Die Gartenlaube (1878)/Heft 22

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1878
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[355]
Um hohen Preis.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.


„Nein, ich lasse Dich nicht, Gabriele!“ brach Raven mit vollster Leidenschaft aus. „Einmal muß es ja doch ausgesprochen werden, was Du längst weißt und was ich wußte, von dem Tage an, wo ich zum ersten Male in diese sonnigen Kinderaugen blickte. Aber ich hörte ja aus Deinem eigenen Munde, daß Du einen Andern liebtest. Der dreißig Jahre ältere Mann, mit ergrauendem Haar und den unerwiderten heißen Gefühlen wäre dem Fluche der Lächerlichkeit verfallen, wenn er Dir die Wahrheit eingestanden hätte, und ich, beim Himmel, ich wollte nicht lächerlich sein. Aber heut sah ich, wie Du zittertest um meinetwillen, wie Du Dich mitten in die Gefahr werfen wolltest, die mich bedrohte, um mir zur Seite zu bleiben, und jetzt wagst Du es nicht, jene Worte zu wiederholen, weil Du fühlst, daß es eine Lüge ist, die wir Beide mit unserem Glücke bezahlen. Jetzt endlich muß es klar werden zwischen uns. Ich liebe Dich, Gabriele, und habe gegen diese Liebe gekämpft mit dem ganzen Aufgebot meiner Kraft und meines Stolzes. Der Traum sollte zu Ende sein! – Das vermessene Wort hat sich schwer genug an mir gerächt. In dem Augenblicke, wo ich sie niederzwingen wollte, erhob sich die Leidenschaft in ihrer ganzen Riesengewalt und lehrte mich ihre Macht kennen. Ich hüllte mich in Schroffheit und Eiskälte Dir gegenüber. Ich suchte Rettung in der Trennung, in der Arbeit, im Kampfe mit den feindlichen Elementen, die sich jetzt von allen Seiten gegen mich erheben – es war vergebens. Von Dir hatte ich mich losgerissen, und Dein Bild stand vor mir im Wachen wie im Traume; es drängte sich in die einsamste Arbeitsstunde hier und in die wildbewegteste Thätigkeit draußen, und wenn ich im Kampfe meinen Gegnern die Stirn bot, dann brach es wie Sonnenschein durch das Sturmgewölk, das mich umgab, und riß all mein Denken und Fühlen zu Dir zurück, zu Dir allein. Du mußt mein werden oder ich muß Dich von mir lassen auf ewig; jedes Dritte würde uns Beiden nur Verderben bringen. Antworte, Gabriele, wen liebst Du? Wem galt die Angst und Zärtlichkeit, die ich in Deinen Blicken las? Ich warte auf die Entscheidung.“

Er stand vor ihr, als erwarte er wirklich eine Entscheidung über Tod und Leben. Gabriele hörte halb betäubt dem Ausbruch einer Leidenschaft zu, die ein nur zu lautes Echo in ihrer eigenen Brust fand. Was Raven aussprach, das war ja nur der Wiederhall ihrer eigenen Gefühle. Auch sie hatte gekämpft und gerungen mit ihrer Liebe; auch sie hatte versucht, einer Macht zu entfliehen, aus deren Bereich es kein Entfliehen gab. Vor dieser Flammengluth, die mit elementarer Gewalt aus dem Innern des sonst so kalten, ernsten Mannes hervorbrach, sank Alles zusammen, was dem jungen Mädchen bisher Leben und Lieben geschienen, auch der Jugendtraum, der einst das ganze Leben auszufüllen versprach. Es war eben nur ein Traum gewesen, mit traumhaft dunklen Regungen und Ahnungen, die erst jetzt Form und Gestalt gewannen. Gabriele war erwacht; sie schaute der echten vollen Leidenschaft in’s Antlitz, und wenn sie auch fühlte, daß jene vulcanische Natur mit ihren düsteren Tiefen und ihrem lodernden Feuer weit eher vernichten als beglücken konnte, sie bebte nicht mehr davor. Was sie bisher Glück genannt, verblaßte und verschwand wie ein matter Schemen vor dem Flammensturme, der ihr hier entgegenwogte.

Das junge Mädchen machte noch einen letzten Versuch, sich an die Vergangenheit zu klammern.

„Georg – er liebt mich und vertraut mir – er wird namenlos unglücklich, wenn ich ihn verlasse.“

„Nenne den Namen nicht!“ fuhr Raven auf; sein Auge sprühte im wildesten Hasse. „Erinnere mich nicht immer wieder daran, daß dieser Mann allein es ist, der zwischen mir und meinem Glücke steht! Es könnte verhängnißvoll für ihn werden. Wehe ihm, wenn er es versuchen sollte, Dich bei Deinem übereilten Worte zu halten! Ich werde Dich davon lösen, sei es mit Güte oder Gewalt. Was bist Du diesem Winterfeld, was kannst Du ihm sein? Er mag Dich lieben in seiner Weise, aber er wird Dich hinabziehen in das Alltagsleben und Dir nur die Alltagsliebe geben, nichts weiter. Wenn er Dich verliert, so wird er es verschmerzen und in seiner Zukunft, seinem Berufe, in einer anderen Neigung Ersatz dafür finden. Solche leidenschaftslose Naturen wissen ja nicht, was Verzweiflung ist; die schleudert nichts aus ihrer Bahn; die gehen ruhig und pflichtgemäß ihren Weg weiter. Ich,“ hier sank die Stimme des Freiherrn; der Haß verschwand aus seinen Zügen und der herbe Ton milderte sich mehr und mehr, bis er endlich zur vollsten Weichheit überging, „ich habe nie geliebt, habe nie gewußt, was Schwärmen und Träumen ist. In dem rastlosen Jagen nach Macht und Ehre ist mir die Sehnsucht nach dem Glücke verloren gegangen, die nun so spät noch in mir erwacht. Jetzt, im Herbste meines Lebens, zerreißt der Schleier und zeigt mir, was ich verlor, ohne es je besessen zu haben. Soll ich es wirklich auf immer verlieren? Fürchtest Du die Kluft der Jahre, die zwischen uns liegt? Ich kann Dir keine Jugend mehr entgegenbringen; sie ist dahin, aber [356] was aus der Seele des Mannes Dir entgegenflammt, das ist weit heißer, mächtiger, als alle Jünglingsschwärmereien, das erlischt erst mit dem Leben. – Sage, daß Du mir angehören willst, und ich will Dich mit Allem umgeben, was die Liebe, die Vergötterung nur zu schaffen vermag. Ich will jeden Kampf für Dich bestehen, jeden Schmerz von Deinem Haupte abwenden, und wenn wirklich ein Sturm uns droht, Dich soll er nicht berühren; meine Arme sind stark genug, ein geliebtes Wesen zu schützen. Du sollst nur der Sonnenstrahl meines Lebens sein, sollst nur leuchten und beglücken. Was ich bisher auch erstrebte und errang, der Strahl hat mir gefehlt, und nun er mir einmal geleuchtet hat, kann ich das Auge nicht wieder davor verschließen. Gabriele, sei mein Weib, mein Glück – mein Alles!“

Es wehte eine grenzenlose Zärtlichkeit aus diesen Worten. Die stürmische Gluth verlor sich in weichen bebenden Lauten, wie sie wohl noch nie von den Lippen Arno Raven’s gekommen waren, und dabei umschlang sein Arm fest und fester die zarte Gestalt und zog sie leise und unwiderstehlich an sich. Gabriele ließ es geschehen. Es umspann sie wieder süß und beängstigend, wie einst beim Rauschen des Quells, und wie damals, ließ sie sich widerstandslos fortziehen aus dem hellen Sonnenlicht, in dem sie bisher geathmet, in unbekannte Tiefen. Ihr war, als müsse sie versinken darin, und als sei es eine Seligkeit zu versinken und zu vergehen, von diesem Arme umschlungen. –

Ein Klopfen an der Thür schreckte Gabriele und den Freiherrn empor. Es mochte sich wohl schon einige Male wiederholt haben, ohne gehört worden zu sein, denn es tönte ungewöhnlich laut und scharf und drängte sich wie ein schneidender Mißton in das kurze Glück dieser Stunde.

„Was giebt es?“ rief Raven auffahrend. „Ich will nicht gestört sein.“

„Excellenz verzeihen,“ ließ sich die Stimme des Dieners draußen vernehmen. „Soeben ist ein Courier aus der Residenz angelangt. Er hat Befehl, seine Depeschen nur Euer Excellenz persönlich zu übergeben, und verlangt augenblicklich vorgelassen zu werden.“

Der Freiherr ließ langsam das junge Mädchen aus seinen Armen. „So werde ich aus meinen Liebesträumen geweckt,“ sagte er bitter. „Nicht einmal diese wenigen Minuten sind mir vergönnt. Es scheint, als dürfte ich überhaupt nicht träumen und lieben. – Der Courier soll einige Minuten warten,“ fügte er dann laut hinzu. „Ich werde ihn rufen lassen.“

Der Diener entfernte sich. Raven wandte sich wieder zu Gabriele, aber er sah sie betroffen an. „Was hast Du denn? Du bist ja auf einmal todtenbleich geworden. Es ist irgend eine wichtige Botschaft aus der Residenz, die mich allein angeht, eine Amtssache, nichts weiter. Sie hätte freilich zu einer andern Zeit eintreffen können.“

Gabriele war in der That sehr bleich geworden. Jenes Klopfen, gerade in dem Momente, wo das entscheidende Ja auf ihren Lippen schwebte, durchzuckte sie wie die Ahnung irgend eines Unheils. Sie wußte selbst nicht, warum sie bei der Meldung gerade an Georg und seine Abschiedsworte denken mußte. Er war ja jetzt in der Residenz, und dort war etwas gegen den Freiherrn im Werke.

„Ich werde gehen,“ sagte sie hastig. „Du mußt den Courier empfangen. Laß mich fort!“

Raven umfaßte sie von Neuem. „Und Du willst ohne Antwort von mir gehen? Soll ich noch länger zweifeln und fürchten, daß jener Andere wieder zwischen uns tritt? Geh, aber laß mir Dein Ja zurück. Es ist ja in einer einzigen Secunde ausgesprochen. Nur dieses eine Wort – dann halte ich Dich nicht länger.“

„Laß mir Zeit bis morgen!“ die Stimme des jungen Mädchens klang in bangem, rührendem Flehen. „Fordere jetzt keine Entscheidung von mir, erzwinge sie nicht! Arno, ich bitte Dich.“

Ein Aufleuchten des Glückes flog über das Antlitz des Freiherrn, als er zum ersten Mal aus ihrem Munde seinen Namen hörte, ohne jedes andere Wort, das dem Verwandten, dem Vormunde galt. Er drückte rasch und heftig seine Lippen auf ihre Stirn.

„Es sei, ich will von Dir nichts erzwingen. Ich will allein dem glauben, was mir Deine Augen sagen. Bis morgen also, bis dahin – lebe wohl, meine Gabriele!“

Er geleitete sie zum zweiten Ausgange des Gemaches, der in seine Bibliothek führte. Von dort gelangte man auf den Corridor, und das junge Mädchen hatte den letzteren kaum verlassen, als im Arbeitszimmer des Freiherrn auch schon die Klingel ertönte, die den Courier herbei rief. Arno Raven hatte in der That wenig Zeit, sich seinen Liebesträumen hinzugeben; er wurde unerbittlich wieder in die Wirklichkeit zurückgerissen.

Gabriele hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen. Noch war das entscheidende Wort nicht ausgesprochen, aber die Entscheidung selbst war bereits gefallen. Die eben durchlebte Stunde hatte die Brücke zu der Vergangenheit abgebrochen, es gab keine Rückkehr mehr. Und wäre jetzt Georg selbst dazwischen getreten, um seine Rechte zu wahren und zu behaupten – es war zu spät, er hatte sie bereits verloren. Was dem Jünglinge mit all seiner Schwärmerei und Innigkeit nicht möglich gewesen war, das hatte der ältere Mann mit seiner späten, aber um so glühenderen Leidenschaft erreicht. Er hatte die ganze Seele des jungen Mädchens an sich gekettet; es war kein Raum mehr darin für einen Andern. Arno Raven allein beherrschte alle Gedanken und Empfindungen Gabrielens, und er beherrschte auch ihre Träume, als sie endlich, lange nach Mitternacht, einen kurzen, unruhigen Schlaf fand. Georg’s Bild tauchte nicht aus diesen Träumen empor, in denen die Ereignisse der letzten Stunden sich wirr und phantastisch durcheinander drängten. Es war nur eine einzige Gestalt, die im Vordergrunde stand, und mit ihr verwebte sich die Erinnerung an die heutige Fahrt durch die dämmernde Landschaft im Herbstabend, Sturmgewölk und fern am Himmel ein flammendes Abendroth.




„Das ist unerhört. So etwas ist noch nicht dagewesen; ich wollte meinen eigenen Augen nicht glauben. Das untergräbt ja jede Autorität, erschüttert die Regierung, rüttelt an den Säulen des Staates – es ist schrecklich.“

Es war Hofrath Moser, der im höchsten Pathos diese Worte dem Polizeidirector entgegen rief. Der Letztere war bei dem Gouverneur gewesen und kam soeben die Treppe herunter.

„Sie meinen die Unruhen in der Stadt?“ fragte er mit einem leisen, etwas hohnvollen Lächeln. „Ja, es ging etwas arg zu am gestrigen Abende.“

„Wer spricht davon!“ rief der Hofrath. „Das sind Pöbelexcesse, die man zügeln und bewältigen wird, nöthigenfalls mit militärischer Hülfe. Aber wenn die Revolution bis in die Kreise der Beamten dringt, wenn Männer, die berufen sind, die Regierung zu vertreten und zu stützen, sie in solcher Weise angreifen, dann hört alle Ordnung auf. Wer hätte das dem Assessor Winterfeld zugetraut, der stets für das Muster eines Beamten galt! Freilich, mir war er von jeher verdächtig. Sein Mangel an Loyalität, seine Hinneigung zur Opposition, seine staatsgefährlichen Verbindungen flößten mir längst Besorgniß ein, und ich sprach das verschiedene Mal gegen Seine Excellenz aus, aber der Freiherr hörte nicht darauf. Er hatte eine Vorliebe für den Assessor, er öffnete ihm ja erst kürzlich durch die Versetzung in die Residenz die glänzendsten Aussichten, und nun lohnt ihn dieser Verräther mit so schwarzem Undank.“

„Sie sprechen von der Flugschrift Winterfeld’s,“ fragte der Polizeidirector. „Haben Sie die Broschüre schon in Händen? Sie kann erst heute Morgen in R. angelangt sein.“

„Ich erhielt sie durch Zufall, durch einen Collegen, dem sie gleich beim Eintreffen in die Hände fiel. Ein ganz entsetzliches Machwerk. Das ist ja die offenbare Rebellion. Es werden Seiner Excellenz Dinge darin gesagt. Dinge – ich bitte Sie, wie konnte so etwas nur gedruckt und verbreitet werden! Haben Sie denn noch keine Schritte zur Unterdrückung gethan?“

„Ich habe dazu weder einen Befehl, noch irgend eine Veranlassung,“ erklärte der Polizeichef, dessen kühle Ruhe einen seltsamen Gegensatz zu der Aufregung Moser’s bildete. „Die Broschüre ist an der Residenz erschienen, und es dürfte wohl zu spät sein, ihre Verbreitung zu hindern. Ueberhaupt – man unterdrückt nicht mehr so ohne Weiteres mißliebige Aeußerungen, wie das wohl früher geschah; die Zeiten haben sich doch einigermaßen geändert. Was aber die Schrift selbst betrifft, so bin ich vollkommen Ihrer Meinung. Es ja wohl das Stärkste, was einem Vertreter der Regierung je in’s Antlitz gesagt worden ist.“

[357] „Und das hat ein Beamter gethan, der in meiner Kanzlei, unter meinen Augen arbeitete,“ rief der Hofrath verzweiflungsvoll. Aber er ist verführt, mißleitet worden. Ich habe es ihm immer gesagt, daß die Verbindung mit der schweizer Demagogengesellschaft ihn in’s Verderben bringen werde. Ich weiß, wer hinter der ganzen Sache steckt, wer allein die Schuld daran trägt – jener Doctor Brunnow, der unter dem Vorwande einer Erbschaftsangelegenheit sich nun schon wochenlang hier aufhält und noch immer nicht abreisen will.“

„Weil man ihm endlose Schwierigkeiten und Weitläufigkeiten bei der Erhebung seiner Erbschaft macht. Die Herren vom Gericht lassen es ihn wirklich mehr als nöthig entgelten, daß er der Sohn seines Vaters und in diesem Falle sein Vertreter ist; dafür ist er ihnen aber auch kürzlich in einer so drastischen Weise zu Leibe gegangen, daß sie ganz verblüfft waren und jetzt wirklich Miene machen, die Sache zu beeilen. Sie haben ein Vorurtheil gegen den jungen Arzt, Herr Hofrath. Er ist wirklich nicht so schlimm, wie Sie glauben.“

„Dieser Brunnow ist sehr schlimm,“ sagte der Hofrath, bei dem jetzt wieder die gewohnte Feierlichkeit zum Durchbruche kam. „Ich wußte es vom ersten Tage an, wo ich ihn sah, und ich habe einen untrüglichen Scharfblick in solchen Dingen. Seit er hier ist, haben wir die Unruhen in der Stadt, die offene Auflehnung gegen die Behörden und jetzt wieder dieses gedruckte Attentat gegen Seine Excellenz. Ich bleibe dabei, dieser Mensch ist nach R. gekommen, nur um von hier aus die Stadt, die Provinz, ja das ganze Land in Aufruhr zu versetzen.“

„Warum nicht lieber ganz Europa!“ rief der Polizeidirector ärgerlich. „Sie täuschen sich vollständig. Man hat den jungen Mann schon seines Namens wegen nicht aus den Augen gelassen, aber ich versichere Ihnen, daß er auch nicht den geringsten Anlaß zu solchen Vermuthungen giebt. Er hat weder politische Beziehungen angeknüpft, noch sich direct oder indirect an den Unruhen betheiligt und geht einzig und allein seinen Privatangelegenheiten nach. Wenn ich als Polizeichef ihm ein solches Zeugniß ausstelle, so können Sie mir wohl Glauben schenken.“

„Er ist aber der Sohn eines alten Revolutionärs,“ beharrte der Hofrath, „und der intime Freund des Assessor Winterfeld.“

„Das ist kein Beweis für seine Staatsgefährlichkeit. Sein Vater war auch einst der intimste Freund des Gouverneurs.“

„Wa– was?“ rief Moser zurückprallend. „Excellenz von Raven und jener Rudolph Brunnow –“

„Waren Universitäts- und Jugendfreunde, sehr innige sogar; ich weiß das aus sicherster Quelle. Hoffentlich werden Sie den Freiherrn von Raven nicht demagogischer Neigungen beschuldigen. Aber meine Zeit ist gemessen. Adieu, Herr Hofrath!“

Damit ließ der Polizeidirector den ganz verblüfften Hofrath stehen und verließ das Regierungsgebäude. – Auf dem Rückwege nach der Stadt traf er mit dem Bürgermeister zusammen.

