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ADB:Stockmar, Christian Freiherr von

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Artikel „Stockmar, Christian Freiherr von“ von Karl August Friedrich Samwer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 36 (1893), S. 295–305, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Stockmar,_Christian_Freiherr_von&oldid=- (Version vom 19. Dezember 2024, 04:26 Uhr UTC)
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Stockmar: Christian Friedrich Freiherr v. St., deutscher Staatsmann. Nach einer in der Familie von Geschlecht auf Geschlecht vererbten Nachricht kam ein Stockmar aus seiner Heimath Schweden mit Gustav Adolf nach Sachsen und nahm hier nach dem Tode des Königs dauernden Wohnsitz. Auf ihn führen [296] sich die Stockmars zurück, welche während des 18. Jahrhunderts in Sachsen und Thüringen theils im Staatsdienst, theils in Industrie, Landwirthschaft und Handel thätig waren. Der wissenschaftlich und litterarisch gut gebildete Rittergutsbesitzer Johann Ernst Gotthelf Stockmar (1760–1825) auf Obersiemau bei Coburg und seine Frau Johanne Christiane geb. Sommer sind bemerkenswerthe Erscheinungen in jener Zeit, der erstere wegen des aus strengstem Rechtlichkeitsgefühl erwachsenen zähen Widerstandes, den er der Willkürherrschaft des coburgischen Ministers v. Kretschmann entgegensetzte, letztere wegen eines natürlichen Verstandes und urwüchsigen Humors, wie er ähnlich uns bei Frau Rath Goethe entgegentritt. Als zweites Kind und erster Sohn entsproß dieser Ehe am 22. August 1787 Christian Friedrich St. Unter den Augen der von dem Geiste der Aufklärung erfüllten Eltern verlebte der mit einem zarten Körper, aber trefflichen Geistesgaben ausgerüstete Christian theils auf dem Lande, theils in der Stadt Coburg eine glückliche Jugend. Früh zeigte sich bei ihm ein Streben nach großen Verhältnissen: „Bei mir muß das Eßgeschirr einmal von Silber sein“, vertraute der kecke, lebhafte Knabe seiner Mutter an, worauf sie trocken entgegnete: „Wenn du’s kannst, mir soll es recht sein.“

Nachdem er das Gymnasium in Coburg 1805 verlassen hatte, studirte er fünf Jahre in Würzburg, Erlangen und Jena mit großem Eifer Medicin. Die tiefe Demüthigung Deutschlands durch Napoleon erweckte in ihm das glühende Verlangen nach einem einigen, mächtigen deutschen Vaterlande. Er beschäftigte sich auf der Universität eingehend mit der Geschichte seines Volkes und schöpfte daraus die während des ganzen Lebens festgehaltene Hoffnung und Ueberzeugung, daß nur der Staat Friedrich’s des Großen die deutschen Stämme einer glücklichen Zukunft entgegenführen werde. Dreiundzwanzig Jahre alt ließ er sich als praktischer Arzt in Coburg nieder und gewann durch sein frisches, sicheres, menschenfreundliches Wesen und durch glückliche Behandlung schwer Erkrankter, die er „gegen alle Regeln der Kunst“ gesund machte, bald großes Ansehen, so das er schon im J. 1812 zum Stadt- und Landphysikus von Coburg ernannt wurde. Am Krankenlager schärfte er den beobachtenden Blick, lernte er die verborgenen Ursachen schwerer Leiden ergründen, um dann bald mit kühnem Entschluß, bald mit Ruhe und Geduld die Krankheitskeime zu beseitigen und dem Körper die zur Heilung nöthigen Kräfte zuzuführen. Bei alledem aber bewahrte er sich die innige Freude an Kunst und Litteratur und empfing in dieser Richtung durch den vertrauten Freundesverkehr mit dem Dichter Friedrich Rückert vielfache Anregung.

Der große Freiheitskrieg brachte St. eine schwere Aufgabe: gegen Ende des Jahres 1812 hatte er in Coburg ein Militärlazareth einzurichten, dem er mit Aufopferung aller Kräfte vorstand. Während der Typhus aus dem Lazareth nicht zu vertreiben war, wagten nur ein alter Chirurg und er den Kranken Linderung zu bringen, bis er im November 1813 von der Krankheit ergriffen wurde und mehrere Wochen zwischen Leben und Tod schwebte. Kaum genesen ging er im Januar 1814 als Oberarzt der herzoglich sächsischen Contingente nach dem Rhein, wo er das unter der Verwaltung des Freiherrn vom Stein stehende Wormser Spital leitete. Als er deutsche Verwundete abweisen mußte, weil er einige Zeit vorher kranke französische Gefangene aufgenommen hatte, kam es zu einer heftigen Begegnung mit dem hierüber erzürnten Freiherrn, in der St. seine Pflicht, als Mensch und Arzt so zu handeln, nachdrücklich hervorhob. Im Herbst 1814 kehrte er auf kurze Zeit in die Heimath zurück. Das folgende Jahr führte ihn als Regimentsarzt mit den Truppen der Herzöge von Sachsen nach dem Elsaß und erst nach dem Friedensschluß konnte er seine Pflichten als Stadt- und Landphysikus in Coburg wieder aufnehmen.

