Die Gartenlaube (1878)/Heft 23

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1878
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[371]
Um hohen Preis.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)
Nachdruck verboten und Uebersetzungsrecht vorbehalten.


Der Oberst sah nachdenkend zu Boden. „Sie haben wenig Freunde in der Residenz und bei Hofe. Ich sagte es Ihnen schon vor Monaten: es wird dort fortwährend gegen Sie gewühlt und intriguirt, und man bietet Alles auf, Ihren Einfluß zu untergraben. Wenn sich noch dazu ein geeignetes Werkzeug findet – Assessor Winterfeld ist ja wohl gegenwärtig im Ministerium?“

„Ja wohl,“ sagte der Freiherr mit Bitterkeit. „Ich habe ihm die Pforten dazu geöffnet – ich selbst habe meinen Denucianten nach der Residenz geschickt.“

„Man wird sich des jungen Mannes bemächtigt haben, weil man wußte, daß er direct aus Ihrer Kanzlei kam. Er leiht vielleicht nur den Namen her zu einem Angriff, der von ganz anderer Seite ausgeht.“

Raven schüttelte finster den Kopf. „Der ist kein Werkzeug in fremden Händen; der handelt aus eigenem Antriebe; auch kann die Schrift nicht erst in den wenigen Wochen entstanden sein, die seit seiner Entfernung verstrichen sind. Sie ist das Resultat von Monaten, von Jahren vielleicht. Hier in meiner Kanzlei, fast unter meinen Augen, ist der Anschlag geplant und entworfen worden. Jedes Wort zeigt, daß er lange und sorgfältig vorbereitet wurde.“

„Und der Assessor hat sich niemals Ihnen oder Anderen gegenüber verrathen?“ fragte Wilten. „Er muß doch Umgang, muß doch Vertraute gehabt haben.“

Die Lippen des Freiherrn zuckten, und sein Blick heftete sich auf die Fensternische, aus der ihm gestern Gabriele entgegengetreten war.

„Einen seiner Vertrauten wenigstens kenne ich,“ sagte er dumpf, „und der soll mir Rede stehen. Was ihn selbst betrifft – nun, das wird sich finden. Zwischen uns beiden kann nur von einer Auseinandersetzung die Rede sein, für den Augenblick aber habe ich mit anderen Feinden abzurechnen. Es kommt wenig darauf an, ob ein Assessor Winterfeld in tugendhafter Entrüstung mich für einen Tyrannen und meine Amtsführung für ein Unglück erachtet; das haben Andere auch gethan. Aber daß er es wagen darf, das in alle Welt hinauszuschreien, und daß dieses Wagniß geduldet, vielleicht sogar begünstigt wird – das ist es, was der Sache Ernst und Bedeutung giebt. Ich werde unverzüglich die vollste Genugthuung von der Regierung verlangen, die mit mir und in mir angegriffen ist, und wenn man Miene machen sollte, sie zu verweigern, so werde ich sie mir zu erzwingen wissen. Es ist nicht das erste Mal, daß ich genöthigt bin, mit den Herren in der Residenz die Sprache des Entweder – Oder zu reden. Ich habe mir schon öfter gewaltsam Luft schaffen müssen, wenn die Intriguen von dort mich auf’s Aeußerste brachten.“

„Sie nehmen die Angelegenheit zu ernst,“ beruhigte der Oberst. „Sie setzten ja sonst allen Angriffen eine unerschütterliche Ruhe und Gelassenheit entgegen. Warum lassen Sie sich diesmal durch Lügen und Verleumdungen aus der Fassung bringen?“

Der Freiherr richtete sich mit seinem ganzen Stolze auf. „Wer sagt denn, daß es Lügen sind? Die Schrift strotzt von Feindseligkeit, Unwahrheiten aber enthält sie nicht, und ich denke nicht daran, auch nur eine der darin behauptete Thatsachen in Abrede zu stellen. Was ich gethan habe, werde ich zu vertreten wissen, aber nur denen gegenüber, denen es zusteht. Rechenschaft von mir zu verlangen, nicht gegen den ersten Besten, dem es einfällt, sich zu meinem Richter aufzuwerfen. Ihm und seinen Genossen werde ich allein die Antwort geben, die sie verdienen.“

Das Gespräch wurde hier unterbrochen; man überbrachte dem Gouverneur eine Meldung, die der Polizeidirector soeben aus der Stadt heraufschickte. Oberst Wilten stand auf.

„Ich gehe jetzt, die verabredete Maßregeln zu treffen. – Die Frau Baronin ist doch glücklich angelangt? Sie kam mit uns zur Stadt, wollte aber meine fernere Begleitung bis zum Schlosse nicht annehmen. Und wie geht es Fräulein von Harder? Sie hat ja die ganze gestrige Unruhe mit durchmachen müssen.“

„Ich weiß es nicht,“ sagte Raven kurz, beinahe rauh. „Ich habe sie heut’ noch nicht gesehen und war auch zu beschäftigt, um meine Schwägerin empfangen zu können. Ich werde später hinübergehen.“

Er reichte dem Oberst die Hand, und dieser entfernte sich, während der Freiherr an seinen Schreibtisch zurückkehrte, auf dem noch die gestrige Depesche lagen, um sofort einen Brief an den Minister zu beginnen.

Die Baronin Harder war in der That vor einigen Stunden angelangt, aber nur von ihrer Tochter empfangen worden, was die Dame sehr übel vermerkte. Sie fand es äußerst rücksichtslos von ihrem Schwager, daß er sich nicht wenigstens einige Minuten von den Geschäften losriß, um sie zu begrüßen. Im Uebrigen war die Erkältung, an der Frau von Harder bereits seit einigen Tagen litt, durch die heutige Fahrt noch verschlimmert worden; sie erklärte sich für sehr leidend und angegriffen und zog sich

[372] sobald wie möglich in ihr Schlafzimmer zurück, um die ungestörteste Ruhe zu genießen, zur großen Erleichterung ihrer Tochter, die sich nun wieder selber überlassen blieb.

Gabriele hatte es wirklich kaum vermocht, ihre Aufregung und Unruhe vor der Mutter zu verbergen. Der Freiherr war heute vollständig unsichtbar für sie geblieben und hatte sich sogar beim Frühstück entschuldigen lassen. Sie wußte freilich, daß er in Folge der gestrigen Ereignisse vom frühen Morgen an von allen Seiten in Anspruch genommen war, daß sich die Meldungen, Audienzen und Conferenzen in seinem Arbeitszimmer drängten, aber sie wußte auch, daß er trotz alledem Zeit finden würde, Zeit finden mußte, um zu ihr zu kommen, wenn auch nur auf Minuten. „Bis morgen!“ Das Wort mit seiner leidenschaftlichen Zärtlichkeit klang noch in ihrer Seele wieder. Der Morgen, der Vormittag waren gekommen und gegangen – Raven kam nicht, sandte auch kein Wort, keine Zeile, und es lag wie Bergeslast auf der Brust des jungen Mädchens. Was war geschehen?

Es war inzwischen Mittag geworden. Gabriele befand sich allein in dem kleinen Salon ihrer Mutter – da endlich vernahm sie im Vorzimmer den raschen festen Schritt, den sie heute wohl schon hundertmal zu hören geglaubt hatte. Sie athmete tief; sie lauschte dem Kommenden entgegen, und ihre eben noch so bleichen Wangen erglühten plötzlich in dunkler Röthe. Angst, Sorge, Unruhe, das Alles war vergessen in dem Augenblicke, wo die Thür sich öffnete und der Freiherr eintrat.

„Ich habe mit Dir zu sprechen,“ begann er ohne jede Einleitung. „Sind wir allein?“

Gabriele machte eine bejahende Bewegung; sie hatte ihm entgegen eilen wollen, hielt aber inne, betroffen von dem Tone, der so fremd und rauh ihr Ohr berührte. Sie gewahrte jetzt erst die seltsame Veränderung in den Zügen des Eintretenden. Das war nicht der Arno Raven mehr, der sie gestern in den Armen gehalten und ihr eine Leideschaft bekannt hatte, die das ganze Wesen des strengen kalten Mannes in Gluth und Zärtlichkeit umzuwandeln schien. Heute stand er finster, eisig vor ihr. Die Lippen, denen jene heiße Liebesworte entströmten, waren fest zusammengepreßt; in dem starren düsteren Antlitz zeigte sich keine Spur mehr von dem, was sich gestern darin geregt hatte, und die Augen flammten drohend und unheilvoll dem jungen Mädchen entgegen.

„Du hast mich vielleicht früher erwartet,“ nahm der Freiherr wieder das Wort. „Ich bedurfte einiger Zeit, um mich mit gewissen – Neuigkeiten vertraut zu machen, und zu unserer heutigen Unterredung kommen wir immer noch früh genug. Es ist wohl überflüssig, Dir zu erklären, was ich meine, denn wenn Du auch sonst mit meinen Amtsangelegenheiten nicht vertraut bist, diesmal weißt Du vermuthlich so gut wie ich, um was es sich handelt.“

„Ich? Nein,“ sagte Gabriele mit stockendem Athem. „Was soll ich wissen?“

„Willst Du es etwa leugnen? Doch davon sprechen wir später; vor allen Dingen möchte ich Dich fragen, was Dich veranlaßt hat, eine so erbärmliche Komödie mit mir zu spielen, in der mir die lächerliche Rolle zuertheilt wurde. Aber nimm Dich in Acht, Gabriele! Ich sagte es Dir schon gestern – ich habe wenig Talent für eine solche Rolle. Ein Mann, der sich verhöhnt und verrathen sieht, bleibt nur lächerlich, so lange er es geduldig erträgt. Ich bin nicht gesonnen, das zu thun. Das Spiel, das Du mit mir getrieben, kann verhängnißvoll werden für Dich und noch für einen Anderen.“

„Aber was meinst Du denn? Ich verstehe Dich nicht,“ rief das junge Mädchen, dessen Angst sich bei diesen räthselhaften Andeutungen von Minute zu Minute steigerte. Raven trat dicht vor sie hin, und sein Blick heftete sich durchbohrend auf ihr Antlitz.

„Was sollen die Warnungen bedeuten, die Du mir gestern während der Fahrt zuflüstertest? Woher wußtest Du überhaupt, daß mich irgend etwas bedrohte, und weshalb schrakst Du so zusammen und wurdest todtenbleich, als der Courier aus der Residenz gemeldet wurde? Sprich! Ich will Antwort haben auf der Stelle.“

Gabriele hörte mit wachsender Bestürzung zu; sie begann zu ahnen, was diese Fragen bedeuteten, aber der Zusammenhang blieb ihr noch völlig dunkel. Raven mußte es wohl sehen, daß sie ihn nicht verstand, denn er zog eine Broschüre aus seiner Brusttasche und warf sie auf den Tisch.

„Sollte diese Schrift hier nicht Deinem Gedächtniß zu Hülfe kommen? Der schmählichste, unerhörteste Angriff, der je gegen mich geschleudert wurde! Du hast ihn vermuthlich nur im Entwurfe gelesen; vollendet wurde er wohl erst in der Residenz, im Ministerium. So sieh mich doch nicht an, als ob ich in einer fremden Sprache redete! Oder kennst Du den Namen nicht, der da auf dem Blatte steht?“

Gabriele hatte mechanisch die Broschüre in die Hand genommen; ihr Auge fiel auf das bezeichnete Blatt, auf den Namen, der dort stand, sie zuckte zusammen.

„Von Georg? Er hat also Wort gehalten.“

„Wort gehalten!“ wiederholte Raven mit bitterem Auflachen. „Er gab Dir also sein Wort darauf? Du warst seine Vertraute, warst im Einverständniß mit ihm? Freilich, wie konnte ich denn auch noch zweifeln! Es war ja sonnenklar vom ersten Momente an.“

Das junge Mädchen war zu verwirrt und betäubt, um sich mit Nachdruck zu vertheidigen. Der unglückselige Ausruf, der ihr entfuhr, mußte den Freiherrn nur in dem Verdachte bestärken, daß sie Mitwisserin sei.

„Ich ahnte irgend ein Unheil,“ entgegnete sie, ihren ganzen Muth zusammenraffend, „aber ich wußte nichts Bestimmtes. Ich glaubte –“

Raven ließ sie nicht ausreden; seine Hand umschloß die ihrige krampfhaft.

„Hattest Du wirklich keine Ahnung davon, daß irgend etwas gegen mich im Werke war? Waren Deine gestrigen Andeutungen ganz zufällig und absichtslos? Dachtest Du, als uns die Nachrichten aus der Residenz so plötzlich aufschreckten, mit keiner Silbe daran, daß man ‚Wort gehalten haben könnte‘? Sieh mir in’s Auge und sage Nein – so will ich versuchen, Dir zu glauben.“

Gabriele schwieg; sie konnte darauf nicht mit Nein antworten, und der Gedanke, daß sie ja in der That wenigstens um die Absicht Georg’s gewußt, raubte ihr die Fassung. Die wenigen Worte, die Georg beim Abschiede zu ihr gesprochen, wurden verhängnißvoll für diese Stunde; sie drückte das junge Mädchen wie eine schwere Schuld zu Boden.

Raven’s Auge war nicht von ihrem Antlitz gewichen. Jetzt lösten sich seine Finger langsam von den ihrigen; er ließ ihre Hand fallen und trat zurück.

„Du wußtest es also,“ sagte er. „Und mit diesem Bewußtsein hast Du neben mir gestanden und ruhig zugesehen, wie ich mit einer unsinnigen Leidenschaft rang, wie ich ihr schließlich unterlag. Du ließest mich an eine Erwiderung meiner Gefühle glauben und stacheltest mich damit bis zum Wahnsinn, während Du heimlich die Tage und Stunden zähltest, bis zu dem Zeitpunkte, wo ein Deiner Meinung nach tödtlicher Schlag mich treffen mußte. Mit dieser Gewißheit lagst Du gestern in meinen Armen und hörtest mein Geständniß. Beim Himmel, das ist zu viel – zu viel.“

Seine Stimme klang noch dumpf und verhalten, aber es verrieth sich schon der nahende Ausbruch darin. Gabriele fühlte es, wie machtlos sie diese Anklage gegenüberstand; dennoch machte sie einen Versuch, sich dagegen zu erheben.

„Höre mich, Arno! Du bist im Irrthum; ich habe Dich nicht getäuscht, nicht verrathen. Wenn ich etwas wußte –“

„Schweig’!“ unterbrach er sie mit furchtbar ausbrechender Heftigkeit. „Ich will nichts hören; ich weiß genug. Dein Verstummen vorhin sprach deutlicher als alle Worte. Rechtfertige Dich bei ihm, bei Deinem ‚Georg‘, daß Du es nicht vermochtest, sein Geheimniß bis zum letzten Augenblicke zu bewahren! Vielleicht verzeiht er Dir. Die Warnung wäre ja doch zu spät gekommen. Ihm freilich habe ich Unrecht gethan als ich ihn für einen Alltagsmenschen erklärte. Er versteht es, aus dem gewöhnlichen Geleise zu treten und Dinge zu unternehmen, die vor ihm Niemand gewagt hat und nach ihm so leicht Keiner wagen wird. Vielleicht macht er Carrière damit, der Herr Assessor, den gestern noch Niemand kannte und dessen Name morgen in Aller Munde sein wird, weil er die Kühnheit besaß, mich anzugreifen. Aber er wird sie theuer bezahlen – ich gebe Dir mein Wort darauf. Noch habe ich keinen Kampf und keinen Gegner [373] gescheut, und auch diesem wäre ich unbewegt entgegengetreten, aber daß Du, Du im Einverständnisse warst, daß Du mich verriethest, das hat meinen Feinden den Triumph verschafft, mich auch einmal – fassungslos zu sehen.“

Seine Stimme schwankte bei den letzten Worten. Mitten durch den Zorn und Haß des Mannes, der sich in seiner Ehre, wie in seiner Liebe gleich tödtlich verletzt sah, brach es wie ein heißer Schmerz, und der Ton ließ Gabriele alles Andere vergessen. Sie flog auf den Freiherrn zu, legte beide Hände auf seinen Arm und wollte sprechen, bitten, aber es war umsonst – mit einer wilden Bewegung rang er sich von ihr los und stieß sie zurück.

