzlichen Herrschaften willkommen geheißen. Auf dem grünen Rasen sind Bänke und Tische aufgeschlagen, die letzteren mit mächtigen Kaffeekannen und hochragenden Kuchenbergen besetzt. Nachdem auch der Kronprinz und seine Gemahlin erschienen sind, werden die Plätze eingenommen. Ein Hofceremoniell findet nicht statt, ist auch nicht nöthig, da den Kindern schon zu Hause von ihren Eltern die Verhaltungsmaßregeln eingeschärft worden sind, und das gehobene Gefühl, Gäste „bei Kronprinzens“ zu sein, sich schon in ihrem artigen Wesen und ihren anständigen Manieren ausspricht. Diejenigen, welche noch nicht „bei Hofe“ waren, suchen es darin den älteren, welchen dieser Vorzug schon zu Theil ward, nachzuthun:


Der Gutsherr von Bornstedt und Paretz mit Familie.


Die Prinzessinnen Charlotte und Victoria machen die Wirthinnen und werden von ihren Brüdern bestens unterstützt. Letztere heben wohl selbst die Kleinsten in die Höhe, damit auch ihre Aermchen die lockenden Kuchenschüsseln zu erreichen vermögen. Die Kronprinzessin übersieht mit Hausfrauenblick die ganze lange Tafel, ermuntert zum Zulangen und legt den Bescheidenen auch selbst den Kuchen vor oder den Zucker in die Kaffeetasse.

Nach dieser Erquickung beginnen die Spiele der Knaben mit Stangenklettern, Springen, Wettlaufen vor- und rückwärts, Sacklaufen etc., wobei die jungen Prinzen Heinrich und Waldemar immer unter den ersten sind und der Kronprinz die allgemeine Lust durch heitere Scherze und durch die von ihm ausgesetzten Glückspreise noch steigert. Immer fröhlicher geht es her. Hier fällt ein kleiner Ungeschickt auf die Nase und überkugelt sich im Grase; dort tappt ein Anderer beim Rückwärtslaufen unter dem allgemeinen Gelächter in ganz falscher Richtung an dem Ziele weit vorbei. Alles bewundert und prüft die in diesen olympischen Wettkämpfen errungenen Preise, – Hüte, Tücher, Trommeln und Pfeifen, auch schön bemalte Drachen, die im Herbste hoch in die Bornstedter Lüfte aufsteigen sollen. Ueberall vernimmt man den Ausdruck harmloser, frischer Jugendlust. Köstlich mundet das Obst aus den kronprinzlichen Gärten, und die liebenswürdigen jungen Prinzessinnen reichen wohl selbst manchem artigen Kinde eine süße Frucht, damit dieses sie der Mutter mitbringen könne.

Von den frohen Tummelplätzen der Jugend wenden wir uns zu einer ernsten Stätte in der Nähe. Seitwärts von den am meisten betretenen Wegen des Parkes liegt, unter hohen, schattenden Bäumen verborgen, ein kleiner Tempel. Es ist das Mausoleum mit dem Marmorbilde der Königin Louise, von gleicher Kunstschönheit, von gleich edlen Formen, wie dasjenige in Charlottenburg. Mit diesem Kunstwerke hat es bekanntlich folgende Bewandtniß.

Als das Marmorbild der Königin Louise von Rauch im Mausoleum zu Charlottenburg aufgestellt war, erregte dasselbe die allgemeine Bewunderung. Nur der Meister selbst war nicht zufrieden und begann in der Stille die Modellirung eines neuen Bildwerkes. Niemand ahnte etwas davon, selbst nicht seine eigenen Schüler, bis er nach zwölfjähriger Arbeit sein Modell vollendet hatte und dem Könige davon Anzeige machte, wohl in der Hoffnung, daß er den Auftrag erhalten würde, dasselbe in Marmor auszuführen, und daß das neue Bildwerk an Stelle des ersten in das Mausoleum zu Charlottenburg aufgenommen werden möchte. Aber dazu kam es nicht. Dem Könige war unterdessen das Marmorbild der Dahingeschiedenen in Charlottenburg lieb und gewohnt geworden; er wollte von einer Veränderung nichts hören. Rauch erhielt zwar den Auftrag zur Ausführung des Marmorbildes; zu seiner Aufstellung wählte jedoch der König den früheren Antiken-Tempel beim Neuen Palais, welcher nun in ein Mausoleum umgewandelt und an seinen Wänden mit demselben Zeuge und in demselben Faltenwurf bekleidet wurde, wie das Schlafgemach der Königin Louise im Potsdamer Stadtschloß.