[297] Da erging an St. vom Prinzen Leopold von Coburg, dem als Verlobten der präsumtiven englischen Thronerbin eine glänzende Zukunft bevorzusteben schien, die Frage, ob er als Leibarzt in seine Dienste treten wolle. Der Prinz hatte St. während der Feldzüge zwar nur oberflächlich kennen gelernt, aber zu dem geistvollen, witzigen und dabei doch von wissenschaftlichem und sittlichem Ernste durchdrungenen Arzte solches Zutrauen gewonnen, daß er ihm die Sorge für sein leibliches Wohl zu übertragen wünschte. Diese Sorge allein konnte St. nicht bestimmen, dem Rufe zu folgen, da die Thätigkeit eines Leibarztes ein an reiche Arbeit gewöhntes Leben nicht auszufüllen vermochte; auch die hervorragenden Eigenschaften des Prinzen waren nicht entscheidend, denn außer der persönlichen Liebenswürdigkeit waren sie von St. damals noch nicht erkannt worden. Aber es eröffnete sich ihm die Aussicht, die politischen Geschicke der Völker von begünstigter Stellung aus klar zu erkennen und, wenn das Vertrauen des Prinzen zu St. befestigt wurde, Einfluß auf ihn und durch ihn auf die Gestaltung der politischen Zukunft zu erlangen. Seine echt deutsche Gesinnung brauchte St. im Dienste des Prinzen nicht zu verleugnen, ja er konnte seinem Vaterlande in dem Verkehr mit den einflußreichsten Personen Englands mehr nützen, als in seiner Stellung als Physikus einer kleinen deutschen Residenz. So entschloß er sich, die Aufforderung des Prinzen Leopold anzunehmen, und langte am 29. März 1816 in England an.

Dem unbekannten deutschen Leibarzte war am Hofe Leopold’s und seiner Gemahlin Charlotte am Hofe zu Claremont anfangs natürlich keine bedeutende Rolle beschieden; aber das glückliche Fürstenpaar lernte bald die aufopferungsfreudige Treue, das sichere Urtheil, den klugen Rath Stockmar’s schätzen, und so entspann sich ein vertrautes persönliches Verhältniß beider zu ihm. Als Prinzeß Charlotte Mutterfreuden entgegensah, erklärte St. ihrem Gemahl, daß er ihr während dieses Zustandes keine ärztliche Hülfe ertheilen könne, das vielmehr ihrem Leibarzte und dem zugezogenen berühmten Accoucheur allein überlassen müsse, weil der Stolz der englischen Nation ihm im Falle des Unglücks alle Schuld zugeschoben haben würde. Seine Beobachtung, daß die englischen Aerzte durch ihre Behandlung den Organismus der Prinzessin schwächten, enthielt er ihrem Gemahl nicht vor, damit dieser Stockmar’s Bedenken den Aerzten zu erwägen gebe. Erst nachdem Charlotte am Abend des 5. November 1817 von einem todten Knaben entbunden worden war und die beiden Collegen St. aufgefordert hatten, die Prinzessin zu sehen, trat er an ihr Lager, auf dem sie noch in derselben Nacht verschied. Prinz Leopold, der mehrere Tage und Nächte nicht von ihrer Seite gewichen war, hatte sich in dem Glauben, daß nunmehr alle Gefahr vorüber sei, nach der Entbindung erschöpft zur Ruhe begeben. Nun mußte St. ihm den furchtbaren Verlust mittheilen. In dieser schweren Stunde nahm der Prinz ihm als dem treuesten Freunde das Versprechen ab, immer bei ihm zu bleiben; St. erklärte, er werde ihn nicht verlassen, solange er erkenne, daß der Prinz ihm vertraue, ihn liebe, und daß er ihm nützen könne.