„Geh’! Ich bin einmal ein Thor gewesen; jetzt ist die Täuschung zu Ende. Zum zweiten Male lasse ich mich nicht wieder umstricken von diesen Augen, die mir gelogen haben mit ihrer Angst und Zärtlichkeit. Sage Deinem Georg, er habe es doch wohl nicht bedacht, was es heiße, mich zum Kampfe herauszufordern, er werde es kennen lernen. – Du und ich, wir sind zu Ende miteinander, für immer.“

Er ging. Die Thür fiel schmetternd hinter ihm zu. Gabriele blieb allein. Sie blickte auf die Broschüre nieder, die noch auf dem Tische lag, auf den Namen, der dort stand, und sah doch nichts von beiden. In ihrem Innern halten nur die letzten Worte nach. Ja wohl, es war zu Ende, für immer. –

Die Befürchtungen, welche man auch heute für die Ruhe der Stadt hegte, sollten sich nur zu bald erfüllen. Die militärischen Maßregeln wurden absichtlich mit der größten Offenheit getroffen, weil man Einschüchterung davon erwartete, aber sie hatten die entgegengesetzte Wirkung und steigerten nur die allgemeine Erbitterung gegen den Gouverneur. Es gährte freilich schon seit Monaten, aber diese Gährung hatte erst in den letzten Tagen einen wirklich bedrohlichen Charakter angenommen. Bis dahin hatte es freilich an feindseligen Kundgebungen nicht gefehlt, war aber noch nicht zur offenen Auflehnung gekommen. Man war in R. zu lange gewohnt gewesen, sich dem Willen des Gouverneurs zu beugen, als daß man sich so schnell von dieser Gewohnheit hätte losmachen können. Man kannte den Freiherrn und wußte, daß von ihm keine Schwäche und Nachgiebigkeit zu erwarten war; deshalb blieb es wochenlang bei dem Grollen und Murren. Die Autorität eines energischen, unbeugsamen Charakters bewährte sich auch hier. Raven hatte bisher noch immer den drohenden Sturm beherrscht; noch gestern war der Macht seiner Persönlichkeit die Menge gewichen, freilich in einer Weise, die auch ihm zeigte, daß es mit dieser Macht zu Ende ging.

Jetzt aber schien die Sache an einem Wendepunkte angelangt zu sein. Die Verhaftungen, die vor einigen Tagen auf Befehl des Freiherrn vorgenommen wurden und bei denen man mit vollster Härte und Rücksichtslosigleit zu Werke ging, fachten das schon längst glimmende Feuer zu heller Flamme an. Der gestrige Tumult hatte dem Versuch gegolten, die Freilassung der Verhafteten zu erzwingen, und als der Versuch scheiterte und der Gouverneur auch jetzt noch allen Vorstellungen und allem Drängen ein unbeugsames Nein entgegensetzte, brach die nur für den Augenblick beschwichtigte Aufregung mit verdoppelter Macht los.

Der Abend war herangekommen. Im Regierungsgebäude herrschte überall Unruhe und Aufregung. Die sämmtlichen Eingänge bis aus das Hauptportal waren verschlossen und bewacht; die Dienerschaft drängte sich in ängstlicher Erwartung auf den Treppen und Corridoren, und draußen vor den Fenstern blitzten die Bajonnette der Soldaten. Eine starke Militärabtheilung hielt den Schloßberg besetzt; sie war gerade zu rechter Zeit gekommen, um zu verhindern, daß man das Schloß selbst bedrohte. Das war allerdings abgewendet und die Menge zurückgedrängt worden, aber dafür wogte der Tumult in den nächstgelegenen Straßen um so heftiger, und es stand jeden Augenblick ein Zusammenstoß zu erwarten.

In den Zimmern des Gouverneurs ging es sehr lebhaft zu. Dort jagte eine Meldung die andere: Polizeibeamte und militärische Ordonnanzen kamen und gingen. Hofrath Moser war an die Seite seines Chefs geeilt, den er nun einmal bei jeder Gefahr als den Hort der Sicherheit betrachtete; auch Lieutenant Wilten, der einen Theil der Besatzung des Schlosses commandirte, befand sich bei dem Freiherrn und vor wenigen Minuten war auch der Bürgermeister angelangt, der sich nun doch zu diesem letzten Versuche entschloß, den er heute Morgen unterlassen hatte.

Raven selbst stand kalt und unbewegt inmitten all dieses Drängens und Treibens. Er hörte die Meldungen an und gab die Befehle, ohne auch nur einen Augenblick seine Ruhe zu verleugnen, aber die Umgebung hatte sein Antlitz noch nie so hart und eisern gesehen, wie an diesem Abende. Vielleicht hatten die Stürme der letzten vierundzwanzig Stunden die Härte verschuldet, die jetzt in seinen Zügen eingegraben stand, aber was er seit gestern Abend auch durchgekämpft hatte, fremden Augen gegenüber war und blieb er der stolze, unerschütterliche Freiherr von Raven, an dem Alles abglitt, was Andere fast zusammenbrechen ließ.

„Ich bitte und fordere zum letzten Male, daß Sie es nicht zum Aeußersten kommen lassen,“ sagte der Bürgermeister. „Noch ist es Zeit; noch ist es nicht zum Blutvergießen gekommen; in der nächsten Viertelstunde möchte es zu spät sein. Es heißt, Sie hätten Befehl zum schonungslosen Vorgehen gegeben. – Ich kann und will das nicht glauben –“

„Sollte ich vielleicht das Schloß einem Angriffe preisgeben?“ unterbrach ihn der Freiherr. „Sollte ich abwarten, bis man den Eingang stürmte und mich hier in meinen Zimmern beleidigte? Ich glaube hinreichend gezeigt zu haben, daß ich es nicht liebe, mich und meine Person mit Sicherheitsmaßregeln zu umgeben, aber ich habe noch für Andere einzustehen und vor allen Dingen das Regierungsgebäude zu sichern. Das ist einfach meine Pflicht, der ich nachkommen werde.“

„Es handelt sich um eine Demonstration, nicht um einen Angriff,“ erklärte der Bürgermeister. „Doch gleichviel – das Schloß mußte unter allen Umständen gesichert und die Menge zurückgedrängt werden. Das ist aber jetzt geschehen, der ganze Schloßberg ist besetzt, und damit kann es genug sein. Der Tumult da unten ist unschädlich und wird sich zerstreuen, wenn man ihm seinen Lauf läßt.“

„Oberst Wilten wird die Straßen räumen lassen,“ sagte Raven kalt. „Und wenn man ihm Widerstand dabei entgegensetzt, so wird er von den Waffen Gebrauch machen.“

„Das giebt ein unberechenbares Unglück. Das Militär hält die Zugänge der Schloßstraße besetzt. Die Menge ist von beiden Seiten eingekeilt und hat nicht einmal Raum zur Flucht. Lassen Sie das nicht geschehen, Excellenz! Es handelt sich um das Leben von Hunderten.“

„Es handelt sich um die Ruhe und Sicherheit der Stadt, die nicht länger durch eine Pöbelrotte bedroht werden darf –“ die Stimme des Freiherrn hatte den Klang eiserner Entschlossenheit. „Ich habe lange genug mit dieser Maßregel gezögert, nun sie aber einmal beschlossen ist, wird sie auch ihren Lauf nehmen. Werden die Straßen ohne Widerstand geräumt, so ist kein Grund zur Besorgniß vorhanden im anderen Falle – die Folgen auf das Haupt der Empörer!“

In diesem Augenblicke öffnete sich die Thür, und der Polizeidirector trat ein. Raven ging ihm entgegen. „Nun, wie steht es?“

„Ich habe meine Leute von den Hauptpunkten zurückgezogen,“ versetzte der Gefragte. „Wir können nichts mehr thun; der Tumult wächst mit jeder Minute; es scheint, man macht sich zum Widerstande bereit. – Ich lasse soeben einige Verwundete in das Schloß bringen, es ist nicht möglich, sie jetzt nach der Stadt zu transportiren, sie müssen vorläufig hier Aufnahme finden.“

„Hat es bereits Verwundete gegeben?“ fiel der Bürgermeister ein. „Vor zehn Minuten, als ich den Schloßberg passirte, war es noch zu keinem Zusammenstoß gekommen.“

„Es war vorhin, kurz vor dem Anrücken des Militärs, als wir noch allein den Anprall der ganzen Menge auszuhalten hatten,“ entgegnete der Polizeidirector. „Zwei meiner Leute sind dabei ziemlich arg verletzt worden. Leider auch noch ein Dritter, gänzlich Unbetheiligter, ein Arzt, der uns zu Hülfe eilte und die Verwundeten verband. Er war gerade auf dem Rückwege begriffen, als einer der zahlreichen Steinwürfe ihn traf und er leblos niederstürzte. Es ist der Doctor Brunnow, von dem wir heute Morgen sprachen,“ fügte der Redende halblaut zu dem Hofrath Moser gewendet hinzu.

„Wer?“ fragte Raven, der den Namen gehört hatte, mit Lebhaftigkeit.

[374] „Ein junger Arzt, der sich seit einigen Wochen hier aufhält. Max Brunnow ist sein Name. Sein Vater lebt in der Schweiz, wohin er wegen Betheiligung an der Revolution flüchten mußte.“

Der Polizeidirector warf diese Worte ruhig und scheinbar absichtslos hin, aber sein Auge ruhte dabei forschend auf den Zügen des Freiherrn; er allein sah das fast unmerkliche Erbleichen darin und hörte die Erregung in der Frage: „Ist der junge Mann schwer verwundet?“

„Ich fürchte es, vielleicht sogar tödtlich. Er liegt besinnungslos da, der Steinwurf hat ihn gerade am Kopfe getroffen.“

„Es wird Alles zur Pflege der Verwundeten geschehen. Ich werde selbst –“ der Freiherr that einen Schritt nach der Thür hin, besann sich aber und blieb stehen. Der befremdete Blick des Bürgermeisters und der scharf beobachtende des Polizeidirectors mochten ihn wohl daran erinnern, daß diese Theilnahme in zu grellem Gegensatze zu der Gleichgültigkeit stand, die er soeben erst gegen fremdes Leben gezeigt. „Ich werde selbst dem Haushofmeister die nöthigen Weisungen geben,“ fügte er langsamer hinzu und legte die Hand an die Klingel.

„Der Haushofmeister trifft bereits mit großer Umsicht alle Anstalten,“ erklärte der Polizeichef. „Es ist nicht nöthig, daß Sie sich selbst bemühen, Excellenz.“

Der Freiherr schwieg und trat an das Fenster. War es eine Warnung, die ihm gerade in diesem Augenblicke den Namen des Jugendfreundes in das Gedächtniß rief, eine Erinnerung daran, daß Arno Raven auch einst zu jenen „Empörern“ gehörte, die der Gouverneur Freiherr von Raven niederschießen lassen wollte – es war eine lange verhängnißvolle Pause, welche die nächsten Minuten ausfüllte.

„Ich kehre nach der Stadt zurück,“ brach der Bürgermeister endlich das Schweigen. „Soll ich wirklich jene Worte als letzten Entschluß Euer Excellenz mit mir nehmen?“

Der Freiherr wandte sich um. Es lag etwas wie innerer Kampf in seinen Zügen, als er erwiderte: „Oberst Wilten hat das Commando in der Stadt. Ich kann in seine Maßregeln nicht eingreifen; die militärischen Dispositionen sind seine Sache.“

„Der Oberst handelt auf Ihre Weisung. Ein Wort von Ihnen, und er enthält sich wenigstens des directen Eingreifens. Sprechen Sie dieses Wort aus! Wir warten Alle darauf.“

Wieder vergingen einige Secunden. Die Stirn des Gouverneurs zog sich in finstere Falten; plötzlich richtete er sich empor und rief den jungen Officier an seine Seite.

„Herr Lieutenant Wilten, können Sie Ihren Posten hier im Schlosse auf eine Viertelstunde verlassen? Ich möchte Sie ersuchen, Ihrem Vater selbst –“

Er hielt inne und horchte auf. Von der Stadt her klang es herüber, entfernt zwar, aber mit furchtbarer Deutlichkeit, ein nicht mißzuverstehender Laut – das Knattern von Gewehren.

„Mein Gott – das sind Schüsse,“ rief Hofrath Moser aufschreckend, während der Bürgermeister und der Polizeidirector zum Fenster eilten. Die Dunkelheit erlaubte freilich nicht, irgend etwas zu sehen, aber dessen bedurfte es auch nicht mehr. Es krachte zum zweiten, zum dritten Male – dann war alles still.

„Die Botschaft würde nichts mehr nützen,“ sagte der junge Officier leise zu dem Freiherrn. „Man schießt bereits.“

Raven erwiderte keine Silbe; er stand unbeweglich da, die Hand auf den Tisch gestützt, das Auge nach dem Fenster gerichtet; erst als die anderen Beiden von dort zurückkehrten, wandte er sich zum Bürgermeister:

„Sie sehen, es ist zu spät. Ich kann nicht mehr eingreifen, selbst wenn ich wollte.“

„Ich sehe es,“ sagte der Angeredete mit schneidender Bitterkeit. „Sie haben jetzt das Blut zwischen sich und uns gestellt, und da ist jedes fernere Wort überflüssig. Ich habe nichts mehr zu sagen.“

(Fortsetzung folgt.)




Aus Robert Blum’s Leben.
5. Erste Schritte in die Oeffentlichtkeit.

In tiefster Kümmerniß verlebte Robert Blum jene schwülen Julitage des Jahres 1830, welche für die geistige Bewegung von ganz Europa im Laufe der folgenden achtzehn Jahre tonangebend werden sollten. Während der Thron der Bourbonen zusammenstürzte und das Triumphlied des siegreichen Bürgerthums in allen Landen ein frohes Echo weckte, weil hier zum ersten Male seit fünfzehn Jahren die geistlose Metternich’sche Politik des absoluten Stillstandes, die den Continent beherrschte, eine furchtbare Niederlage erlitt, sahen wir Robert Blum mit seinem harten Brodherrn um die körperlichsten Bedürfnisse des Lebens kämpfen; die Jubelwochen des Bürgerkönigthums fanden Robert auf einer mühsamen Fußreise von Berlin nach Köln begriffen, hier brodlos. Aus purer Barmherzigkeit warf J. W. Schmitz dem jungen Manne, dem er in seinem Dienstzeugnisse nachrühmte, daß er „fleißig und willig zu jeder Arbeit sei, und daß seine erprobte Treue, Gehorsam, bescheidenes und gesittetes Betragen das ausgezeichnetste Lob und Empfehlung verdienen“, vier Thaler zu. Das war aber auch Alles, was Robert vom 22. August bis 1. October 1830 einnahm. Und an diesem Tage trat er mit einem Monatsgehalt von acht Thalern (vom December ab von zehn Thalern) und fünf Thalern Neujahrsgeschenk in die Dienste des Schauspieldirectors Ringelhardt als Theaterdiener.

Man sollte kaum für möglich halten, daß ein Mann in solcher Lage, so schwer gefesselt an die niedersten Erdensorgen, so tief gestellt in der menschlichen Gesellschaft, den sittlichen Muth und die kühne Schwungkraft besessen hätte, in den wenigen Stunden seiner Muße rein geistig, ja dichterisch zu schaffen, und allen Wandlungen der großen Zeitgeschichte mit gespanntestem Interesse zu folgen. Und doch hat Robert Blum dies gethan. Um die Charakterstärke völlig zu würdigen, die dazu gehörte, einen so tiefen Gegensatz zwischen der Wirklichkeit und der Welt des Dichters zu überwinden, muß man die traurige Wirklichkeit, in der Robert Blum damals lebte, die Niedrigkeit und Widerwärtigkeit der Dienste, aus denen er seinen Lebensunterhalt gewann, etwas näher in’s Auge fassen. Mit jenem unverwüstlichen Humor, der dem Manne in allen Lagen des Lebens treu geblieben ist, hat er selbst später seine damaligen Leistungen für die Kölner Schaubühne also geschildert: er mußte als Theaterdiener alle Bestellungen des Directors und der Schauspieler besorgen - sie enthielten nicht immer Liebenswürdigkeiten - Rollen, Geld austragen, Vorstellungen und Proben ansagen und dabei alle Anmaßungen und Plackereien der „Künstler“ ruhig und lammfromm hinnehmen. Er mußte, „dem überstolzen Schauspieler die Grobheiten des Directors“ - möglicherweise, schalten wir ein, auch der Frau Directorin, denn Madame Ringelhardt war eine sehr energische und geschäftseifrige Dame - „dem zweiten Liebhaber die Ungezogenheiten des dritten Bösewichts hinterbringen, bald der Primadonna den Hund bewachen, bald einer anderen Dame einen anderen Dienst besorgen.“ Zudem behandelte und benutzte ihn Ringelhardt, zwar ohne jede herrische und verletzende Form, doch nur als Theaterdiener, das heißt als einen der untersten Angestellten seiner Bühne.

