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ADB:Hettner, Hermann

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Artikel „Hettner, Hermann“ von Wilhelm Creizenach in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 776–782, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Hettner,_Hermann&oldid=- (Version vom 12. Dezember 2024, 05:10 Uhr UTC)
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Hettner *): Hermann Julius Theodor H., hochverdient als Schriftsteller auf dem Gebiete der Litteratur- und Kunstgeschichte, geboren am 12. März [777] 1821 auf dem Rittergut Niederleysersdorf bei Goldberg in Schlesien, † am 29. Mai 1882 in Dresden. Daß er als Sohn eines Gutsbesitzers die Knabenjahre in ländlicher Umgebung verbringen konnte, hat er stets als ein Glück seines Lebens betrachtet. 1833 trat er in die Quarta des Gymnasiums zu Hirschberg ein, im Sommer 1838 entließ ihn die Prüfungscommission „als einen talentvollen, für jede wissenschaftliche Beschäftigung besonders geeigneten Jüngling von tüchtigem Streben und edelm Charakter mit den besten Wünschen und Erwartungen“. Die Fächer, in denen er sich später auszeichnen sollte, waren auf dem Gymnasium vor allem durch Karl Ernst Schubarth vertreten, der in jüngeren Jahren mit seinen Studien über Goethe den Beifall des greisen Dichters gefunden hatte und offenbar als Lehrer in weit höherem Maße eine anregende Kraft entfaltete, als man jetzt nach seinen Goetheschriften vermuthen sollte; H., der später die Briefe Goethe’s an seinen Lehrer herausgab, hat bei diesem Anlaß von seiner dankbaren und pietätvollen Gesinnung Zeugniß abgelegt (s. A. D. B. XXXII, 609). Obwohl es seinem Vater erwünscht gewesen wäre, wenn er sich dem Rechtsstudium gewidmet hätte, setzte er es dennoch durch, daß er im Herbst 1838 als stud. phil. die Universität Berlin beziehen konnte. Er blieb dort fünf Semester, dann verbrachte er noch zwei Semester in Heidelberg und promovirte im J. 1843 in Halle mit einer Abhandlung „De logices Aristotelicae speculativo principio“. Hettner’s Lehrjahre fielen in eine Zeit der Vorherrschaft philosophischer Studien; die Entwicklung der Hegel’schen Schule, der gerade damals immer schärfer sich zuspitzende Gegensatz zwischen Alt- und Junghegelianern, wurde von dem Studenten mit leidenschaftlichem Interesse verfolgt; 1844 vertheidigte H. in seinem Aufsatze „Zur Beurtheilung Ludwig Feuerbach’s“ den kühnsten Vorkämpfer der neuen Richtung. Doch hatte er während seiner Studienzeit nicht umsonst auch zu den Füßen Boeckh’s und Ranke’s gesessen, und daß er in seinem eingeborenen historischen Sinn ein Gegengewicht gegen aprioristische Constructionen besaß, zeigt sich besonders deutlich in einem Aufsatze „Gegen die speculative Aesthetik“ (1845), in welchem er auch mit vollem Recht den philosophischen Theoretikern die Vernachlässigung der Forderungen des Stoffs und der Mittel der technischen Darstellung zum Vorwurf macht. Als diese Abhandlung erschien, war in ihm bereits der Entschluß zur Reife gelangt, die historische Betrachtung der Kunst zu seiner eigentlichen Lebensaufgabe zu machen, und sein Vater hatte ihm schon die Mittel gewährt, um sich für diesen Beruf in Italien auszubilden. Er verweilte dort von 1844–47, anfänglich in freundschaftlichem Verkehr mit Brunn auf die archäologischen Fachstudien gerichtet, dann jedoch mehr darauf bedacht, die Anregungen des italienischen Aufenthalts für seine allgemeine ästhetische und historische Ausbildung nutzbar zu machen. Zu dieser Wendung hat offenbar der freundschaftliche Verkehr mit Hebbel in Neapel und mit Adolf Stahr in Rom und Florenz beigetragen. Nach seiner Rückkehr habilitirte er sich im März 1847 in Heidelberg. Er hielt dort u. a. Vorlesungen über Aesthetik, über Spinoza, über Poesie und Kunst der Gegenwart; seine Vorlesungen über „Geschichte der Poesie und bildenden Künste von Gottsched und Raphael Mengs bis zur Gegenwart“ zeigen schon durch ihren Titel, daß er damals bereits in ähnlicher Weise wie in seiner großen Litteraturgeschichte auf eine Darstellung der Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen gleichzeitigen Strömungen des geistigen Lebens ausging. Dank der Klarheit und der lebendigen Wärme seiner Vorträge versammelte der junge Docent um sich einen zahlreichen Zuhörerkreis; zu den Hörern der Spinozavorlesungen gehörte Gottfried Keller, der seitdem mit H. in lebenslänglicher, treuer Freundschaft verbunden blieb. Auch sonst gestaltete [778] sich sein persönlicher Verkehr in der erfreulichsten Weise; unter den Docenten der Universität stand ihm Moleschott am nächsten, der ihm durch sein Interesse für die französischen Encyklopädisten eine wichtige Anregung für sein späteres Hauptwerk gab, daneben trat ein freundschaftlicher Verkehr mit Berthold Auerbach und den Mitarbeitern der Gervinus’schen „Deutschen Zeitung“, wie Rochau und Klaczko. Sein wissenschaftlicher Fleiß wurde durch die Stürme der Revolutionsjahre nur wenig beeinträchtigt. Das Jahr 1848 brachte den ersten Band seiner „Vorschule zur bildenden Kunst der Alten“, eine Frucht seiner italienischen Studien. Er hatte für dieses Werk einen ähnlich weiten Leserkreis im Auge, wie er ihn später für die Litteraturgeschichte fand, aber obwohl die „Vorschule“ in ihrer Composition und Ausführung manche ähnliche Vorzüge aufweist wie das spätere Werk, so mußte doch der Inhalt dem Interessenkreis des damaligen deutschen Publicums – auch schon mit Rücksicht auf die politischen Zeitverhältnisse – ferner liegen, und die Fachkreise fanden mancherlei auszusetzen. So hat er dann von einer Fortführung abgesehen.