Die Liebe und das Vertrauen des Prinzen Leopold erloschen nie, sondern erstarkten zu einer Freundschaft, wie sie inniger zwischen zwei Männern von so verschiedener Lebensstellung nicht gedacht werden kann. Möglich war dies nur, weil St. kein Schmeichler war, weil in ihm strenge Wahrhaftigkeit, unabhängige Gesinnung, große Uneigennützigkeit sich mit bedeutenden Verstandesgaben vereinigten. Mit seinen freimüthigen oft mahnenden Aeußerungen war er keineswegs immer ein bequemer Genosse; daß Prinz Leopold die gute Absicht und die Richtigkeit der Rathschläge Stockmar’s zu erkennen vermochte, daß er ihm [298] während des ganzen Lebens von Herzen zugethan blieb, ist ein trefflicher Beweis für die auch sonst genügend bekannte Bedeutung dieses Fürsten.

Nützen konnte St. seinem Herrn zunächst nach den verschiedensten Richtungen. Der Prinz nahm bald nach dem Tode seiner Gemahlin einen neuen Leibarzt an, um dem Freunde die Verwaltung seiner Einnahmen, seine Correspondenz und die Amtsgeschäfte eines Hofmarschalls anzuvertrauen. Wünschenswerth erschien ihm wegen des vielfachen Verkehrs mit Fürsten und der Hofgesellschaft, daß St. geadelt werde; er veranlaßte daher im J. 1821 den König von Sachsen, seinem Vertrauten den Adel zu verleihen, und im J. 1830 den König von Baiern, ihn zum Freiherrn zu ernennen. Auf Leopold’s Betreiben ist es auch zurückzuführen, daß St. 1844 den österreichischen Freiherrntitel erhielt. Viel wichtiger als diese gesellschaftlich vortheilhaften Anerkennungen seines Wirkens war es für St., daß er in der Leitung des großen Haushalts, in dem Verkehr mit einflußreichen Persönlichkeiten seine Welt-, Menschen- und Geschäftskenntniß erweiterte, daß er in dem leicht zur Verflachung führenden Hofleben seinen Charakter befestigte und seine politische Bildung vertiefte. Mit scharfem Auge durchschaute er mehr und mehr die von keinem anderen Regierungssysteme übertroffenen Vorzüge der constitutionellen Monarchie und eignete sich rasch die praktische politische Auffassung der Engländer an, ohne jedoch an Menschenliebe ärmer zu werden und die Tugend ideal angelegter Staatsmänner zu verlieren, daß sie ihr Handeln stets nach den höchsten Gesichtspunkten einrichten. Er hatte unter dem Einflusse seiner gut bürgerlich gesinnten Eltern sowie in dem Verkehr mit den Landleuten auf dem väterlichen Gute und mit den Bürgern während seiner ärztlichen Praxis eine hohe Meinung von dem gesunden Sinn, dem tüchtigen Wesen, den Fähigkeiten des deutschen Volkes gewonnen und wünschte, daß dieses herrliche Besitzthum nicht durch willkürliches Gängeln von oben gemindert, sondern durch volksthümliche Einrichtungen im Staatsleben bewahrt und gemehrt werde. In England sah er eine rege Betheiligung des Volkes an öffentlichen Angelegenheiten zum Heile Aller, infolge dessen größeres Selbstvertrauen und Selbstbewußtsein der unteren Classen, als man unter dem Drucke der Metternich’schen Regierungsweisheit in deutschen Landen finden konnte. Der frühere ärztliche Beruf in Verbindung mit angeborenem politischen Feingefühl befähigte St. in hohem Maaße, die Ursachen krankhafter Zustände im Leben der Völker zu erkennen und – die vornehmste Aufgabe des Arztes – vorbeugende Rathschläge zu geben; aus Fehlern, welche nach seiner Ansicht auf diesen gewaltigen Organismus einwirken mußten und nicht paralysirt wurden, vermochte er mit Bestimmtheit krankhafte Lebensäußerungen der Nationen vorherzusehen. Aber auch die rechten Heilmittel wußte St. zur Beseitigung der Leiden aus der klaren Erkenntniß ihres Grundes und der Beschaffenheit des Patienten anzurathen. Gustav Freytag und Karl Meyer haben den bedeutenden Einfluß der medicinischen Lehr- und Wanderjahre auf das glückliche politische Wirken Stockmar’s so unanfechtbar nachgewiesen, daß der neuerdings in den Denkwürdigkeiten des Herzogs von Coburg unternommene Versuch, Stockmar’s staatsmännische Thätigkeit unter den Gesichtspunkt des politischen Dilettantismus zu stellen, so geistreich das Urtheil klingen mag, wegen der ungeschichtlichen Auffassung befremden muß. St. gab im Alter von dreißig Jahren den ärztlichen Beruf auf und lebte danach mehr als vierzig Jahre in intimer Beschäftigung mit politischen Angelegenheiten. Mit unbefangenen Augen ihn als politisch dilettirenden Mediciner zu betrachten, ist daher unmöglich.