Dem stolzen Gefühl, Berather und Mitarbeiter des Chefs zu sein, das Blum in den letzten Jahren seiner Stellung bei Schmitz hegen durfte, war hier schlechthin zu entsagen. Der üble Geschäftsgang in Köln hat zudem den Director jedenfalls nicht mit der rosigsten Laune erfüllt. Gleichwohl hat Blum auch diesem Brodherrn mit größter Treue und Dankbarkeit gelohnt. Ohne ein Wort vorher zu verrathen, schrieb Blum anonym gegen Ende des Jahres 1830 in einem der gelesensten Kölner Blätter mehrere Zeitungsartikel unter der Ueberschrift „Ein Wort zu seiner Zeit“, in welchen er den schweren Druck, der aus dem Theaterunternehmen durch die enorme Armenabgabe von einem Zehntel jeder Brutto-Einnahme, die fast unerschwingliche Miethe von zwanzig Thalern pro Abend, die vielen Freibillets etc. lastete, mit warmen Worten und größter Sachkenntniß darlegte. Als Ringelhardt erfuhr, aus welcher Feder diese tapfere Vertheidigung seiner Interessen geflossen war, hat er seinem Theaterdiener alles Liebe und Gute gethan, was er konnte, vor Allem ihm die Theaterbibliothek zu

[375]

Fromme Spende.
Originalzeichnung von A. Franck.

Ein Glöcklein schallt tief drunt’ im Thal;
     Der Abend bricht herein.
Ich und der Herrgott an dem Pfahl,
     Wir zwei sind ganz allein.

Ich steck’ sein Kreuz mit Blumen aus –
     Sonst opfert Keiner hier;
Du Herrgott auf der Alm herauß’,
     Behüt’ mein’ Schatz dafür!

Tief drunt’ im Thal da braust der Inn,
     Und ich bin auf der Höh’.
Was macht, daß ich so traurig bin?
     Weil’ ich mein Schatz nicht seh.

Nach dem Volksmunde.

[376] freiester Benutzung angeboten und ihn für außergewöhnliche Arbeiten besonders durch Geld entschädigt, auch später bei seiner Uebersiedelung nach Leipzig dafür gesorgt, daß Robert ihm dahin nachfolgte.

In dieser Stellung und Lage fand nun Robert Blum die Freude und den Muth zu dem eifrigsten poetischen Schaffen.

Schon in Berlin, vom Jahre 1829 an, hatte er sich schriftstellerisch versucht. Sein erstes Werk war freilich der reinsten Geschäftsprosa gewidmet, der Straßenbeleuchtung.[1] Aber hauptsächlich war seine schriftstellerische Thätigkeit doch auf „poetische Versuche“ gerichtet. Die Gedichte, die er unter diesem Titel selbst zusammengestellt, umfassen im Manuscript 308 Quartseiten und vertheilen sich auf die Jahre 1829 bis mit 1834. Einige derselben sind schon 1829 und 1830 in der von Saphir herausgegebenen „Schnellpost“ erschienen, andere 1831 folgende in Kölnischen Zeitungen, das Meiste erst später in der „Abendzeitung“, der „Eleganten Welt“ von G. Kühne, in „Unser Planet“ und anderen belletristischen Blättern.

Das einzige unübersteigliche Hinderniß der Herausgabe dieser Gedichte war jene fluchwürdige Einrichtung, welche in Deutschland damals noch auf fast jeglichem literarischem Schaffen, mindestens aber auf der Presse lastete: die Censur. Denn der bei weitem größte Theil dieser Gedichte ist politischen Inhalts. Und so maßvoll uns Deutschen von heute die Freiheitsbegeisterung, so natürlich uns die Vaterlandsliebe des dreiundzwanzigjährigen Dichters erscheinen muß, so war doch der Censor, der über diese Blüthen der Dichtkunst sein maßgebendes Urtheil abzugeben hatte, ganz anderer Meinung. Er strich Blum’s politisch-poetische Offenbarungen unbarmherzig zusammen und gerieth über die Unermüdlichkeit, mit welcher der junge Dichter immer neue Kinder seiner patriotischen Muse überreichte, schließlich in solche Wuth, daß er Allem, was nur Blum’s verhaßte Handschrift trug, schlechthin die Druckerlaubniß versagte. Um sich volle Gewißheit über das parteiische Vorurtheil und die leidenschaftliche Pflichtwidrigkeit dieses Wächters des Staatswohls zu verschaffen, beging Blum die Bosheit, ihm, von seiner Hand geschrieben, unter einem recht verdächtigen Titel einige Gesangbuchsverse zur Censur zuzuschicken – und richtig, der Censor strich auch diese Verse als staatsgefährlich und wiederholte dasselbe noch zweimal, als Blum ihm die nämlichen Verse, die in jeder Kirche zur Erbauung der Gemeinde gesungen wurden, noch zweimal unter anderer Ueberschrift zusendete. Von solchen Menschen hing damals die Entscheidung darüber ab, was das deutsche Volk gedruckt sollte lesen dürfen.

Von den politischen Ereignissen der damaligen Zeit stehen dem Dichter die französische Revolution, dann die große Erhebung Polens und natürlich die Verhältnisse des eigenen Vaterlandes im Vordergrunde des Interesses. Doch verfolgt er auch ferner liegende Dinge mit größter Aufmerksamkeit. Eine der schwungvollsten Dichtungen der Sammlung ist z. B. die ergreifende Klage um den Tod Bolivar’s, des Befreiers Südamerikas vom spanischen Joche († 10. December 1830):

Bolivar ist nicht mehr! klagte der Glockenton,
Bolivar ist nicht mehr! brauste der Ocean,
Und von den Andes rückhallte die Klage
     Ueber den Erdball.

Sinkt denn der Gott dahin, fragt’ ich erschüttert mich,
So wie der Wurm des Staub’s? Ist Er, der seinem Volk
Mehr gab als Leben: die heilige Freiheit!
     Sclave des Todes?

So übertrieben, wie alle liberalen Zeitgenossen, pries auch Blum die Helden der Pariser Julitage. Vom gesündesten politischen Urtheil zeugt dagegen das Scherzgedicht über Griechenland, das er unter dem Titel „Literarische Anzeige“ schrieb, und von dem so Vieles noch heute auf den Staat der Hellenen paßt:

„Im Jahre ein Tausend acht Hundert und dreißig
Erschien, nachdem man erst lange und fleißig
Zu London daran war, mit Drucken und Pressen –
– Auch hat man es nicht zu beschneiden vergessen –
Ein Werkchen, betitelt: Neugriechischer Staat,
In einem sehr niedlichen Taschenformat.
Dasselbe ist ganz nach der neuesten Mode,
So zierlich als möglich, und kurz, die Methode,
Nach der man zu Werk ging, ist eigener Art,
Und überall Ordnung mit Schönheit gepaart.
Zwar wagte der Neid schon von manchen Gebrechen
Und Fehlern, die drinnen sein sollen, zu sprechen;
Doch können dies höchstens nur Druckfehler sein,
Und diese sind dann um so mehr zu verzeih’n,
Da mehrere Setzer am Werkchen gezimmert.
Und Niemand um die Correctur sich gekümmert.
Man suchet nun Jemanden, der den Verlag
Des Werkchens gleich zu übernehmen vermag.“

Ganz überraschend klar und kräftig tritt aber bei Blum der deutsch-nationale Gedanke hervor. In einer Zeit, in der fast Alle, gelegentlich auch er selbst, berauscht waren von einem unbestimmten Freiheitsdrang und kosmopolitischer Schwärmerei und die Erkenntniß, daß erst auf dem Boden eines festen, einigen, deutschen Staatslebens alle höheren Güter der Nation, vor allem die Freiheit, errungen werden könnten, höchst vereinzelt, von Männern wie Pfizer und Dahlmann ausgesprochen wurde, während Männer wie Börne und Heine nur Hohn und Spott für ihr Vaterland hatten, in dieser Zeit erscheint ein Gedicht wie dasjenige, das Blum 1831 „an Germania“ schrieb, als ein hervorragendes Zeugniß politischer Einsicht und nationaler Klarheit. Es heißt darin unter Anderem:

„Völker siehst Du auferstehen,
In des Freiheitsodems Wehen,
In der Zeiten hehrem Lauf;
Erntend längst gestreute Saaten,
Treten sie im Feld der Thaten
Kühn als Nationen auf.

Ach, der Hebel aller Staaten,
Die Erzeug’rin großer Thaten,
Aller Völker Kraft und Macht,
Die allein nur Muth und Stärke
Geben kann zum großen Werke: –
Einheit – ist Dir ja versagt!

In die einzeln schwachen Glieder
Gießt sie Kraft und Fülle wieder;
Einheit ist der Staaten Mark.
Kein Erob’rer stellt verwegen
Dann sich lüstern uns entgegen;
Werdet eins, dann sind wir stark.

Deutsche, nützt die hehren Stunden!
Wenn sie einmal hingeschwunden,
Sind sie ewig uns vorbei;
Laßt das große Völkerringen
Etwas wenigstens uns bringen:
Werdet eins! dann sind wir – frei!“

Ueberhaupt ist der gesunde Realismus, der bei aller Begeisterung des jungen Herzens aus diesen Gedichten spricht, doppelt wohlthuend in einer Zeit, die sich anschickte, mit Heine einem krankhaften sentimentalen Weltschmerz sich zu ergeben. Nirgends fingirt Blum Liebesleiden, die er nicht kannte, nirgends zeigt er sich mit der Welt zerfallen, lebensmüde, obwohl er hierzu mehr Grund haben mochte, als mancher Andere. Dagegen dringt wiederholt die bittere Klage über das harte Geschick, das ihm gerade die Erreichung der höchsten Lebensziele so unendlich schwer machte, mit der vollen Kraft eines gewaltigen Naturlautes aus seiner gepreßten Brust. Aber immer richtet ihn auf der felsenfeste Glaube an den Sieg der idealen Mächte, denen er sein Streben geweiht, und damit auch an die eigene Sendung, die er zu erfüllen bestimmt ist.

Besonders betont in seiner Weltanschauung – er huldigt überall dem rationalistischen Glauben, den er z. B. in seinem „Glaubensbekenntniß“ ausspricht – erscheint die Ueberzeugung von der Unsterblichkeit der Seele, die sich in diesen Gedichten wiederholt ebenso deutlich ausspricht, wie – in dem letzten Briefe an seine Gattin, den er Angesichts des Todes schrieb. In einem seiner frühesten Gedichte „An die Zeit“ (1829) heißt es am Schlusse:

„Du veränderst und wechselst nur jede Gestalt,
Die im Staub sich erzeugte vom Staube;
Doch dem Geiste droht nie der Zerstörung Gewalt,
Er wird nie der Verwesung zum Raube.
Zerstöre Du nur ohne Ende und Ruh’ –
Ein Theil meines Wesens ist ewig, wie Du.“

[377] In der That bedurfte es eines so festen Glaubens an das Walten der sittlichen Mächte und solcher Bedürfnißlosigkeit, wie Robert Blum sie gewöhnt war, um auch in jenen bösen Tagen den Kopf oben zu behalten, als Ringelhardt Anfang Juni 1831 gezwungen war, plötzlich „aus Geschäftsrücksichten“, das heißt mit Rücksicht auf die Geschäftslosigkeit, die Bretter, die die Welt bedeuten, in Köln abzubrechen und Robert Blum zu entlassen. In dieser traurigen Lage griff dieser nach dem ersten Erwerb, der sich ihm bot – er wurde Schreiber beim Gerichtsvollzieher Kümpeler und bezog in dieser Stellung einen Monatsgehalt von – sechs Thalern! Davon war Alles zu bestreiten. Glücklicher Weise dauerte diese harte Prüfung nur bis zum 15. September. Da engagirte ihn Ringelhardt von Neuem für den frühern Gehalt.

Eine erhebliche Förderung verdankte Robert Blum diesem Dienstverhältnisse durch die bereits erwähnte freie Verfügung über die Theaterbibliothek des Directors. Bereits im Winter 1830 auf 1831 wurde der größte Theil der hier vorräthigen dramatischen Werke geradezu verschlungen, später mit Muße das Beste – vor Allem wurden Schiller, Goethe, Lessing, Shakespeare und was an antiken Dramen da war, wieder und wieder gelesen, halb auswendig gelernt. Mit Schiller vor Allen gewann Blum die größte Vertrautheit. Aber auch Goethe lernte er mehr und mehr schätzen. Als der deutsche Dichterfürst starb, schrieb Blum ein tiefempfundenes „Sonett auf Goethe’s Tod“ in seine Gedichtsammlung. Daneben regten die dramatischen Novitäten des Tages den kritischen Theaterdiener an, sein Urtheil über dieselben in kurzen scharfen Distichen auszusprechen. Viele dieser Urtheile über Stücke, die heute noch auf dem Repertoire stehen, sind noch jetzt recht interessant. Ueberhaupt nehmen auch Humor und Satire in Blum’s Dichtungen einen ansehnlichen Rang ein. Wir werden später einige Proben davon kennen lernen.

Für jetzt aber drängte die Begeisterung zu dramatischem Schaffen, die er dem eingehenden Studium der Ringelhardt’schen Theaterbibliothek dankte, jede andere Dichtung zurück; glaubte er sich doch zum Theaterdichter ganz besonders vorbereitet durch die tiefen Blicke, die er als Theaterdiener hinter die Coulissen, in die Mache der Bühnentechnik gethan zu haben meinte. Pilzartig schossen die Lust-, Schau- und Trauerspiele unter seiner Feder in’s Kraut. Die wenigen „Literaten“, die ihn ihrer Freundschaft würdigten, Dr. Rave, Köhler, der Schauspieler Porth, der mit ihm viele Jahre später noch von Dresden aus treu correspondirte, natürlich auch Ringelhardt selbst, wurden von ihm unablässig mit der unheilverkündenden Bitte heimgesucht, wieder ein neues Drama von ihm zu lesen. Diejenigen, welche diese Freundschaftsprobe bestanden, sind ihm für’s Leben treu geblieben. Sie haben ihm auch als gute Freunde offen und stets von Neuem erklärt, daß seine Dramen nichts taugten. Er soll eine ungemessene Zahl seiner dramatischen Schöpfungen in’s Feuer geworfen haben, nachdem ihnen so das Todesurtheil gesprochen worden. Wären doch alle unberufenen dramatischen Dichter so reich an Selbsterkenntniß!

Von allen seinen Bühnen-Schöpfungen ist nur eine einzige gedruckt worden, aber auch diese ist Buchdrama geblieben und niemals aufgeführt worden – „Die Befreiung von Candia“ (Leipzig, C. H. F. Hartmann, 1836). Das Stück behandelt eine Episode des griechischen Befreiungskampfes der zwanziger Jahre (1822) und ist geschrieben in der pathetischen Rhetorik der großen französischen Revolution und voll von beziehungsreichen Anspielungen auf das damalige Deutschland; im Munde freiheitsdürstender Neugriechen konnte diese der Censor nicht gut streichen.

Um dieses stille Schaffen im Zusammenhang darzustellen, sind wir dem Gange der Lebensschicksale Blum’s um Jahre vorangeeilt. Denn die letzten dieser Dichtungen sind schon auf Leipziger Boden erwachsen.