Die Verschiedenheit zwischen diesem und dem älteren Werke ist für den Laien kaum wahrnehmbar und zeigt sich diesem zunächst nur in der Wahl des Maßstabes – hier Lebensgröße, dort sechs Zoll über Lebensgröße. Bei näherer Betrachtung erkennt man jedoch die veränderte Auffassung des Künstlers, durch welche dieses Kunstwerk noch eine höhere ästhetische Bedeutung erhält, als jenes andere in Charlottenburg.

Der Anblick des Marmorbildes an dieser Stätte ist von ergreifender Wirkung, ist es doch, als ob der Geist der Verklärten noch jetzt hier waltete und als ob der Segen ihres Familienlebens auch auf das hohe Paar übergegangen wäre, welches die Räume dieses Schlosses bewohnt.

[728] Zu den königlichen Schatullengütern, deren Besitz der Kronprinz angetreten hat, gehört auch Paretz, zwei Meilen von Potsdam, jenes „Schlößlein Still im Lande“, welches die glücklichsten Tage der Königin Louise gesehen hat. Lange ist es her, seit die hohe Frau hier verweilte und an der Seite ihres Gemahls auf die blühende Kinderschaar um sie herabschaute, aber mit ihr selbst ist auch Paretz dem Volke unvergeßlich geblieben, unvergeßlich insbesondere dem königlichen Hause.

König Friedrich Wilhelm der Vierte, der hier an seinem elften Geburtstage unter den mahnenden Worten der hochherzigen königlichen Mutter den Degen empfangen hatte, feierte voll Pietät für das Andenken seiner Eltern in Paretz bis in seine letzte Krankheit seinen Geburtstag.

Nach dem Tode Friedrich Wilhelm’s des Vierten fiel Paretz dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm als Erbe zu. Da gab es Freude unter den Bewohnern des Dorfes, als die Nachricht sich verbreitete, daß der Kronprinz am 18. October 1866 mit Gemahlin und Kindern eintreten werde, um hier gleichfalls seinen Geburtstag – den ersten Geburtstag nach dem Kriege und nach dem Entscheidungstage von Königgrätz – in ländlicher Stille zu verleben. Kränze und Festgewinde schmückten die Häuser; alle Landbewohner hatten ihre Festkleider angelegt, und die Jugend des Dorfes prangte in den neuen Uniformen, welche ihr, einem alten Brauche gemäß, von dem Gutsherrn verliehen waren.

Der Kronprinz ging, seine Kinder an der Hand, unter dem Geleite der neuuniformirten Jugend durch das Dorf und besuchte auch das Pfarrhaus. Hier bemerkte er den kleinen Stahlstich: „Luther und seine Familie am Weihnachtsabend“ nach Mertensteig, und nachdem er der Familie des Pfarrers gegenüber sein Interesse für dieses Bild ausgesprochen, fragte er seinen Sohn, den Prinzen Friedrich Wilhelm: „Weißt Du auch, wer das ist?“

Kopfschüttelnd verneinte der Knabe.

„Du weißt es wohl,“ sagte der Kronprinz und dann zur Familie des Pfarrers gewandt: „Er ist befangen, aber er weiß es bestimmt; ich selbst habe erst kürzlich die Geschichte der Reformation mit ihm durchgenommen und über Luther in Wort und Bild ihn belehrt; denn am Tage des Einzuges der Truppen, als wir ‚Eine feste Burg ist unser Gott‘ sangen, konnte mein Sohn nicht mit einstimmen; als ich hörte, daß er das Lied noch nicht gelernt hatte, mußte er es sogleich lernen und anknüpfend daran Luther’s Leben und die Reformation durchnehmen.“

Also an jenem Tage des Siegeseinzuges seiner Armee in die festlich geschmückte Hauptstadt, als alle Herzen noch voll Dankes schlugen für Gottes Beistand in dem ruhmvoll beendigten Kriege, voll Dankes auch für den Kronprinzen und seine rechtzeitige Hülfe bei Königgrätz, bemerkt dieser, daß der kleine Prinz, sein Erstgeborner, das Sturm-, Dank- und Triumphlied der Reformation nicht kennt, und noch unter dem frischen Eindrucke des Triumphes lernt der junge Prinz von seinem Vater die Reformation und den Eckstein derselben, Martin Luther, kennen.