Nach dem Tode der Prinzessin Charlotte brachten gemeinsame Reisen nach Frankreich, Italien und Deutschland frische Eindrücke in das zunächst von großen Ereignissen freibleibende Leben des Prinzen Leopold und Stockmar’s zu Claremont. [299] Letzterer gründete im August 1821 mit seiner Cousine Fanny Sommer einen eigenen Hausstand in Coburg; aber das Glück des behaglichen häuslichen Lebens mit der Gattin und den der Ehe entsprossenen drei Kindern genoß St. nur getheilt: er brachte fast in jedem der nächsten 36 Jahre bloß sechs Monate in Coburg zu, die anderen sechs Monate widmete er seinen fürstlichen Freunden – für den von warmem Empfinden für Familienglück beseelten Mann ein großes Opfer. Dadurch aber, daß er den Mittelpunkt seines Lebens nach Deutschland verlegte, zeigte er den festen Entschluß, gut deutsch zu bleiben und, soweit sein Rath und seine Hülfe nicht von den Freunden im Ausland verlangt wurden, die ihm beschiedenen Tage unter seinen Landsleuten zu verbringen.

Den ersten Anlaß zu einem Streifzug in das Gebiet der hohen Politik bot die im J. 1829 von Seiten der Griechen an den Prinzen Leopold ergangene Anregung, ihr König zu werden. St. drang darauf, daß der Prinz nicht persönlich mit den Vertretern der Großmächte unterhandle und seine Annahme der Krone von vornherein an bestimmte, die Lebensfähigkeit des neuen Staatsgebildes verbürgende Bedingungen knüpfe. Damals beachtete Leopold die Rathschläge seines klugen Gehilfen nicht, sondern handelte ihnen in beiden Stücken zuwider; er sagte, von der Sehnsucht nach dem herrlichsten Lande des Alterthums getrieben, unbedingt zu, indem er hoffte, bei den Großmächten später noch die nothwendigen Zugeständnisse durchzusetzen. Als er sie nicht zu erreichen vermochte, mußte er sein Wort zurückziehen.

Bald darauf erhoben sich die Belgier gegen die holländische Herrschaft und suchten 1831 die Hülfe des Prinzen Leopold, um einen Staat zu gründen. Diesmal setzte St. es durch, daß der Prinz die angebotene Krone nur unter der Bedingung annahm, daß die Belgier sich den von den Großmächten aufgestellten 18 Artikeln unterwürfen. Als der Prinz ihn fragte, ob die in Brüssel beschlossene stark demokratische Verfassung eine gute Regierung möglich mache, gab St. nach eingehender Prüfung zu, daß die Macht des Königs und seiner Minister durch die Constitution gar sehr beschränkt werde. Aber er schloß daran den Rath: „Versuchen Sie es, ob sich alle diese Freiheiten mit der Ordnung vereinigen lassen, versuchen Sie es, nach dem Geiste dieser Constitution, und zwar mit der größten Gewissenhaftigkeit zu regieren. Finden Sie dann, daß mit diesem Grundgesetz eine gute Regierung unmöglich ist, so erlassen Sie nach einiger Zeit eine Botschaft an die Kammern, worin Sie Ihre Erfahrungen offen darlegen und die Mängel der Constitution nachweisen. Haben Sie in der That nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt, dann wird Ihnen das Volk sicherlich zur Seite stehen und gern alle Aenderungen vornehmen, deren Nothwendigkeit erweislich ist.“ Leopold erklärte sich hierauf mit dem Inhalte der Verfassung einverstanden, verzichtete, dem Rathe Stockmar’s folgend, unter bestimmten Modalitäten auf sein englisches Jahrgeld, um völlige Unabhängigkeit gegenüber dem belgischen Volke sowie den auswärtigen Mächten zu erlangen, und traf, von seinem Vertrauten begleitet, am 21. Juli 1831 in Brüssel ein. Hier zogen sich bald drohende Wolken zusammen: während König Leopold I. sein Land bereiste und St. das Haus- und Hofwesen orqanisirte, brachen die Holländer von neuem in Belgien ein. St. wurde am 12. August 1831 auf dem Wege zum König bei Löwen von holländischen Soldaten gefangen genommen, rettete aber durch eine List die am Leibe verborgenen Depeschen; nach wenigen Stunden zog sich die holländische Abtheilung vor dem von Leopold I. herbeigerufenen französischen Heere zurück, ohne sich um den Gefangenen zu kümmern. Der König sandte St. nun nach London, um die officiellen Vertreter Belgiens, van de Weyer und Goblet, zu unterstützen. Im vollsten Einverständniß mit diesen benutzte St. seine guten Beziehungen zu den englischen Staatsmännern, um die [300] schwierige Lage der belgischen Angelegenheit auf der Conferenz der Großmächte zu verbessern. Er empfahl Leopold, alle Abdankungsgedanken aufzugeben, mit kleinen Erfolgen zufrieden zu sein, die von den Großmächten vorgeschlagenen, nicht gerade günstigen, aber doch annehmbaren Bestimmungen anzuerkennen. Nachdem der König diesem letzten Rathe am 15. November 1831 gefolgt war, konnte Belgiens Existenz als gesichert angesehen werden. Das Widerstreben Hollands brachte in den nächsten Jahren zwar noch sorgenvolle Stunden für die belgischen Staatsmänner und für St. Gelegenheit zum Eingreifen; in der Hauptsache konnte dieser sich nun aber der recht verdrießlichen Abwicklung der Vermögensangelegenheiten des Königs aus der englischen Zeit zuwenden. Endlich im April 1834 hatte er aus dem englischen Jahrgelde Leopold’s gemäß dem beschränkten Verzicht alle Schulden getilgt; krank siedelte er im Mai desselben Jahres nach Coburg über. Da in dem belgischen Staatswesen eine Verwendung für den Ausländer nicht gut möglich war, übrigens auch Stockmar’s selbständige Natur sich nur für eine leitende Stellung, nicht für die gewöhnliche bureaukratische Arbeit eignete, so schied St. 1834 mit Pension aus der dienstlichen Stellung zum Könige der Belgier. Der freundschaftliche, bald persönliche, bald briefliche Verkehr und die Bereitschaft, Leopold nützlich zu sein, dauerten übrigens bis an sein Ende fort.