Nach Leipzig war Ringelhardt mit dem Ende der Kölner Wintersaison von 1831 auf 1832 gezogen und hatte hier das Stadttheater übernommen. Blum sollte Mitte Juli als Theaterdiener folgen. Da wurden dem jungen Manne gleichzeitig zwei lohnendere Stellen angeboten: die eine in der Redaction einer Kölnischen Zeitung, die andere als Theater-Secretär bei einer wandernden Truppe der Rheinprovinz. Beide Angebote meldete er Ringelhardt nach Leipzig, und dieser antwortete am 24. Mai von Ostrau: „In Bezug einer Anstellung für Sie in Leipzig kann ich Ihnen vorläufig Folgendes berichten: ... ich will Ihnen einen monatlichen Gehalt von fünfzehn Thaler zahlen, mit der Zusicherung, daß, wenn Sie sich in die Geschäfte eingearbeitet haben, ich die 200 Thaler“ (pro Jahr) „voll machen will. Sie arbeiten dafür alle Schreibereien im Bureau, die ich Ihnen übertrage, sei es das Schreiben von Briefen, seien es Copialien oder Rechnungen oder das Ausschreiben von Rollen (!). Sie übernehmen ferner (!) die Geschäfte bei der Casse und Controlle, die Ihnen übertragen werden, sowie andere Arbeiten des Theaters, die in das Fach einschlagen.“ Blum sagte zu. Darauf lief, nach einer längeren Abwesenheit Ringelhardt’s in Wien, von diesem ein zweiter Brief vom 25. Juni ein, in dem es hieß: „Ihr Engagement können Sie am 15. July hier antreten, weil ich mit Ihnen alle Casseneinrichtungen vorbereiten will und die Billets einrichten, sowie Bibliothek und Musikalien, die ich unter Ihre Aufsicht stelle. Demnach werden Sie Theatersecretär, Bibliothekar und Cassenassistent (!), das ist die Stellung, die ich Ihnen gebe. ... Sagen Sie dem Friseur Deveney, den ich bestens grüße, er solle Ihnen das Recept von dem Spiritus zur Stärkung der Haare geben, und bringen Sie mir es mit!“ Die weiteren Anordnungen des Briefes, welcher unter Anderem versicherte: „Sie können mit Vertrauen zu mir kommen, auch finden Sie hier ein anderes Treiben und Leben als in Köln“, waren der mit Rücksicht auf die Cholera zu wählenden Reiseroute gewidmet, damit Blum unterwegs nicht etwa „Contumaz“ halten müsse.

Ob das heißbegehrte Recept zur Stärkung der Haare mitgenommen worden ist, weiß ich nicht. Jedenfalls konnte Blum erst am 20. Juli nach Leipzig reisen.

Er eilte der Stadt entgegen, die ihm mehr als die eigene Vaterstadt zur Heimath werden sollte, zur Stätte seines Glückes, seines vielseitigsten Wirkens, zur Wiege seines Ruhmes, der weit über die Grenzen seines Vaterlandes und seiner Zeit hinausdringen sollte.

Leipzig war, als Robert Blum hierher übersiedelte, eine Stadt von wenig über vierzigtausend Einwohner, die sich hauptsächlich in der inneren Stadt zusammendrängten. Die politische Entwickelung dieser Bevölkerung lag noch sehr in den Windeln. Die große Leipziger Revolution vom 2. September 1830 war in der Hauptsache das Werk von Schneidern und Studiosen gewesen und hatte die Kraft ihrer Sturmeswogen nur an einigen Fenstern und Mobilien offenbart. Selbst die Kaufmannschaft, das hervorragendste Element der Bürgerschaft, widerstrebte unklar und pessimistisch der wirthschaftlichen Hauptaufgabe der Zeit: dem Anschluß Sachsens an den Zollverein. Von ihr ging der Angstruf aus, der sich zum Glaubenssatze des Leipzigers jener Tage ausgebildet hatte: daß Leipzigs Blüthe dahin sei, und daß mit dem Anschluß an den Zollverein der ganze Leipziger Handel einpacken müsse. Doch war die neue Verfassung des Landes, welche noch kein Jahr alt war, als die Weissagung einer neuen besseren Zeit auch in Leipzig begrüßt worden.

Und übrigens: wie eigenartig, vielseitig und vielversprechend für die Zukunft pulsirte das geistige Leben in dieser deutschen Mittelstadt! Wohl kaum ein Schriftsteller der damaligen Zeit hatte nicht Verlagsbeziehungen zu Leipzig; fast Jeder von ihnen ist irgend einmal vorübergehend oder für längere Zeit nach Leipzig geführt worden. Nicht die unbedeutendsten hatten in Leipzig dauernd ihre Heimath gewählt. Sie Alle lernte Blum allmählich kennen. Weithin glänzte schon damals der klare Stern der Leipziger Hochschule. Mit dem Verfassungsbruche in Hannover ward auch der bedeutende Germanist Albrecht der Universität dauernd gewonnen. In der Musik braucht man nur an Namen wie Mendelssohn, Robert Schumann, Rietz zu erinnern. Das Theater, von jeher ein Liebling des Leipziger Publicums in Freud und Leid, in Fried und Streit, hatte von 1817 bis 1828 unter Küstner’s Leitung gestanden; 1829 sollte es unter königlicher Aegide neu organisirt werden. Unter Ringelhardt (1832) und noch mehr unter Schmidt wurde es zu einer Pflanzstätte der reinsten künstlerischen Bestrebungen und der edelsten Darstellungskunst. Kaum ein berühmter Schauspieler, der hier nicht längere Zeit wirkte! In rascher und freudiger Sinnesänderung hat endlich auch die rege, gesunde Stadt von den Freiheiten, welche Verfassung, Städteordnung, Zollverein boten, kräftig Besitz ergriffen. Am Ausgange der dreißiger Jahre schon regt sich Handel und Industrie der Stadt nicht minder hoffnungsvoll wie politischer und communaler Freisinn. [378] Die stillen Freundschaftsgemeinden, die hier zahlreicher und intensiver wirken, als anderswo, thaten das Beste zu dieser Wandlung.

Eine kurze Zeit stand Robert Blum in diesem regen Treiben nur beobachtend und empfangend. Höchst interessante Berichte, die er über die Leipziger Messe jener Tage schrieb und im „Kölner Corresp. und Staatsboten“ veröffentlichte, stammen aus dieser Zeit der Beobachtung. Er erklärte darin unter Anderem den Gedanken einer Eisenbahn zwischen Leipzig und Dresden für unausführbar. Woher sollten Leute genug kommen, um zwei oder drei Mal am Tage einen Bahnzug zu füllen, wo bisher ein einziger Postwagen kaum besetzt gewesen?

Aber sehr rasch verließ er diesen Standpunkt der Beobachtung, um thätig mitzuwirken an dem, was die Stadt bewegte, oder seiner Meinung nach bewegen sollte. Sein eigentlicher Wirkungskreis, das Theater, führte ihn mit allen Kreisen der Gesellschaft in Berührung, zumeist mit Schriftstellern, Musikern, Künstlern, aber auch mit dem Rathe, Redacteuren, Buchhändlern, Gelehrten. – Mit Herloßsohn, Marggraff, Gustav Kühne, Julius Mosen, Burckhardt, Dr. Apel, Sporschil, Georg Günther, Karl Cramer, Lortzing, Hofrath Winkler sehen wir ihn bald in eifrigem persönlichem oder schriftlichem Verkehre. Von der „Herberge der Gerechten“, wo sich die Gesinnungsgenossen versammelten, gehen wichtige Anregungen in die Bürgerschaft hinaus. Blum hielt, als Albrecht und Dahlmann von den „Göttinger Sieben“ bei ihrer Vertreibung aus Göttingen noch Leipzig kamen seine erste öffentliche Rede an die Männer, die lieber in’s Elend gingen, als sich einem eidbrüchigen König unterwarfen. Als er kurze Zeit darauf in einem Theater-Prolog zu des Königs von Sachsen Geburtstag auf den Schutz anspielte, der den Vertriebenen großherzig in Sachsen geboten worden sei, wurde die Stelle gestrichen. Dieser kleine Kreis der Gesinnungsgenossen giebt später 1840 der großen Feier des Buchdruckerfestes in Leipzig eine hervorragend politische Bedeutung. Blum ist Schriftführer des Vorbereitungscomité’s, in welchem die besten Männer des damaligen Leipzig sitzen, aus welchem die Aengstlichen aber alle verschwinden, als das Fest Guttenberg’s durch Blum mehr und mehr den Charakter der Feier des gedruckten freien Wortes annimmt. Ihre Austrittserklärungen sind von erschütternder Komik.

Aus dem kleinen Kreise der Genossen Blum’s ward von ihm und den Freunden ein immer bedeutenderer Einfluß auf die damals erscheinenden belletristischen und politischen Organe geübt. Bald ist Blum einer der thätigsten Mitarbeiter des gelesensten sächsischen Oppositionsblattes, der „Vaterlandsblätter“. In der „Eleganten Welt“, dem „Planeten“ etc. schreibt er begeisterte Artikel über die große französische Revolution unter dem harmlosen Titel literarischer Kritiken. Bald schreitet er dazu, seinen Wirkungskreis zu erweitern. Am Theater ist er zu Ausgang der dreißiger Jahre schon die Seele des Unternehmens geworden. Bei den häufigen Reisen Ringelhardt’s und des Regisseurs Düringer dirigirt Blum den Musentempel mit weiser Oekonomie, großem Geschick und im besten Einvernehmen mit den Künstlern und der Bürgerschaft. Von dieser festen ökonomischen Basis aus konnte er sich getrost mit Dingen von allgemeinem Interesse beschäftigen. Mit dem Jahre 1840 wird auf Blum’s Anregung der Schiller-Verein und der Schriftstellerverein in Leipzig gegründet, die beide in ihrer Art Keime zu regstem öffentlichem Leben geworden sind und die schönsten Früchte getragen haben. In ihnen erringt die gewaltige Rednergabe ihres Begründers zuerst allgemeine Aufmerksamkeit, reichsten Beifall.

Die Leipziger Messen endlich hatten Blum die erste Veranlassung gegeben, mit Gleichgesinnten der Provinz, namentlich dem rührigen Böhler und Mammen aus Plauen, Rewitzer aus Chemnitz und Anderen Fühlung zu nehmen. Er besucht die neuen Freunde zu agitatorischen Zwecken in ihrer Heimath, entzückt auch hier überall durch seine Rednergabe und steht am Ausgange der dreißiger Jahre des Jahrhunderts in regem Verkehre mit den Trägern der Opposition des sächsischen Landtages, mit Todt und Dieskau, in noch regerer Verbindung mit den Jüngeren, den Joseph, Schaffrath, Braun und Anderen, die sich anschickten, für ein thatkräftiges politisches Wirken sich vorzubereiten.

Hans Blum.




Toilette für das Mikroskop.

Es ist nur ein winzig kleines Ding, der Spinnenfuß, das äußerste Ende des langen Spinnenbeines, aber durch das Mikroskop betrachtet, zeigt er nicht nur einen ganz eigenartigen Bau, sondern erhebt sogar einigen Anspruch auf Schönheit, da er unter dem Mikroskop stets in großer Toilette liegt. Aesthetische Rücksichten sind es indeß nicht, welche ihm zu dieser Toilette verhelfen; nur weil sich seine merkwürdigen Einzelheiten sonst nicht klar und deutlich erkennen lassen, deshalb muß jene Reihe von verschiedenen Operationen mit ihm vorgenommen werden, welche mit dem wissenschaftlichen Namen der Präparation bezeichnet wird, im Grunde aber nichts anderes ist als eine umständliche Toilette von so durchgreifender Art, daß die Schönheitspasten und Eselsmilchbäder der vornehmen Damen des römischen Kaiserreichs dagegen gar nicht in Betracht gezogen werden können.

Das Toilettezimmer ist der Arbeitstisch des Mikroskopikers; spitze und breite Nadeln, seine Scheeren, Messer und Pincetten, Porcellanschalen von der Größe einer Eierschale, in denen man über einem Spirituslämpchen kochen kann, Uhrschalen, Glasglocken zum Bedecken der Schälchen, Fläschchen mit verschiedenen Chemikalien gefüllt und Loupen sind die Apparate, welche bei den Operationen zur Anwendung kommen.

Das Object, dessen Präparation wir verfolgen wollen, ist der Fuß der vagabundirenden Smaragdspinne (Agelena smaragdula), welche im Sommer ihr Wesen auf den Blättern von Buschwerk treibt und nicht etwa ein Netz spannt, wie die Kreuzspinne, in welchem sich die fliegenden Insecten fangen, sondern nach Banditenart ihre Opfer heimtückisch überfällt. Ihre grüne Farbe macht sie dem Blatte ähnlich, auf dem sie lauernd weilt, und schützt sie gleichzeitig vor den Augen ihrer eigenen Verfolger; die dicken Haarbüschel des Fußes ermöglichen ein so leises Auftreten, daß das Gehörorgan einer sich harmlos sonnenden Fliege nicht davon alterirt wird, und in ähnlicher Weise, wie die Katze mit eingezogenen Krallen ihre Beute fast unhörbar beschleicht, nähert sich die Smaragdspinne lautlos dem Insect, das zu spät seinen Irrthum bereut, die grüngefärbte Feindin für ein Stückchen Blatt gehalten zu haben. Ein kräftiger Biß mit den giftgefüllten spitzen Kiefern bereitet selbst verhältnißmäßig großen Insecten den Tod in kurzer Zeit.

Der Fang der behenden Spinne ist um so mühsamer, als das Auge sie wegen der Farbe nicht leicht entdeckt. Wenn das Thier jedoch seine Eier bewacht, die es in einem filzartig gewebten Säckchen an den Blättern befestigt, so gelingt es, seiner habhaft zu werden, denn auch die Spinne liebt ihre Brut, von der sie nur die äußerste Gewalt trennt. Zur Anfertigung des wolligen Gespinnstes dienen die kammartig geformten Fußklauen die daher als Webeapparat anzusehen sind.

Da die raubthierartige Scheu und Wildheit der Spinne die directe Beobachtung sehr erschwert, so ist das mikroskopische Bild des Spinnenfußes noch insofern ein Räthsel, als bis jetzt nicht festgestellt wurde, ob alle Zähne der kammartigen Klauen Antheil am Spinn- und Webegeschäft nehmen, oder ob die kleineren als Reservezähne aufzufassen sind, welche allmählich nachwachsen, sobald die oberen, starkentwickelten Haken sich abnutzen oder verloren gehen. Die einzelnen Haare des Spinnenfußes sind wiederum mit feinen Härchen besetzt, die jedoch erst bei einer sehr starken Vergrößerung sichtbar werden und ebenfalls noch keine Erklärung ihres Zweckes gefunden haben. Vielleicht veranlaßt das Räthsel des Spinnenfußes Naturfreunde, sich an dessen Lösung zu versuchen.

Wir kehren wieder zum Arbeitstische des Mikroskopikers zurück, der von einer in Spiritus aufbewahrten Smaragdspinne mittelst einer scharfen Scheere einen der Hinterfüße abgeschnitten und auf eine Glasplatte gelegt hat, die er unter das Mikroskop schiebt. Dieser Fuß ist für unser Auge zunächst nur ein verworrenes Etwas, das keinerlei Einzelheiten zu unterscheiden erlaubt. Sobald jedoch ein Tropfen Wasser auf das Object gebracht wird, ändern sich die Verhältnisse wie mit einem [379] Schlage. Größere Klarheit tritt ein; die Umrisse werden deutlicher, wir erkennen die Kämme und einzelne Haare, wenn auch noch manche Partien in dichtem Nebel zu liegen scheinen. Wie kann Wasser hier im Kleinen so große Dinge thun? Es ist bekannt, daß ein zur Hälfte schräg in Wasser getauchter Stab gebrochen erscheint, da die aus dem Wasser in’s Auge dringenden Lichtstrahlen stärker abgelenkt sind, als die, welche nur die Luft zu passiren haben. Wird der Stab ganz untergetaucht, so erscheint er wieder in seiner früheren Gestalt, gerade und unverzerrt. Etwas Analoges findet bei dem Spinnenfuß statt, dessen innere Theile feucht sind und das Licht stärker brechen als die Luft, welche ihn umgiebt, wodurch Verzeichnungen des Bildes entstehen, zu denen sich noch Spiegelungen von anhängender Feuchtigkeit und optische Täuschungen anderer Art gesellen. Sobald aber das Object von dem Wasser umgeben und durchdrungen ist, hören diese Mißverhältnisse auf, weil das Lichtbrechungs-Vermögen des Objectes und der umgebenden Flüssigkeit nahezu dasselbe ist.