„Sie kommen aus dem Schlosse?“ fragte dieser. „Sie waren bei dem Gouverneur? Was hat er beschlossen?“

Der Gefragte zuckte die Achseln. „Was er bereits gestern drohte – das unnachsichtlichste Vorgehen. Sobald sich die Unruhen wiederholen, greift das Militär ein. Die Vorbereitungen dazu werden soeben getroffen. Gerade als ich ging, kam Oberst Wilten an, um persönliche Rücksprache zu nehmen, und das Resultat der Conferenz kann nicht zweifelhaft sein. Sie kennen den Freiherrn, er schreckt vor keinem Gewaltschritt zurück, wenn es gilt, seinen Willen durchzusetzen.“

„Das darf nicht sein,“ sagte der Bürgermeister unruhig. „Die Erbitterung ist zu groß, als daß das Ausrücken des Militärs eine bloße Demonstration bleiben könnte. Es kommt zum Widerstande, zum Blutvergießen. Ich hatte mir freilich vorgenommen, das Schloß nicht wieder zu betreten, wenn mich nicht die Nothwendigkeit dazu zwänge, jetzt aber möchte ich doch noch einen letzten Versuch machen, um das Aeußerste zu verhüten.“

„Unterlassen Sie das lieber!“ rieth der Polizeidirector. „Ich kann es Ihnen vorhersagen, daß Sie nichts erreichen. Der Freiherr ist heut nicht zur Nachgiebigkeit gestimmt; er hat Nachrichten erhalten, die ihm die Laune auf Wochen hinaus verderben werden.“

„Ich weiß,“ fiel der Andere ein. „Die Schrift des Assessor Winterfeld. Ich erhielt sie heut Morgen aus der Residenz.“

„Also auch Sie haben schon Kenntniß davon? Nun, die Anstalten für die Verbreitung scheinen ja vorzüglich getroffen worden zu sein. Man scheint eine Unterdrückung zu fürchten und sich zu beeilen zuvorzukommen. Ich glaube aber, daß das eine unnöthige Besorgniß ist; es sieht aus, als wäre man in der Residenz gewillt, der Sache ihren Lauf zu lassen.“

„Wirklich? Und was sagt Raven selbst dazu? Ihm kam sie doch schwerlich so ganz unerwartet; er muß doch vorher irgend einen Wink erhalten haben.“

„Ich fürchte, er hat ihn nicht erhalten; sein ganzes Wesen verrieth, daß die Sache ihn überrascht hat. Er hüllte sich zwar in seine gewohnte Unzugänglichkeit, konnte es aber doch nicht ganz verbergen, wie furchtbar gereizt und erregt er war. Meine Andeutungen über diesen Punkt wurden mit einer Schroffheit aufgenommen, daß ich es für besser hielt, ihn fallen zu lassen. – Der Angriff ist freilich unerhört und dabei grenzenlos unvorsichtig. So etwas, wenn es denn durchaus unter die Leute soll, schickt man doch anonym in die Welt hinaus, man läßt wenigstens den ersten Sturm austoben, ehe man sich nennt, läßt sich suchen und errathen und tritt erst im äußersten Nothfall aus seiner Verborgenheit hervor – der Assessor unterzeichnet sich mit seinem vollen Namen und läßt die Welt und den Gouverneur auch nicht einen Augenblick in Zweifel darüber, wer der Angreifer ist. Ich begreife nicht, wo er den Muth hergenommen hat, seinem ehemaligen Chef in solcher Weise gegenüberzutreten. Er wirft ihm ja vor dem ganzen Lande den Handschuh hin; die Schrift ist eine einzige Anklage von Anfang bis zu Ende.“

„Und eine einzige Wahrheit von Anfang bis zu Ende,“ fiel der Bürgermeister ein. „Der junge Mann beschämt uns Alle. Was er jetzt wagt, das mußte längst gewagt und gethan werden. Wenn der Widerstand einer ganzen Stadt, wenn alle Vorstellungen bei der Regierung vergebens bleiben, muß der Streit vor das Forum des Landes gebracht und dort entschieden werden. Winterfeld hat das mit klarem Blicke erkannt und muthig das erste Wort gesprochen. Jetzt, wo die Bahn einmal gebrochen ist, wird ihm Alles folgen.“

„Er setzt aber dabei sich und seine ganze Existenz auf’s Spiel,“ warf der Polizeidirector ein. „Seine Schrift wagt zu viel, und so glänzend sie auch geschrieben ist, sie wird dem Verfasser theuer zu stehen kommen. Raven ist wahrlich nicht der Mann, der sich ungestraft beleidigen und angreifen läßt. Der kecke Herausforderer kann das Opfer seiner Verwegenheit werden.“

„Oder er bringt endlich einmal die Allmacht des Gouverneurs zum Scheitern. Aber wie die Sache auch enden mag, sie wird jedenfalls ungeheures Aufsehen erregen und hier in R. ist sie nun vollends der Funke im Pulverfaß.“

„Das fürchte ich auch,“ stimmte der Polizeichef bei. „Es läßt sich begreifen, daß der Freiherr jetzt Alles daran setzt, um der Situation Herr zu bleiben. Nun, was er auch thun mag, er thut es auf seine Gefahr.“ –

Während die beiden Herren ihren Weg fortsetzten, hatte im Arbeitszimmer des Gouverneurs in der That die erwähnte Conferenz zwischen diesem und dem Oberst Wilten stattgefunden. Der Inhalt des Gesprächs mußte wohl von ernster Natur gewesen sein, denn auch der Oberst sah sehr ernst aus. Raven war dem äußeren Anscheine nach unbewegt, nur die fahle Blässe, die auf seinem Antlitze lag, und die tiefgefurchte Stirn verriethen, daß irgend etwas Außergewöhnliches ihn berührt hatte; er beherrschte Haltung und Sprache, wie immer.

„Es bleibt dabei,“ sagte er. „Sie halten das Militär verfügbar zum sofortigen Eingreifen und gehen schonungslos vor, sobald man Ihnen Widerstand entgegensetzt. Ich nehme die Verantwortung und alle etwaigen Folgen auf mich allein.“

„Wenn es sein muß – allerdings,“ entgegnete der Oberst zögernd. „Sie kennen meine Bedenken, und ich verhehle Ihnen nicht, daß ich mich eintretenden Falles mit Ihrer Verantwortung decken werde.“

„Ich vertrete die Maßregel in ihrem ganzen Umfange. Dieses rebellische R. soll und muß gebändigt werden um jeden Preis. Ich habe jetzt mehr als je Grund, meine unbedingte Autorität aufrecht zu erhalten; man soll nicht glauben, daß sie unter dem heimtückischen Schlage wankt, der gegen mich geführt wird.“

[358] „Welcher Schlag?“ fragte der Oberst.

„Sie kennen noch nicht die Neuigkeit aus der Residenz?“

„Nein, Sie wissen ja, daß ich erst seit einigen Stunden hier bin.“

Raven erhob sich und durchmaß mit raschen Schritten das Zimmer. Als er zurückkehrte und vor dem Obersten stehen blieb, sah man es doch, wie die Aufregung in ihm wühlte, trotz all seiner Anstrengung, sie niederzuhalten.

„So empfehle ich Ihnen, die Flugschrift des Assessors Winterfeld zu lesen,“ sagte er in einem Tone, der sarkastisch sein sollte, aber auf’s Aeußerste gereizt klang. „Er fühlt sich berufen, mich vor dem ganzen Lande als einen Despoten hinzustellen, der weder nach Recht noch nach Gesetzen fragt und der für die ihm anvertraute Provinz ein Unglück und ein Unheil geworden ist. Es ist ein ganzes Sündenregister, was mir da vorgehalten wird. Uebergriffe, Willkür, Gewaltacte und wie die Schlagworte alle heißen. Es lohnt wirklich der Mühe, das Machwerk zu lesen, und wäre es auch nur, um sich drüber zu wundern, was einer meiner jüngsten und untergeordneten Beamten sich gegen seinen früheren Chef herausnimmt. Bis jetzt haben nur einige Wenige die Broschüre in Händen; morgen wird die ganze Stadt sie kennen.“

„Aber mein Gott, warum lassen Sie das denn so ruhig geschehen?“ rief der Oberst. „Dergleichen kann doch nicht plötzlich ohne jede Vorbereitung auftauchen, Sie müssen doch Nachrichten darüber erhalten haben.“

„Gewiß, ich erhielt sie gestern Abend, ungefähr zu derselben Zeit, wo die Residenz bereits mit der Broschüre überschwemmt wurde und diese auf dem Wege hierher war. Der Courier überbrachte mir zugleich das ‚aufrichtige Bedauern‘ des Ministers, daß man die Verbreitung nicht habe verhindern können, daß die Sache überhaupt nicht mehr zu unterdrücken sei.“

„Das ist seltsam,“ sagte Wilten befremdet.

„Mehr als seltsam. Man pflegt sonst in der Residenz sehr genau unterrichtet zu sein über Alles, was die Presse verläßt, und läßt nicht leicht etwas in die Welt hinaus, was gefährlich werden könnte. Bei dieser Schrift vollends wäre es ein Leichtes gewesen, die gegen mich geschleuderten Beleidigungen auf die Regierung selbst zu übertragen und darauf hin das Ganze zu unterdrücken. Es scheint aber, man hat das diesmal nicht gewollt, und da man mein energisches Dringen fürchtete, so zog man es vor, mich in vollständiger Unwissenheit zu lassen, und gab mir erst im letzten Augenblicke Nachricht als es zu spät war.“


(Fortsetzung folgt.)




Zwei Lehrer der Freiheit und der Menschenrechte.
1. Voltaire.

In einer Mainacht des Jahres 1814, kurz nach der Rückkehr des bourbonischen Ludwig des Achtzehnten, fuhr an der schönen und geschichtlich denkwürdigen Genoveva-Kirche in Paris ein geschlossener Wagen vor, aus dem zwei Männer stiegen. Bei ihrer Ankunft öffnete sich leise eine Thür der Kirche; sie traten ein, kehrten aber schon nach kurzer Zeit mit einem gefüllten Leinwandsack zurück, den sie vor sich in den Wagen legten, welcher hierauf eilig mit ihnen davon jagte. Die Straßen waren um diese Stunde schon ziemlich verödet, Paris lag bereits im Schlummer, oder hing im Innern der Häuser seinen nächtlichen Zerstreuungen nach, die stumm und in scheuer Hast sich abspielende Scene auf dem Genoveva-Platze war unbemerkt geblieben. Der Wagen fuhr nach einem wüsten Abladeplatz bei Berey, wo fünf Männer seiner harrten, die schweigend eine mit ungelöschtem Kalk gefüllte Grube umstanden. In diese wurde sofort der unheimlich durch einander klappernde Inhalt des Sackes ausgeschüttet und hier schnell von der Zerstörungskraft des Kalks verschlungen, während der eine von den zwei aus Paris gekommenen Männern die Ceremonie mit einem herzhaften Fluche beschloß. Dann schaufelte man sorgfältig die Erde wieder zu, und nur ein Eingeweihter hätte am nächsten Morgen die Stelle des Bodens bezeichnen können, auf welcher eine schnöde Unthat sich vollzogen hatte. Die Geschichte der Menschheit aber hat alle Ursache, den Vorgang dieser Frühlingsnacht mit unauslöschlichen Zügen in ihr Erinnerungsbuch zu schreiben. Denn es handelte sich dabei nicht um einen Exceß gewöhnlicher Privatleidenschaft, sondern um einen berechneten Handstreich roher Feindseligkeit gegen pietätsvolle Empfindungen der gesammten civilisirten Menschheit, es war an stolz gehüteten Heiligthümern des französischen Nationalgeistes eine verbrecherische Schändung verübt, es waren die Spuren denkwürdiger Geisteshelden, die Gebeine eines Voltaire, eines Rousseau aus ihrer Ruhe gerissen und in dieser beschimpfenden Weise vernichtet worden.

Als im dritten Jahre der großen Revolution (1791) die Genoveva-Kirche in ein nationales Pantheon verwandelt worden war, hatte man die Ueberreste jener unvergeßlichen Lehrer der Freiheit und des Volksrechts aus ihren Gräbern geholt und auf Beschluß der Volksvertretung unter der begeisterungsvollen Theilnahme des Volkes in dem neu errichteten Mausoleum beigesetzt. Napoleon der Erste hatte zwar nach dem Concordat mit dem Papste das Gebäude dem römischen Cultus zurückgegeben, aber niemals, weder in jenen Tagen noch später, hätte die Geistlichkeit es wagen dürfen, vor den Augen Frankreichs ihre Hand an die Denkmäler oder gar an die Asche der hier für ewige Zeiten bestatteten Lichtverkünder zu legen. Was sie aber unzweifelhaft längst gewünscht hatte und öffentlich nicht unternehmen konnte, das ließ sie nun heimlich und unter dem Schleier der Nacht von gedungenen oder fanatisirten Menschen vollführen, als ihr Uebermuth nach der Wiederkehr der Bourbonen wieder einmal siegrech emporzuschwellen begann. Oder sollte Jemand im Ernste glauben, daß jene beiden Männer - wie man jetzt weiß, waren es zwei Brüder Namens Puxmorin - aus eigenem Antriebe den Plan des Wagstückes ersonnen, daß sie ohne priesterliche Erlaubniß und Mitwirkung den Diebstahl an einem Eigenthum der Kirche hätten begehen können?

Eine dunkle Kunde von dem Attentat war freilich auf unbekannten Wegen in weitere Kreise der Bevölkerung gedrungen, aber Niemand konnte so recht an das Unerhörte glauben, bis endlich Louis Napoleon sich Klarheit in dem Punkte verschaffen wollte und die Gräber öffnen ließ. Man fand sie in der That gänzlich ausgeräumt, und eine Untersuchung stellte dann weiter den oben erzählten Hergang an’s Licht. Gewiß, die Kirchen- und Ketzerhistorie, das große Schuldregister eines erbarmmugslosen Zelotismus, hat viel gräßlichere Handlungen aufzuweisen, vielleicht aber keine, die so nichtswürdig boshaft, so heimtückisch und dabei zugleich so feige gewesen wäre, wie dieser nächtliche Knochenraub in unserem 19. Jahrhundert. Und warum sollte diesen ohnmächtigen Resten hervorragender Denker eine so arge Schmach bereitet werden? Doch offenbar nur, um damit die Gedankenmacht zu schlagen, welche einst von diesen Männern ausgegangen war. Hier lag das Kindische des ganzen Beginnens. Denn die Gedanken Voltaire’s und Rousseau’s hatten weder unter den korinthischen Säulen der Genoveva-Kirche geruht, noch waren sie in die Kalkgrube bei Bery geworfen worden. Von den Werken ihrer Erzeuger aus hatten sie längst als ein warmer Verjüngungshauch sich in alle Lande ergossen, als ein färbendes und treibendes Element sich mit dem Safte aller Culturströmungen vermischt und gewaltige Umwälzungen, untilgbare Veränderungen herbeiführen helfen, nicht blos in den Staatsverhältnissen, sondern auch in den Köpfen und Herzen, dem täglichen Verkehr und Leben der Völker. Wer die Entwickelung der Zeitgeschichte seit dem elenden Ereigniß in jener Mainacht von 1814 kennt, der weiß auch, wie gänzlich gleichgültig dasselbe dem weiteren Aufstreben des Fortschrittsgeistes geblieben ist.