Drei Jahre der Ruhe und Erholung verbrachte St. bei den Seinen in Coburg. Sie wurden nur durch ein in die coburgische Familienpolitik einschlagendes Geschäft unterbrochen, durch die Vermittelung des Heirathsvertrages zwischen dem Prinzen Ferdinand von Coburg und Donna Maria von Portugal gegen Ende des Jahres 1835. Merkwürdig ist, daß hieraus nicht ein näheres Verhältniß zu der Familie seines Landesherrn erwuchs. St. war aber, wie Theodore Martin aus bester Quelle mittheilt, beim herzoglichen Hause in Coburg nicht beliebt; hier gefiel sein rückhaltlos offenes, unabhängiges, eigenartiges Wesen nicht.

Und doch sollte St. diesem Hause unvergänglichen Ruhm verschaffen durch die Erziehung des jüngeren Sohnes des regierenden Herzogs zu einem Fürsten, der in musterhaftem Leben, strenger Selbstzucht, treuester Pflichterfüllung allen Hochgestellten ein Vorbild werden sollte. König Leopold hatte die Verbindung seines Neffen, des Prinzen Albert von Coburg, mit seiner Nichte Victoria, der englischen Thronerbin, ins Auge gefaßt für den Fall, daß Prinz Albert fähig werden sollte, die schwierige Stellung eines englischen Prinzgemahls gut auszufüllen. Er hatte mit St. eingehend darüber correspondirt und den Freund veranlaßt, der Prinzessin Victoria beim Eintritt ihrer Regierungsmündigkeit berathend zur Seite zu stehen, damit sie nicht von selbstsüchtigen, ehrgeizigen Leuten umgarnt werde. Wenige Wochen nach seiner Ankunft in England (26. Mai 1837) starb König Wilhelm IV. und Victoria bestieg achtzehnjährig den Thron. Für St. brach wieder eine Zeit angestrengtester Thätigkeit an, denn er allein hatte alle Geschäfte eines Privatsecretärs der Königin zu besorgen, soweit nicht der Weg directer schriftlicher oder persönlicher Verhandlung zwischen der Königin und den Ministern gangbar war. Diejenigen, deren egoistische Pläne er kreuzte, verfehlten natürlich nicht, auf den fremden, im Verborgenen lebenden „Intriguanten“ aufmerksam zu machen. Aber die maßgebenden Personen, insbesondere die Führer der beiden großen englischen Parteien erkannten damals wie späterhin das einsichtige, selbstlose Walten Stockmar’s und waren daher mit seiner einflußreichen Stellung am Hofe zufrieden. Denkwürdig ist der Ausspruch des scharf urtheilenden Lord Palmerston: „In meinem ganzen Leben ist mir nur ein vollkommen uneigennütziger Mensch vorgekommen, das ist Stockmar“, nicht minder das Zeugniß Lord Aberdeen’s: „Ich hab’ wol Leute gekannt, [301] die grad’ so klug waren, grad’ so discret, grad’ so brav, aber keinen, der alles dreies so mit eins war, wie er.“