In dem nächsten umfangreicheren Werk ist H. wieder zur litterarischen Kritik zurückgekehrt. „Die romantische Schule in ihrem inneren Zusammenhange mit Goethe und Schiller“ erschien 1850 in Braunschweig in der Verlagsbuchhandlung von Vieweg & Sohn, mit welcher H. von nun an in enger Verbindung blieb; alle seine wichtigeren Werke sind hier veröffentlicht. Schon der Titel zeigt, daß H. nach einem historischen Verständniß der Romantik strebte, die zur Zeit von Hettner’s Jugend in ihrer Erscheinungsform als politische und kirchliche Reaction noch unmittelbar in die Kämpfe des Tags hineinragte. H. hat dem gegenüber mit selbständig eindringender Gedankenarbeit auf die Anfänge der romantischen Schule, auf ihre ursprüngliche Verwandtschaft mit der Sturm- und Drangperiode und auf die Berührungspunkte mit den Classikern hingewiesen; mit Recht rühmt Vischer in einem Brief an H., daß diese Schrift „den Charakter der inneren Lust und Energie trägt“, und auch Haym in der Vorrede zu seinem grundlegenden Werk hat dem kühnen Wurf des Vorgängers die Anerkennung nicht versagt.

Eine andere Monographie Hettner’s, „Das moderne Drama“ (1852), ist vor allem als ein charakteristischer Ausdruck der Stimmungen jener Zeit von Interesse. Es ist bekannt, wie man in den vierziger Jahren die Anzeichen einer großartigen neuen Entwicklung des deutschen Dramas zu erkennen glaubte. H. hoffte nun, durch positive Kritik auf den litterarischen Entwicklungsgang einwirken und dem unbestimmten Drängen und Sehnen eine feste Richtung geben zu können. Natürlich zeigt sich bei einem solchen Beginnen, daß er eine durch seinen Bildungsgang erklärliche Neigung zu haltloser Generalisation nicht ganz überwunden hatte, z. B. wenn er allgemeine Gesetze darüber aufstellen will, unter welchen Bedingungen sich bei einem Volke ein wahrhaft nationales Drama entwickeln könne. Auch muß es uns ein Lächeln entlocken, wenn H. die Hoffnung seines Freundes Gottfried Keller theilt, es könne sich vielleicht aus der Berliner Posse mit ihren Couplets etwas neues in der Art der Aristophanischen Komödie entwickeln. Aber in seinen Ausführungen, die sich über das historische Drama, das bürgerliche Drama, die Komödie, das musikalische Drama erstreckten, offenbart sich doch sein lebendiger Geist, wie auch seine reiche und vielseitige Bildung; die „Maria Magdalena“ seines Freundes Hebbel hebt er energisch hervor, und Richard Wagner ist für ihn „eine sehr bedeutende, wenn nicht eine epochemachende Erscheinung“.