Ein Jahrzehnt, reich an Erfahrungen und Thaten, ist seit jener Geburtstagsfeier in Paretz vorübergegangen, und wieder ist mit dem Jahrestage der Völkerschlacht bei Leipzig der Geburtstag des Deutschen Kronprinzen herangekommen. Mit freudiger Theilnahme, hoffend und vertrauend sieht das Volk zu ihm auf, dem ruhmgekrönten Feldherrn und siegreichen Führer, aber im Stillen gedenken wir auch solcher kleinen herzerwärmenden Züge. Auch sie haben ihre Bedeutung in der Weltgeschichte.




Kein Herz.
(Fortsetzung.)


Als Fritzel zu Grabe getragen wurde, gab nicht nur die ganze Ortschaft, sondern auch das ganze Bahnpersonal dem Kinde das Geleite.

Die verhängnißschwere Folge der Unvorsichtigkeit einiger Arbeiter, wodurch jener mit Schienen beladene Wagen am nördlichen Bahnhof in das Rollen gebracht worden, als sie im Begriff standen, ihn abzuladen – die äußerste Gefahr, welche hierdurch einem starkbesetzten Personenzug gedroht – die heroische Geistesgegenwart des Wärters – all dies hatte weittragendes Aufsehen erregt.

Der kleine Sarg wurde auf leichter Bahre von Knaben aus dem Dorfe getragen und blieb vom Elternhause bis zur Kirche unverschlossen. Einen Kranz von Vergißmeinnicht im blonden Haar, lächelte das Köpfchen inmitten der Fülle farbiger Blumen, worauf es gebettet war, so freundlich, als schlummerte es nur. Die Schulkinder sangen auf dem Friedhofe an der geöffneten Gruft, dann sprach der alte Pfarrer kurze Worte, so warme, herzliche Worte, daß von allen Augen, die sich auf das dunkle, letzte Bettchen hefteten, keine trocken blieben, als die der Mutter des armen Kindes. Monika war an der Seite ihres Mannes hinter dem Sarge hergeschritten, ohne zu schwanken; auch jetzt stand sie aufrecht und machte nur dann eine hastige Bewegung, als der Pfarrer, nachdem er die erste Schaufel Erde in das Grab geworfen, dem Vater das Geräth reichen wollte. Sie hielt seinen Arm auf und nahm ihm die Schaufel selbst aus der Hand; als der Klang der Erdschollen, die sie niedergleiten ließ, ihr Ohr traf, schauderte sie zusammen, und ihre Lippen wurden so weiß, wie ihre Wangen. Sie ließ die Schaufel fallen und trat zurück, ohne den Kreis zu verlassen, der das Grab umstand. Ihr Auge bohrte sich in den Boden, während Wilhelm und die Andern die letzte Pflicht erfüllten, und sie blickte auch nicht auf, noch sprach sie eine Silbe, als der Pfarrer und einige der Frauen sie anredeten, nachdem Alles vorüber war; sie nickte nur wie mechanisch mit dem Kopfe und ging dabei vorwärts, dem Wege nach daheim zu.

Ein Geflüster entstand hinter ihr her; die Veränderung, welche mit der von Leben sprühenden Frau vorgegangen, erschien trotz des Erlebten allzu auffallend, fast unheimlich. Auch daß Wilhelm Huber seiner Frau zwar folgte, ihr aber nicht zur Seite ging, kam Vielen sonderbar vor. Der Ortsgeistliche beschleunigte seinen Schritt, nachdem er den Ornat abgestreift, und holte den Bahnwärter ein. „Der Herrgott hat Sie schwer geprüft, Huber,“ sagte er, „und wenn es auch immer der höchste Trost bleibt seine Schuldigkeit bis zum Aeußersten gethan zu haben, kann ich begreifen, daß in Ihrem Falle Ergebung schwerer fällt, als sonst. Lassen Sie jetzt aber das arme Kind bei Gott, wo ihm wohl ist, und haben Sie zunächst ein Auge auf Ihre Frau! Ihr Aussehen gefällt mir nicht. Sie müssen Alles aufwenden, sie zu beruhigen.“

„Ich?“ sagte Huber in schmerzlicher Bitterkeit. „Seit – seit dem Unglück hat sie keine Silbe mit mir geredet, und sprech’ ich sie an, dann geht sie aus der Stube oder gar aus den Haus. Sie kann es mir nicht verzeihen.“

Der Pfarrer drückte ihm die Hand. „Heute habe ich Amtspflichten; morgen früh komme ich aber zu Euch hinüber und will versuchen, was Gottes Wort vermag.“

Wilhelm seufzte schwer auf. „Hochwürden, wenn Sie das arme Weib auch nur dazu bringen könnten, daß sie weint und schreit, wie eine Andere thäte, dann wär’s schon gut. Sie ist wie von Stein. Ich weiß mir keinen Rath mehr.“