Auch in Frankreich selber hat er immer wieder siegreich aus den herabdrückendsten Umgarnungen clericaler Herrschaft sich losgerungen und dann auch immer seines Ursprunges so dankbar sich erinnert, wie es wiederum in diesem Augenblicke geschieht, wo dort in Stadt und Land der hundertjährige Todestag Voltaire’s zu einem überwältigenden Ausdruck des Volkswillens gegen die Feinde dieses Namens erhoben und als ein großartiges Sieges- und Auferstehnungsfest der freisinnigen Grundsätze begangen

[359]

Marie François Arouet de Voltaire.
Originalzeichnung von Adolf Neumann.

wird. Es ist das ein französisches Fest, aber ein solches, dem alle gebildeten Kreise des weiten Civilisationsbereiches eine aufmerksame Theilnahme zu widmen haben. Denn der Mann, den es feiert, gehört der Weltgeschichte an und lebt noch heute aller Orten wirksam in allen den Kämpfen fort, welche das Licht in der Menschheit gegen die Mächte der Finsternis zu führen hat. Nicht blos gegen ihn, sondern gegen uns selber erfüllen wir eine Pflicht, wenn wir sein Bild uns vor die Seele zu rufen, das Wesen seiner Erscheinung uns zu vergegenwärtigen suchen.




Die Erinnerung an Voltaire ist in der Nachwelt, namentlich in der deutschen, keine ungetrübte. Sein Name ist nicht blos durch die Feinde seiner Ueberzeugungen verunglimpft und verkleinert worden, er hat ihn leider auch selber verdunkelt durch starke Gebrechen seines eigenen Charakters, die keine beschönigende Lobrede von ihm abzuwischen vermag. Wir haben nicht die Absicht, uns hier mit diesen so vielbesprochenen Fehlern des Mannes zu beschäftigen. Eine umfassende biographische Schilderung wird sie ohne Rücksicht bloßlegen müssen, für die rein geschichtliche Betrachtung jedoch gehören sie zu jenen persönlichen Schlacken, die immer mehr in den Erinnerungen sich abstreifen, je mehr die Bedeutung einer entschwundenen Erscheinung als segensreich erkannt wird und sich fühlbar macht.

Ebenso wenig soll hier von den Verdiensten Voltaire’s als Dichter und Aesthetiker eingehend gesprochen werden. In der Zeit, wo er seine Gedichte und Dramen schuf, befand sich die seit lange schon sehr herabgekommene deutsche Bildung in einer wahrhaft knechtischen Abhängigkeit von der Gedankenwelt und den Geschmacksmoden der Franzosen. Als Muster beherrschte namentlich Voltaire die Literatur und das Theater unserer doch so wesentlich anders gearteten Nation. Um hier Wandel zu schaffen, der ebenso [360] so schimpflichen als verderbliche Nachäfferei zu steuern und einem natürlichen Aufkeimen nationaler Selbstständigkeit die Bahn frei zu machen, mußte vor Allem der fremde Dichtergötze auf deutschem Boden gestürzt werden. Diese nothwendige Rettungsaufgabe hat Lessing vollführt, und es war das eine seiner größte Reformthaten. Die hierauf folgenden Jahrzehnte haben sodann bei uns ganz andere und viel richtigere und tiefere Erkenntnisse von dem Wesen echter Poesie zur Geltung gebracht durch neu erblühte Schöpfungen deutschen Geistes, vor denen der dichterische Glanz Voltaire’s und seiner Landsleute schnell erbleichen mußte. Zugleich aber führte dieser ganze Verlauf auch zu einer einseitigen Geringschätzung der poetischen Gestaltungen Voltaire’s und zu einer Voreingenommenheit wider dieselben, die sich vor dem unparteiischen Wahrheitsgefühl unserer Tage nicht rechtfertigen läßt.

Auch von der wissenschaftlichen Thätigkeit Voltaire’s, von der Methode seiner Forschung, dem Gesichtskreise seines Wissens läßt sich sagen, daß dies Alles von den Fortschritten und Entdeckungen unserer Jetztzeit überholt ist. Namentlich hat sich unsere ganze Stellung zur Vergangenheit, unsere Kenntniß und Betrachtung der Menschheits- und Völkergeschichte unendlich erweitert und zugleich vertieft. Voltaire zeigt in seinen Leistungen als Geschichtsschreiber allerdings schon große Züge, merkwürdige Einblicke und Ahnungen, die eine glänzende Zukunft dieser Forschungen ankündigen, aber er kennt jenes in der Folge der Zeiten sich offenbarende Gesetz der geschichtlichen Entwickelung noch nicht, das für uns eine so mächtige Grundlage geworden zum Verständniß unserer Gegenwart. Nach diesen Seiten hin haben seine Bücher für uns nur noch die Bedeutung einer wichtigen und hochinteressanten, aber bereits hinter uns liegenden Etappe auf dem stufenmäßigen Befreiungsgange der wissenschaftlichen Forschung.

Was wir hier in Betracht ziehen wollen, das ist die in ihrer Energie und in ihrem Erfolge fast einzig dastehende Arbeit des Mannes für die Culturentwickelung der Menschheit auf socialem Gebiete. Wer Voltaire’s Bedeutung in dieser Hinsicht verstehen will, der muß eine deutliche Vorstellung von dem Charakter des Zeitalters haben, aus dem er hervorgegangen ist und auf das er zunächst eingewirkt hat. Es war das Zeitalter des höchsten Glanzes fürstlicher Machtvollkommenheit und einer so gewaltthätigen Herabtretung und Erniedrigung der Völker, daß die Menschen unserer Gegenwart sich kaum noch in diese Lage ihrer Vorfahren versetzen können. Unter dem gänzlich ungezügelten Willen der obersten Machthaber und unter den Füßen der bevorrechteten Kasten, welche um ihre Throne sich schaarten, seufzten zitternd und fast rechtlos die ungeheueren Massen der übrigen Bevölkerungen, die fleißigen Betreiber des Gewerbes und Handels, des Handwerkes und Ackerbaues, welche im Staate und in der Gesellschaft nichts waren als verachtete Gegenstände der Aussaugung und Mißhandlung von Seiten der herrschenden Personen und Stände. Und dies Alles war nicht blos da wie ein Uebel und eine böse Fügung des Geschickes, es galt noch obendrein als die beste, von „Gott“ so und nicht anders gewollte Ordnung der Dinge, es wurde von der ausschließlich im Dienste der Throne arbeitenden Wissenschaft, Dichtung und Kunst als die oberste Quelle aller staatsrechtlichen Grundsätze verkündet, vor Allem aber von der bestehenden Kirche bestätigt, durch die geltende Religion geheiligt, durch den Mund der Priester als unwidersprechlich gelehrt und gesegnet. Nichts war natürlicher, als daß unter der Gewalt dieses durch keine Gegenmacht eingeschränkten und täglich sich steigernden Druckes, unter dem Einflusse einer solchen Erziehung und unablässigen Dressur zu gehorsamer Unterwürfigkeit die große Menge des Volkes alle Kraft selbstständigen Denkens und Urtheilens, den Muth des Widerspruches und Widerstandes gegen das Unerhörteste verloren hatte. In dumpfer und regungsloser Ergebung, unwissend, abergläubisch und bigot, küßten sie die Ruthe ihrer als Gottgesandte sich aufspielenden Peiniger. Und zu den politischen und finanziellen Bedrückungen ohne Gleichen kamen fast aller Orten auch noch die kirchliche, die fortwährenden Kriege eines mit hoher Macht ausgerüsteten Pfaffenthums gegen jedes schüchterne Hervorwagen eines freien Gedankens, diese grausamen Verfolgungen anderen Glaubens, welche z. B. durch die abscheuliche Widerrufung des Edictes von Nantes nicht weniger als fünfhunderttausend friedliche, gewerbfleißige und wohlhabende Protestanten aus Frankreich trieben. Einer sicheren Berechnung zufolge belief sich im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts die Zahl der Mönche und Nonnen in Frankreich allein auf etwa neunzigtausend, und dazu kamen noch zweihundertfünfzigtausend Weltgeistliche!

Denkt man sich alle diese Zustände ohne jede Besserung verewigt, so hätte ein vollständiger Untergang der europäischen Menschheit die Folge sein müssen. Aber die Rettung kam, und sie kam aus dem erwachenden Denken, als schon in den letzten Tagen des vierzehnten Ludwig das künstliche Gebäude des Despotismus in sich selber zu wanken begann. Seine schwächer gestellten Nachfolger mußten die Zügel lockern und auch durch Förderung des Gewerbfleißes die versagenden Erpressungsquellen für ihren ungeheuren Geldbedarf zu stärken suchen. Dadurch kamen die arbeitenden Leute zu Wohlstand und Selbstgefühl. Noch ein kurzes Weilchen, und inmitten der Gesellschaft hatte sich ein neuer, der sogenannte dritte Stand herausgebildet, das erstarkte Bürgerthum, in dem sich eine reinere, von der oberen Fäulniß noch nicht angefressene Sittlichkeit mit tieferer Intelligenz, mit einem leidenschaftlichen Durste nach Wahrheit und nach ihrer muthigen Bezeugung verband.

Es wäre seltsam gewesen, wenn der jugendkräftige Trieb und Drang einer so gewaltig dem innersten Kern der Nation entsprießenden Bewegung für ihre frisch herausstrahlende Gedanken nicht auch den ihr entsprechenden literarischen Ausdruck gefunden hätte. Der große Aufschwung der Literatur und Dichtung in der Glanzepoche Ludwig’s des Vierzehnten hatte nur im Dienste des Thrones und für seine Verherrlichung gearbeitet. Jetzt traten mit einem Male Schriftsteller hervor, die auf die Nation sich stützen und den Volksgeist durch den Ruf der Freiheit und den Angriff aus die herrschenden Mißbräuche aus seinem Schlummer rütteln wollten. Paris wurde der Brennpunkt eines noch still glimmenden aber mächtig um sich greifenden Seelenfeuers. Aus den Schriften und Büchern, die hier in den einsamen Werkstätten unabhängiger Denker geschaffen wurden, sprach zündend und erweckend ein neuer Geist scharfer und kühner Prüfung, der auf die letzten Gründe der bestehenden Dinge zurückging und sie um ihren Rechtstitel, ihre Existenz zu fragen begann. Es bildeten sich gesellschaftliche Kreise, Schulen von Philosophen und Dichtern, in denen der neue Geist eifrig gepflegt, gespornt und befruchtet wurde. Noch entfaltete der herabdrückende Despotismus ungebrochen seine volle Geltung, aber er sah sich bereits zu einem Vertheidigungskampfe herausgefordert gegen eine ihm feindliche Umwälzung, die unfaßbar war, da sie im Innern der Gemüther, in der Denkweise, den Gewohnheiten und Sitte der Menschen unaufhaltsam sich vollzog. Noch umgaben schwarze Wolken und unbezwingliche Mauern den ganzen Lebenshorizont, aber aus dieser Nacht des Wahns und der Knechtung brachen schon Streifen glänzenden Morgenlichts hervor und verkündeten einen neuen Tag des Völkerlebens, die Aera der Erlösungsarbeit, in der wir noch jetzt begriffen sind. Einer der ersten Entzünder aber und der unermüdlichste Schürer dieser weltumwälzenden Flamme ist Voltaire gewesen.

Als er geboren wurde (am 21. November 1694), war die Sonne Ludwig’s des Vierzehnten schon tief unter ihre Mittagshöhe gesunken und der heranwachsende Knabe war noch Zeuge der Verstimmungen, welche aus der sogenannten großen Regierung dieses glänzenden Despoten sich ergeben hatte. Sein reiferes Jünglingsalter verlebte er in der wüsten Taumelzeit der ausschweifenden Regentschaft, und es können die schwer auf dem Lande lastenden Bedrückungen dem Auge des lebhaften jungen Mannes nicht entgangen sein. Schon aus der Jesuitenschule, wo er erzogen wurde, prophezeite ihm einer seiner Lehrer, daß er einst zu den Feinden des wahren Glaubens gehören werde. Von einem Einfluß der Eltern auf seine Erziehung ist wenig bekannt. Sein Vater, der Notar und spätere königliche Schatzmeister Arouet – den Name Voltaire hat sich der Sohn erst später beigelegt – war bürgerlichen Standes, die Mutter dagegen aus einem adeligen Geschlecht. Durch seinen Taufpathen, den galanten und leichtlebigen Abbé von Châteauneuf[WS 1], wurde der junge Mensch frühe in die Salons und Zusammenkünfte der hocharistokratischen Gesellschaft geführt, wo die schlüpfrige Satire, die pikante und elegante Frivolität das Parfüm der Unterhaltung bildete. In täglichen Verkehr mit Grafen und Baronen nahm er hier die Neigungen und Meinungen der aristokratischen [361] Lebensart an und gewöhnte sich an den vornehmen Umgang, der ihm bis an sein Ende Bedürfniß geblieben ist. Aber noch ein Anderes und zwar für ihn Werthvolleres erwarb er sich in diesen Kreisen: jenen brillianten Schliff des verfeinerten Pariser Geschmackes in Sprache und Stil, der allen Franzosen als classisch gilt. An reichlicher Nahrung für seinen Spott gegen die bestehenden Gewalten, namentlich in Bezug auf das kirchliche Wesen, hat es sicher in jenen aristokratischen Cirkeln auch nicht gefehlt.

Der junge Voltaire erregte frühzeitig hin und wieder Aufsehen durch satirische Gedichte, und in seinem dreiundzwanzigsten Jahre wurde er sogar wegen eines solchen Angriffs auf eine hohe Persönlichkeit elf Monate hindurch in die berüchtigte Bastille geschickt. Das galt aber im Urtheile des Publicums damals bereits als eine Auszeichnung, so weit war die Schärfe des Oppositionsgeistes schon gediehen. Auch Voltaire ging aus der Zwingburg der Könige mit dem Nimbus des Märtyrers hervor, aber eine zweifellose Befestigung seines literarischen Ansehens erlangte er im nächsten Jahre, als seine Tragödie „Oedipe“ vierzig Mal hinter einander unter dem rauschendsten Beifall aufgeführt wurde. Zugleich befreite ihn dieser sichtliche Erfolg von der juristischen Laufbahn, in die ihn der Vater wider seine Neigung gedrängt hatte. Unter den Anerkennungen, welche ihm sodann einige weitere Tragödien eintrugen, fehlte auch die Aussetzung einer königlichen Pension nicht. Ein Streben nach Hofgunst lag in jenen Tagen selbst den unabhängigsten Geistern nicht fern, dem jungen Voltaire aber gereicht es jedenfalls zur Ehre, daß er den königlichen Gnadengehalt zwar dankbar annahm, sich jedoch dadurch in keiner Weise abhalten ließ, seine Urtheile über die bestehende Mißwirthschaft so offen als möglich auszusprechen. Schon sein „Oedipe“, dieses Erstlingswerk, enthielt starke Anzüglichkeiten gegen die engherzige Verfolgungssucht der Priester, aber viel breiter und mächtiger wurde der in ihm gährende Widerspruch gegen den geistlichen Fanatismus in seiner berühmten, zuerst 1723 gedruckten und erst später zu ihrer jetzigen Gestalt umgearbeiteten „Henriade“ ausgeprägt, dem Hauptwerke seiner Jugend.

Die ästhetische Kritik hat längst die großen poetischen Schwächen dieser Schöpfung hinreichend nachgewiesen aber kein unbefangener Leser wird leugnen können, daß dieses sogenannte Epos Partien von hinreißender Kraft und Schönheit bietet (wie z. B. die tiefergreifende Schilderung der Bartholomäusnacht) und daß die Sprache des Ganzen sich mit wahrhaft bestrickendem Wohllaut in die Seele schmeichelt. In allen deutschen Schulen wurde deshalb früher auch auf das Studium dieser Verse ein besonderer Eifer verwendet. Aber nicht allein in ihrem ästhetischen Charakter, sondern in ihrer Tendenz lag die Bedeutung dieses Werkes, es war, wie Hettner treffend bemerkt, weniger eine dichterische, als eine geschichtliche That. Voltaire vermeidet darin mit schonender Vorsicht jeden directen Angriff auf die Monarchie und die Geistlichkeit, ja er verherrlicht die erstere ausdrücklich. Je weniger er aber frei war und frei sein konnte von einem Zittern vor dem starken Arme dieser Willkürgewalten, um so höher haben wir es ihm anzurechnen, daß sein Gedicht unter dem Alles niederbeugenden Drucke solcher Zustände dennoch als eine gewaltige Verherrlichung bürgerlicher und religiöser Freiheit sich darstellt, als ein glühender Protest gegen die Verfolgung der Protestanten, als ein tiefernst aus dem Herzen kommender Mahnruf begeisterter Menschenliebe zur Versöhnung und Milde, zur Aufklärung und Bildung. Das war ein Funke, der weit und breit in Tausenden haften mußte, die herzlich müde waren der Verwüstungen des endlos rings umher lodernden Ketzer- und Glaubenshasses und nun in den neuverkündeten Grundsätzen der Duldsamkeit den Weg zum Frieden aus schmerzensvoller Wirrniß eröffnet sahen. Dadurch gewann das Buch eine ungeheure Verbreitung, die Bedeutung eines unberechenbar machtvollen Einflusses auf die Richtung der Gemüther. In seinem dreißigsten Jahre war Voltaire durch seine „Henriade“ zu einem europäischen Rufe gelangt. Das Geschick aber, welches so viele Talente schon in ihrem erste Entfalten zerstört, bewahrte fürsorglich diese Menschen vor einem Einschlummern aus dem früh errungenen Lorbeer. Es war, als ob er in der bitterste Weise erst noch an sich selber die heillose Schmach der bestehenden bürgerlichen Verhältnisse erfahren und dadurch gewaltsam in neue Bahnen geworfen werden sollte, die er ohne diesen Zwang vielleicht niemals betreten hätte.