Nach fünfzehn Monaten eines arbeitsreichen Aufenthaltes kehrte St. von England in die Heimath zurück, von der Königin gebeten, den Prinzen Albert auf einer zu dessen Ausbildung dienenden Reise zu begleiten. Von December 1838 bis zum Mai 1839 suchte St. auf dem Zuge durch Italien in seiner frischen Weise auf den jungen Prinzen einzuwirken; er würdigte dessen gute Anlagen und edle Vorsätze, aber er bemerkte auch eine Abneigung gegen geistige Anstrengung, gegen politische Erörterungen. Er betrachtete es nun als eine Lebensaufgabe, den Geist und Charakter des Prinzen zu veredeln und zu vertiefen, ihn wieder und wieder zum Ernst und zur Strenge gegen sich selbst aufzufordern, bis das hoch gesteckte Ziel erreicht sei. Das es erreicht wurde, ist Stockmar’s Verdienst, und Prinz Albert ist dafür bis zu seinem Tode dem treuen väterlichen Freunde dankbar gewesen. Auch nachdem der Schüler Stockmar’s von seinem Meister nichts mehr zu lernen brauchte, drang er immer und immer wieder in diesen, nach England zu kommen, damit sie sich über die Dinge aus der großen und der kleinen Welt aussprechen könnten. Und wenn St. fern war, berichtete Prinz Albert brieflich über seine Erlebnisse und die großen politischen Angelegenheiten, häufig ohne von dem alten Freunde, dem das Schreiben gegen sein Lebensende schwer wurde, eine Antwort abzuwarten.

Im Herbst 1839 verlobte die Königin Victoria sich mit Prinz Albert. Schwierigkeiten entstanden in den Fragen des dem Prinzen zu gewährenden Jahrgeldes und Ranges, weil die Tories sich durch die offene Begünstigung der Whigs von seiten der Königin verletzt fühlten. Vergeblich drang St., der in England für den Prinzen den Heirathsvertrag zu verhandeln hatte, darauf, daß das whiggistische Ministerium sich vor der öffentlichen Berathung mit der Opposition über diese neutralen Dinge verständige; das beantragte Jahrgeld wurde durch das Parlament wesentlich herabgesetzt und auch in der Rangfrage drohte eine peinliche Niederlage. Da setzte St. es durch, daß der den Rang behandelnde Theil des Gesetzentwurfs zurückgezogen und dem Prinzen durch Geheimrathsbefehl (order in Council) der Rang nach der Königin gegeben wurde. Nachdem die Vermählung am 10. Februar 1840 stattgefunden hatte und die Geburt eines Thronerben zu erwarten war, verhandelte St. auf eigene Verantwortung mit den Führern der Tories, um dem Prinzgemahl die etwa nothwendig werdende Regentschaft zu sichern. Er erzielte einen so durchschlagenden Erfolg, daß eine vorläufige vertrauliche Verhandlung mit der Opposition seitdem in allen die königliche Familie betreffenden Fragen geübt worden ist. Bei seinen häufigen, lange dauernden Aufenthalten in England schlug er auf Bitten der ihn treu verehrenden Königin und des Prinzgemahls Reformen für die Aenderung des Hofwesens, Maaßregeln für die geistige und körperliche Ausbildung der königlichen Kinder vor und gab in den verschiedensten häuslichen und politischen Angelegenheiten trefflichen Rath. Er war nicht ein Fremder, sondern der vertraute Hausfreund in den königlichen Schlössern Englands und als solcher von den Vorschriften der Hofetikette entbunden; so durfte er, um ein Beispiel anzuführen, in den dort nicht üblichen langen Beinkleidern erscheinen und beim Thee vor der Königin allein aufbrechen.