Als er zu Hause anlangte, fand er dort die Frau des Bahnmeisters, welche Monika in deren Wohnung erwartet hatte und dringend zu ihr sprach. „Helfen Sie mir doch zureden, Huber!“ sagte die schon ältliche, gutherzig blickende Frau, „daß ich dableiben darf. Sie haben gewiß heute noch allerlei zu besorgen; jedenfalls ist’s gut, wenn Sie jetzt einen Augenblick nach der Station gehen; der Vorsteher möchte wegen der Dauer Ihrer Beurlaubung selbst mit Ihnen reden. So lange wollte ich der armen Seele Gesellschaft leisten, Ihre Frau mag mich aber nicht hier haben.“

„Thu’ es mir zu lieb, Monika!“ sagte Wilhelm in gepreßtem Tone. „Ich habe wirklich einen Gang zu machen, und wenn ich Dich in dem leeren Hause ganz allein lassen müßte, hielt’ ich’s nicht aus.“

Die junge Frau zuckte mit den Wimpern. „Du hältst es schon aus,“ sagte sie trocken. Dann wandte sie sich zur Bahnmeisterin und legte beide Hände auf deren Arm; etwas von der alten Raschheit lag in ihrem Tone: „Ich habe es Ihnen ja vorhin schon gesagt, daß ich mich hinlegen und schlafen will. Ich habe seit vorgestern kein Auge zugethan; jetzt bin ich müde und muß Ruhe haben. Wenn ich weiß, daß Sie hierinnen sitzen, [729] läßt’s mich aber nicht ruhen. Ich bin froh, wenn sich nichts, gar nichts Lebendiges mehr im Hause regt, dann schlafe ich augenblicklich ein – das weiß ich.“

„Zwingen kann ich Sie nicht, Huberin,“ entgegnete die gute Frau sorgenvoll. „Vielleicht ist’s wirklich am besten, wenn Sie sich zur Ruhe begeben. Gott behüt’ Euch Alle miteinander!“

Sie hatte kaum das Haus verlassen, als Monika in die Kammer ging und ihr Kleid losmachte. Wilhelm folgte ihr auf denn Fuße. „Frau!“ rief er mit gebrochener Stimme, „soll das so fortgehen? Willst Du nie mehr mit mir reden? Denkst Du denn gar nicht an mich und wie mir zu Muth ist?“

„Dir? Du hast Deine Pflicht und Schuldigkeit gethan. Dann ist Dir allzeit recht zu Muth; das hast Du oft genug gesagt, daß ich’s wissen kann.“

Wilhelm erblaßte und preßte seine Lippen fest aufeinander, als wollte er ein Wort ersticken, das sich herauszudrängen versuchte. Stumm wandte er sich und verließ Zimmer und Haus. Schweren, trägen Schrittes, wie ein Mensch, der allzuweite Wege gewandert ist und doch noch vorwärts muß, schritt er der Station zu. Es war ihm recht, daß man ihn dort verlangte, denn zu Hause hätte er um keinen Preis bleiben mögen. Auch nahm er sich vor, sich für den nächsten Tag freiwillig wieder zum Dienst zu melden. Man hatte ihn in seiner Unglücksstunde sofort abgelöst und ihm einen Mann aus der Arbeitsrotte zum Stellvertreter gegeben, was sollte er aber jetzt weiter mit der müßigen Zeit? Der Stationsvorsteher kam auf ihn zu, sobald er ihn sah, schüttelte ihm die Hand und sprach von geschehener Meldung höheren Orts, von Belobigung und Anerkennung. Wilhelm entgegnete kein Wort, meldete sich nur zum Dienst bereit und ging dann nach der Wärterbude, um seine Jacke zu holen, die an dem Unglückstage dort zurückgeblieben war. Müde saß er in dem engen Geviert auf dem hölzernen Schemel nieder, und sah, die Hände ineinander gefaltet, vor sich hin. Ein zufälliges Geräusch von draußen ließ ihn aufschauen; sein Blick irrte nach dem Fenster, durch welches ihm die Kiesgrube in die Augen fiel. Ein Stöhnen rang sich aus der Brust, die sich ein paar Augenblicke arbeitend hob und senkte, bis die lang auf Foltern gespannte Manneskraft endlich in unaufhaltsamem Schluchzen brach. Hier stehen! Von Neuem auf diesem Platze Posten stehen! Tag für Tag die Stätte schauen, wo ihn die lächelnden Augen zuletzt angeblickt, das helle Stimmchen ihm zuletzt erklungen war! Tag für Tag den folternden Moment neu erleben, ewig diese Signale hören, das schrille Pfeifen durch die Seele schneiden lassen – nein, das hatte er nicht bedacht, das war nicht möglich, nicht menschlich. Das mußte anders werden, wenn er seinen Verstand behalten sollte. Noch eben war ihm von Belobigung und Anerkennung höheren Orts gesprochen worden, und es hatte ihm dabei innerlich geschaudert, wie vor dem Schlimmsten, was ihm angethan werden könnte, aber Eins mußte man ihm gewähren – augenblickliche Versetzung. Die wollte er fordern, und auch das nur für den Moment. Sobald sich irgendwo in der Welt ein Stück Brod für ihn fand, und die ärmlichste Hütte zu Dach und Fach, dann fort, weit fort, irgendwo hin, wo es keine Bahnen gab und keine sausenden Locomotiven. Auch Monika würde so denken und lieber darben, als in dem öden Hause weiter leben, Monika? Wer weiß, ob er Die nicht gerade so gut für ewig eingebüßt hatte, wie seinen Fritzel. Weit fort von seinem Herzen war sie heut – weit fort er von dem ihrigen; das Kind viel näher, obwohl es im dunklen Grabe lag, durch ihn selbst darinnen lag, fühlte er sich nicht von ihm geschieden, wie von dessen Mutter, seit sie ihm die letzten bösen Worte gesagt. Er schüttelte den Kopf, wie Einer, dem der Sinn für ein Dunkles, das ihm zu rathen aufgegeben, nicht aufgehen will, und trat hinaus in’s Freie.