Als die Abhandlung über das moderne Drama erschien, hatte H. schon in seiner Laufbahn die erste Beförderung erhalten. Er wurde als außerordentlicher [779] Professor für Kunst- und Litteraturgeschichte nach Jena berufen, wo er vom Sommersemester 1851 an vier Jahre verblieb. Im Frühjahr 1852 unternahm er mit seinem Jenaer Collegen, dem Philologen Göttling, und dem Mythologen Preller, damals Oberbibliothekar in Weimar, eine Reise nach Griechenland; die Briefe, die er von dort an seine Gattin schrieb, bildeten die Grundlage zu seinen „Griechischen Reiseskizzen“ (1854). Vor allem jedoch gewann in diesen Jenenser Jahren der große Plan einer Litteraturgeschichte des 18. Jahrhunderts feste Gestalt; Hettner’s Studien über die französischen Encyklopädisten führten ihn dazu, den Entwicklungsgang der Aufklärungsbewegung in England, Frankreich und Deutschland im Zusammenhang zu verfolgen, und mehrere kleine Abhandlungen aus dieser Zeit, vor allem „Robinson und die Robinsonaden“ (1854), sind als Vorarbeiten zu dem Hauptwerk zu betrachten. Aber noch ehe er den ersten Band veröffentlichen konnte, erhielt er eine Berufung nach Dresden als Director der königlichen Antikensammlung und des Museums der Gipsabgüsse; im März 1855 siedelte er nach Dresden über, das nun für den Rest des Lebens die Stätte seiner Wirksamkeit blieb. Zwar scheint es, daß er sich manchmal nach der Universitäts-Lehrthätigkeit zurücksehnte, im ganzen gewährte ihm aber sein neuer Wirkungskreis die schönste Befriedigung. Die ästhetische Anregung, die ihm auch, ganz abgesehen von den Kunstsammlungen, durch das Städtebild und durch den genius loci der sächsischen Hauptstadt dargeboten wurde, hatte er in Jena schmerzlich vermißt; der Gelehrte, der seine historischen Interessen mit einem so lebendigen Sinn für die geistigen Strömungen der Gegenwart verband, sah sich hier in ein reges künstlerisches Treiben versetzt, vor allen Dingen trat er in freundschaftliche Beziehungen zu Rietschel und den Bildhauern aus dessen Schule, durch welche damals die Plastik in der alten Kunststadt einen so glänzenden neuen Aufschwung nahm. Und der neue Director, von fruchtbringenden Ideen und weitausschauenden Plänen erfüllt, wirkte in hohem Grade anregend auf die culturellen Kreise Dresdens, offenbar hatte man auch an leitender Stelle bei seiner Berufung neben der eigentlichen Amtsthätigkeit auf eine derartige Wirkung gerechnet. Auch waren die Anforderungen seines Amtes nicht so zeitraubend, daß dadurch seine wissenschaftliche und schriftstellerische Thätigkeit gelitten hätte. Er veröffentlichte 1856 einen Katalog der Antikensammlung, 1857 einen Katalog der Gipsabgüsse; in seinen Aufsätzen über die Goethe- und Schillergruppe (1857) und über das Lutherdenkmal (1859) besprach er neu entstandene Werke des Meisters Rietschel, dem er bei seinem allzufrühen Hinscheiden (1861) einen warmherzigen Nachruf widmete. Als ein Beispiel für seine rege Theilnahme am Dresdner Kunstleben sei sein Aufsatz über den Neubau der Kreuzschule (1863) erwähnt, wo er mit Recht davor warnt, in das Dresdner Stadtbild durch Errichtung von Bauwerken im neuen gothischen Stil ein fremdartiges und störendes Element hineinzutragen.