Verfolgungen der Censur waren ihm schon reichlich zu Theil geworden, auch an Mißhandlungen durch Feinde und Neider hatte es nicht gefehlt. Aber das Schlimmste dieser Art stand ihm noch bevor. Ein Herzog von Rohan, der den Titel eines Feldmarschalls führte, chicanirte den angeblichen Dichter bei jeder Gelegenheit und unter Anderem auch einmal in Gegenwart der berühmten Schauspielerin Adrienne Lecouvreux. Voltaire wies den höhnischen Frager mit einer würdigen Antwort zurück, reizte aber dadurch nur um so stärker den kochenden Haß dieser erbärmlichen Seele. Als Voltaire einige Tage später bei dem Herzoge von Sully zu Mittag speiste, wurde er durch einen der Diener auf die Straße gerufen und sah dort beim Heraustreten aus der Thür den Herzog von Rohan, welcher ruhig im Wagen saß, während seine Diener den arg- und wehrlos Herbeigekommenen sofort überfielen und ihn mit Stockschlägen jämmerlich tractirten. In solcher Manier bestrafte damals der hohe Adel einen Widerspruch gegen seine herausfordernden Beleidigungen.

Es war ein niederträchtig gemeiner Streich, aber noch trauriger für Voltaire war es, daß der ihm widerfahrene Schimpf in den Kreisen seiner sogenannten Freunde aus der höchsten Noblesse durchaus nicht die von ihm erwartete Entrüstung hervorrief. Die bezeichnete Handlungsweise eines Herzogs gegen einen Menschen aus der bürgerlichen Canaille erschien ihnen gar nicht als so außerordentlich, und selbst der Herzog von Sully, von dessen Tisch der Mißhandelte hinweggerufen war, wollte nicht gegen Rohan zeugen. Für Voltaire, der auch bei den Behörden keinen Schutz fand, gab es nun keinen anderen Weg, als die Herausforderung zum Zweikampf. Sein hochgestellter Feind aber kam dieser Ausfechtung zuvor. Mit Leichtigkeit konnte er einen Verhaftsbefehl gegen ihn erwirken, und so wurde der schwer gekränkte und geschädigte Dichter des „Oedipe“ und der „Henriade“ noch obendrein in die Bastille gesteckt. Das waren die „guten alten Zeiten“ auf dem gesammten Festlande Europas!

Der Gefangene wurde zwar bald wieder losgelassen, jedoch mit der Ankündigung, daß er des Landes verwiesen sei und zwar nach – England. Wen der Himmel verderben will, den schlägt er mit gedankenloser Blindheit. Der aristokratische Hochmuth ahnte nicht, was er that und wie sehr er selber das bereits still über ihn hereingebrochene Verhängniß förderte, als er einen so talentreichen und geweckten Bestreiter seiner Ansprüche mit einem brennenden Stachel im Herzen zwangsweise gerade nach dem britischen Eilande spediren ließ. Wahrhaft komisch berührt es, wenn man liest, daß ihn der Kerkermeister wachsam bis Calais begleiten mußte, damit er ja nicht etwa einen anderen Weg einschlage. Das Schiff, welches ihn der Heimath entführte, trug ihn eine neuen Epoche seines aufsteigenden Daseins entgegen.


(Fortsetzung folgt.)
A. Fr.


Aus dem Königreiche der Geiger und Pfeifer.

„Drei Schlösser auf einem Berg!“ beginnt ein oft angeführter Spruch von den Wahrzeichen des Elsasses; er bezieht sich zunächst auf die drei Rappoltsteiner Burgen, welche die schroffen Porphyrkegel über der Stadt Rappoltsweiler, dem Hauptort des herrlichen elsässischen Weinlandes zwischen Schlettstadt und Kolmar, krönen. Auch die übrigen Wahrzeichen: „drei Kirchen auf einem Kirchhof, drei Oesen in einem Saal, drei Städt’ in einem Thal“ fallen auf dieses schöne Gebiet.

Rappoltsweiler (Ribeauviller), von der Bahn mit dem Omnibus rasch erreicht, ist eine der bekanntesten Städte des Landes, besaß aber gleichwohl nie die Reichsfreiheit ihrer Schwesterstädte, sondern befand sich ganz behaglich als Hauptstadt der beträchtlichen Grafschaft Rappoltstein (Ribeaupierre), welche nicht blos den reichen Weinstrich vor dem Gebirge, sondern auch die Bergstadt Markirch, sowie die wälsche Sprachinsel La Baroche und Val d’Orbey in den Hochvogesen umfaßte, also über das

[362] grüne Hochland bis in’s Münsterthal reichte. Mühlen und Fabrikgebäude setzen die engen, buckligen Straßen der Stadt noch tief in’s tannengrüne Thal des Strengbachs fort.

Das stolze Geschlecht, das einst die drei Schlösser auf dem Berg bewohnte, stieg in späterer Zeit etwas weiter herunter und setzte auf die Steinklippe die Giersburg (Girsberg) und das Schloß St. Ulrich, dessen Bogenkranz den Kunstfreund entzückt. Im Reformationszeitalter aber siedelten sich die Rappoltsteiner, gleich anderen Dynasten, ganz im Thale an. Graf Wilhelm, der den Kaisern Maximilian dem Ersten und Karl dem Fünften befreundet war, baute in der oberen Stadt ein Schloß im Renaissancestyl, aus dessen Fensterreihen heute die Zöglinge eines vielbesuchten Mädchen-Institutes über die schönen Anlagen hin auf die alte Stadt und in’s reiche Land hinein schauen.

Unter den Edeln des Landes waren die Rappolsteiner die angesehensten jenseits des Landgrabens, im oberen Lande, und das armlose Männchen mit dem spitzen Türkenhut im Schilde des ritterlichen Geschlechtes hoch geachtet. Von dem Kreuzfahrer Egenolf an, der unter Friedrich Barbarossa Herzog von Spoleto war, treten die Rappoltsteiner mitbestimmend in der Geschichte des Elsasses auf, in älterer Zeit oft verderblich für die Städte. Seit dem fünfzehnten Jahrhundert waren es meistens brave, volksthümliche Herren, die gern an Scherz und Freude der Masse theilnahmen und ein ziemlich patriarchalisches Regiment über ein blühendes Ländchen führten. Glänzten sie jetzt doch weithin als Patrone der „fahrenden Leute“; ihnen gehörte das merkwürdige Königreich der Pfeifer.

Schon in uralten Tagen ging ein poetischer Hauch von den Gestaden der Provence durch’s Rhonethal und das „Völkerthor von Belfort“ in die oberrheinische Ebene, wo auch der deutsche Minnegesang zuerst erblühte. Fahrende Spielleute, wie Heinrich der Gleißner und jener Minstrel Bitterpfiel, der sich im Kampfe Kolmars um seine Freiheit auszeichnete, fanden hier stets guten Ort und das Volkslied seine Pflegestätte, als mit dem Habsburger der Minnesang längst verstummt war und die Meistersängerei in den Zunftstuben der Städte zu klappern begann. Ist doch das Elsaß ein Mutterland des deutschen Volksliedes über Goethe’s Zeit hinaus bis in unsere Tage geblieben. Im Mittelalter wurde das letztere besonders von den als ehrlos geltenden fahrenden Spielleuten von Ort zu Ort getragen. Nun aber traten, wie früher schon in Frankreich die Gaukler, so auch im Elsaß die nicht seßhaften Leute zu einer Genossenschaft zusammen, um sich bürgerliche Rechte zu erwerben. Herr Smaßmann von Rappoltstein (das heißt Maximilian, mit welchem dieser Name in fürstliche Familien kam) übernahm bereitwillig das Patronat über diese lustige Zunft, und Kaiser Friedrich der Dritte bestätigte ihn darinnen. Jetzt waren die Geiger und Pfeifer im Elsaß eine anerkannte Genossenschaft mit Siegel und Brief. Niemandem im Lande außer ihnen war erlaubt, auf den Gassen und in Schenken, bei Hochzeiten, Kirchweihen oder sonstigen Gelegenheiten zu spielen und Kurzweil zu treiben. Und die Herren von Rappoltstein hießen jetzt „die Könige der Geiger und Pfeifer“.

Das „Königreich der Geiger und Pfeifer“, kurzweg auch „Pfeiferkönigreich“ genannt, reichte „im oberen und unteren Elsaß“ – wie die Formel lautete – „zwischen Rhein und Gebirg vom Hauenstein bis zum Hagenauer Forst“, umfaßte also genau das allemannische Sprachgebiet des Landes. Rappoltsweiler war die Hauptstadt dieses wunderlichen Reiches. Hier, am Sitze des Pfeifergerichts, vor welches die Rechtsfälle der Mitglieder zu bringen waren, wo der Oberkönig residirte, sammelte sich die Bruderschaft alljährlich zum großen „Pfeifertag“ (Pfiffersdaui), und zwar im September, am Sonntage nach Mariä Geburt, in der Zunftherberge zur „Sonne“, die noch existirt. Das Zunftbanner mit Trompeten und Pauken voran, dann der von der Rappoltstein’schen Herrschaft ernannte Pfeiferkönig mit der vergoldeten Krone auf dem Haupte, die Schöffen des Pfeifergerichtes im alterthümlichen Aufputze, zum Schlusse – je zwei und zwei – die Spielleute mit ihren tönenden Instrumenten: so ging der lustige Spielmannszug unter Glockengeläute und Volksjubel durch die Stadt in’s Thal. Hinter den blauaufsteigenden, wie im Feuer erstarrten, schroffen und hohen Felswänden rechts in eine Seitenschlucht einlenkend, führten die von Kastanien beschatteten Steinpfade nach der versteckten Capelle des Klosters Dusenbach. Hier stand das wunderthätige byzantinische Madonnenbild, das der Kreuzfahrer Egenolf von Rappoltstein aus Constantinopel mitgebracht hatte. Die Muttergottes von Dusenbach war nämlich die Schutzpatronin der Pfeifer und Geiger, Siegel und Marke der Zunft zeigte deren Bild. Hier mußten sie opfern und beichten, hierher ihre Buße zahlen in Silber oder Wachs, hier am Pfeiferstage die große musikalische Messe abhalten, zu welcher Jeder auf seinem Instrumente spielte. Dann ging der Zug nach alter Satzung vor das Schloß, um der „Herrschaft im Königreich“ zu huldigen, worauf der Pfeifertag im Zunfthause mit fröhlichem Tanze, Mahle und Trunk schloß. Dabei wurde der „König“ ganz, die Schöffen zur Hälfte freigehalten und der Scherge je nach seinem Durste mit Wein versehen. Wer durchaus abgehalten war, die Jahresmarke selbst zu lösen und dem Feste beizuwohnen, mußte den Verhinderungsfall bezeugen lassen und alle Beiträge zahlen, als ob er zugegen gewesen wäre.

Die Wichtigkeit des Pfeifertags für die Genossen war einleuchtend genug. Nur wer hier gegen die übliche Aufnahmegebühren losgesprochen, ins Zunftbuch eingetragen war, seine Jahresmarke gelöst, dem Könige wie der Bruderschaft geschworen hatte und das silberne Bild der Muttergottes von Dusenbach trug, war anerkannter Zunftbruder. Im anderen Falle war ihm zu spielen untersagt und sein Instrument unterlag der Confiscation. Ebenso war untersagt mit einem Anderen zu spielen, der keinen gedruckten Jahresschein besaßt. Am Pfeifertage selbst aber durfte außerhalb Rappoltsweiler nirgends im Lande die Kunst ausgeübt werden.

Im Laufe des sechszehnten Jahrhunderts, nachdem die Pfeifer dem Bauern zum Revolutionstanz aufgespielt hatten und die Herrschaft selbst zum Lutherthum übergetreten war, scheinen die Satzungen des Pfeifergerichts etwas „in Abgang und außer Acht gekommen“ zu sein. In sechsundzwanzig Paragraphen wurden die Pflichten und Rechte der Geiger und Pfeifer aufgezählt, wie sie oben schon großentheils angedeutet sind. Klagsachen seien vor den „König“ und das Pfeifergericht zu bringen, im Berufungsfalle vor „Unsern Hofrath“. Gespielt dürfe nur auf Bestellung werden; der bestellte Spielmann müsse aber auch dann bezahlt werden, wenn man statt seiner einen anderen dinge. Sonst war jeder Zunftbruder befugt, seiner Kunst überall im Königreiche nachzugehen. Nur zu keiner Judenhochzeit durfte aufgespielt werden, es sei denn der Jude zahlte zum Voraus einen Goldgulden, der dem „König“ des laufenden Jahres eingeliefert werde mußte.

Das also geordnete Königreich der Pfeifer und Geiger überstand den dreißigjährigen Krieg, das Aussterben der Rappoltsteiner, den Wechsel der Herrschaft,[1] die französische Besitznahme und ging erst mit der großen Revolution zu Ende. Noch bewahrt die Stadt viele Erinnerungen an dessen Blüthezeiten. Im Rathhause zeigt man eine werthvolle Sammlung von Pokalen, Panzern und Waffen, welche die Herrschaft bei solchen feierlichen Anlässen schenkte. Am alten Markt vor dem „Lamm“ steht noch der Laufbrunnen, den jener ehrenhafte Wilhelm von Rappoltstein im Jahre 1516 errichten ließ. Die vier Wassergießer stellen einen geharnischten Ritter, einen Knappen mit Eselsohren, einen Löwen mit Mönchskopf und den Schalksnarren mit der Schellenkappe vor. Auch der „Pfiffersdaui“ wird noch mit Ball, Essen und Trinken während des Septembermarktes gefeiert, die Ritter des lustigen Königreiches sind jedoch zerstoben. Aber „Spielleut’, durstige Leut“ hat seine Geltung auch nach Auflösung der heitern Zunft im weinreichen Rappoltsweiler, wo nach der Wiedervereinigung mit dem deutschen Reiche sogar ein eigener vielbesuchter Weinmarkt eingesetzt worden ist.

Unter den Prinzen aus dem Reiche der Pfeifer dürfte wohl dem Interesse der Gegenwart keiner so nahe stehen als der Erbgraf Ludwig von Rappoltstein, der später als König Ludwig der Erste von Baiern so berühmt geworden ist. Er war bekanntlich ein Sohn des „guten Max“, der mit Recht für einen der lustigsten Rappoltsteiner Pfeiferkönige gehalten wird. Mit offenem Sinn und offener Hand, war er ein sehr populärer junger Herr im heitern Reiche der fahrenden Leute. Zu Weier im Münsterthal – einem Orte der mit Rappoltstein vereinigten Herrschaft Hohenack – heißt noch eine besonders gute [363] Weinlage „Prinz Max“. Bis 1785, wo er sich mit einer hessischen Prinzessin vermählte, wohnte der lebensfrohe Prinz bald im „Zweibrücker Hof“ am Broglieplatz in Straßburg, bald hielt er in Rappoltsweiler Hof, dessen Schloßkeller gute Weine bargen. Schon damals lächelte dem Herrn im Königreich der Pfeifer von außen eine große Zukunft. Die baierischen Wittelsbacher waren bereits ausgestorben, der Kurfürst von der Pfalz und Maximilians eigner Bruder von Zweibrücken kinderlos. Als nun dem Prinzen 1786, in den Tagen, wo die Kunde von Friedrich’s des Großen Tod die Welt durchschütterte, ein Söhnlein, unser eben erwähnter Ludwig, geboren ward, da war der Jubel in Mannheim, München und Zweibrücken laut, am lautesten im Königreich der fahrenden Leute. Ludwig der Sechszehnte war Taufpathe und schenkte ein Oberstenpatent; die Grenadiere des Regiments d’Alsace gaben ein Wiegenkissen, das mit ihren zu diesem Behufe abrasirten Schnurrbärten gefüllt war, und noch heute kauft man im Elsaß die Bilderbogen, welche Kissen und Grenadiere darstellen.