Als er eine Stunde später seiner Wohnung zuwanderte, geschah dies mit dem festen Schritte, der straffen Haltung, die ihm eigen waren. Auf seinen männlichen Zügen lag tiefe Trauer, aber die Ruhe der in sich gesammelten Kraft. Er beschleunigte seine Schritte, indem er dem Hause näher kam, und betrat das Zimmer mit einem Blick im Auge, der aussah, wie ein gutes Wort auf den Lippen. Innerhalb der Schwelle blieb er betroffen stehen. Das Zimmer war sorgfältig aufgeräumt. Monika saß, ihr Umschlagetuch auf dem Schooße, neben dem kleinen, alten Lederkoffer, welchen sie aus ihrer Heimath mitgebracht hatte; derselbe war vollgepackt und fest zugeschnallt.

„Was soll der Koffer, Frau?“ sagte Wilhelm mit bewegtem Tone. „Willst Du fort? Was soll das heißen?“

„Ich gehe heim,“ entgegnete Monika, ohne ihn anzusehen; „ich habe auf Dich gewartet, um es Dir zu sagen. Von hier aus will ich nicht weg; ich gehe jetzt zu Fuß bis zur nächsten Station und fahre dann mit dem Nachtzuge. Den Koffer kannst Du mir nach Frauenwörth schicken. Was ich für die ersten Tage nöthig hab’, trag’ ich auf dem Leibe und im Armkorbe. Was das Fahrgeld angeht, so hab’ ich mir aus dem Kasten fünfzehn Gulden genommen; das langt. Du weißt wohl noch, daß Du mir aus dem Erlöse von dem, was nach dem Brande übrig geblieben, wieder hast anschaffen wollen, was ich an gutem Zeuge mitgebracht hatte. Wir brauchten das hier nicht, und das war gut, denn jetzt hab’ ich das Geld nöthiger, als ein paar Röcke.“

Sie hatte ganz still und langsam vor sich hingeredet, als gäbe sie Acht darauf, von allerlei gleichgültigen Sachen, die zu berichten wären, nichts zu vergessen. Wilhelm hörte sie an, als traute er seinen Sinnen nicht.

„Du willst heim,“ sagte er endlich in kummervollem Tone, „und sagst mir das so, im letzten Augenblicke, mit dem Fuße fast schon aus dem Hause, ohne darüber mit mir geredet zu haben, ohne nur zu fragen, ob es mir recht ist? Monika, das hätt’ ich Dir nicht zugetraut. Ein gutes Wort, und ich wär’ mit Allem zufrieden, was Dich trösten kann – gewiß hätt’ ich Dir keine Einreden gemacht.“ Er ging, die Hände auf dem Rücken, mit starken Schritten in der Stube auf und nieder. „Ich will Dir auch jetzt nicht zuwider sein,“ sagte er plötzlich und blieb vor ihr stehen, „nur bleib’ wenigstens noch heut’ Nacht im Hause! Was werden Deine Leute sagen, wenn Du so Hals über Kopf heimkommst? Schreib’ wenigstens zuvor! Und wie lange soll es dauern, bis Du wieder zu Deinem Manne zurück willst?“

Er war ihr ganz nahe getreten und blickte ihr fest in das Gesicht. Dunkle Röthe glomm in ihren aschfarbigen Wangen auf; ihre Augen hoben sich mit einem Male und begegneten den seinigen mit heißem, glühendem Blicke.