Jetzt beginnt eine mühsame Arbeit. Trotz der Vervollkommnung des Mikroskopes geht diesem die Fähigkeit des menschlichen Auges ab, in die Tiefe zu sehen, nur die Theile eines Gegenstandes, welche in einer Ebene, im genau berechneten Abstande vom Vergrößerungsglase liegen, können scharf und deutlich wahrgenommen werden, und somit ist das Plattdrücken des Spinnenfußes geboten wenn ein übersichtliches Bild erhalten werden soll. Vor dieser Operation müssen jedoch die inneren Weichtheile entfernt werden, weil dieselben ein Zerplatzen des Fußes bei starkem Drucke zur Folge haben würden, und nun muß die Chemie herbei, welche auch hier, wie in so vielen anderen Fällen, Rath zu schaffen weiß. Die Haut der Insecten besteht aus einem eigenthümlichen Stoffe, den die Chemiker nach dem Chiton, dem Unterkleid der Griechen, Chitin benannt haben; eine seiner hervorragenden Eigenschaften ist die, der Einwirkung ätzender Alkalien zu widerstehen während dieselben Muskelsubstanz, Knorpel und Fette angreifen. Gelindes Kochen des Spinnenfußes in verdünnter Kalilauge – als Kessel dient eins der vorhin erwähnten Porcellanschälchen – löst die Weichtheile auf, sodaß nur die Chitinhaut zurückbleibt, wohlerhalten und unzerstört, einem Handschuh vergleichbar, der, was das einstige Passen anbelangte, das beste Pariser Fabrikat in den Schatten stellt.

Fuß der Smaragdspinne.
Nach der Natur in hundertfacher linearer Vergrößerung photographirt.

Mittelst einer breiten Nadel wird hierauf der Spinnenfuß aus der Lauge genommen, in destillirtes Wasser gebracht und, um die letzten Spuren von Kali zu entfernen, wiederholt ausgekocht. Wenn das geschehen ist, erfolgt seine Einbalsamirung, seine Einschließung in das dickflüssige Harz aus der canadischen Balsamtanne, welches an der Luft verhärtet, ohne seine Durchsichtigkeit zu verlieren. Da sich jedoch Wasser und Canadabalsam nicht mischen und völliges Austrocknen in der Wärme das Object brüchig machen würde, so muß ein Umweg eingeschlagen werden, der darin besteht, daß der Spinnenfuß erst in absolutem Alkohol, der ihm das Wasser entzieht, und von diesem in Terpentinöl gebracht wird; dieses verdrängt wiederum den Alkohol, welcher ebenfalls sich nicht mit dem Harz der Balsamtanne vereinigt. Terpentinöl und Balsam aber mischen sich ohne Trübung in jedem Verhältnisse. Vorsichtig legt dann der Präparator den Spinnenfuß auf eine längliche Platte von sauber gereinigtem Spiegelglas, breitet ihn mit Hülfe einer spitzen Nadel oder einer mit einem Heft versehenen Schweinsborste sorgfältig aus einander und tröpfelt einen Tropfen Canadabalsam darauf. Aus den Balsamtropfen wird eine kleine viereckige oder runde Scheibe von Deckglas gelegt, dessen Dicke die des Papieres nicht übertrifft; es erfolgt gelindes Erwärmen über einer kleinen Flamme, um den Balsam dünnflüssig zu machen; ein sanfter Druck bringt die einzelnen Theile des Fußes so viel wie möglich in eine Ebene, und die Toilette für das Mikroskop ist vollendet.

Wie das Schneewittchen des Märchens, einbalsamirt wie ein ägyptischer Pharao, ruht nun der Spinnenfuß in seinem Sarge, ein sogenanntes mikroskopisches Präparat.

So mannigfacher Natur die Gegenstände sind, welche der mikroskopischen Betrachtung unterworfen werden, ebenso wechselnder Art ist ihre Präparation, auf die einzugehen es uns hier an Raum gebricht. Wir wollten nur an einem einzigen Object die Mühewaltung zeigen, welche erfordert wird, ehe ein Gegenstand für die Beobachtung mit dem Mikroskop geeignet ist, und dadurch auf jene ungesehene Arbeit in den Gelehrtenstuben und wissenschaftlichen Anstalten hindeuten, von der das große Gedränge auf dem Markte des täglichen Lebens nur dann Notiz nimmt, wenn ein außergewöhnlicher praktischer Erfolg dieselbe krönt, die jedoch dem Freunde des Wissens und der Forschung zu jeder Zeit Achtung abnöthigt.

Julius Stinde.


Berliner Bilder.
1. Die Kugelsucher bei Tegel.
Von W. Mannstädt.

„Halt, zurück! Hier darf Niemand passiren.“

„Dies ist aber doch eine öffentliche Fahrstraße?“

„Heute nicht. Wir haben Schießübung.“

Ich hatte allerdings seit geraumer Zeit das Donnern der Geschütze und dann auch immer deutlicher das Geschwirre der mächtigen Geschosse gehört; in diesem Augenblicke aber erklang es in nächster Nähe mit einem Geräusche, ähnlich als ob etwa tausend Völker Rebhühner aufflögen. Ich glaubte sogar die Einwirkung des Luftdruckes zu spüren. Das war eine eindringlichere Sprache, als der kräftige Haltruf des königlich preußischen Artilleristen, der als Wachtposten aufgestellt war, um leichtsinnige Wanderer von dem Betreten der gefährlichen Bahn abzuhalten.

Noch überlegte ich, ob ich mich „rückwärts concentriren“ [380] oder den Schießplatz umgehen sollte – da wird mein Ohr von einem lauten Wortwechsel gefesselt. Links aus dem Gestrüppe, das unter den hohen Kiefern die Aussicht hemmte, schrie es durcheinander. Flüche und Schimpfworte der schlimmsten Art, Klagen und Schreie von Weibern und Kindern übertönten fast die in höchster Wuth ausgestoßenen Befehle und Zurechtweisungen irgend einer Autoritätsperson. Immer näher kommt der Lärm; immer deutlicher werden die Ausbrüche einer ungestümen Leidenschaft. Jetzt bricht es sich Bahn durch das junge Eichen- und Kieferngesträuch, durch üppig wuchernde Brombeerranke. Ein wild aussehender Kerl, in Lumpen gehüllt, mit struppigem Barte, eine alte Soldatenmütze auf den wirren langen Haaren, auf zwei Krücken gehend, aber behende wie ein aufgescheuchtes Thier des Waldes, eilt an mir vorüber. Hinter ihm ein ganzes Rudel von Männern, Frauen und halberwachsenen Kindern, die mit wüthenden Geberden und dem ganzen Aufwande ihrer Stimmmittel einen Gensd’armen zurückzuhalten versuchten, welcher vergebliche Anstrengungen macht, die Hand des Gesetzes an Diesen oder Jenen zu legen. Der Lahme fuchtelt fluchend und höhnend mit seinen Krücken in der Luft und reizt die Bande zum fortdauernden Widerstande. Schon muß der Gensd’arm dem Andrange weichen, da sprengt mit verhängten Zügeln ein Camerad einher; rücksichtslos treibt er sein Pferd in den Haufen hinein, auch der Wachposten eilt zur Hülfe, und nun mit flüchtigem Schritte, aber sich im Rückzuge immer noch energisch wehrend, wälzt sich die tobende Menge an mir vorüber und verschwindet im Gebüsche.

Es waren Kugelsucher, die in ihrem lebensgefährlichen und verbrecherischen Treiben gestört wurden, der Lahme aber schien der Anführer der Bande zu sein.

Die vor mir liegende Straße war für den Augenblick unbewacht. Eine Pause in den Schießübungen benutzend, lief ich, so schnell es der tiefe Sand erlaubte, über die verbotene Schießbahn um die jenseitige sichere Grenze zu erreichen.

Ich befand mich an jenem Tage auf einer Promenade, wie ich sie fast allwöchentlich mache, um die Schönheiten der Umgegend Berlins näher kennen zu lernen und zu genießen. – Klingt das nicht wie Ironie? Und doch rede ich im Ernst. Das Auge muß freilich erst den eigenthümlichen Charakter der märkischen Kiefernwälder, der Waldseen, der Sandhügel erkennen lernen, um Freude und Genuß daran zu haben, um in und mit dieser Natur warm empfinden, träumen, sie lieben zu können. Die Tegeler Chaussee allerdings zeigt von dem sehr wenig. Von keiner anderen Seite macht die nächste Umgebung der deutschen Hauptstadt einen so unvortheilhaften Eindruck als beim Eintritt in das Weichbild Berlins, sobald man das ehemalige Steuergebäude passirt hat. Die Straße ist sehr belebt. Milch- und Bauernwagen, die sogenannten „Kremser“, die speciell dazu dienen, den Berliner in’s „Sommervergnügen“ zu tragen, Artilleriefuhrwerke, Kanonen rasseln vorüber. Soldaten, dort auch einige Matrosen in größeren, in kleineren Haufen, marschiren singend dahin.

Jetzt donnert es auf dem Schießplatze. Dichte weiße Rauchwolken erheben sich über den Wald und verhüllen die Aussicht. Durch den Pulverdampf, dort oben aus dem Gebüsche hinter den Rehbergen, brechen plötzlich einige Menschen hervor; mit lautem Schreien und Höhnen fliegen sie die sandigen Hügel herab, mitten unter ihnen der Lahme, mit seiner einen Krücke fortwährend gesticulirend. Jetzt theilen sie sich; einige verschwinden auf diesem oder jenem Grundstück, andere erreichen die Chaussee und gehen nun, Arm in Arm ein Lied singend, gemächlich der Stadt zu, wobei sie versuchen, einzeln nahende Artilleristen „anzurempeln“, um dann unter allerlei Witzen endlich in irgend einer Kneipe von ihren Heldenthaten auszuruhen.

So oder ähnlich ist das Bild an jedem Sommertage auf der Tegeler Chaussee. Die Schießübungen der preußischen Artillerie und Marine, die auf dem weltbekannten Tegeler Schießplatze bis in den Spätherbst hinein dauern, haben der ganzen Gegend einen eigenthümlichen Charakter verliehen. Vom frühen Morgen bis zum späten Abende wird die Straße von Soldaten nicht leer, und im Hinblicke darauf ist hier Kneipe an Kneipe erbaut worden, eine Kette, welche höchstens durch ein Materialgeschäft oder ein sauber aussehendes Häuschen, in dem ein Beamter des Schießplatzes wohnt, unterbrochen wird.

So belebt die Straße zu jeder Tageszeit ist, so unsicher ist sie. Mit unerhörter Frechheit werden Raubanfälle und Acte gemeiner Bosheit ausgeübt. Die Kugelsucher, die in ewigem Kampfe mit dem Gesetze und in Folge ihres gefährlichen Handwerks unempfindlich gegen jede Gefahr geworden sind, verbreiten in der Gegend Furcht und Schrecken. Trotzdem ist ihr Treiben und der Umfang desselben wenig bekannt; der arglose Berliner ahnt nicht, daß sich unter seinen Augen allmählich eine Körperschaft gebildet hat, die den Räuberbanden Italiens nichts nachgiebt, sich sogar durch Verachtung gegen jede Lebensgefahr besonders auszeichnet.

Während der Uebungszeit auf dem Schießplatze werden täglich eine sehr große Anzahl Projectile verschossen; sie sind, je nachdem, mehrere Centner schwer. Es sind cylinderförmige Körper mit konischer Spitze aus Gußeisen; das untere Ende ist mit einem starken Bleimantel umkleidet, der verhältnißmäßig einen hohen Werth repräsentirt. Besondere Wachposten werden commandirt, um den Lagerpunkt der sich häufig im Sande tief einwühlenden abgeschossenen Projectile, oder die Bruchstücke derselben, wenn es Granaten sind, zu fixiren, Diebe abzuhalten und nach eingestelltem Schießen das ganze Material einzusammeln. Aber gering nur ist das Resultat ihrer Anstrengung. Die Kugelsucher sind ihnen meistens zuvorgekommen und überlassen ihnen dann nur die Nachlese.

Unter Commando des bereits erwähnten Krückenmannes liegen Männer, Weiber, Kinder unter dem Gestrüpp, wo sie oft vollständig eingerichtete Lagerstellen und improvisirte Laubhütten beziehen. Sie verfolgen mit größter Aufmerksamkeit die Lösung jedes Schusses. Mit geschärftem Auge und geübtem Ohr berechnen sie den Einschlag der Kugel schon vorher. Ohne Rücksicht auf die furchtbarste Lebensgefahr stürzen sie auf ihre Beute los, überschütten das eingeschlagene Projectil mit Sand, um es dem suchenden Auge des Wachthabenden zu entziehen, oder rollen es schnell in’s nahe schützende Gebüsch. Pfeifend und prasselnd folgt Geschoß auf Geschoß; immer wilder wird die Jagd auf die kostbare Beute. Jetzt ein Schrei und gräßliche Fluchworte – eine Granate explodirt, und schwer getroffen stürzt hier oder dort einer der verwegenen Jäger nieder; man schleppt ihn fort, ohne daß die wilde Jagd unterbrochen wird.

Unter dem Dunkel der Nacht, oder auch sofort durch bereit stehende und sorgsam versteckte Karren, werden die Metallmassen fortgebracht und in sicheren Räumen geborgen. Die geschickte Organisation und Leitung der Bande macht dies möglich. Der lahme Anführer dirigirt seine Truppen äußerst umsichtig, und nur muthige, kräftige und erfahrene Burschen werden direct auf das Schlachtfeld commandirt. Besonders dazu geschickte Hände lösen, wen es möglich ist, an Ort und Stelle den Bleimantel ab, um den weniger werthvollen und schwerer transportabeln Eisenkörper im Falle der Noth zurücklassen zu können. Weiber und Kinder graben Löcher zu etwaiger Bergung der Beute, oder sie sammeln Granatsplitter ein, wobei sie in der fortwährenden Gefahr schweben, durch Berührung einer Spur unentzündet gebliebener Sprengmasse eine erneute Explosion herbeizuführen. Andere packen die Beute in Wagen und Karren. In heimlichen Schmelzräumen harren aber schon die Hehler beim prasselnden Feuer, um die Bleimasse in neue Form zu bringen, während die Eisenstücke in besonderen Kellern aufbewahrt werden.

Der Gewinn, den diese Raubzüge abwerfen, ist ein ganz ungeheurer. Wie gewöhnlich in ähnlichen Fällen, fließt er allerdings zum größeren Theile in die Taschen der Hehler.

Von der im Jahre 1873 verschossenen Munition konnte nach amtlichen Berichten so wenig wieder eingesammelt werden, daß der Ausfall einen Werth von zweiundneunzigtausend Thalern repräsentirte. Also für zweiundneunzigtausend Thaler Blei und Eisen ist in etwa drei bis vier Monaten durch die Kugelsucher gestohlen worden. Bedenkt man, unter welchen erschwerenden Umständen dies geschehen mußte, welcher Aufwand von persönlicher Kraft, von Muth, Verwegenheit und List dazu erforderlich ist, so wird man zugestehen, daß man es mit einer höchst gemeingefährlichen Gesellschaft zu thun hat.

Der Militärfiscus hat vergeblich versucht, dem Unwesen zu steuern. Seit einigen Jahren hat sich indessen die Polizei in’s Mittel gelegt, und in Folge sorgsamer Bewachung der Gegend durch [381] Gensd’armen hat sich schon vieles dort gebessert. Im Jahre 1874 sind nicht weniger als achtundachtzig Personen wegen Kugelsuchens und hundertachtunddreißig Personen wegen unbefugten Betretens des Schießplatzes gerichtlich bestraft worden. Man kann hieraus ermessen, wie groß die ganze Körperschaft ist. Eine vollständige Ausrottung derselben wird erst dann möglich sein, wenn der Schießplatz von Tegel, wie beabsichtigt wird, nach Cunersdorf verlegt wird. Der Gewinn, den das Kugelsuchen ergiebt, ist eben ein zu enormer und verlockt deshalb viele Menschen vom Pfade der Ehrlichkeit, zumal bei einem etwas lockeren Rechtsbewußtsein der Gedanke an einen wirkliche Diebstahl bei den Betreffenden gar nicht aufkommt.

Ich begegne zuweilen zwei Krüppeln, verkommenen Gestalten mit bösem, menschenfeindlichem Blick. Einst waren es tüchtige Männer, gesund an Seele und Leib, die als ehrliche Tischlergesellen sich und die alte Mutter ernährten. Sie gingen in die Fremde und schickten nach guter Kindespflicht der Alten, was sie entbehren konnten. Es war nicht gerade viel, aber es genügte für den Unterhalt der Mutter. Die aber sah, wie ihre Nachbarn gar viel darauf gehen ließen. Mußte sie einen Groschen überlegend umwenden, ehe sie ihn ausgab, so warfen Jene mit den Thalern um sich. Das verdroß die Alte und erweckte in ihr die Sehnsucht nach einem ähnlichen bequemen, ja luxuriösen Leben. Und sie schrieb ihren Söhnen: „Kommt zurück! Hier könnt ihr ein besseres Glück machen. Kommt und werdet Kugelsucher, wie alle unseren Nachbarn, und wir können herrlich und in Freuden leben.“ Lange widerstrebten die Söhne. Endlich gaben sie dem Drängen der Mutter nach. Sie kamen zurück und wurden Kugelsucher. Aber das Unglück verfolgte sie. Kaum waren acht Tage verflossen, da trug man der Mutter den ältesten Sohn blutend in das Haus – ein Bein war ihm abgeschossen. Und nur wenige Tage später – da trug man ihr den zweiten in’s Haus. – Jetzt ist die Mutter eine stumpfsinnige Greisin, dem bittersten Elend ausgesetzt, die Söhne aber sind Krüppel an Körper und Seele, keiner ehrlichen Arbeit mehr fähig. – – –

Das sind die Kugelsucher auf dem Tegeler Schießplatz!