Aber im Mittelpunkt seiner Thätigkeit stand doch noch für eine lange Reihe von Jahren das Werk, das er in Jena begonnen hatte. Der erste Band der Litteraturgeschichte des 18. Jahrhunderts erschien 1856; er umfaßt die englische Litteratur von 1660–1770, und der weitere Verlauf ergibt, daß H. mit Recht die Schilderung der englischen Zustände an den Anfang stellte. 1860 folgte der zweite Band „Die französische Litteratur im achtzehnten Jahrhundert“, in dessen Mittelpunkt die lichtvolle Darstellung der Wirksamkeit Voltaire’s und Rousseau’s steht, doch wird zugleich auch die Rückwirkung der französischen Einflüsse nach England, sowie ihre Verbreitung über Italien und Spanien erörtert. Die Darstellung der deutschen Litteratur wollte H. [780] nicht in einen Band zusammendrängen; der erste Theil „Vom westfälischen Frieden bis zur Thronbesteigung Friedrichs des Großen“ erschien 1862, der zweite „Das Zeitalter Friedrichs des Großen“ 1864. Mit diesem Bande hätte der Verfasser die synchronistisch-vergleichende Darstellung der Aufklärungsbewegung abschließen können, aber es drängte ihn doch, im Anschluß daran darzustellen, wie die leitenden Ideen des Zeitalters in Deutschland in der Epoche Herder’s und Kant’s, Goethe’s und Schiller’s überwunden und umgebildet wurden. So ließ er noch einen dritten Band in zwei Theilen folgen; der erste Theil (1869) behandelt die Sturm- und Drangperiode, der zweite Theil, für den der Gesammttitel „Litteraturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts“ allerdings nicht mehr zutreffend ist, trägt den Untertitel „Das Ideal der Humanität“ (1870); H. gesteht in der Vorrede, daß er mit Wehmuth von dem Werk Abschied nehme, an das er die besten Jahre seines Lebens gesetzt hatte.

Die Bände der Litteraturgschichte wurden sogleich bei ihrem Erscheinen mit freudigem Beifall aufgenommen; sie haben bis auf den heutigen Tag ihre Stellung als standard work behauptet, und trotz allen Fortschritten der Erkenntniß werden sie diese Stellung wohl noch weiter behaupten in einer Zeit, wo unter den Fachgelehrten der Muth und die Kraft zu solchen großzügigen, zusammenfassenden Darstellungen immer seltener wird. H. besaß diese Eigenschaften im höchsten Grade; nur bei seiner resoluten Art, das Unwesentliche bei Seite zu schieben und die leitenden Ideen energisch hervortreten zu lassen, konnte ein solches Werk zu Stande kommen. Denn um eine Geschichte der Ideen war es ihm nach seinem eigenen Geständniß zu thun. Die ungeheure Masse des Materials ist natürlich nicht überall mit gleicher Sorgfalt und gleichem Geschick behandelt, manche Verstöße sind mit untergelaufen, und manche Beurtheiler haben ihm mit Recht oder Unrecht Vernachlässigung der oder jener historischen Erscheinung vorgeworfen; auch hat wohl H. manchmal bei dem Bestreben, das Einzelne in den großen Entwicklungsgang einzureihen, den Bereich der historischen Causalität zu weit ausgedehnt. Im allgemeinen ist aber die Gruppirung des Stoffes sehr gründlich durchdacht. Mit einem zugleich echt historischen und echt künstlerischen Sinne läßt H., wenn er uns mit einer hervorragenden Persönlichkeit bekannt macht, zunächst die Kritik ganz zurücktreten und ist bloß bestrebt, uns lebendig mitfühlen zu lassen, warum diese Persönlichkeit bei ihrem Auftreten eine solche Wirkung ausüben mußte, erst dann weist er uns auf das Unvollkommene und durch den späteren Entwicklungsgang Ueberholte. Dabei tritt überall hervor, wie er selber von einer edeln Begeisterung erfüllt ist für das Große und Unvergängliche, das in dem dargestellten Gedankenproceß gezeitigt wurde, und durch seinen eigenthümlichen, warmen und eindringlichen Stil weiß er diese Stimmung auch den empfänglichen Lesern mitzutheilen. Er entrollt vor ihnen ein ungemein reiches und mannichfaltiges Bild, wenn er darstellt, wie die nämlichen Zeitideen sich in Wissenschaft, Poesie, Malerei, Architektur, Gartenbau, Musik, in der Politik, der Volkswirthschaft und dem geselligen Leben wiederspiegeln. Sehr geschickt weiß er das charakteristische Detail hervorzuheben, und ohne alle kokettirende Originalitätssucht strebt er stets nach einem gerecht abwägenden Urtheil. Und was man auch gegen einzelne Stellen vorbringen mag, in vieler Beziehung ist Hettner’s Auffassung für die Späteren maßgebend geblieben; Otto Harnack, der nach Hettner’s Tod eine neue revidirte Auflage der letzten Bände besorgte (1894), sagt, er habe Auslassungen und Aenderungen hauptsächlich an solchen Stellen eintreten lassen, wo herrschende Irrthümer bekämpft wurden, die heute nicht mehr herrschen.