„Nie wieder will ich zurück zu Dir,“ rief sie mit einem Feuer, das nach der todtenhaften Starrheit der letzten Tage emporloderte wie Flammen aus dem Schutte.

„Monika!“ Sein mildes Auge wurde finster. Ein strenger Zug, der selten des Mannes gelassenen Ausdruck verschärfte, trat in sein Gesicht. „Du sprichst, was Du nicht verantworten kannst. Ich weiß, wie Dir jetzt zu Muthe ist, aber Alles muß seine Grenzen haben. Hättest Du Deinen Mann auch nur ein Bischen gern, dann müßtest Du mich jetzt trösten in meiner Noth, die größer ist, als die Deinige. Was geschehen ist, hat sein müssen. Durften hundert Menschen und mehr elend zu Grunde gehen? Und weil ich auf meinen Posten ausgehalten hab’ bis zum Letzten, willst Du mich jetzt allein lassen und hast doch heilig versprochen, in Noth und Tod mir treu zu sein?“

„Das hab’ ich versprochen, und das hätt’ ich gehalten,“ rief die junge Frau in leidenschaftlichem Schmerze, „wärst Du ein Mensch wie ein Anderer, mit dem man trägt, was unser Herrgott schickt. Aber Du – Dein eigenes Kind war Dir nicht so lieb wie Dein Posten. Wo gäb’s noch einen Vater, der sich da nur besinnt, was er darf und was er soll! Du hast’s gekonnt, weil – weil –“ Der Ton erstickte ihr in der Kehle; sie rang die Hände, dann brach es heraus wie ein Schrei: „Du hast kein Herz.“ Sie schlug die flatternden Hände vor die Augen. Es ward still um die Beiden, wie im Grabe. Wilhelm regte sich nicht, bis Monika in fieberischer Erregung in die Höhe sprang. „Ich geh’,“ sagte sie hastig und raffte ihr Tuch an sich. „Ich kann nicht mehr bei Dir sein. Kein zweites Kind sollst Du haben, um es hinzumorden, wie meinen Fritzel.“

„Geh denn!“ sagte Wilhelm, und die Worte kamen mühsam aus seiner Kehle. „Ich halte Dich nicht. Gott verzeih’ Dir, was Du mir thust!“

Sie hörte die Worte, wendete aber den Kopf nicht mehr nach ihm, sondern ging unaufhaltsam vorwärts, ohne einen Blick auf die Räume zu werfen, die sie durchschritt, zum Hause hinaus, querfeldein durch die bereits von Dämmerung umschatteten Wiesen, immer rascher, immer weiter, bis ihre Gestalt aus dem Bereiche der bisherigen Heimath verschwunden war.

Niemand blickte ihr nach.


[730]

3.

Wenn die Waffen klirren, und das Vaterland um seine Ehre, sein Dasein kämpft, bleibt Denen, welche außerhalb der That stehen, nur zweierlei, um sich mit dem Weltgedanken in Harmonie zu erhalten: Studium oder Andacht. Nur hierin ist persönliche Vertiefung noch möglich, während fiebernder Pulsschlag durch eine ganze Nation geht. So wurde denn auch auf Frauenwörth Studium und Andacht gepflegt, wie gewohnt, während in den ersten blutigen Schlachten des deutsch-französischen Krieges Tausende den Tod fanden. Im Kloster schallten die Gesänge, wurden Lehre und Arbeit geübt, wie zur Zeit tiefsten Friedens, und zwischen den alten Uferweiden lauschten die Künstler auf die Offenbarungen der Natur, welche nach jedem Orkane immer wieder lächelt und harmonisch ruht.

Blieben auch in diesem Sommer die Touristen aus, wenigstens seit den letzten Wochen, so fehlte von den Stammgästen der Insel kaum einer. Unter ihnen erkennen wir Bernardin, der aber in dem Augenblicke, wo wir ihn treffen, nicht mit Pinsel und Palette beschäftigt ist, sondern auf der Bank unter dem Kirschbaume sitzt, welcher für den Dampfschiffsteg gleichsam den Wartesalon darstellt.