Dieser scharfblickende, thatkräftige, volksthümlich denkende Staatsmann hatte die beste Kraft seines Lebens den Schicksalen Belgiens und des englischen Fürstenhauses gewidmet – in Deutschland war für die Nutzbarmachung der Kräfte und Ideen eines so entschieden deutschen und liberalen Politikers kein Raum gewesen. St. hatte nur bei einer Gelegenheit sein Lieblingsproject, engere Beziehungen zwischen Deutschland und Großbritannien herzustellen, fördern können, [302] indem er es durchsetzte, daß die englischen Herrschaften den König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen einluden, Pathenstelle bei dem Prinzen von Wales zu übernehmen. Das gewünschte intime Verhältniß der beiden großen protestantischen Mächte entstand jedoch aus dem Besuche des gekrönten Romantikers in England nicht. Wohl aber sagte St. schon im J. 1847 mit vollster Sicherheit voraus, daß in Frankreich und Preußen ein gewaltiger Sturm nahe bevorstehe, in Frankreich wegen der unehrlichen, nur scheinbar constitutionellen Politik Ludwig Philipp’s, in Preußen wegen der halben Maßregeln der Regierung und der liberalen Opposition. Als dann der Sturm des Jahres 1848 von Frankreich nach Deutschland hinüberbrauste, hoffte er, daß Preußen das deutsche Volk in dieser Krise führen und schützen werde; aber Friedrich Wilhelm IV. entschloß sich zu spät, die Leitung der deutschen Bewegung zu übernehmen und gab den widerwillig gefaßten Entschluß gar bald auf. Als man noch Erwartungen auf ihn setzen konnte, entwarf St. einen Plan zur Wiederherstellung Deutschlands, der zwar sein Ideal, einen deutschen Einheitsstaat mit preußischer Spitze unter Ausschluß Oesterreichs zu bilden, des vorauszusehenden Widerstandes wegen nicht verwirklichen, aber doch unter Schonung der bestehenden Verhältnisse alsbald eine innige Einheit schaffen sollte. Er schlug einen deutschen Bundesstaat vor, den König von Preußen als Kaiser, Aufgehen Preußens und etwaigen späteren Zuwachses im Reiche, Eintreten der übrigen Bundesstaaten in den Zustand mittelbaren Reichslandes, d. h. die letzteren sollten nur in den nach der Reichsverfassung gemeinsamen Angelegenheiten dem Reiche unterworfen werden. Der Kaiser sollte durch Reichsministerium und Reichsparlament die der Centralgewalt zustehenden Rechte im ganzen Reiche und alle anderen Befugnisse im unmittelbaren Reichlande (Preußen und Zuwachs) ausüben, während die Regierungen und Repräsentativkörper der reichsmittelbaren Länder in diesen die nicht dem Reich zugetheilten Rechte wahrnehmen sollten. Seine Hoffnung war, daß allmählich die reichsmittelbaren Gliedstaaten im Reiche aufgehen möchten und der Bundesstaat sich in den Einheitsstaat wandeln würde. Oesterreich durfte nach seiner Ansicht nicht dem Reiche beitreten, um den schädlichen Dualismus zu verhindern; nur die deutschen Provinzen der Habsburger Monarchie hätten als reichsmittelbares Land aufgenommen werden können.

Auf Veranlassung des ihm von Brüssel her befreundeten preußischen Ministers Heinrich v. Arnim suchte St. am 17. Mai 1848 brieflich den König von Preußen für die Lösung der deutschen Frage zu gewinnen und übersandte hierbei seinen soeben skizzirten Plan. Am 8. und 10. Juni 1848 setzte St. persönlich dem Könige seine Ansichten über die künftige Gestaltung Deutschlands und über die Herstellung der Ordnung in Preußen auseinander. Der liberale Staatsmann hielt die Auflösung des in Phrasen schwelgenden preußischen Landtags nicht für erforderlich, um so nachdrücklichere Maaßregeln empfahl er zur Ausrottung der durch den Straßenpöbel hervorgerufenen Anarchie: Berlin solle militärisch besetzt und eine Proclamation an das Volk erlassen werden, worin diesem zu verkünden sei, daß der militärische Schutz dem Landtag die Berathung der Verfassung in Freiheit, Ruhe und Ordnung ermöglichen solle. Als St. sah, daß Friedrich Wilhelm den rechten Entschluß nicht fassen konnte, kehrte er rasch nach Frankfurt zurück und vermied es von da ab, mit dem Könige in Berührung zu kommen.

In Frankfurt vertrat er, einem dringenden Wunsche des Prinzen Albert entsprechend, die kleinen Herzogthümer Coburg-Gotha als Gesandter ohne Stimme an dem absterbenden Bundestage, konnte aber natürlich in dieser Thätigkeit keine Befriedigung finden. Seine Gesinnungen erhellen klar daraus, daß er nach dem Beschluß des Bundestags, sich aufzulösen, das Wort zu einer eindrucksvollen [303] Ansprache ergriff, in der er ausführte, daß jetzt die Zeit gekommen sei, wo die Particularregierungen, insbesondere die kleinen, sich als unmöglich und überflüssig erkennen und selbst zu Gunsten eines großen Ganzen aufgeben müßten – dies sei ein letzter patriotischer Act, mit dem allein sie würdig schließen könnten.