Zur schönen Jahreszeit kam der kleine Erbgraf Ludwig mit seiner sanften Mutter öfter in die Hauptstadt des Pfeiferkönigreichs. Das Schloß daselbst bildete einen reizenden Aufenthalt, und mit dem Jahrestage der Pfeifer reiften stets die köstlichen Weintrauben. Da machte die Revolution auch dieser Herrlichkeit ein jähes Ende. Wie so manche Krone, fiel auch die harmlose des Pfeiferkönigs in den Staub mit dem bunten Flitterstaat des Musikantenreichs. Prinz Max floh mit Weib und Kind aus dem aufgewühlten Elsaß; in Rappoltsweiler wurde der Freiheitsbaum und die rothe Mütze aufgepflanzt, das herrschaftliche Beamtenthum verjagt, das Schloß zum Theil abgebrochen, zum andern Theil als Gewahrsam für unbeeidete Priester verwendet und dann als Nationaleigenthum verkauft, bis eine heute unter pfälzischer Leitung blühende Erziehungsanstalt im Schlosse des Prinzen Max einzog. Rappoltsweiler hatte keine Beziehungen mehr zu den Wittelsbachern.

Prinz Max hatte unterdeß eine werthvolle Königskrone eingetauscht, die von Baiern; Ludwig aber, der das Musikantenkönigthum eingebüßt hatte, ward dennoch ein Fürst im unvergänglichen Reiche der Kunst. Da er im Jahre 1805 wieder – als junger Kronprinz von Baiern – elsässischen Boden betrat, um am Hoflager der Kaiserin Josephine in Straßburg gezwungener Weise französische Triumphe mitzufeiern, sprach er das ihm von Napoleon nie vergessene Wort:

„Das sollte mir die theuerste Siegesfeier sein, wenn diese Stadt, in der ich geboren bin, wieder eine deutsche Stadt würde.“ – –

Während seines langjährigen Aufenthaltes in München hatte Schreiber dieser Zeilen nie eine Ahnung gehabt, daß sich der greise König Ludwig um ihn und sein Thun kümmere. Daß es geschah und wie es geschah, ist charakteristisch für ihn. Eines Sommertages im Jahre 1863 trat ein mir fremder Herr in die Redactionsstube meiner Wohnung, welche dem Wittelsbacher Palast gegenüberlag: Herr von Hüther, der Cabinetsrath des greisen Königs Ludwig, und zwar mit einem überraschenden Auftrag. Der König wünsche nämlich von mir, dem Dichter des Jungfriedel, die Festhymne zur Eröffnung der Befreiungshalle von Kehlheim am Jubiläum der Leipziger Schlacht. Nun ließ mir aber meine damalige angestrengte Redactionsthätigkeit weder Zeit noch Stimmung zum Dichten, und nur das liebenswürdige Zureden des Abgesandten überwand mein Sträuben. Das Lied sollte nach der Weise des Walhalla-Chores gesungen werden – eine unangenehme Beschränkung. Doch sollte darin weder von dem König selbst, noch von Baiern die Rede sein. Nur deutsch, deutsch sollte es sein, – das klang anregend aus königlichem Gemüth. Aber Monate vergingen; immer ängstlicher klang die Nachfrage von Salzburg her; „Was macht die Festhymne?“ Endlich, in der Nacht vor einer Erholungsfahrt in die Heimath, entstand das Lied, und ich trug es hinüber in den Wittelsbacher Palast. Während ich noch bei dem Herrn Cabinetsrath verweilte, trat der greise König, schon mit Tagesanbruch an der Arbeit, selbst ein und sprach seinen Dank leutseligst aus. Ich aber flog zur Eisenbahn, dem Rheine zu, wohin meine Lieben schon vorangezogen waren. Am 18. October wurde dann das Lied, unter Leitung meines verehrten Freundes Franz Lachner, von den Sängern des Donaugebietes vor der Einführung der Festgäste in die Befreiungshalle vorgetragen, drinnen König Ludwig’s: „Heil euch, tapfere Männer, muthige Krieger!“ und Arndt’s „Vaterlandslied“ gesungen.

Darf ich die Verse anführen? Als Zeugniß, wie ein deutscher Fürst 1863 dachte und wünschte, daß man denke, finde wenigstens der Schluß hier seinen Platz:

„Knüpfen wir beim Lob der Ahnen selbst der Eintracht festes Band,
Bleibt der Sieg bei deinen Fahnen, großes deutsches Vaterland.

Jugendfrisch wirst du erstarken in der alten Heldenkraft,
Und an unsern fernsten Marken flaggt dein Banner stolz vom Schaft.
Greift der Feind mit lecken Händen unsre Ehre frevelnd an –
Reißt die Waffen von den Wänden! Deutsche Jugend, stürm’ heran!

Und vor wildem Schlachtengrauen, Büchsenknall und Schwerterschlag
Sei verstummt in Deutschlands Gauen Redespiel und Festgelag!
Erst errungen, was im Westen, was im Norden es verlor:
Dann in heil’gen Siegesfesten jubeln wir zu Gott empor.

Ja, der Pulvernacht entsteigen wird ein Tag voll Siegesglanz,
Der das Vaterland wird zeigen mächtig, unversehrt und ganz.
Weltbeleuchtend, sonnenscheinig lodre der Begeist’rung Brand –
Deutschlands Völker jubeln einig: Heil dir, großes Vaterland!“

Nach sieben Jahren war Alles erfüllt, das Reich und das Elsaß wieder gewonnen. Der Fürst aber, der es am sehnlichsten erhofft, König Ludwig der Erste von Baiern, hatte es nicht mehr erlebt.

Im Elsaß erinnerte man sich seiner Landsmannschaft wohl und war stolz auf dieselbe. Als ich im Jahre 1856 nach Mühlhausen und über Straßburg zurück reiste, erkundigte man sich in den Kreisen der Stöber sowohl, wie in denen von Gustav Mühl und Schneegans am angelegentlichsten nach dem alten Könige, dem Künstlerfreund, dem elsasser Fürstensohn. In der That, der Erbgraf von Rappoltstein, der letzte Pfeiferprinz, hat dem Königreich der kunstreichen „varenden Lüt“ keine Unehre gemacht. Seine Fehler hatte er mit Vielen gemein; seine Tugenden gehörten ihm allein. Ludwig’s Name wird – trotz arger, unbegreiflicher Irrthümer – in der Entwickelungsgeschichte Deutschlands als einer der hellsten leuchten. Als Verdrossenheit und Verzweiflung an des Vaterlandes Zukunft so manche Kraft gelähmt, gab er der Volksseele einen Anhalt zur Erhebung: die deutsche Kunst. Noch leuchtet sie freundlich in unsere eiserne, rauhe Zeit und tröstet für manche trübe Erscheinung.

August Becker.



Alwine.
Der Wirklichkeit nacherzählt von Paul Wislicenus.
(Fortsetzung.)


Ich wußte nicht mehr, was ich von Alwine halten sollte. Den andern Tag saß sie auf einem der Feldstühle auf dem Hinterdeck; sie war schöner als je. Erst jetzt, wo ich ihr wieder fern stand, empfand ich so recht das Verführerische ihrer Schönheit. Ich sah sie lange unbemerkt an und weidete mich an ihrem Anblick. Aber ich sagte mir auch, warum sie so verführerisch schön war. Weil sie aus einem Gemisch von Zutrauen und abstoßendem Stolze zusammengesetzt war. Während ich sie unbemerkt durch mein Glas musterte, bedauerte ich sie, denn jetzt, da sie mich beleidigt hatte, war sie vollständig vereinsamt. Ich bekümmerte mich nicht mehr um sie. Allen auf sie bezüglichen Fragen wich ich aus, und alle Bemerkungen über sie beantwortete ich mit einem Achselzucken; ich konnte nicht anders handeln.

Es war am vierten Tage nach unserem Wortwechsel. Unter großen, schön gefärbten zerrissenen Wolken, die bei kühlem Winde am blauen Himmel über das finstere Meer hinzogen, tummelte sich auf den Schaumfurchen eine Menge großer Fische, von etwa Manneslänge, die einen eigenthümlich fesselnden Anblick darboten. Die schöne Nürnbergerin, an deren Schooße eben Charlie lehnte, erblickte die Heerde Tümmler zuerst.

„O sieh, Charlie, die Fische!“

[364] „Ja, und wie viele!“

Wir kamen den Tümmlern immer näher.

„Sehen Sie, Lady, die langen Schwänze?“ Und lustig sprangen die mächtigen Fische auf dem dunklen Wasser umher.

Ich sehnte mich nach einem freundlichen Wort von Alwine und meinte, sie habe hier eine gute Gelegenheit, ihr Unrecht wieder gut zu machen. Allein sie rührte sich nicht; die Tümmler glitten vorüber, und wir waren wieder mit unserer Verstimmung allein.

Den andern Tag sahen wir in der Ferne das Meer rosenroth. Die Farbe näherte sich in Gestalt eines ungeheuren, ganz flachen, rothen Eilandes, und wir fuhren pfeilschnell darauf zu und endlich hinein. Es waren rosenrothe Quallen, deren Heerde weithin das Meer bedeckte; schöne glockenförmige Weichthiere mit zarten Fleischfransen, eines am andern. Ich sah sie zum ersten Male. Sie sollen sehr giftig sein, eine Berührung mit der Hand, sagte man, vergifte den Menschen. Ich dachte daran und mit einem aufsteigenden Gefühl von Bitterkeit sagte ich mir: Sie hat dich vergiftet, ohne Berührung, durch ihre herben Worte. Aber dieses Gefühl war kein nachhaltiges. Ich gewöhnte mich an die Kluft zwischen uns, – zuletzt wurde Alwine mir mehr und mehr gleichgültig.

Charlie war schon öfters in der Cabine des Steuermanns gewesen und jedesmal mit Cider, Pastete oder Obstkuchen tractirt, sowie mit Apfelsinen, Trauben und Mandeln beschenkt worden. Charlie war ein anhänglicher Junge; gewöhnlich ging er mit Lust und Munterkeit sofort zu seiner „Lady“, ließ sich von ihr auf den Schooß heben und erzählte ihr, was er eben wieder bekommen habe, während zum Beweise der Wahrheit die kleinen Hosentaschen von Apfelsinen aufgetrieben waren und ihm, während er Mandeln knackte, die Rosinentrauben zur Weste herausguckten. Ebenso hatte sie seine Bilder schon längst gesehen, und es verging kaum ein Tag, daß er nicht auf ihrem Schooße mit Mühe sich festhalten ließ und mit ihr in seiner altklugen Weise plauderte.

Das Wetter war stürmischer geworden; die schöne Nürnbergerin saß in einem schützenden Winkel zwischen einer auf Deck gebauten Cabine und dem Speisesaal. Der viereckige Zwischenraum zwischen beiden war gegen die eine Seite des Schiffes durch eine Wand, gegen oben durch eine Decke geschlossen und nur nach der andern Seite offen. Der Raum sollte den Passagieren als Zuflucht gegen den Regen dienen. In ihm saß Fräulein Bodinus allein, denn das Verdeck war fast menschenleer; nur Charlie war bei ihr. Vorn am Bug lotheten die beiden Seeleute, welche beauftragt waren, mit Hülfe des Senkbleis die Tiefe des Wassers festzustellen. Wir waren, um einer vom Capitain vermutheten im Ocean herumschwimmenden ganzen Schwadron von Eisbergen auszuweichen, in die Nähe der Beaufort- oder Milne-Bank gerathen, welche, näher an Amerika als an Europa, noch ziemlich in der Mitte des atlantischen Oceans liegt. Unsere Reise war überhaupt von außergewöhnlichen Erscheinungen begleitet, Erscheinungen, welche dieselbe zwar sehr interessant machten, die man jedoch gerade in dieser Jahreszeit nicht hatte vermuthen können. In Gedanken versunken, stand ich auf dem Hinterdeck und blickte nach einem Schiff, das fernab mit vollen Segeln und in hellem Sonnenschein auf einem glänzenden Streifen schäumenden Wassers unsern Cours kreuzte. Dann verfolgte mein Blick einen Walfisch, der, nachdem er unser Schiff eine Strecke begleitet hatte, weit zurückgeblieben war und sich ebenfalls im Sonnenscheine auf dem erleuchteten Wasser herumtrieb.

Da plötzlich – ein fürcherlicher Ruck – das Schiff saß fest. Ein heftiges Rufen, wildes Rennen und Laufen! Die Passagiere stürzten auf Deck, bleich und hohläugig; der Bootsmann fluchte; die Mannschaft rannte durcheinander. Der Capitain sprang auf die Brücke. „Was ist geschehen?!“ ächzten die Passagiere. „Wir sitzen fest.“ Und kaum hatte ich die Worte über die Lippen, als hinter mir mit einem lauten Aufschrei Alwine Bodinus in Ohnmacht sank. Ich fing sie in meinen Armen auf.

„Stopp!“ schrie der Capitain von der Commandobrücke.

„Sto–pp!“ erklang die Antwort aus dem Maschinenraume.

„Rückwärts!“

„Rü–ckwä–rts!“

Das Schiff erzitterte; die Räder drehten sich, und das Fahrzeug ging, schäumendes Wasser nach vorn sendend, langsam rückwärts.

„Kriegt ihr es los?“ schrie der Capitain hinunter, zu denen, die vorn am Bord beschäftigt waren.

„Es ist zerrissen,“ war die Antwort.

„So laßt es sich loswickeln, und vermöge seiner eigenen Schwere versinken. – Ist etwas an der Maschine beschädigt?!“ rief er in den Maschinenraum hinab.

„Nein.“

„Also! Geht sie leicht?“

„Ja.“

Well, dann – vorrwärrts!“

„Vo–rrwä–rrts,“ tönte es dumpf aus dem Maschinenraume.

Die Räder standen einen Augenblick, während das Schiff noch rückwärts glitt, dann bewegten sie sich wieder; das Schiff bebte und zitterte; das Wasser schäumte und rauschte wieder nach hinten, und unbehelligt ging das Schiff weiter, unserem fernen Ziele zu.

In demselben Augenblick kam aus dem Knäuel der Schiffsmannschaft vom Radkasten her der Steuermann Jay Robinson, ein Waschbecken mit Wasser in der Hand, auf uns zu.

„Es ist Nichts, – keine Gefahr, kleine Episode; die verdammten Bursche lotheten vor dem Rad, und so hatte sich das Senkblei in das Rad verwickelt.“ -

Und er kniete nieder und sprengte Alwine Wasser in’s Gesicht. Als sie die Augen aufschlug, tauchte er ein frisches weißes Taschentuch in’s Wasser, legte es ihr auf Stirn und Schläfen, grüßte mit der Mütze, nahm das Waschbecken in die linke Hand und verschwand. – Nach kurzer Zeit konnte man Alwine in die Kajüte führen. –

Den folgenden Tag saß sie, noch immer bleich, auf dem Verdeck, in ihrer geschützten Einsiedelei. An ihre Kniee schmiegte sich Charlie. Sie streichelte ihm das Haar, und er plauderte:

„Der Cider ist nun alle, er hat keinen mehr, aber er sagt, er werde neuen kriegen vom Koch. Und hier hat er mir diese zwei Apfelsinen gegeben, und es sind die schönsten, die er hat. Er läßt auch schön grüßen und sagte, Du sollst die große essen. Du wirst viel Freude daran haben; sie schmecken süß.“

Alwine zauderte – nicht. Sie ergriff die Apfelsine und aß sie. Sie verstand es auf eine sehr zierliche Weise, sie zu schälen. Indem sie oben den Blüthenknopf heraushob, schnitt sie von demselben aus meridianförmige Linien nach dem Südpol der Apfelsine, jedoch nicht so weit, daß die Schnitte sich in dem unteren Punkte vereinigt hätten. Dann bog sie die lanzettlichen Kreisschnitte der Orangenschale wie einen Blüthenkelch von der Frucht nach außen, faßte mit ihren feinen Daumen von oben zwischen die zart behauteten Sechszehntel hinein, brach sie vorsichtig auseinander und präsentirte Charlie die Frucht. Jauchzend pflückte er sich ein Stückchen heraus und aß es. Miteinander verzehrten sie allmählich das Ganze. Dann nahm Alwine, auf Charlie’s schmeichelnde Bitten hin, die nämliche Procedur an der kleinen Apfelsine vor.

Als beide verzehrt waren, hielt sie die übrig gebliebenen sternförmigen Schalen in den Händen, besah eine nach der andern, gab sie Charlie zurück und sagte ihm, er solle die größere von beiden Herrn Robinson bringen und ihm sagen, dies sei der Beweis, daß sie die Apfelsine gegessen habe. Charlie richtete sofort den Befehl aus. Die kleinere Schale brachte er seinen Eltern, zeigte sie stolz Pa und Ma, ließ sie in der Gesellschaft herumgehen und bat Ma, sie aufzuheben.

Als der wettergebräunte Jay Robinson die arme Apfelsinenschale in der Hand hatte, preßte er sie dreimal heftig an den Mund; sein ganzes Gesicht zuckte; er stürzte nieder und verbarg knieend Kopf und Hände in der Bettdecke. – –

Am andern Morgen sahen wir ihn oben im Fockmast, rüstig, kräftig und munter, die Matrosen befehligend, die beim Aufspannen der Segel beschäftigt waren. Es hatte sich ein günstiger Wind erhoben, und der Capitain befahl, ihn zu benutzen und die Dampfkraft unseres mächtigen Schiffes durch die aufgespannten Segel wirksam zu unterstützen. Das Wetter war schlecht; es regnete. Keine Dame war auf Deck, auch die Einsiedelei war leer. Wind und Regen trieben gerade von der offenen Seite [365] hinein, und Jay Robinson selbst hatte „Miß Bodeinös“ gebeten, sich bei dem kalten Wetter zu schonen und sich in den Speisesaal zurückzuziehen. Soeben war er aus seinen Mastkörben und Strickleitern heruntergestiegen, als wir in dem Speisesalon die Töne des dort aufgestellten Pianinos und Gesang hörten. Es war ihre Stimme. Wir lauschten. Dann öffneten wir leise die Thür, um zuzuhören, sie aber schien uns nicht zu bemerken. Sie sang mit voller, kräftiger Stimme weiter, beendete das Lied und stand auf. Dann sah sie ihn und mich in der Thür stehen; sie schrak plötzlich zusammen, erwiderte unsern Gruß und ging in ihre Cabine.