Zwei Lehrer der Freiheit und der Menschenrechte.
1. Voltaire.
(Fortsetzung.)

Wenn es Gefühle des Mißmuths waren, welche den verbannten Dichter auf seiner unfreiwilligen Meerfahrt beherrschten, so hatte sich diese melancholische Stimmung schon bald nach seiner Ankunft auf englischem Boden beschwichtigt. Eine freundlichere und wunderbarere Ueberraschung konnte es nicht geben, als sie damals durch eine plötzliche Versetzung nach England aus einem der übrigen europäischen Reiche geboten wurde. Während in allen diesen Ländern die Knechtung des Volkes unter einer frechen Willkürgewalt der sogenannten „Großen“ die ausnahmslose Regel bildete, hatte sich jenes abgeschiedene Inselvolk allein in den Kämpfen und krampfhaften Zuckungen seiner Revolutionen eine durch Gesetze und unerschütterliche Einrichtungen fest gesicherte Freiheit erobert, wie sie noch in keiner menschlichen Gemeinschaft des weiten Erdenrundes zu finden war. Die Grundsätze des Volksrechts, Betheiligung der Nation an der Gesetzgebung und Verwaltung, Gleichheit vor dem Gesetze und Schutz der Bürger vor Uebergriffen der Gewalt, Freiheit auch des Glaubens, der Ueberzeugung und ihres Ausdruckes in der Presse, alle diese Güter waren für England nicht mehr Wünsche und leise in den Geistern heraufdämmernde Theorien, sondern bereits anerkannte, allseitig das ganze Leben durchdringende und bestimmende Thatsache. Und aus dieser Lage der allgemeinen Verhältnisse hatte sich dort auch naturwüchsig eine hohe Blüthe des geistigen Lebens erzeugt, ein jugendkräftig schwungreiches Aufstreben der freien Forschung, Wissenschaft und Kunst, das in einer bedeutsamen literarischen Production sich ausprägte, von einer beträchtliche Reihe kühner Denker, von wirksamen Poeten und hervorragenden volksthümlichen Schriftstellern getragen und gefördert wurde.

Mit den Wechselbeziehungen der Völker aber und mit Allem, was man jetzt „international“ nennt, stand es damals noch sehr schlecht. Herabgedrücktes Wesen und unverständige Hemmungen des Geschäfts- und Unternehmungsgeistes hätten sie den Mangel eines gegenseitigen Austausches nicht einmal empfinden lassen, selbst wenn die erbärmlichen Verkehrswege und Verkehrsmittel wenigstens benachbarten Ländern eine regelmäßige Beziehung erlaubt haben würden. Dennoch hatten schon viele bedeutende Franzosen mit Nutzen in England geweilt, und namentlich war unter den dortigen Eindrücken der berühmte Montesquieu zu einem großen politischen Lehrer seiner Nation geworden. Viel elektrisirender jedoch mußte der Contrast dieser Atmosphäre auf den lebhaften Geist eines Voltaire wirken. Kaum hatte er seinen Fuß auf das Land gesetzt, so fühlte er sich wahrhaft berauscht durch den Hauch der Freiheit und Gerechtigkeit, die ihn hier anwehte wie milde Frühlingsluft. Bei diesem Aufathmen jedoch blieb es nicht, seine Freude wurde ihm ein Sporn zu allseitig scharfer Beobachtung, zu anhaltend strengem und eingehendem Studium. In dieser Schule gewann sein Genius festen Kern und vertieften Gehalt, aus einem gewandten und flatternden Schöngeist wurde er ein ernsthafter Forscher, aus einem leichten und talentvolle „Versmacher“ zugleich einer der größten und eingreifendsten Prosaiker aller Zeiten. Die Hinaustragung der englischen Freiheitsideen ward fortan die Aufgabe seines Lebens.

Als er nach dreijährigem Exil (1729) mit geklärten Ueberzeugungen und erweitertem Gesichtskreis, mit gesteigerter Wissens- und Gedankenfrische in die trübe gährenden Verwirrungen seines Vaterlandes zurückkehrte, zeigte sich diese Wiedergeburt in seinen neuen Dramen, besonders aber in seiner Kritik der öffentlichen Zustände. Noch viel weniger als früher war es ihm möglich, stillschweigender Zeuge der Barbareien zu bleiben, die er hier mit ansehen mußte. In den überaus wüst gewordenen Lärm zelotischen Confessionsgezänks zwischen Jesuiten und Jansenisten warf er eine beißende Flugschrift „Die Albernheiten zweier Parteien“, und als der Leiche der ihm nahe befreundet gewesenen Schauspielerin Adrienne Lecouvreur, des gefeierten Lieblings der Pariser, von der Geistlichkeit das ehrliche Begräbniß verweigert und sie wie eine Verbrecherin auf dem Anger verscharrt wurde, hatte der Heimgekehrte allein den Muth, diese Rohheit in einem Gedichte so zu geißeln, wie sie es verdiente.

In diese Zeit fällt auch die Beschäftigung mit seinem komischen Heldengedicht „Die Jungfrau von Orleans“. Mit Recht empört sich unser heutiges sittliches Gefühl gegen die nackten und vielfach geradezu cynischen Frivolitäten dieser Dichtung. Vergessen aber darf man nicht, daß aus all diesem Schmutz sichtlich doch eine ernste Absicht spricht, daß das Ganze wiederum ein Erguß der Empörung gegen weltlichen und geistlichen Despotismus, ein greller Ausdruck des giftigen Hohnes ist, mit welchem damals schon die freidenkerischen Kreise der Tyrannei des römische Wunderglaubens und seinem Dogmenwesen gegenüberstanden. Im Uebrigen hat Voltaire selber das Gedicht erst zweiunddreißig Jahre nach seiner Entstehung in sehr gemilderter Form drucken lassen, bis dahin war es nur in Abschriften und in einer Ausgabe vorhanden, die Andere hinter seinem Rücken in böswilliger Absicht veröffentlicht hatten.

Alle diese vereinzelten Zornesblicke gaben indeß noch kein Zeugniß von dem großem Ernst des in ihm vollzogenen Wandels. Eine wichtige Hauptthat dagegen leistete der Heimgekehrte und seinen großen Hauptkampf eröffnete er mit der Verarbeitung seiner englischen Tagebücher, die unter dem Titel „Philosophische Briefe über die Engländer“ erschien und in welcher die Sitten, die Verfassung und Literatur des glücklicheren Nachbarvolkes im Hinblick auf den traurigen Gegensatz der hinter diesen Aufschwung zurückgebliebenen französischen Zustände geschildert wurden. Dieses Buch war ein Ereigniß von gewaltiger Bedeutung, dessen Wirkungen bald sich fühlbar machten. In aufrüttelnder Weise zeigte es dem unklaren Drange nach Reformen die Wege zu den

[382] ersehnten Zielen und bereitete zunächst in der Welt der Gedanken und Sitten den Umschwung vor, den nach einer Reihe von Jahren das staatliche Leben erfahren sollte. „Gleichheit vor dem Gesetz, Freiheit des Gewissens, Natürlichkeit in der Kunst“, so lauteten die Rufe, welche fortan in Frankreich und von dort aus die Parolen des Tages wurden.

Um sich zu überzeugen, daß dies Alles kein Hirngespinnst, sondern in der Wirklichkeit herzustellen sei, brauchte man nur nach England zu blicken, und Voltaire war es, der diesen Einblick durch Vorführung und Vergleichung unwiderleglicher Thatsachen ermöglicht hatte. Dadurch hat er dem schwankenden Ringen nach Erlösung aus fluchwürdigen Banden einen starken positiven Halt gegeben und den Grundsätzen des demokratisch-constitutionellen Systems eine Anerkennung verschafft, die einen merkbaren Eindruck auf die leitenden Gedanken des Völkerlebens erlangte. Wenn es heute z. B. sprüchwörtlich geworden, daß das constitutionelle System die Nothwendigkeit der Republik mit der Nützlichkeit der Monarchie verbindet, so muß daran erinnert werden, daß es Voltaire war, der diese Anschauung zuerst in seinen englischen Briefen mit gemeinverständlichem Nachdruck erörtert hat.

Sehr richtig werden von Rosenkranz diese englischen Briefe als der Mittelpunkt im Wirken und Leben Voltaire’s bezeichnet. Zugleich aber bildet dieses Werk den eigentlichen Anfangspunkt jener riesigen Thätigkeit, durch welche er in der ganzen, mit der Rückkehr aus England beginnenden Periode seiner Mannesjahre die Welt in Erstaunen setzte. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, das ganze Heer der Voltaire’schen Schriften, oder auch nur seine Hauptwerke aufzuführen. Viele derselben werden immer ein hochinteressantes Studium, eine reizvolle und anregende Lectüre bleiben, wenn man sie eben mit dem Bewußtsein liest, daß sie nicht für unsere Gegenwart geschrieben sind, sondern einer ungemein bedeutsamen Vorstufe derselben angehören. Unabweisbar wichtig jedoch ist es für jeden Gebildeten, sich eine Rechenschaft geben zu können über die treibenden Beweggründe und das in der Zukunft der Menschheit lebendig gewordene Gesammtergebniß dieses so buntfarbig sich entfaltenden Wirkens. Weit entfernt sind wir, Voltaire als den Einzigen hinstellen zu wollen, der mit dem Zauber des Gedankens die Macht brutaler Knechtung gebrochen und das neue Zeitalter heraufgeführt hat. Es ist wahr, daß er nicht zu den Genien ersten Ranges gehörte, und nicht zu den Entdeckern neuer Principien, deren sein Zeitalter verschiedene aufzuweisen hat. Aber er war der gewaltigste und eingreifendste aller schriftstellerischen Agitatoren, die jemals vor oder nach ihm gelebt haben, ein großer Publicist auf eigene Hand und kraft eigener Machtvollkommenheit, der die anderweitig schon gefundenen freien Grundsätze volksthümlich machte und das offen auf den Markt des Tages zog, was man bisher in vereinzelten Oppositionskreisen nur als eine Geheimlehre bewahrt und nur mit leiser Aengstlichkeit sich zugeflüstert hatte. Ganz besonders ausgerüstet zu diesem Berufe war er nicht blos durch eine wunderbare Vielseitigkeit der Begabungen, durch ausgebreitetes Wissen und ungewöhnliche Arbeitskraft, sondern auch durch einen jedenfalls von der Natur ihm gegebenen leicht zu hoher Entflammung auflodernden Zorn gegen alle Bedrückung und Ungerechtigkeit. Dazu aber kam noch ein Anderes als besonderste Eigenthümlichkeit seiner Individualität: jene Gabe funkelnder und sprühender Verstandesschärfe, welche die Franzosen „Esprit“ nennen, und deren blitzartig herniederfahrende Schneidigkeit sich in ihm mit leicht beschwingter Grazie des Ausdrucks und der Schlagkraft eines Witzes verband, wie er in solcher Fülle und Ausgiebigkeit kaum jemals einem Sterblicher verliehen war.

Mag es immerhin eine oberflächliche Behauptung sein, daß er nur ein Spötter gewesen – gut zwei Drittheilen seiner Schriften fehlt in der That alles Satirische – so läßt sich doch nicht bestreiten, daß jenes verminende und zersetzende, aus Angriff und Spott gerichtete Verstandeswesen die ihn vorwiegend beherrschende Kraft war. Es war aber Temperament und Leidenschaft, es brannte ein unverwüstliches Feuer sittlichen Dranges in diesem Verstande, und gerade eines solchen Geistes bedurfte die dumpfe und stumpfe Zeit, um aus dem Schlendrian ihres unerträglichen und doch unterwürfig ertragenen Elends zum Denken und zur Thatkraft erweckt zu werden. Zu diesem Zwecke bewegte er sich fortwährend gleichzeitig auf den verschiedensten Gebieten, sodaß es vollständig gerechtfertigt ist, wenn Hettner von ihm gesagt hat, es gäbe kaum irgend eine Frage menschlicher Bildung, die Voltaire nicht einmal berührt, keine Form dichterischer oder wissenschaftlicher Darstellung, die er nicht mit Erfolg und meist sehr glücklichem Geschick angewendet hätte. Neben der beträchtlichen Reihe seiner Dramen, die aus allen Theatern mit Beifall dargestellt wurden, neben der kaum übersehbaren Zahl von Gedichten, Flugschriften und philosophischen Abhandlungen, die er fort und fort wirkungsvoll in die gährenden Streitigkeiten des Tages warf, glänzen hervorragende Geschichtswerke, gelehrte Encyclopädien und Wörterbücher von erheblichstem Umfang. Und dies Alles, so verschieden es auch war, diente doch immer nur einer und derselben Absicht: dem mit wachsamer Unermüdlichkeit geführten Kampfe für die Humanität, für das verschollene, verschüttete und zertretene Menschenrecht, für die ungehinderte Aussaat einer Bildung und Aufklärung, aus welcher der unterjochten Menschheit durch immer hellere Erkenntniß auch die rechte Freiheit erblühen sollte. Wie er auf dem Felde der Poesie nur Lehr- und Tendenzdichter war, so leuchtete diese auf das Praktische gerichtete Spitze noch viel unverkennbarer aus der Glanzesfülle, dem Stoff- und Gedankenreichthum seines prosaischen und wissenschaftlichen Schaffens hervor. Und wie sehr und mit welchem Rechte man auch oft die Weise seines Auftretens tadeln und verwerflich finden muß, so steht doch fest, daß der mit unangenehmen Charakterfehlern behaftete Mann mehr als irgend ein anderer seiner Mitstreiter für die Heraufführung jener neu am Horizont der Weltgeschichte erscheinenden Großmacht gethan hat, die seitdem als „öffentliche Meinung“, als Richterspruch der Volksstimme einen so unwiderstehlichen Einfluß auf den Gang der Völkergeschicke übt. Seine Wirkung auf das Zeitalter läßt sich schon aus der beispiellosen Verbreitung seiner Schriften und aus der jubelnden Zustimmung erkennen, mit welcher die erwachten Freiheitsregungen weithin jedes neue Erzeugniß seiner Feder begrüßten.

Ein erschöpfendes Bild der Thätigkeiten Voltaire’s nach allen speciellen Richtungen hin ist nur durch ein umfassendes Studium zu erlangen. Die erwähnten unvergänglichen Kernpunkte seines Wirkens dagegen können ohne viele Schwierigkeit in einigen Sätzen dargelegt werden. In seiner Stellung zur Religion hielt Voltaire unerschütterlich den Glauben an einen persönlichen Gott oder vielmehr Weltschöpfer fest und vertheidigte diesen Glauben mit beredter Innigkeit gegen die jüngere Schale atheistisch-materialistischer Philosophen. Ebenso überzeugt war er von der Unsterblichkeit der Seele, wenn ihm auch die Art derselben ein unentschiedenes Problem blieb. Alle sonstigen Glaubensvorstellungen der positiven Religion aber erschienen seiner Prüfung als schädliche Phantasterei und verderblicher Aberglaube, der gestürzt und getilgt werden müsse. Niemals hat das aller unabhängigen Bildung sich entgegenstemmende, alles vernünftige Denken unterjochende und verscheuchende Kirchendogma, niemals der Wunderglaube und die Lehre von der göttlichen Abfassung der biblischen Bücher (Inspiration), niemals der priesterliche Machtanspruch und namentlich die Herrschaft des römischen Priesterthums einen erbitterteren und grimmigeren, einen ausdauernderen, consequenteren und gefährlicheren Feind gehabt, als diesen großen Schriftsteller, der schon im ersten Viertel des vorigen Jahrhunderts den ersten Ansturm gegen jene damals noch gänzlich unerschütterte Veste des Wahns eröffnet hatte. Wo er auf diese Punkte kam – sie bilden das Hauptthema vieler seiner Schriften und werden fast in jeder derselben berührt – da führte er nicht blos das Geschütz seiner philosophischen Kritik in’s Feld, da konnte er auch all seinem Hasse, allen giftigen Hohn seines boshaften Witzes die Zügel schießen lassen, da konnte er selber zelotisch, ungerecht und unduldsam werden bis zur Frevelhaftigkeit. Wir geben gern zu, daß vielen Wendungen dieser Angriffe durch eine unbefangenere Prüfung der betreffenden Erscheinungen ihre Spitze abgebrochen ist, aber sicher bleibt es, daß Sie durch die Maßlosigkeiten eines ungeheuerlichen Druckes hervorgerufen waren und daß gerade diese Form aufstachelnden Widerspruchs in jenen Tagen die einzig wirksame und nothwendige war.