[781] Schon während der langen Jahre, in denen sich H. der Litteraturgeschichte widmete, war in ihm der Entschluß gereift, nach Vollendung dieser Arbeit seine ganze Kraft wieder den kunstgeschichtlichen Studien zu widmen; durch Reisen nach England, Frankreich und den Niederlanden konnte er in diesem Entschluß nur bestärkt werden. Vor allem aber drängte es ihn wieder in den Bereich der italienischen Kunst; nach langer Unterbrechung wanderte er 1871 wieder in das Land seiner Sehnsucht, und kehrte 1875 und 1877 wiederum dorthin zurück. Das Hauptergebniß dieser Reisen hat er in seinen „Italienischen Studien. Zur Geschichte der Renaissance“ (1879) niedergelegt. In den kunsthistorischen Aufsätzen, die hier vereinigt sind, erkennen wir, wie er sich durch sein großes Hauptwerk den Blick für die Erforschung des Zusammenhangs zwischen den verschiedenartigen Aeußerungen des geistigen Lebens geschärft hatte; wie in dem Hauptwerk, so liegt auch hier die eigentliche Stärke des Verfassers nicht in der technisch-stilistischen, sondern in der culturgeschichtlichen Betrachtung. Gar manche von den Gedanken, die hier ausgestreut sind, haben sich in dem intensiven Betrieb der Renaissancestudien in den folgenden Jahrzehnten als fruchtbar erwiesen, besonders der vortreffliche Aufsatz über „Die Kunst der Dominicaner“ und der verwandte Aufsatz über „Die Franciscaner in der Kunstgeschichte“, der als ein Nachtrag 1881 erschien. Von Hettner’s sonstigen kunstgeschichtlichen Arbeiten aus dieser Zeit möge hier noch der Aufsatz über den Dresdner Zwinger (1874) und der Nachruf auf Semper (1879) Erwähnung finden.

Ueber Hettner’s Leben in Dresden ist nur noch Weniges anzufügen. Im J. 1868 wurde ihm die Oberleitung des historischen Museums übertragen, und auch sonst fehlte es ihm nicht an Beweisen officieller Anerkennung seiner Thätigkeit. Das wichtigste war wohl, daß ihm auch hier Gelegenheit geboten wurde, in lebendiger Rede unmittelbar zu wirken; er hielt kunstgeschichtliche Vorträge an der Kunstakademie, dann seit 1869 an der polytechnischen Schule, bei deren Erhebung zur einer technischen Hochschule er zum Professor der Kunstgeschichte ernannt wurde. Alle Nachrichten bezeugen, daß von ihm reichste Anregung ausging, daß er im persönlichen Verkehr sein Bestes gab, daß er sich Aelteren und Jüngeren stets wohlwollend und freundlich erwies, und als er nach längeren Leiden, aber im vollen Besitze seiner geistigen Kräfte aus dem Leben schied, war die Trauer eine tiefe und allgemeine.

H. war zwei Mal vermählt. Seine erste Frau, Marie, die Tochter des Barons Stockmar (s. A. D. B. XXXVI, 304), lernte er auf seiner ersten italienischen Reise kennen, er heirathete sie 1848, doch wurde sie ihm nach acht Jahren der glücklichsten Ehe 1856 durch den Tod entrissen. Einen Ersatz für das verlorene Glück fand er in der Vermählung mit Anna, der Tochter des Dresdner Malers Grahl (1858). Die Reiseberichte, die er an seine beiden Lebensgefährtinnen richtete, zeigen ihn auch menschlich von der schönsten Seite. Aus erster Ehe hatte er drei Kinder, darunter der Archäolog Felix H., aus zweiter Ehe sieben Kinder, darunter der Geograph Alfred H.

Die reichhaltigsten Nachrichten über Hettner’s Leben enthält die Biographie von Adolf Stern (Leipzig 1885, mit Briefen, Tagebuchaufzeichnungen und einem Porträt). – Moleschott’s Schrift mit dem wunderlichen Titel „Hermann Hettners Morgenroth“ (Gießen 1883) enthält allerlei kleine Züge aus den Heidelberger Docentenjahren. – An Hettner’s „Kleine Schriften“, die in einer Auswahl von seiner Wittwe herausgegeben wurden (Braunschweig 1884), ist ein allerdings nicht ganz vollständiges Verzeichniß seiner selbständigen Schriften und Zeitschriftenartikel angefügt; einige Ergänzungen [782] enthält der Aufsatz über Hettner von Seuffert im Archiv für Litteraturgeschichte 12, 1 ff.

[776] *) Zu Bd. L, S. 284.