Der Abend war schwarz, sternenlos die Nacht. Das Meer hatte sich etwas beruhigt. Wind und Regen jagten nicht mehr in die offene Klause hinein. Alwine war nicht beim Abendessen. Der Steuermann hatte auf dem Deck die Wache, und sie war oben mit Charlie in ihrer Klause, „Pa“ und „Ma“ sprachen davon. Das Blut schoß mir in den Kopf; seit ich das schöne Mädchen in den Armen gehalten, war es wieder vorbei mit der inneren Unempfindlichkeit, und jetzt hatte ich einen Anfall von Eifersucht.

Ich verließ den Tisch und stieg langsam, im Grunde innerlich beschämt, auf das Deck. Als ich in die Nähe der Klause kam, überzeugte ich mich, daß die Drei im Dunkeln beisammen saßen, Alwine, Charlie und Jay Robinson; der Steuermann mußte eben eingetreten sein, denn ich hörte ihn sagen:

„Sie sind hier, Fräulein? Es ist viel für junge Ladies, an einem dunklen Abend auf Deck zu sein.“

„O – ich liebe die Dunkelheit,“ antwortete ihre Stimme.

„Sie lieben das Finstere? So? Fürchten Sie sich gar nicht im Dunkeln?“

„Wenn ich allein bin, ja, aber Charlie ist bei mir.“

„O, Charlie ist ein guter Knabe. Nicht, Charlie. Du hast die junge Lady lieb?“ und er streichelte Charlie’s Kopf.

„Ja, ich liebe die wunderschöne Lady. Aber ich liebe Dich auch, und vielleicht – ich liebe Dich noch mehr.“

„Weshalb?“

„Ei, sie giebt mir keine Bilder; sie sieht sie sich nur an, und sie giebt mir keinen Cider und keine Apfelsinen; sie schält sie nur und ißt sie. Aber ich liebe ihre Stimme, und ich sitze gern auf ihrem Schooß,“ sagte Charlie.

„Ein drolliger kleiner Bursche! Frieren Sie nicht, Miß Bodeinös?“

„Nein, durchaus nicht, mein Herr. – Was ist das für ein Licht?“

„Es ist ein Schiff, Mylady; es hat Cours nach Europa. Es kreuzt gegen den Wind, ein schlechtes Geschäft für so ein armes Segelschiff. Denn Sie müssen wissen, Mylady, daß wir den Wind für uns haben, und wenn es so fort geht, sind wir binnen vier oder fünf Tagen in New-York.“

„Fahren wir so schnell?“

„Sehr schnell, Mylady. Wir machen acht Seemeilen in der Stunde.“

„Gehen Sie heute Nacht wieder in den Mast?“

„Vielleicht.“

„Thun Sie es nicht.“

„Warum nicht, Miß Bodeinös?“

„Weil es so dunkel ist. Im Dunkeln stürzt man leicht. Und die See geht doch gar zu hoch.“

„Haben Sie keine Angst. Oben die Laterne am Mastkorb beleuchtet die Strickleiter. Und dann, was die Nacht und die hohe See anbetrifft, so habe ich schon viel schlimmere Nächte und viel stürmischeres Wetter erlebt, als dieses.“

Ein ungestörtes Plauderstündchen, während alle Welt speiste! Ich quälte mich, etwas wie sittliche Entrüstung zu empfinden, und es gelang mir ein wenig, während ich in den Speisesalon zurückkehrte.

Die schöne Fremde blieb bis elf Uhr auf Deck, aber indeß wir noch speisten, kam Charlie schon wieder. Der kleine Bursche war sehr munter und aufgeräumt.

„Dieser zweite Steuermann ist ein liebenswürdiger Seemann,“ sagte das altkluge Kerlchen; „er weiß so viele Geschichten zu erzählen, und ich liebe ihn sehr.“

Charlie hatte ein feines Gefühl. Dieser zweite Steuermann war wirklich ein liebenswürdiger Seemann. Welche Gründe hatte ich eigentlich, Alwine das Wohlgefallen an ihm zu verargen?

Der folgende Tag war kalt und stürmisch. Der Wind blies uns ganze Regenschauer in’s Gesicht, und das Deck triefte von Wasser. Alles zog sich in den Speisesalon zurück. Das Schiff schwankte und schlug gegen die Wellen, die an seiner Seite aus einander barsten. Ich war allein mit Jay Robinson und Charlie auf dem Deck geblieben; wir hüllten uns in unsere Regenmäntel und sahen auf das Meer, das seine mächtigen Wogen gegen uns heranwälzte. Bald stieg der finstere Horizont mit rasender Schnelligkeit vor unseren Augen empor, und das wilde Meer mit seinen weißen Schaumkämmen entwickelte sich in seiner ganzen Ausdehnung vor unseren Blicken und brüllte und gellte uns wie ein Hexensabbath von tollen Wassergeistern in die Ohren; bald versank das Ganze wieder hinter der steigenden Schiffswand und hinter uns schien die gegenüberliegende Wand in’s Meer zu sinken. Der Wind pfiff durch die Taue und wollte Charlie den Hut abreißen, aber der kleine Bursche hielt ihn tapfer fest.

„Halte ihn gut!“ ermahnte der Steuermann.

„Keine Angst!“ rief Charlie zurück.

Endlich kamen die Sturzseen. Die heftigen Wogen schwollen immer höher, und krachend platschten sie an die Wandung des geneigten Schiffes. Ein breiter Strom Wassers übergoß das Deck und schwemmte mit Blitzesschnelle alle Ecken und Vertiefungen aus. Der ersten Woge folgte eine zweite, der zweiten eine dritte, jede heftiger als die vorhergehende. Wir schickten den bangen Charlie hinein. Jay Robinson führte ihn in die Thür, schloß dieselbe hinter ihm wieder und kehrte zu mir zurück. Dann entspann sich zwischen uns folgendes Gespräch:

„Sie sind ein Deutscher?“ fragte er.

„Ja.“

„Sind Sie noch nie auf der See gewesen?“

„Bereits zweimal.“

„Waren Sie schon in Amerika?“

„Ja; ich kenne Boston, Philadelphia, auch New-York, denn ich wohnte einen Sommer in West-Hoboken bei New-York.“

Sein Gesicht hob sich, als ich das sprach.

„In West-Hoboken?“ meinte er. „Dort bin ich zu Hause.“

„Ei!“ sagte ich überrascht. „Es war im Sommer 1867, als ich dort wohnte, und ich habe das große Feuer mit angesehen. Sie müssen noch Kind gewesen sein damals.“

„Zehn Jahre alt,“ nickte Jay Robinson.

„Sie erinnern sich wohl nicht, daß einer Ihrer Altersgenossen für ein paar Tage durch den Brand zu einer Berühmtheit wurde? Ein prächtiger Bursche.“

Jay Robinson schwieg.

„Er hatte bei jenem Brande Niemandem das Leben gerettet. Gott bewahre! Er hatte nur Möbel und Bettdecken gerettet, hatte letztere aus dem Fenster geworfen und war, arg versengt und halb erstickt, darauf hinabgesprungen und unten bewußtlos liegen geblieben. Und als er in einem Nachbarhause wieder zu sich gekommen, hatte er mit schwacher Stimme gefragt, was aus dem armen Canarienvogel geworden sei, der oben in dem Zimmer gestanden hätte. Das Thier war wie toll in seinem Käfig herumgeflattert, als der Bursch, ein Kind noch, in das Zimmer stürzt, um retten zu helfen; er schleppt, wie ihm geheißen ist, zuerst die Polstermöbel hinunter, und als er wieder hinaus kommt, hört er das Thier noch ängstlicher piepsen und flattern. Athemlos, will er zum wenigsten das Bauer öffnen, aber eine Drahtstange hat sich verbogen und ist nicht vom Flecke zu bringen; und als er noch die anderen Stühle hinuntergeschafft, läuft er wieder hinauf, um das Bauer zu holen, – aber das Feuer versperrt ihm die Treppe. Zweimal, dreimal rennt er hinein und brennt sich die Kleider an, dann sinkt er vor Rauch in der Stube halb bewußtlos um. – Als er sich wieder aufrafft, brennt die Stube – mit raschem Entschlusse packt er die nächste Federdecke, wirft sie aus dem Fenster und springt darauf. Im Sprunge vergehen ihm die jungen Sinne. Er hat nachher den Vorfall vor den Ohren einiger eifriger Zeitungsreporter erzählt. Als er erfahren, daß der Vogel verbrannt sei, hätte der Bursch unter Thränen gerufen: ‚er werde nie dulden, daß die verdammten Menschen wieder ein Thier in so einen verdammten Kasten sperrten und es dann verbrennen ließen in so einem verdammten Feuer,‘ und dann wäre er aufgestanden und hätte sich den Ruß aus dem Gesichte gewischt und gefragt, wie man den Rauchgeruch aus den Kleidern brächte.“

[366] Der junge Seemann vor mir lachte leise vor sich hin. „Ungefähr verhielt es sich so,“ sprach er endlich, und es klang etwas wie kindliche Freude in seiner Stimme. „Ich weiß das, denn der Bursch war ich selbst.“

„Sie selbst?“ Und ich trat einen Schritt näher auf ihn zu, und mein Herz brach wie eine Blume auf gegen den bescheidenen, kraftvollen Mann da vor mir. „Ich gratulire Ihnen, Jay Robinson,“ sagte ich, ihm warm die Hand schüttelnd, „ich für mein Theil glaube, daß der Mann hier vor mir das ist, was der Knabe zu werden versprach.“

„Es ist mir werth, daß Sie freundlich von mir denken,“ meinte er mit leichter Verlegenheit.

Seltsamer Widerspruch der Natur! Während uns der Regen in’s Gesicht schlug und das ganze Weltall zu Wasser geworden schien, während der Himmel die Tiefe, auf welcher der Geist Gottes vor der Schöpfung schwebte, mit feuchten, triefenden Wolkenmassen überzog und die Sturzseen zu unsern Füßen spielten, dachten wir an das große Feuer in West-Hoboken und meinten, wieder bei dem glühend heißen Brande zu sein. Aber eine heftige Sturzsee zog unsere Aufmerksamkeit zurück auf das Meer.

„Wie lange sind Sie schon auf der See?“ fragte ich den Steuermann.

„Fünf Jahre.“

„Weshalb sind Sie Seemann geworden?“

„Weil ich gern Schiffsjunge sein wollte.“

„Schiffsjunge? Gern – Schiffsjunge?“

„Ich hatte als Knabe immer eine Neigung zu abenteuerndem Leben.“

„Aber die schwere Arbeit –“

„Reizte mich nur. Ich war nie fröhlicher, als bei der Arbeit. Sie nannten mich immer den Regenpfeifer, weil ich im unfreundlichsten Wetter bei jeder Arbeit pfiff. Aber jetzt –“

„Jetzt?“

„Sehne ich mich nach Hause. Ich will heirathen und eine Landratte werden. Ich habe das Leben satt. Es ist schön, selbst Seemann zu sein, aber wenn man arme Frauen und Kinder ertrinken sehen muß –“ er hielt inne.

„Haben Sie schon eine so beklagenswerthe Scene gesehen?“

„Ja, als die ‚Arctic‘ scheiterte. Ich hatte Dienste auf dem Schiffe genommen, und ich erlebte die Strandung mit. Aber ich mag nicht davon erzählen.“

„Thun Sie es nicht! Es hört sich in dem Wetter nicht gut an.“ Ich schwieg eine Weile. „Aber wie wird es Ihnen auf dem Lande ergehen? Werden Sie sich in das Leben auf festem Boden hineinfinden?“

„Das weiß ich noch nicht. Ich frage mich jetzt nur, ob ich mich aus dem Seeleben hinausfinden werde.“

„Gut. Und seit wann sind Sie verlobt?“

„Ich bin es nicht.“

„Ah so, ich vermuthete. Und wann wollen Sie sich verloben?“

„Das weiß ich nicht.“

„Also steht es noch ganz in weiter Ferne. Und wann haben Sie Ihren Entschluß gefaßt, dem Seemannsleben zu entsagen?“

Er schwieg.

„Wollen Sie nicht sich verheirathen und trotzdem Seemann bleiben?“

„Nein. Das ist ein Unrecht gegen die Frau. Man läßt sie allein auf dem Lande zurück; man läßt sie gleichsam im Stiche. Auch habe ich mich schon seit etwa einem Jahre wieder nach dem festen Lande gesehnt. Ich bin zum Seemann zu schlecht – oder zu gut, wenn Sie so wollen,“ setzte er hinzu.

„Und wann werden Sie das Schiff verlassen?“

„Das weiß ich nicht.“ –

(Fortsetzung folgt.)





Die Campmeetings.
Ein Bild religiösen Lebens aus Nordamerika.
Das Leben auf einer Lagerversammlung. – Zur Geschichte der Lagerversammlungen – Die Methodisten. – Ein weiblicher Apostel.

Es war auf meinen Irrfahrten während der ersten Jahre meines Aufenthaltes in Amerika, daß ich nach dem Eastern Shore an der atlantischen Küste der Vereinigten Staaten verschlagen wurde. Auf dieser Halbinsel, die im Osten vom Ocean und im Westen von der Chesapeak-Bai eingeschlossen wird, weilte ich längere Zeit bei einem gastfreundlichen Farmer in Queen Anne’s County, Md. Dort war es, wo ich zuerst einem Campmeeting oder einer Lagerversammlung, wie der Deutsch-Amerikaner diese eigenthümlichen Andachtsübungen nennt, beiwohnte. Ich hatte schon viel von den Versammlungen gehört und gelesen, aber nie Gelegenheit gehabt, diese religiöse Narrheit aus eigener Anschauung kennen zu lernen. Als daher eines Tages von Seiten eines Bekannten die Aufforderung an mich erging, mit ihm nach einer Lagerversammlung zu fahren, sagte ich mit Freuden zu und fuhr mit ihm gleich am nächsten Morgen in einem sogenannten Buggy (kleinem Wagen) zu dem einige Meilen von Church Hill, Queen Anne’s County, gelegenen Platze der Versammlung.

Wer noch nie auf einem Campusmeeting war, vermag sich kaum eine Vorstellung von einem solchen zu machen. Man gewinnt im ersten Augenblick den Eindruck, als ob man sich einem Platze näherte, der erst vor wenigen Wochen von Colonisten gegründet worden. Mitten im Walde, unter hohen schattigen Bäumen sind Wege angelegt, und an beiden Seiten derselben reiht sich eine Hütte an die andere; sie sind roh aus Holz gezimmert; daneben erblickt man auch viele Leinenzelte. So unscheinbar diese Hütten und Zelte auch von außen sind, im Innern sind doch manche recht wohnlich eingerichtet. Ein feiner Brüsseler Teppich entzieht oft die rohen Bretter des Fußbodens den Augen des modernen Zeltbewohners, während die Möbel, welche die inneren Räumlichkeiten schmücken, gar häufig aus den ersten Magazinen der Großstädte stammen. Andere Hütten sind allerdings einfacher eingerichtet. Eine Strohmatte vertritt mitunter die Stelle des Teppichs, und oft fehlt auch diese. Den Mittelpunkt einer solchen Zeltstadt bildet die für die Geistlichen errichtete Kanzel oder der „Stand“. Vor diesem Stande sind zahlreiche Bänke angebracht, auf denen die Andächtigen oft vom frühen Morgen bis zum späten Abend den Predigten lauschen, die fast ohne Unterbrechung gehalten werden.

Trotz der frühen Stunde unserer Ankunft wimmelt das ganze Gehölz von einem Getümmel der buntesten Art. Während hier ausgeschirrte Pferde in großer Anzahl inmitten einer förmlichen Wagenburg stehen und an mächtigen Heubündeln oder vollen Hafersäcken ihren Hunger stillen, lärmen dort Schaaren von Kindern – meist halbwüchsige Buben – tiefer im Walde umher. An heimlichen Plätzen legt auch wohl eine Gruppe von Schönen die letzte Hand an die Toilette, oder es wandert ein glückliches Paar umschlungen durch das lauschige Waldesgrün. In den Kosthäusern herrscht schon ein reges Leben. Da kocht, bäckt und schmort bereits eine große Auswahl von Gerichten der bevorstehenden Mahlzeit entgegen. Eiserne Kochöfen wurden sammt den dazu gehörigen Utensilien in’s Lager transportirt und ermöglichen nun die sorgfältigste Ausübung der Kochkunst.