Es war um Mittagszeit; die Mehrzahl der Wirthshausgäste weilte noch an dem im Freien gedeckten Tische. Das Dampfschiff mußte im nächsten Augenblicke kommen. Als sein schrilles Pfeifen sich vernehmen ließ, stand Bernardin rasch auf und trat auf den Steg; er spähte mit scharfem Blicke in den See hinaus, und ein heller Zug von Befriedigung ging über sein Gesicht, sobald er im Stande war, die Gestalten auf dem Verdecke des nahenden Dampfers zu unterscheiden. Auch er war von dort aus schon gesehen worden; ein flatterndes Tuch wehte einen Augenblick auf. Er lüftete den Hut und trat bis an die Stufen vor.

„Also wirklich!“ sagte er in warmem Tone, indem er Valentine Wittstein die Hand zum Aussteigen entgegen bot. „Doppelt willkommen! Denn Sie hatten geringe Hoffnung für Ihre Wiederkehr gegeben, und ich wünschte diesen Entschluß sehr, namentlich um Ihretwillen. Was hat ihn so glücklich bestimmt?“

„Die Umstände,“ sagte Valentine, und schritt an seiner Seite dem Wirthshause entgegen. „Meine Schwester, bei der ich zu bleiben dachte, erhielt von ihren Schwiegereltern dringende Aufforderung, zu ihnen zu ziehen, so lange mein Schwager im Felde bleibt; es wäre lieblos gewesen, den alten Leuten diesen Trost zu versagen, und die Aufgabe, sich ihnen zu widmen, ist für Minna eine günstige Zerstreuung. Sie luden auch mich ein, aber das war wohl mehr freundliche Form; der Raum würde sich dort sehr beengt haben, und so zog ich vor, wenigstens vorerst dies liebe Asyl aufzusuchen, wo ich Freunde und mehr Ruhe treffe, als in München. Dort ist jetzt alle Welt gleichsam im Fieber.“

„Hatten Sie neuerdings Nachricht vom Herrn General?“

„Ja, und gute! Papa ist wie neugeboren, seit er wieder in Action gelangte. Aus seinen Briefen, die freilich immer sehr aphoristisch sind, spricht eine Frische des Geistes und der Stimmung, welche für alle Sorgen um ihn einigen Ausgleich bietet. Er rühmt seine Gesundheit; im Uebrigen ist er mit Leib und Seele Soldat. – Wie steht es hier?“

„Sie finden uns so ziemlich, wie Sie uns verlassen haben. Aschens sind zufällig heute nach Seern; sie werden überrascht sein, da sie für den Fall Ihrer Ankunft noch Mittheilung erwarteten.“

„Wozu schreiben? An Unterkommen wird es ja gegenwärtig nicht fehlen.“

„Ihr Balconzimmer ist frei geblieben. Mein Gott – wie kurz die Zeit, seit Sie uns so plötzlich verließen, und wie inhaltsschwer!“

Valentine neigte gedankenvoll den Kopf. „Wohl hätte man sich dies Alles nicht träumen lassen, als Papa seine Inspicirungsreise antrat, und ich mit Aschens hierher ging. Die Ereignisse haben sich überstürzt. Noch schwebt mir die Woche der Kriegserklärung vor den Augen, wie Gegenwart. Meine Abreise von hier, das Zusammentreffen mit dem Vater, der Ausmarsch meines Schwagers, Alles das folgte sich unaufhaltsam; es kam wie eine hohe Woge, von der man vorwärts geworfen wird, fast ohne die Möglichkeit persönlichen Wollens und Könnens. Und – glauben Sie mir! – so gern ich hierher zurückkehrte, es geschieht doch mit einer Art von Beschämung. Wo so Viele thätig sind, sei es selbst nur durch Leiden, da erscheint Genuß der Ruhe fast wie ein Unrecht.“

„Was könnten Sie leisten?“

„Allerdings nirgends etwas Anderes, als was ich hier thun kann: die Hände mit Verbandzeug beschäftigen, dessen man ja schon jetzt so viel, so viel bedarf.“