Und wenn man nach dieser Seite hin den ganzen Standpunkt Voltaire’s preisgeben wollte, was notorisch unrichtig wäre, da er menschlich Vieles ausgesprochen hat, was sich heut noch als

[383]

Voltaire als Gast Friedrich’s des Großen.[2]
Nach einem Oelgemälde auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

wahr erweist, so ist davon unbedingt doch eine Grundanschauung zurückgeblieben und als Bewegungsmoment in alle folgenden Zeiten übergegangen: die Erkenntniß, daß der kirchliche Zwang und die Herrschaft der Kirche, wie sie den Gläubigen als ein Segen und als eine göttliche Begnadung der Menschheit verkündet wird, im Grunde ein verhängnißvolles Uebel, eines der schwersten Hindernisse der Gesittung, des Wohls und Gedeihens der Völker sei. Wenn die Staaten sich jetzt mehr oder weniger aus dieser erdrückenden Schlinge befreit haben, wenn alle Freidenkenden heut in ihrem Privatleben eine Sittlichkeit und [384] Nächstenliebe kennen, die aus der Enge kirchlicher Glaubenssatzungen herausgewachsen ist, wenn ihnen diese Sittlichkeit als der höchste Zweck des Lebens und als das wahrhaft Religiöse auch in den Religionen gilt, so war es die Arbeit Voltaire’s, welcher die moderne Anschauung den mächtigsten Anstoß zu dieser wichtigen Unterscheidung verdankt. Unerschütterlich war seine Ueberzeugung von dem Recht und dem Siege, von der versittlichenden und beglückenden Macht der Aufklärung, welche den Menschen allein zu voller Gerechtigkeit und Liebe, zur Milde und zum Wohlthun gegen seine Mitmenschen führen könne. Wer ihm diesen Glauben antasten wollte, der griff ihn selber an. Schon hochbejahrt war er, als einst der bekannte Casanova ein paar Tage bei ihm zum Besuche weilte. Sie plauderten viel mit einander und er fand Vergnügen an der Unterhaltung des brillanten Italieners. Als dieser aber einmal zu bemerken wagte, er glaube nicht, daß die Menschen glücklicher würden, wenn man ihnen ihren Aberglauben nähme, da war es aus mit der Freundlichkeit seines Wirthes. Daß Wahn und falsche Vorstellung eine Bedingung des Glückes sein, daß die Erlösung von Irrthum Unglück zur Folge haben könne, das war für ihn etwas so Undenkbares, daß er sich entrüstet und persönlich verletzt von einer solchen Ansicht abwendete. Er wollte Freiheit durch Bildung, „Freiheit ohne Bildung, wie Rousseau sie wollte,“ sagt treffend einer seiner Biographen, „stieß ihn ebenso zurück, als Bildung ohne Freiheit, wie sie im höfischen Despotismus existirte.“

Wie er aber auf dem so tief umnachteten Gebiete der Religion unter unablässigem Streit- und Weckrufe das Banner des Lichtes und der Aufklärung entfaltete, so war er auch in politischer Hinsicht der große Pionier der Freiheit, ein erklärter, von begeisterungsvollem Zorne durchglühter Feind gegen die herrschende Gewaltthätigkeit und brutale Willkür. Voltaire hat kein geschlossenes System seiner politischen Ueberzeugungen angestellt, aber rastlos und unerschrocken hat er stets die politischen Ereignisse und Fragen von jenen Gesichtspunkten aus mit schneidigen Beleuchtungen verfolgt, die einen nachhaltigen Einfluß auf die Gemüther übten. Wir haben gesehen, wie er mit dieser Opposition schon als Jüngling begann und wie er sodann in seinen englischen Briefen mit leuchtenden Farben das Ideal eines erreichbaren und in der That jenseits des Canals bereits erreichten staatlichen Zustandes geschildert hat, wo, seinem Ausspruche zufolge, „der König die Macht hat, alles Gute zu thun, und wo ihm die Hände für das Böse gebunden sind, wo die Herren groß sind ohne Gewalthätigkeiten und wo das Volk an der Regierung Theil nimmt ohne Verwirrung“. Diese Ideen und Lehren sind heute so ziemlich aller Welt geläufig, damals aber kamen sie jugendfrisch aus dem Boden einer neuen Weltanschauung, damals wirkten sie mit allem Zauber einer erlösenden Macht, und zwar besonders durch den Umstand, daß Voltaire sie fort und fort mit dem überzeugendsten Nachdrucke wiederholt. Verblümt und unverblümt, in immer neuen Wendungen bewies und verkündete er den bereits mißmuthig unter den Fußtritten ihrer Befehlshaber sich krümmende Völkern daß sie ohne Freiheit zu einer Wohlfahrt nicht gelangen werden, daß ohne Herstellung der Gleichheit eine Gerechtigkeit nicht möglich sei. Nicht seine Schuld war es, wenn die späteren Revolutionsparteien der Forderung „Freiheit und Gleichheit“ eine über alles Maß des Erreichbaren hinausgehende und deshalb verhängnißvoll gewordene Bedeutung gaben. Aber vergessen darf es nicht werden, daß er es war, der diesen zunächst nur wohlthätig die Geister erregenden Schlachtruf in die Zeit geworfen hat. „Nur durch Feigheit und Dummheit,“ schrieb er, „konnten die Menschen ihren natürlichen Rechtszustand verlieren. Jeder andere Zustand ist nur ein künstliches Machwerk, ein schlechtes Possenspiel, in welchem der Eine die Rolle des Herrn, der Andere die des Sclaven, dieser die Rolle des Schmeichlers, Jener die des Versorgers übernimmt!

Unter Freiheit aber verstand Voltaire die Abhängigkeit Aller von einem und demselben Gesetze, unter Gleichheit die gleiche Berechtigung vor diesem Gesetze; die Beseitigung aller Unterschiede des Standes und der Lebenslagen dagegen hielt er für ein unerreichbares Hirngespinst, wie sehr er persönlich diese Unterschiede auch haßte. „Wo aber allein das Gesetz herrscht und nicht die Willkür,“ so rief er seinen von einem dreifache Herrenthume zu Boden getretenen Zeitgenossen zu, „da wird das Wohl der Gesammtheit und des Einzelnen durch diese Unterschiede nicht mehr geschädigt, da wird es verhindert werden, daß der Bauer durch irgend einen beliebigen Unterbeamten bedrückt werde, daß man einen Bürger einkerkern könne, ohne ihn unverzüglich vor seinen gesetzliche Richter zu stellen, daß man unter Vorwänden Jemand ohne Entschädigung sein Feld nimmt, daß die Priester die Völker beherrschen und sich auf ihre Kosten bereichern, statt sie zu erbauen.

Von Voltaire rührt auch das berühmte, wie ein Wetterstrahl durch die schwüle Luft des Erlösungsjahrhunderts zuckende Witzwort her: „An ein göttliches Recht der Ritter werde ich erst glauben können, wenn ich sehe, daß die Bauern mit Sätteln auf dem Rücken und die Ritter mit Sporen an den Fersen geboren werden.“ Befreiung des Staates aus den Fesseln und Herrschaftsansprüchen der Kirche, Freiheit des Gewissens und der Presse, Milderung der Strafgesetze, Hebung des Volksschulwesens, gerechte und gleichmäßige Vertheilung der Steuerlasten, das waren die Grundsätze und Forderungen, die er mit beispielloser Rastlosigkeit Jahrzehnte hindurch vertheidigte und so unverwischlich auf das Banner der Zeit schrieb, daß sie bis heut die Losungen des Freiheitskampfes wider die Entgegenstemmungen selbstsüchtiger Freiheitsverächter sind. Alle diese Güter mußten erst vom Gedanken erfaßt und ein Besitzthum der Gesinnungen und Ueberzeugungen werden, ehe sie beginnen konnten, in der Welt der Thatsachen sich durchzusetzen, eine Arbeit, mit welcher sie heute noch nicht ganz zu Ende gelangt sind.

Allerdings erwartete Voltaire die Verjüngung und Besserung der gänzlich verrotteten Zustände nicht von einer revolutionären Bewegung aus dem Volke, sondern von den Thronen, von einer Bekehrung der Regierenden zu freisinnigen Grundsätzen, von dem sogenannten aufgeklärten Despotismus. Es wird das erklärlich, wenn man die Verhältnisse der Zeit sich vorstellt. Unempfänglich, zum Theil roh und geradezu feindselig stand der große Haufen den eifrigen Bestrebungen gegenüber, ihn durch Aufklärung und besseren Unterricht glücklicher zu machen. Erfahrungen nicht ermunternder Art hatten Voltaire, wie auch Friedrich dem Großen, eine gewisse Verachtung gegen die Masse eingeflößt, ihnen den Glauben an die Bildungs- und Erhebungsfähigkeit der niederen Schichten genommen, das heißt an ihre Kraft, durch eigenen Willen und ohne Zwang von außen her vorwärts zu kommen.

Ein Volksmann im späteren und heutigen Sinne dieses Wortes war der große französische Freiheitsapostel eben so wenig wie sein königlicher Freund. Aber den Einfluß seines Genius und seines Ruhmes auf die Gesinnungen und Entschlüsse der Höfe hat er durchaus redlich und mit der seinem Wesen eigenthümlichen Zähigkeit zur Förderung seiner Grundsätze benutzt. Wie der Philosoph von Sanssouci, so hatte die Kaiserin von Rußland, die Könige von Dänemark und Schweden, sowie viele kleinere Souveräne den freundschaftlichen Verkehr mit ihm ohne sein vorheriges Entgegenkommen zuerst gesucht, sie bewarben sich um seine Gunst, fürchteten sein Urtheil, suchten sein Lob zu verdienen. Ganz ebenso die Minister und mächtigsten Persönlichkeiten der verschiedenen Länder. Wenn er aber im Verkehr mit den Fürsten stets auch streng die Etiquette beobachtet hat, wenn er in Prosa und Versen sich hier, dem Brauche der Zeit gemäß, einer Schmeichelei befleißigte, die heute nur widerlich berühren kann, und überdies in diese Beziehungen nicht immer uneigennützige Beweggründe seinerseits hineinspielen, so ist es doch unbedingt nachgewiesen und festgestellt, daß er selbst in seinen geheimsten Briefen an die Monarchen sein Streben für Freiheit und Gleichberechtigung, Vernunft und Toleranz niemals verleugnet hat. Auch Voltaire dem Geschichtschreiber läßt sich nicht nachsagen, daß er jemals in seinen berühmten Werken dieser Gattung ein Schmeichler der Großen und Mächtigen gewesen sei.

(Schluß folgt.)
A. Fr.
[385]
Alwine.
Der Wirklichkeit nacherzählt von Paul Wislicenus.
(Fortsetzung.)


Trotz der Versicherung Jay Robinson’s, daß der Unfall mit dem Senkblei ohne schlimme Folgen abgelaufen sei, hatte doch die Maschine arg gelitten. An einem hellen Mittage blieb sie plötzlich stehen.

Es war klares Wetter, und das Schiff schwankte nur mäßig, als Alles dem Mitteldecke zueilte, wo durch einen niedrigen gläsernen Pavillon der Blick in das Getriebe der Maschine ermöglicht war. Jetzt stand die Maschine still, und der Bolzen ruhte. Sieben Männer, mächtige rußgeschwärzte Maschinisten, standen auf der Metallscheibe und schraubten sie von dem Cylinder los. Dann traten sie daneben und hoben sie in die Höhe.

Athemlos starrte Alles auf die Scene. Von der Brücke blickte der Capitain hinunter, unten um den niedrigen Pavillon standen die Passagiere. Die nächste Minute mußte Gutes oder Böses bringen. Wir befanden uns am Anfange der gefährlichen Neufundlandbank, dicht am Ziele unserer Reise. Ein Raddampfschiff ohne Maschine, mit Hülfe seiner wenigen Segel sich fortbewegend, vielleicht im Nebel sich verirrend oder dem Zusammenstoße mit einem der zahlreichen die Bank kreuzenden Fahrzeuge ausgesetzt – es war keine beneidenswerte Lage.

„Wie steht’s, Jungens?“ rief der Capitain, als gerade sechs von den Maschinisten die schwere Scheibe mit ihren Schultern in die Höhe gehoben hatten und der siebente unter dieselbe gekrochen war.

Lange Pause.

„Weiß nicht, Capitain,“ sagte einer der Leute, der die Platte kaum mehr halten konnte.

Endlich ertönte unten eine dumpfe Stimme: „Ventil entzwei – nichts zu machen.“

„So hebe es heraus und setze eines von den Reserveventilen ein!“

„Sind nur noch drei da; eines davon ist caput; das andere paßt nicht, und das dritte ist verrostet.“

„So putzt es!“

„Geht nicht, Captain, ist ganz verdorben.“

Der Capitain stampfte mit dem Fuße; er ließ den Schuldigen, der die Ventile hatte verderben lassen, unten im finstern Schiffsraum in Fesseln legen und befahl alle Segel aufzusetzen. Aber die schwache Brise schwellte sie kaum; das Meer wurde glatter und glatter; wir schienen uns nicht vom Flecke zu rühren. Dennoch constatirte der Capitain, daß wir uns der Südostspitze Neufundlands näherten. Gegen Abend sahen wir in weiter Ferne ein Schiff, und es wurde Vorbereitungen getroffen, dasselbe durch Signallichter auf uns aufmerksam zu machen. Um zehn Uhr Nachts stieg ich auf Deck, um vor dem Schlafengehen zu sehen, ob man aus dem anderen Fahrzeuge unsere Signale bemerkt habe. Nebel, dichter, undurchdringlicher Nebel rings umher. Finsterniß und schauriges Schweigen. Selten einmal das Plätschern des Wassers an den Schiffswandungen oder das Geschrei einer Möve zu hören, die man nicht sah. Rastlos, unheimlich, geisterhaft schwankte das Schiff.

Als ich wieder in die Kajüte hinunterging, waren beinahe sämmtliche Passagiere wach. Man konnte nicht schlafen; man sprach, raunte, flüsterte. Angst und Erwartung malten sich auf den bleichen Gesichtern. Die Damen waren in flüchtiger Toilette, die Kinder im Negligé. Ich war eben bemüht, die Damen zu beruhigen, als mich Mr. Bateman am Ellbogen berührte. „Die schöne Nürnbergerin wünscht Sie zu sprechen.“

„Mich?“

„Ja, Sie. Ich fand im Vorbeigehen ihre Thür halb offen und sah sie dasitzen und weinen; als ich fragte, ob ihr etwas fehle, sagte sie, sie wolle mit Ihnen sprechen.“

Ich ging zu ihr.

In dem schwach erleuchteten engen Gemache waren an dem oberen Bette die grünen Vorhänge zugezogen; diejenigen an dem unteren waren offen. Auf dem Sopha an der rechten Wand des Zimmers saß sie, flüchtig angekleidet; das Haar hing in reichen Wellen über ihren Arm herab, der den Kopf stützte. In der Linken hielt sie ein Taschentuch. Als sie mich erblickte, sprang sie hastig auf und that schwankend ein paar Schritte vorwärts. „Sie müssen mich retten,“ rief sie in plötzlich ausbrechendem Schluchzen. „Ich will nicht untergehen, will nicht sterben; ich habe Niemand, wenn das Unglück geschieht – – nur Sie.“

„Warum denken Sie nicht an den Steuermann, Fräulein Bodinus?“ sagte ich mit hervorbrechender eifersüchtiger Bitterkeit.

Ich gewahrte, trotz der geringen Helligkeit, daß ihr das Blut jäh in das Gesicht schoß.