In dem großen offenen Schuppen am Ende des Platzes hat sich unterdeß eine ehrbare, ehrwürdige Gesellschaft von Herren in schwarzen Röcken, weißen Halsbinden und hohen Cylinderhüten eingefunden. Es sind Methodistenprediger – das sieht man an ihrer Kleidung und Haltung, an ihrer salbungsvollen Begrüßung und gemessenen Unterhaltung. Ihre Bewegungen sind bedächtig, ihre Mienen süß – Alles an ihnen ist mild, sanft, christlich, brüderlich.

Die Herren stehen oder sitzen in Gruppen; allein ihrer Rede fehlt der rechte Fluß, denn alle Augenblicke erscheinen entweder neue Collegen, oder es nahen sich Mitglieder der

[367]

Ein Methodisten-Campmeeting.
Nach der Natur aufgenommen von S. C. Allison.

[368] Gemeinde, Männer, Frauen, selbst junge Mädchen, welche ihren Seelsorgern die schuldige Hochachtung bezeigen wollen, und bei jeder Unterbrechung wiederholt sich das Lächeln, die salbungsvolle Begrüßung, das feierliche Handschütteln.

Zuletzt jedoch scheint die Zahl vollständig zu sein, denn man schielt nach der Uhr und der Sonne, welche schon ziemlich heiß auf die Menge herabzuscheinen beginnt. In die Versammlung kommt eine tumuluarische Bewegung, welche indessen nur der Vorläufer einer tiefen darauf folgenden Stille ist. Auf den Bänken des offenen Platzes ordnet sich die zahlreiche Gemeinde; die Prediger reihen sich die Sitze entlang, welche an den inneren Wänden des Schuppens hinlaufen, und einer von ihnen, ein Mann von ehrwürdigem Alter und Aussehen besteigt die Tribüne und erklärt die Uebungen für eröffnet. Er leitet dieselben durch eine kleine Rede ein, in welcher er auf den gottgefälligen Zweck der Zusammenkünfte hinweist. Alsdann kniet er nieder, und die ganze Gemeinde folgt seinem Beispiele. Man erhebt sich plötzlich von den Sitzen, dreht sich, kniet auf den Erdboden und birgt die Gesichter auf den Bänken. Bei diesen demüthigen Geberden vergessen die Andächtigen aber keineswegs die nöthige Sorgfalt für ihre neuen Anzüge. Während die Frauen ihre Oberkleider aufschlagen, ballen die Männer ihre baumwollenen Sacktücher zusammen und stützen das eine Knie darauf. Erst nach diesen praktischen Vorsichtsmaßregeln wendet die Gemeinde ihr Ohr dem Gebete zu, welches der Geistliche gen Himmel sendet. Wer mit dem Eifer der Methodisten nicht vertraut ist, möchte an diesem Gebete schon einen ziemlichen Grad von Ekstase entdecken – nicht so der Eingeweihte. Er beurtheilt dasselbe sichtlich als das mäßige Vorspiel zu einer gewaltigen Melodie, als das Wehen des Windes, welcher den furchtbaren Orkan einleitet. Wie das Rad, welches einen Abhang hinunter rollt, von Secunde zu Secunde an Schwung gewinnt, so arbeitet sich die betende Methodistengemeinde erst allmählich in jenen Paroxysmus hinein, welcher den Uneingeweihten förmlich mit Entsetzen erfüllt.

Sobald das Gebet beendigt ist, betritt ein anderer Geistlicher die Tribüne und theilt der Gemeinde mit, daß man eine Hymne singen und dann der Predigt eines gewissen Bruders lauschen werde. Dieses Programm wird auch ohne Verzug in Ausführung gebracht und ein fanatischer Gesang zu der Melodie: „Du, Du liegst mir im Herzen“, nicht etwa vierstimmig, sondern vielstimmig abgeleiert. Dann betritt der Prediger die Tribüne. Der geistliche Herr ist eine starke, vierschrötige Gestalt mit groben Gesichtszügen, unheimlich leuchtenden Augen und struppigen Haaren, welche – vielleicht berechnet – wild um den Kopf herhängen. Wie der Prediger, so ist auch die Predigt: rauh, fast wild, aber kräftig, aufregend, ja markerschütternd brausen die Worte umher, und nach dem Eindrucke, den sie selbst auf mich, den passiven Beobachter, den kritisirenden Laien machen, vermag ich wohl die Wirkung zu begreifen, welche diese Feuerrede auf schwache, empfängliche, gläubig gesinnte Gemüther haben muß. Wie alle Zeloten, verweilt der Mann weniger bei der Schönheit und Harmonie der Tugend, bei der Liebe und Barmherzigkeit seines Gottes, als bei der Abscheulichkeit des Lasters, dem berückenden Einflusse der Sünde, der Furchtbarkeit des Höllenpfuhls.

Still und schaudernd sitzt die Gemeinde beim Schlusse da, und wie nun ohne Zeitverlust ein frischer Geistlicher auftritt und die Brüder und Schwestern auffordert, vereint mit ihm zu beten, leuchtet hier und dort schon ein Auge in fanatischem Feuer auf. Sonderbarer Weise scheinen die Alten die Empfänglichsten: vielleicht, daß sie – in Folge langjähriger Uebung – weniger Schwierigkeit finden, sich in die erwünschte Ekstase hineinzuarbeiten.

Rasch nimmt die Gemeinde die knieende Stellung ein, und zwar jetzt mit weniger Rücksicht für die neuen Kleider, als das erste Mal. Während der Prediger eifrig zu beten beginnt und heiß und immer heißer sein Flehen gen Himmel sendet, sprühen allenthalben die ersten Funken der Begeisterung von der Menge auf. Die alten Männer bekräftigen die ihnen am meisten zusagenden Stellen des Gebetes mit wiederholtem, energischem „Amen!“ und die Matronen schreien mit schriller Stimme in einem fort ihr: „O Jesus, my redeemer!“ dazwischen. Die Jugend verhält sich noch ziemlich ruhig; wie nun aber ein drittes Gebet folgt, wie diesem sich ein viertes, fünftes, sechstes anreiht und einen immer wachsenden Fanatismus entfaltet, da wird Jung und Alt in den Strudel der Begeisterung hingerissen. Die Ausrufe werden so zahlreich, daß kein einziges Wort des Vorbeters unbekräftigt bleibt. Die anfängliche Ruhe der Gemeinde weicht einer fieberhaften Bewegung; hier und dort erhebt sich eine Gestalt und fuchtelt wild mit den Armen in der Luft umher. Manche trippeln hin und wieder und reiben sich die Hände vor Entzücken; Andere steigen auf die Bänke und stoßen laute Schreie von solcher Wildheit aus, daß sie an jedem anderen Platze und zu jeder anderen Zeit ernstliche Besorgnisse um den normalen Zustand ihres Verstandes erregen würden. Die Eltern freuen sich der Verzückung ihrer Kinder und die Kinder jubeln den rasenden Eltern nach. Je lauter das Geschrei, je wilder die Verrenkungen der Glieder, desto höher auch die Gnade Gottes, desto gewisser die Aussicht auf Errettung aus den Klauen des Satans, die Aussicht auf die Freuden des Himmels.

Nach dem sechsten Gebet folgt eine Pause. Wie die Drescher nach mehrstündigem Schwingen des Flegels ihre Arbeit einstellen, das leere Stroh wegräumen und das gewonnene Getreide einsammeln, so überschauen jetzt die Seelenhirten das Feld ihres Wirkens und sammeln die Opfer ihrer Thätigkeit. Sie scheinen befriedigt, und als von allen Ecken und Enden reuige Sünder auf sie zuwanken, gleitet ein freudiges Lächeln über ihre Züge. Manche dieser Sünder sind so ermattet von ihrem unsinnigen Wüthen gegen sich selbst, daß sie nicht allein gehen können, sondern von Freunden geführt werden müssen. Sie nehmen sämmtlich auf der „Sünderbank“ Platz, einem langen Sitze unmittelbar vor der Tribüne, wo die ganze Gemeinde Zeuge ihrer Zerknirschung und Bußfertigkeit ist und augenscheinlich sein soll. Die Mehrzahl sind Weiber und Mädchen, welche der Paroxysmus, in dem sie sich befinden, ganz und gar gegen das Peinliche ihrer Lage abgestumpft hat. Die nächsten Uebungen der Gesellschaft gelten ausschließlich diesen reuigen Sündern auf der vordern Bank. Mehrere Geistliche reden ihnen nach einander eindringlich in’s Gewissen. Zum Schlusse wird noch ein inbrünstiges Gebet für sie gesprochen. Jetzt endlich geht die Gemeinde aus einander, um den Speisen zuzusprechen, welche in den verschiedenen Buden, Schuppen und Kosthäusern ihrer warten. Belustigend ist der Eifer, womit die guten Leute sich um ihre Seelsorger als Gäste reißen. – Gegen zwei Uhr Nachmittags sammelte sich die verstreute Gemeinde von Neuem auf den Bänken vor der Tribüne, und die Scenen des Morgens wiederholten sich. Ich male dieses Bild nicht weiter aus. Genug, daß das Betfieber stetig um sich griff und gegen Abend in ein förmliches Delirium ausartete. Die Sünderbank wurde zuletzt so voll, daß eine zweite herbeigeschafft werden mußte, um die Bußfertigen alle zu fassen. Wer weiß, wie lange der Unfug in die Nacht hinein gedauert hätte, wenn durch physische Erschöpfung nicht endlich ein Aufhören bedingt worden wäre. Dennoch dunkelte es stark, als endlich das letzte Amen in der Abendluft verhallte. Sofort erfolgte eine erneute Stärkung des Leibes. Es war mir ein räthselhaftes Phänomen, wie schnell diese Leute ihre fromme Stimmung bei Seite setzen und sich in das lebhafteste Gespräch über die allermateriellsten Gegenstände vertiefen konnten. Die Prediger bildeten keine Ausnahme, und ich hörte mit eigenen Ohren, wie zehn Minuten nach dem Schlusse der Andacht zwei von ihnen eine vorteilhafte Landspeculation besprachen. – –

Es ist in den letzten Jahren viel hin und her gestritten worden, namentlich unter den Methodistengeistlichen selbst, wo und wann die Campmeetings entstanden seien. Lange Zeit hielt man Logan-County in Kentucky für die Wiege der Versammlungen. Dies ist ein Irrthum. Die Lagerversammlungen wurden zuerst von den Baptisten in Virginien in’s Leben gerufen. Vor hundert Jahren war es den in Virginien wohnenden Baptisten nicht gestattet, sich in Kirchen und Bethäusern zu versammeln und daselbst Andachtsübungen abzuhalten. Die Kirchen in Virginien standen zu jener Zeit unter der Controlle der bischöflichen Kirche von England, und nur die bischöfliche Lehre durfte von den Kanzeln verkündigt werden. Die Baptisten aber ließen sich dadurch in ihren Andachtsübungen nicht stören. Sie kamen in Privatwohnungen, in Scheunen oder an anderen Plätzen, wo sie sich vor den Episcopalen sicher glaubten, zusammen.

Einer der feurigsten und entflammtesten ihrer Geistlichen [369] war ein gewisser John Waller. Dieser begab sich im Jahre 1774, nachdem er monatelang wegen Predigens in Gotteshäusern in dem Gefängnisse zu Urbana in Middlesex-County geschmachtet hatte, nach Spotsylvania-County, wo er einen Aufruf an alle Baptisten Virginiens erließ und dieselben aufforderte, nach einem Walde in jenem County zu kommen, um daselbst unter dem schattigen Laubgezelt der Bäume gottesdienstliche Versammlungen im Freien abzuhalten. Aus einer Entfernung von mehr als hundert englischen Meilen strömten die Menschen nach diesem ersten jemals abgehaltenen Campmeeting. Mitten im Walde, abgeschnitten von aller Welt, kam, sobald John Waller seine Worte ertönen ließ, eine gewaltige religiöse Begeisterung über die Leute. John Waller, welcher bald einsah, daß er einen Funken in die Herzen des Volkes geworfen, predigte fortan in keiner Kirche mehr, dagegen veranstaltete er überall Campmeetings, und bald brachte er es dahin, daß die Zahl der Baptisten sich schnell mehrte. Die Anhänger der Staatskirche gingen häufig, anfangs wohl nur aus Neugierde, in die Wälder, um den eigenthümlichen Versammlungen beizuwohnen. Als sie dann die religiöse Begeisterung sahen, in welche die Massen geriethen, da war es auch um sie geschehen. Abergläubisch und unwissend, wie damals die Bevölkerung Virginiens war, glaubte sie in dem wahnsinnigen Gebahren der Baptisten das Walten Gottes zu erkennen, und bald gingen sie zu ihnen über und machten vereint mit denselben Front gegen die Mutterkirche.

Im Jahre 1789 wanderten zwei Baptistenprediger, Namens John und Lewis Craig, die häufig auf den Waller’schen Campmeetings gepredigt hatten, nach Kentucky aus und suchten jene Versammlungen auch dorthin zu verpflanzen. Dies wollte ihnen anfangs nicht gelingen, denn die Baptisten Kentuckys waren in verschiedene Fractionen gespalten und mehr geneigt, mit ihren Principien zu prahlen, als dieselbe durch einem frommen Wandel zu bethätigen. Hierzu kam noch, daß in Kentucky die Presbyterianer und Methodisten die Oberhand hatten und die Baptisten bei jeder Gelegenheit zu unterdrücken suchten. Schließlich wandten sich die Brüder Craig ganz von den Baptisten ab, brachten eine Vereinigung unter den Presbyterianern und Methodisten zu Stande, und im Sommer des Jahres 1800 fand die erste, bereits oben erwähnte Lagerversammlung in Logan-County, Kentucky, statt. In Virginien setzten die Baptisten diese Art der Gottesverehrung noch eine geraume Zeit fort, als aber die bischöfliche Kirche schließlich immer mehr an Ansehen verlor (ihre weltliche Macht büßte sie bereits ein, sobald die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten erfolgt war), stellten die Baptisten ihre Campmeetings ein und bauten sich ihre eigenen Gotteshäuser. Die Vereinigung der Presbyterianer und Methodisten in Kentucky währte auch nicht lange. Bald trennten sich die beiden religiösen Gemeinschaften; die Presbyterianer kehrten zur alten hergebrachten Art der Gottesverehrung zurück, während die Methodisten die Sitte des Abhaltens von Lagerversammlungen bis auf den heutigen Tag beibehalten haben.

Unter allen in den Vereinigten Staaten existirenden Religionssecten befindet sich keine, die sich innerhalb der letzten Jahrzehnte in größerem Maße ausgedehnt und mehr Proselyten gemacht hat, als die Secte der Methodisten. Schon heute übertreffen die Methodisten an Zahl die in Nordamerika wohnenden Lutheraner und Katholiken um ein Bedeutendes. Nichts hat in höherem Grade zur Vermehrung der Anhänger der Methodistenlehre beigetragen, als die Lagerversammlungen, die gegenwärtig so häufig veranstaltet werden, daß man in vielen Staaten der Union, namentlich in den östlichen, die ganzen Sommermonate auf Campmeetings zubringen kann, denn kaum hat die eine aufgehört, so fängt schon eine andere an. Reiche Gemeinden haben in der letzteren Zeit damit begonnen, romantisch gelegene bewaldete Plätze käuflich an sich zu bringen und dieselben für ihre Versammlungen einzurichten. Diese Plätze sind häufig mehrere hundert Morgen groß und mit Hôtels, großartigen Restaurationen (in denen jedoch selbstverständlich keine geistigen Getränke verkauft werden) und riesigen Schlafsälen für solche fromme Brüder, denen ihre bescheidene Mitteln weder die Einrichtung eines eigenen Zeltes noch den Aufenthalt im Hôtel gestatten, bebaut. Auf diesen in großartigem Stil eingerichteten Plätzen finden sich im Juli, wenn die Meetings beginnen, häufig fünfzehn- bis zwanzigtausend Menschen ein, und die ersten Methodistengeistlichen des Landes sehen es als eine Ehre an, in den Versammlungen zu reden.

Großes Aufsehen hat in den letzten Jahren das Erscheinen eines weiblichen Apostels auf den Campmeetings erregt. Diese Verkünderin der Methodistenlehre führt den Name Maggie van Cott und war noch vor zehn Jahren die Frau eines ehrsamen New-Yorker Kaufmanns. Als ihr Gatte plötzlich starb und sie trauernd zurückließ, erschien ihr, nach ihrer eigenen Aussage, Christus mit der Dornenkrone auf dem Haupte und forderte sie auf, sein Evangelium zu verkünden. Und dies hat sie seither gründlich gethan. Kaum war jene überirdische Erscheinung von ihr gewichen, als sie eine gewaltige Veränderung in ihrem innersten Sein und Wesen verspürte. Sie war nicht länger die arme verlassene Wittwe, die den Tod ihres Gatten und Ernährers betrauerte; sie fühlte plötzlich eine ungeahnte Kraft über sich kommen, und ohne Angst und Scheu begab sie sich in die Tempel der Methodisten und begann mit der Erfüllung ihrer Mission. Bald sprach man allenthalben von der großen, feurigen Rednerin, und ihr Ruf scholl durch alle Staaten der Union. Sie hat allmählich jeden Staat besucht, und selbst die Territorien blieben nicht von ihr verschont. Wohin sie kam, wußte sie die Andächtigen durch die Macht ihrer Rede zu packen, und wenn man ihren Aussagen Glauben schenken darf, hat sie in den letzten sechs Jahren nicht weniger als dreißigtausend Menschen zur Lehre der Methodisten bekehrt.