Die Terrasse war erreicht. Valentine wurde umringt und mit sichtlicher Freude begrüßt. Wittsteins gehörten nun schon seit mehreren Jahren zu den Stammgästen, und „das Fräulein“, wie Valentine einfach bezeichnet wurde, war ein allgemeiner Liebling, obgleich nur Wenige ihr persönlich näher standen. Jedermann sprach gut von ihr. Die vielbeschäftigte Wirthin hatte für sie besondere, zarte Aufmerksamkeiten; gewisse Gerichte, welche sie gelegentlich gerühmt, kamen zur Zeit ihrer Anwesenheit häufiger auf die Tafel; das erste Obst, welches reifte, wurde dem Fräulein gebracht; selbst der bekannte Humor der allbeliebten Herbergsmutter gewann liebreiche Wendung, sobald sie ihr Wort an Valentine richtete. Alt und Jung fühlte sich von dieser angezogen; wer mit ihr gesprochen hatte, verließ sie in Zufriedenheit mit sich selbst und mit ihr. Es lag in Valentinens Wesen etwas vom Mondlichte, das alle Linien sänftigt, auf die es fällt.

So wohlthuend der herzliche Empfang sie berührte, sehnte sie sich doch nach der Einsamkeit ihres Zimmers und suchte es auf, sobald sie etwas genossen. Die ersten, noch in München verlebten Morgenstunden hatten manches Bewegende mit sich gebracht. Der Abschied von der Schwester war ihr schwer geworden; selbst der Contrast, welcher ihr aus der Weltverlorenheit dieser kleinen Insel und dem brausenden Vorwärtsrollen der Weltgeschichte vor Augen trat, übte einen Rückschlag auf ihre Stimmung. Sie ordnete ihr Gepäck und trat dann hinaus auf den Balcon, auf dem sie nun schon seit Jahren so manche einsame Stunde zugebracht hatte.

Es war Mitte August. Die Linden standen in voller Blüthe; der feine starke Duft drang zu ihr auf. Sie ruhte und sann. Während ihr Blick über die um diese Stunde immer menschenleere Terrasse schweifte, blieb er unwillkürlich an einer Gestalt hängen, die von der Ortschaft her der Hecke entlang kam und etwas Bekanntes für sie hatte, obwohl sie sich nicht sogleich auf diese Frau oder dieses Mädchen besann. Nun schritt Letztere langsam näher, quer über den Platz, den Linden zu, durch welche der Weg nach der Kirche führt. Valentine beugte sich über die Brüstung, um genauer zu sehen; fast unwillkürlich entschlüpfte ihr der Ruf: „Monika!“

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.

Richard Schmidt-Cabanis, der Verfasser der „Allerlei Humore“, hat einen neuen Blüthenstrauß humoristischer Novelletten und Skizzen gewunden und ihn der schöneren Hälfte des Menschengeschlechts überreicht. Unter dem verlockenden Titel: „Wenn Frauen lächeln“ und durch zierliche Holzschnitte illustrirt, sind sie in Denicke’s Verlag in Berlin erschienen. Unter den fünf Novelletten der ersten beiden Abschnitte des Buches, in denen erst „unter Thränen gelächelt“, dann aber „aus vollem Herzen gelacht“ wird, werden einige in ihrer Frische und Sinnigkeit den Leser auf das Liebenswürdigste anmuthen, am meisten das tragikomische Lebensbild: „Zwischen Leben und Tod“. Hier weht Jean Paul’scher Humor: man wird gleichzeitig gerührt und erheitert durch den armen kleinen Burschen, der von dem frischen Grabe seiner Mutter hinauswandert in die Welt, begleitet von seinem einzigen Besitzthum, einer Eule, die er mühselig im schweren Käfig mit sich schleppt und mit der er den letzten Bissen theilt. Fast bedauert man, den guten Jungen gar so schnell einen Wohlthäter finden zu sehen, mit dessen Erscheinen die Geschichte zu Ende ist. Ihr zunächst an Frische des Humors steht die fidele Liebesgeschichte: „Lieschens Aussteuer“ mit der prächtigen Figur des „Onkel Krischoff auf Bagfelde bei Rostock in Mecklenburg“ und die windige Historie: „Von Brighton nach Wien“, in der man erfährt, warum der Wind so beständig auf dem Stephansplatze weht. Der dritte Abschnitt, „Allerlei lustig Gekicher“, humoristische Plaudereien über die verschiedensten Motive, zeigt von Neuem Schmidt-Cabanis’ satirische Schärfe, seine Formgewandtheit und seine Schlagfertigkeit im Wortwitz.




Kleiner Briefkasten.

A. G. Der Gegenstand ist für unser Blatt nicht geeignet, und bitten wir über das Manuscript Verfügung zu treffen.

Pr. W. in Bl. Ist der Artikel jetzt – nach drei Jahren – nicht veraltet, und genügt Ihnen die dazu vorliegende Illustration wirklich?



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.