„Mein Gott!“ murmelte sie tonlos, „er haßt mich, er hat kein Herz mehr für mich!“ Und sie trat wieder zurück, deckte das Gesicht mit beiden Händen und sank vor dem Sopha in die Kniee. Eine stürmische Empfindung von Glückseligkeit lief wie ein heißer Schauer durch meine Nerven. Ich wäre am liebsten zu ihr niedergekniet und hätte ihr die feinen, thränenüberströmten Hände geküßt und ihr meine Thorheit abgebeten. Aber ich zwang den Rausch nieder.

„Sie liebt Jay Robinson doch,“ sagte ich zu mir, „und eben das ist es, warum sie dich rufen ließ und nicht den Steuermann. Man flüchtet zu einem Freunde, aber nicht zu dem heimlich Geliebten.“ Dieser Satz erschien mir im Augenblick als unumstößliche Wahrheit, weil ich es so wollte.

„Ich war Ihr Freund, liebes Fräulein, und ich bin es noch trotz Ihres thörichten Grolls, den ich mit nichts verschuldet, als mit dem unschuldigen Unrecht, das ich beging, für Ihren Gatten gehalten zu werden. Sie überschätzen die Gefahr, Fräulein Bodinus, aber wenn es zum Aeußersten kommt, was Gott verhüte, so werde ich für Ihr Leben sorgen bis zum letzten Athemzuge.“

Ich hatte kühl sein wollen, und meine Stimme bebte doch, als ich das Letzte sprach. Sie schien aufmerksam zugehört zu haben, denn sie war plötzlich ruhiger geworden, ohne indeß ihre Stellung zu verändern.

„Ich biete Ihnen die Hand eines Bruders; stehen Sie auf und gestatten Sie mir, daß ich mich zu Ihnen setze und Ihnen die Angst verscheuchen helfe!“

Sie ließ langsam die Hände sinken und sah mich mit scheuen Augen an.

„Nein,“ rief sie wie in plötzlicher Angst, „gehen Sie jetzt! Es ist besser so. Aber Sie zürnen mir nicht, nicht wahr – nun nicht mehr?“

Ich sah einen Augenblick in diese feuchten, flehenden, wundervollen Augen, raffte meine ganze Kraft zusammen und sagte: „Nein.“ Dann verließ ich sie.

Ich konnte in meiner Cabine kein Auge zuthun. Im Bette liegend und zwischen den geöffneten Vorhängen hindurch in den matt erleuchteten engen Raum und auf das rothe Plüschsopha blickend, das in meinem Zimmer genau so war, wie in dem ihren, dachte ich sie dort unter Thränen entschlummert, die schönen Arme um’s Haupt geschlungen, die Hände und Knöchel von dem goldrothen Haare umflossen, und ich neigte mich in Gedanken und küßte ihren süßen Mund. –

Am anderen Morgen hatte sich der Wind erhoben, der den Nebel wild durch die Masten und Taue und über’s Meer trieb. Das Schiff segelte langsam und ruhig seinen verschleierten Cours. Der Capitain hatte sich in sein Gemach zurückgezogen, und Jay führte das Commando. Er winkte mir, auf die Commandobrücke zu steigen, als ich das Deck betrat.

„Wie geht es Miß Bodeinös?“ fragte er. „Ich habe sie seit gestern Mittag nicht wieder gesehen. Hat sie viel Angst und Sorge gehabt?“

„Sie ist wieder ruhiger,“ sagte ich. „Heute früh ist sie noch nicht zum Vorschein gekommen.“ Ich schauerte wie im Fieber bei dem Gedanken, daß ich herausgekommen war, um eine Entscheidung zu veranlassen, aber es mußte sein; ich hatten es mir gelobt am Ende dieser schlaflosen Nacht. „Sagen Sie einmal, lieber Robinson,“ fuhr ich langsamer fort, „lieben Sie das Mädchen?“

Eine Thräne trat ihm in’s Auge, und er wendete sich ab.

„Glauben Sie nicht, daß ich Sie deshalb tadle! Sie ist

[386] Ihrer Liebe gewiß nicht unwürdig. Aber wissen Sie nicht, daß sie einem Anderen gehört?“

Jay Robinson sah mich fragend an.

„Sie ist verlobt, in Deutschland,“ sagte ich. „Sie geht nach New-York, um dort für einige Jahre Gouvernante zu werden. Das arme Kind ist so einsam und so unerfahren, daß sie Ihnen, vielleicht ohne es zu wissen, mehr Liebeszeichen bietet, als sie bieten will und kann. Vertrauen Sie den kleinen Unterpfändern ihrer Zuneigung nicht ohne Weiteres Ihre ganzen Zukunftsträume und Hoffnungen an! Unterrichten Sie sich genau über ihr Herz, lieber Robinson, ganz genau!“

Er dankte für meinen guten Rath und bat mich, ihn einige Zeit allein zu lassen, da er dafür sorgen müsse, daß die Segel umgesetzt werden. Als ich nach einer halben Stunde auf dem Hinterdecke stand, kam Charlie aus der Kajüte.

„Ah, sind Sie da? Ihre Lady wird sehr glücklich sein, Sie zu sehen. Sie ist unten in ihrer Cabine. Sie sagte mir, ich solle Sie rufen; sie würde Ihnen sehr verpflichtet sein für Ihren Besuch.“

Als ich zu dem schönen Mädchen in die Cabine trat, ging sie, ein Taschentuch in den beiden Händen, das sie langsam und heftig weinend zerknitterte, in dem Gemache auf und ab. Ich trat ihr näher und sie blieb stehen und weinte.

„Liebes Fräulein,“ sagte ich leise, „Jay Robinson liebt Sie.“

„Er hat soeben Charlie zu mir geschickt.“

„Mit welchem Auftrag?“

„Ich sollte heute Abend auf das Verdeck kommen, er habe mit mir zu reden.“

„Heute Abend. – Werden Sie gehen?“

„Nein.“

„Sie wollen Jay Robinson keine vergeblichen Hoffnungen machen?“

„Ich weiß nicht, was ich will.“

„Weshalb gehen Sie denn nicht?“

„Ich weiß es nicht. Ich habe ihm eine getrocknete Blume aus meinem ‚Schiller‘ geschickt; er bat mich so darum.“

„Wie kennt er die Blume?“

„Ich habe ihm neulich aus dem ‚Schiller‘ vorgelesen.“

„Dem zweiten Steuermann?“

„Er versteht kein Wort Deutsch, aber er war entzückt von unserer schönen Sprache. Und nicht nur meinetwegen, denn er rühmte auch Ihre geschmackvolle Redeweise und sagte, im Munde eines gebildeten Deutschen klänge auch das Englisch am schönsten. Er wundere sich aber nicht darüber, denn er habe gehört, daß wir das musikalischste Volk der Welt seien.“

„Lieben Sie Jay Robinson?“

„Nein.“

„Aber er liebt Sie…“

Sie schwieg.

„Und warum erzählen Sir mir dies Alles?“ fragte ich.

Sie blickte zu Boden und weinte. Dann sah sie mir mit thränengefüllten Augen ruhig in’s Gesicht. „Weil ich Sie liebe,“ sagte sie. – –

Als der Tag graute, fand ich mich unruhig auf meinem Lager, umhergeworfen von den heftigen Bewegungen des Schiffes. Wir waren durch Wind und Wellen aus unserm Cours getrieben worden. Die See ging hoch. Der Nebel hatte sich leidlich zerstreut und es erschienen Schiffe in der Ferne, allein ein jedes derselben war zu sehr mit dem eigenen Kampfe gegen das Element beschäftigt. Ich ging auf das Deck, auf dem ein schwerer Stand für jede Landratte war.

Traurig kam mir Jay Robinson entgegen. „Wir werden vielleicht alle nicht mehr lange zu leben haben,“ sagte er. „Wir bekommen Sturm, und – wer weiß –“ und er ließ schlaff die Arme gegen seine Schenkel fallen.

„Und das macht Sie traurig?“ setzte ich mit unsicherem Lächeln hinzu.

„Es macht mich Vieles traurig. Heute früh habe ich die Ueberzeugung gewonnen, daß sie mich nicht liebt.“

„So. Und wie das?“

„Ich schickte Charlie zu ihr, und gab ihm ein Andenken, eine Haarlocke meiner guten Mutter mit. Sie hat sie zurückgeschickt, und als Charlie – wie ihm aufgetragen – sie für mich um einen ihrer goldenen blonden Ringe, nur ein kleines lockiges Ende ihres geliebten Haares bat, ist sie heftig geworden und hat Charlie gebeten, nie wieder in meinem Auftrag zu ihr zu kommen.“

Ich wußte nur zu gut, welche Verwandlung plötzlich mit ihr vorgeganen war. Noch brannten meine Lippen von ihren Küssen. Ich sprach Jay zu, er solle sie vergessen. Wenn wir glücklich nach Amerika gelangten, so würden wir uns doch nicht minder trennen müssen, als wenn uns der Tod ewig von einander risse. Mit schmerzlich zuckenden Lippen antwortete er nur: er habe das Schiff verlassen, das liebe Mädchen heirathen und ein ordentlicher Mensch werden wollen, wie andere Bürger auch. „Ich dachte, ich würde es auch einmal gut haben,“ seufzte er.

Als ich in die Kajüte ging, saß Alwine, meine Alwine, in ihrer Cabine, und schrieb auf ihrer aufgeschlagenen Briefmappe einen langen Brief an ihren Bräutigam, in welchem sie das Verhältniß zu ihm löste. Er war ihr Vetter. Die Mutter hatte, offenbar unter dem Einfluß des jungen Mannes stehend, die Verlobung bei ihr durchgesetzt. Sie hatte ihn nur vierzehn Tage als Bräutigam gesprochen, dann war sie abgereist.

„O Du Liebster,“ sagte sie, als ich den Brief durchlas und sie sich an meine Seite schmiegte, „ich wußte bisher nicht, was Lieben heißt. Dein Kuß, Deine traute Stimme, Dein Händedruck, Deine Umarmung – nun hat mir all das erst die Fülle von Seligkeit erschlossen, die Liebe birgt und Liebe bietet.“ Und indem sie meine Hand mit langen Küssen bedeckte, lehnte sie rückwärts den lockigen Kopf an meine Brust, sah mir von unten in die Augen und sagte leise: „Dich will ich lieben; für Dich will ich leben; um Deinetwillen will ich sterben“. –

Da waren drei Menschen auf einem Schiffe, deren zwei einander glücklich und den dritten unglücklich gemacht hatten und die beiden ersten dachten nur an ihre Lust und der dritte nur an sein Elend – und „des Meeres und der Liebe Wellen“ warfen alle drei finster und drohend auf Neufundlands Felsenküste zu.

(Schluß folgt.)



Blätter und Blüthen.


Die sächsischen Landesfarben. Mehrfachen Anfragen aus unserem Leserkreise über den Ursprung des „Grün und Weiß“, der Haus- und Landesfarben des albertinischen und ernestinischen Sachsen, können wir mit folgender Antwort dienen. Einst waren die sächsischen Farben Schwarz und Gold, entnommen den beiden Grundfarben des Wappens. Als im Jahre 1697 die albertinische Fürstenlinie auf den Thron Polens gelangte, nahm dieselbe die polnischen Landesfarben Roth und Weiß nach Kursachsen herüber. Die Ernestiner blieben bei den alten Farben, und erst zu Ende des vorigen und zu Anfang dieses Jahrhunderts finden wir auch in den drei Herzogthümern Hildburghausen, Coburg-Saalfeld und Meiningen das polnische Roth und Weiß, während Weimar und Gotha-Altenburg am Schwarz und Gold festhielten. Als nach der Erhebung des albertinischen Sachsen zum Königreich 1807 der Orden der Rautenkrone gestiftet wurde, trat mit dem Ordensbande zuerst die grüne Farbe in officielle Erscheinung, und dies wiederholte sich nach den Befreiungskriegen bei der Stiftung des Civilverdienstordens mit dem weiß-grünen Bande. Es geschah 1815. Jedenfalls griff Sachsen erst, nachdem es seine Beziehungen zu Polen aussichtslos gelöst sah, die polnischen Farben aufgebend, zu Grün und Weiß, den uralten, früher vereint nicht vorkommenden Farben des altsächsischen Herzogthums: Grün wegen der Kur und des Rautenkranzes, Weiß wegen des ursprünglichen Herzogthmus, also zu Farben zurück, die auch das Haus Anhalt aus gleicher Beziehung besitzt. Die ernestinischen Herzogthümer folgten dem Königreich auch in diesem Beispiele noch 1815 und 1816 nach, und nur Weimar hielt die alten Farben fest, fügte aber zu Schwarz und Gold das Grün, sodaß es alle drei Farben des sächsischen Wappens vereinigt; letzteres mag mit der Erneuerung des Hausordens der Wachsamkeit oder vom weißen Falken zusammenhängen und also ebenfalls in das Jahr 1815 fallen.



Noch einmal Kalthoff. Soeben empfangen wir die nachfolgende Zuschrift: „Geehrte Redaction! Ein Satz meines Kalthoff-Artikels in Nr. 19 der ‚Gartenlaube‘ hat zu Mißdeutungen Veranlassung gegeben, welche mich bestimmen, Sie um Wiederholung seines Anfangs in folgender Fassung zu bitten: ‚Erst im Amte, meinte also wohl der Herr Professor etc. Daß Herr Professor Treitschke nicht in Wirklichkeit geäußert hat, Hoßbach hätte erst nach der Wahlbestätigung mit Umgehung kirchlicher Vorschriften seine wahre Ueberzeugung verbreiten dürfen,‘ daß dies nur eine – und zwar völlig berechtigte – Consequenz ist, welche ich aus dessen Tadel der Antrittspredigt Hoßbach’s gezogen, erscheint mir fast so selbstverständlich, daß ich nur mit Kopfschütteln mich der Nothwendigkeit füge, dies ausdrücklich versichern zu müssen. Ihr ergebener R. Elcho.“


  1. Der Titel lautet: „Kurze Abhandlung über die Straßenbeleuchtung zum Gebrauche (!) der städtischen Polizei- und Verwaltungsbehörden, nebst einigen Erläuterungen über das allgemeine Unternehmen der Straßenbeleuchtung, von R. Blum (Preis 10 Sgr.), Berlin, bei Leopold Wilhelm Krause, Adlerstraße Nr. 6. 1829.“
  2. Nachdem wir anläßlich des Voltaire-Jubiläums unsern Lesern in der vorigen Nummer ein Portrait des französischen Dichters und Denkers geboten, bringen wir heute ein zweites Bild desselben, welches wir der Freundlichkeit einer Dame verdanken. Wir publiciren es namentlich deshalb, weil sich gerade an dieses Bild ein eigenthümliches Interesse knüpft. Das uns gütigst zur Nachbildung überlassene Original, welches wir Liebhabern von Raritäten und älteren Kunstwerken zum Kauf empfehlen, ist eine Oelmalerei auf einer siebenundzwanzig Centimeter hohen, einundzwanzig Centimeter breiten Holztafel, deren Rückseite folgende Notiz zeigt: Friedrich der Zweite hatte schon oft gewünscht, seines Freundes Portrait zu besitzen; doch Voltaire hatte sich stets geweigert, sein Bildniß abnehmen zu lassen. – Da wird dieser einst krank und schickt zum Könige nach Sanssouci, um sein Nichterscheinen zu entschuldigen. Friedrich, welcher dies für eine günstige Gelegenheit zur Ausführung seines längst gehegten Planes hält, befiehlt sogleich seinem Lector Formay nach Berlin zu schicken und den Maler Pesne kommen zu lassen. (Anton Pesne, ein berühmter Historien- und Portraitmaler, war vom Könige nach Berlin berufen und zum Director der Akademie ernannt worden. Er starb 1775 zu Berlin.) Pesne kam und erhielt vom Könige den Befehl, Voltaire auf jeden Fall zu malen; da dieser seine Zimmer indessen nicht verließ, so sah der Künstler sich genöthigt, den Dichter durch’s Schlüsselloch zu malen, und das Portrait war außerordentlich ähnlich. Es hing bis zum Tode des Königs über seinem Bette und kam nach seinem Tode in Besitz des alten Formay, der es seinem Sohne, dem sehr bekannten Dr. Formay in Berlin vermachte, dessen Wittwe dasselbe nach ihres Mannes Tode an Frau Karoline Fränkel, geb. von Halle, schenkte. Eine Copie von diesem Bilde ist im Besitze Seiner Majestät des Königs.
    D. Red.