Blätter und Blüthen.

Die Folgen des Attentats. Zwischen dem Momente, wo wir unter dem Eindrucke eines erschreckenden Ereignisses diese Zeilen schreiben, und dem Tage, an welchem diese Nummer aus der Presse in die Hände des Publicums gelangen kann, liegen ein paar voraussichtlich höchst bedeutsame Wochen, in denen überdies von sämmtlichen Blättern unserer liberalen Tagespresse Alles in erschöpfendster Weise gesagt sein wird, was über die für uns Alle so unerwartet hereingebrochene Prüfung sich äußern läßt. Dann aber wird es um solche Bekundungen gerechten Zornes und Schmerzes schon deshalb nicht mehr zu thun sein, da es alsdann ganz zweifellos feststehen wird, daß der eigentliche Kern und die überwiegende Mehrzahl der Nation eine unerhörte Beschimpfung unserer Volksehre in dem ruchlosen Angriffe auf das Leben des geliebten Monarchen sieht, vor dem wir in dankbarer Ehrfurcht unsere Häupter neigen, da er der heldenmüthige Retter und Wahrer unserer nationalen Existenz, der glorreiche Begründer deutscher Einheit, der Schöpfer volksthümlicher Institutionen und bisher stets ein Herrscher voll liebreicher Güte und herzbezwingender Milde gewesen ist, der das hingebende Vertrauen des Volkes mit herzlichem Vertrauen erwidert hat.

Gewiß, es müssen recht fühllose und verkommene Seelen sein, die nicht einzustimmen vermögen in die weithin so hell aufjubelnde, so warm und imposant aus allen Schichten des Volkes ausstrahlende Freude aber die Errettung des greisen Heldenkaisers aus der Mörderhand eines verwahrlosten Buben. Der harte Drang der Zeit aber wird uns nicht Muße lassen zu langer Hingebung an diese wohltuenden Gefühle. Dicht hinter den Tagen des Schreckens und der Freude werden Tage voll heißer Arbeit und eingreifender Entscheidungen kommen, und aus der Saat des Frevels werden uns gewaltige Aufgaben und schwere, wenn auch nothwendige und heilsame Kämpfe erwachsen. Schon tauchen aus dem Brausen der Meinungen unheimliche Anzeichen verhängnißreicher Wendungen auf, und mit bitterem Erstaunen sieht man, wie die immer lauernde Gier unserer Reactionsparteien, der geistlichen und der weltlichen, ihren Einfluß auf die erregten Stimmungen der Regierungskreise benutzen will, um die gesetzestreue und patriotische Nation durch noch weitere Beschränkung ihrer ohnedies bescheiden zugemessenen Rechte und Freiheiten für die Missetat eines vertierten Bösewichts zu bestrafen. Käme es in Folge des Attentates auf den Kaiser zu einem solchen Attentate auf das Volk, so würde es für die deutschen Bürger nur eine Parole geben: Lasset euch nicht von lyrischen Empfindungen und unklaren Gefühlen beherrschen, sondern stehet fest und einig der hereinbrechenden Gefahr gegenüber, die euch zu Boden treten wird, wenn ihr sie nicht mit scharfem Blicke und starker Entschlossenheit abzuwehren wisset! Brauchen wir erst zu sagen, daß solch eine Heimsuchung unseres Vaterlandes, solch ein erneuerter Kampf um die ersten Bedingungen eines freien Staatslebens auch die „Gartenlaube“ treu und rüstig bei ihren alten Fahnen finden wird?

Es wäre genug des Ernstes, wenn wir nur durch diese eine von den Rückschrittsleuten veranlaßte Befürchtung zu gemeinsamer Wachsamkeit herausgefordert würden. Aus der Betrachtung der verübten Schandtat ergiebt sich jedoch noch ein weiterer Punkt, der noch viel ernster und

[370] wichtiger ist als dieser. Nach allen bereits hinreichend erfolgten Aufklärungen über das Attentat wird Niemand mehr bezweifeln können, daß es in seiner ganzen Schnödigkeit als Ausfluß und Symptom eines tiefen sittlichen Schadens zu bezeichnen ist, der seit lange schon unseren Gesellschaftsorganismus durchwühlt, unsere Volksseele in der allerbedenklichsten Weise angefressen und vergiftet hat. Warnende Stimmen dagegen sind allerdings in beträchtlicher Anzahl laut geworden, aber sie waren nicht im Stande, im deutschen Bürgerthum eine Regung wirklicher Thatkraft zu erzeugen. Mehr oder weniger gleichgültig und in träger Schläfrigkeit hat es vielmehr dem stürmischen Umsichgreifen einer neuen Bewegung zugesehen, die nicht blos alle Grundlagen seiner materiellen Existenz bedroht und schon erheblich geschädigt, sondern auch den Bestand unserer idealen Güter, das hohe Erbe der Väter, die Liebe zu fortschreitender Gesittung, die Achtung vor der Bildung und das Streben nach derselben durch systematische Untergrabung sehr wesentlich geschwächt und verringert hat.

Alle Zukunftshoffnungen der Völker sind auf das Fortschreiten der Culturmacht, auf die allmähliche und immer mehr sich erweiternde geistige und sittliche Hebung der noch ungebildeten Classen gerichtet. Wird der Weg zu diesem Ziele absichtlich verlegt und verschüttet, die Welt der Bildung an jedem erziehenden Einfluß auf die unter ihr liegenden Sphären gehindert, so muß ein Ueberwuchern der Rohheit, ein Versinken in Barbarei und Bestialität die Folge sein. Nicht um eine gewaltsame Unterdrückung von Ansichten und Ueberzeugungen handelt es sich, und nicht um die Niedertretung von Bestrebungen, durch welche die Arbeiter ihr oft hartes Loos zu verbessern hoffen, sondern um plan- und professionsmäßig betriebene Verhetzungen und Verführungen der großen unreifen Massen, in denen fort und fort die schlimmsten und wildesten Leidenschaften des Hasses und Neides, der Wuth und Rache bis zu einem Grade entzündet und entfesselt werden, daß ihnen zuletzt das Laster als ihr gutes Recht, das Verbrechen als ihre Pflicht erscheint.

Wie weit dieses Treiben bereits in unserer Mitte und unter unseren Augen gediehen ist, das wissen wir Alle. Das deutsche Bürgerthum ist in allen seinen Schichten stark durch seine Zahl und durch die überwiegenden Mächte seiner Intelligenz, sobald es einig ist. Wird es den unzureichenden und täppischen Gewaltmitteln einer ihm feindlichen Reaction überlassen, was es selber durch eine einmüthige und energische Gegenarbeit viel gründlicher zu vollführen vermag? Das ist die große vaterländische Lebensfrage, welche für uns mit dringendster Gewalt aus dem Attentat sich ergiebt. An der Lösung derselben wird fortan auch die „Gartenlaube“, von ihrem Standpunkte aus, sich zu betheiligen bestrebt sein.



Ein Königsdank aus dem Herzen. Im Jahrgang 1874 der „Gartenlaube“ führte K. Chop uns in „die Zeiten der schweren Noth“ zurück, indem er uns einen Theil der Flucht des Königs Friedrich Wilhelm des Dritten nach den Schlachten von Jena und Auerstädt schilderte, namentlich so weit an den Folgen jenes Unglücks das Fürstenthum Schwarzburg-Sondershausen mit zu leiden hatte.

Diese Erinnerungen weckten auch die einer hochbetagten Frau in Hadmersleben auf, welche durch die einfache Erzählung dessen, was sie aus dem Munde ihres längst gestorbenen Gatten, eines preußischen Gensd’armen, erfahren, einen weiteren Blick auf jene Flucht und zugleich in des Königs Herz eröffnet.

Fürst Günther Friedrich Karl der Erste von Schwarzburg-Sondershausen hatte dem König die sechs feurigsten Renner seines Marstalls vor den Wagen spannen lassen und dadurch die Fahrt bis Halberstadt gesichert. Daß kein Augenblick zu versäumen gewesen war, zeigte sich bei der Rückkehr des fürstlichen Leibkutschers nach Sondershausen, das er nun voll Franzosen fand. Der König hatte in Halberstadt den fürstlichen Wagen verlassen und wartete auf weitere Hülfe zur Flucht. Aber so groß war bereits die Furcht vor dem Feinde, daß man dem bedrängten Fürsten die Mittel zur Weiterfahrt versagte: man verließ ihn in der höchsten Noth! –

Da kam ein Bürger mit einem zweispännigen Leiterwagen des Wegs daher; an ihn wandte sich der König mit der Frage, ob er ihn mit seinem Geschirre nach Magdeburg fahren wolle. Der Mann war sofort dazu bereit. Er rückte seinem Könige ein Bund Stroh zum Sitze zurecht, fuhr mit ihm in Galopp zum Breitenthore hinaus und brachte ihn glücklich nach Magdeburg.

Es kamen nun schwere und dann große Zeiten über Preußen und sein Königshaus: der schicksalreiche Monarch mochte manches Schlimme der Vergangenheit vergessen haben, – aber seine Verlassenheit in Halberstadt schien er nicht vergessen zu können, denn er betrat die Stadt nicht wieder und auch die übrigen Mitglieder des Hauses sollen sie gemieden haben, bis endlich auch hier der Tag der Versöhnung kam, und zwar nach fast fünfundzwanzig Jahren.

Es war um das Jahr 1831, als der König seine Tochter Louise, die Gemahlin des Prinzen Friedrich der Niederlande, auf ihrer Rückreise von Berlin nach dem Haag bis Magdeburg begleitete. Zu den Empfangsfestlichkeiten hatten auch der Landrath und der Oberbürgermeister von Halberstadt sich eingefunden, und Beide benutzten die gute Stimmung, in welcher der König sich seinen Magdeburgern zeigte, zu dem kühnen Unternehmen, die Gnade desselben auch ihrer Stadt wieder zuzuwenden und um die Ehre eines Besuchs zu bitten. – Freilich erschraken die Herren über die Folgen ihrer Kühnheit nicht wenig, als der König sofort erwiderte: „Das kann gleich morgen geschehen; ich werde meine Tochter bis Halberstadt begleiten.“

Wir, in den Tagen der Eisenbahnen, wissen nicht mehr, was es damals hieß: noch Nachts von Magdeburg nach Halberstadt zu fahren, um dort die gesammte Bürgerschaft mit der Freudenpost zu erschrecken, daß die Stadt sich zum Empfang des Königs zu rüsten habe: – Es erscheint uns jetzt fast unglaublich, was in der „guten patriarchalischen Zeit“ eine Bürgerschaft zu leisten vermochte, wenn es der Vorbereitung einer solchen Feierlichkeit galt. Denn da gab es nicht blos Fahnen zu nähen und Kränze und Guirlanden zu winden, es mußten auch holperige Pflasterstrecken und halsbrecherische Rinnsteine ausgebessert werden, – und dennoch konnte der König am folgenden Mittag den Einzug in eine Stadt halten, deren äußerer Schmuck mit dem Jubel der Bevölkerung auf das Schönste harmonirte.

Das Festmahl war schon ziemlich weit gediehen und der König, wie ausdrücklich betont wird, durch die seltene Unterhaltungsgabe des Oberdompredigers Augustin in die heiterste Stimmung erhoben, als er plötzlich selbst der Angst und Gefahr gedachte, die er in seinem tiefsten Unglück in Halberstadt auszustehen gehabt, und nach dem Manne fragte, der damals sein Retter gewesen. Die Gelehrten und Beamten der Tafel kannten zwar Tag und Stunde jenes Ereignisses genau, aber nur der als Ordonnanz des Königs dienende Gensd’arm Michaelis (der Gatte unserer Gewährsmännin) wußte, daß der Mann noch lebe und wo er wohne.

Sofort regten sich hundert Füße, um den also Geehrten herbeizuholen, aber der König winkte schweigend ab, erhob sich vom Tische, bat um einen Wagen, reichte seiner Tochter den Arm und befahl dem Gensd’armen, ihm den Weg nach dem Hause des Mannes zu zeigen. Michaelis und ein Gensd’armerie-Wachtmeister ritten dem Wagen vor, der durch die ganze Unterstadt fuhr, bis Michaelis vor einem Hause der Gröpertstraße vom Pferde sprang, um dem Bürger den Besuch des Königs zu melden. Wohl fuhr dem Manne die Ueberraschung durch alle Glieder, – aber ebenso rasch besonnen, sprang er vor die Thür, als der Wagen wirklich vor seinem Hause hielt.

Freilich waren es nur einfache Worte, die der Fürst und der Bürger nun wechselten, aber dennoch sind sie gleich bezeichnend für jeden derselben. Beide Hände freudig dem entgegenstreckend, der vor einem Vierteljahrhundert sein Helfer in der Noth gewesen, rief ihm der König zu:

„Lieber Mann, Sie haben mich damals aus großer Gefahr gerettet. Jetzt komme ich, Ihnen dafür herzlich zu danken.“

„Bitte, Majestät, das war ja meine Schuldigkeit,“ entgegnete der Bürger. „Die Gefahr war freilich groß, das bin ich erst inne geworden, als ich mit meinem Wagen zurück kam und es überall von Franzosen wimmelte.“

„Sagen Sie offen,“ fuhr der König fort, „ob ich Etwas für Sie thun kann, um meinen Dank auch zu betätigen.“

Der Bürger aber antwortete: „Danke, Majestät, danke! Die schwere Zeit ist überwunden, jetzt besitze ich so viel, wie ich bedarf, und noch etwas darüber. Mein schönster Lohn bleibt ja doch die Erinnerung daran, daß ich meinem König in der höchsten Noth habe helfen können.“

Da drückten der König und die Prinzessin dem Bürger noch einmal die Hand, und Auge leuchtete in Auge, als sie wie alte, gute Freunde schieden. Das war ein Königsdank aus dem Herzen.



Vom Fuße der Zugspitz und des Wettersteins. Wieder ist ein Winter vorübergegangen, wie ihn schneereicher und länger dauernd sich die ältesten Leute nicht erinnern. Die Kunkelstuben und der Heimgarten halfen freilich bei flackerndem Kienfeuer und hausbackener Unterhaltung die langen Abende kürzen, aber Gott sei Dank, genügt dieses primitive Hindämmern unserer jüngeren Generation nicht mehr zur Ausfüllung der Zeit von fünf bis neun Uhr Abends. Dank der nun bereits seit neun Jahren sich zu immer höheren künstlerischen Leistungen aufschwingenden Holzbildhauerschule, und Dank der reorganisirten und mit tüchtigen Lehrkräften besetzten Volks- und gewerblichen Fortbildungsschule, macht sich unter der Bevölkerung immer mehr das Bedürfniß nach guter Lectüre bemerkbar, sodaß meine nicht geringen Vorräthe an solcher bei weitem nicht hinreichen, dasselbe zu befriedigen. An alle Freunde wahrer Volksbildung und des baierischen Gebirgsvolkes, speciell an meine Freunde und Bekannte richte ich durch die „Gartenlaube“ die freundliche Bitte, mir entbehrliche Werke unterhaltenden und belehrenden Inhaltes umsonst zukommen zu lassen, um mir zu ermöglichen, auf diesem Wege für meine dreihundert Schüler und deren Angehörige in Partenkirchen, Garmisch, Mittenwald und Oberammergau Volksbibliotheken errichten zu können.

Michael Sachs,
Maler und Vorstand der Kunstschnitzschule in Partenkirchen
(baierisches Hochgebirg).



Nochmals bleifreie Kochgeschirre. Es sind uns neuerdings noch von einigen Firmen Kochgeschirre nachträglich mit der Bitte zugegangen, solche auf deren Bleifreiheit prüfen zu lassen und das Resultat in der „Gartenlaube“ bekannt zu geben. Wir haben demgemäß noch zwei Firmen zu nennen, deren Fabrikate kein mit Bleioxyd versetztes Email enthalten, und über welche wir mittheilen können, daß alle den eingesandten Stücken gleichartige Fabrikate als der Gesundheit unschädliche zu bezeichnen sind. Die beiden Firmen heißen: Philippi und Cetto, Eisenwerk zu Stromberg, und der Nieverner Bergwerk- und Hüttenverein Nievernerhütte zu Bad Ems. – Hiermit schließen wir das Register über die stattgehabten Untersuchungen, und bitten uns neues Material nicht mehr zugehen zu lassen.



Die kranke Lehrers-Gattin (Nr. 17 der „Gartenlaube“) erfreut sich bereits des gewünschten Fahrstuhls. Dank dem freundlichen Geber.

Die Red.



Kleiner Briefkasten.

P. C. in Berlin. Chiffrirte Mitteilungen, soweit sie Berichtigungen, Beschwerden oder Insinnationen irgend welcher Art enthalten, können wir in keiner Weise berücksichtigen. „Offenes Visir!“ muß auch hier die Parole sein. Dies als Antwort auf Ihre Zuschrift vom 13. vorigen Monats.


  1. Die Grafschaft war 1667 durch Heirath an die Wittelsbacher von Zweibrücken gekommen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Chauteauneuf