Anfang und Mitte Juli 1848 baten die Freunde ihn, das Reichsministerium des Auswärtigen zu übernehmen. Er aber erwiderte: „Wer im 60. Jahre, mit Gicht in den Eingeweiden, noch den Krankenwärterdienst bei der am ansteckenden Fieber darniederliegenden Germania übernehmen wollte, müßte rein toll sein.“ Als ihm jedoch am Ende desselben Monats die weniger anstrengende Ministerpräsidentschaft angetragen wurde, erklärte er sich zur Uebernahme bereit, falls sein bei Friedrich Wilhelm IV. gut angeschriebener Freund Bunsen die auswärtigen Angelegenheiten des Reichs leiten wolle und so eine Gewähr für gute Beziehungen zwischen Frankfurt und Berlin gegeben werde. Aber Bunsen blieb im preußischen Staatsdienst. Dem Andringen Dahlmann’s, unter ihm die auswärtigen Angelegenheiten zu führen, konnte St. nur ein unbedingtes Nein entgegensetzen. Ein im September 1848 auf Wunsch des Reichsministeriums von St. unternommener Versuch, durch persönliche Verhandlung mit den preußischen Ministern die deutsche Sache zu fördern, hatte keinen praktischen Erfolg. Den an ihn von Heinrich v. Gagern am 14. Februar 1849 ergangenen Antrag, das Ministerium des Auswärtigen zu leiten, konnte er ebensowenig, wie die früheren annehmen. Mehr und mehr festigte sich in ihm die Ueberzeugung, daß bei der in Berlin herrschenden Richtung das deutsche Reich von der Frankfurter Nationalversammlung nicht werde gegründet werden können. Auch an ein Gelingen des preußischen Versuchs, durch das Erfurter Parlament eine Einigung herbeizuführen, vermochte er nicht zu glauben, weil die hierzu nothwendigen Mittel nicht mit Entschiedenheit in Anwendung gebracht wurden.

Und doch zweifelte der edle Patriot nicht an der endlichen Erfüllung des deutschen Einheitstraumes. Charakteristisch sind seine Wort aus jener Zeit: „Die Deutschen sind ein gutes Volk, leicht zu regieren, und die deutschen Fürsten, die das nicht verstehen, verdienen nicht über ein solches Volk zu herrschen. Laßt Euch nicht abschrecken; Ihr Jüngeren vermögt gar nicht zu übersehen, wie groß die Fortschritte sind, welche die Deutschen in diesem Jahrhundert zu staatlicher Einheit gemacht haben; ich habe es erfahren, ich kenne dies Volk, Ihr geht einer großen Zukunft entgegen, Ihr werdet es erleben, ich aber nicht; – dann denkt des Alten!“ Freilich erwartete St. die Einigung nicht mehr auf dem Wege friedlicher Verhandlung; mit prophetischem Blick sah er das zu einer Katastrophe drängende Steigen allgemeiner Noth voraus: „Dann kann es kommen, wie es schon so oft kam, die Noth erzeugt den Mann und die That.“ Dieser von Bismarck wahr gemachte Satz findet sich in einem Briefe Stockmar’s vom 25. September 1851!

Vor dem Krimkriege hatte St. ein gemeinsames festes Auftreten Englands, Frankreichs, Preußens und Oesterreichs gegen Rußland, das trotz seiner innerlichen Morschheit auf Europa nicht die mindeste Rücksicht nahm, gewünscht, um den Krieg zu vermeiden. Nachdem aber letzterer ausgebrochen war, befürwortete er warm seinen alten Gedanken eines Zusammengehens Norddeutschlands mit England, weil dieses bei all seinem gesunden und berechtigten Egoismus doch frei von blinder Habgier, blindem Neid sei und seine Größe und Wohlfahrt nicht durch Schwächung und Niederhaltung anderer Staaten zu fördern suche. Aber die russenfreundlichen reactionären Kreise Berlins waren dieser Idee nicht geneigt. Um so größere Freude empfand St., als er noch an seinem Lebensabend dazu mitwirken konnte, ein verheißungsvolles Band zwischen den beiden [304] Mächten zu knüpfen durch die Verbindung seines Lieblings, der Prinzeß Royal von Großbritannien, mit dem Prinzen Friedrich Wilhelm von Preußen. Letzterem war St. von den Berliner Conservativen als „revolutionärer Maulwurf“ geschildert worden – wie erstaunte der Prinz, in ihm einen aufgeklärten vertrauenswürdigen Staatsmann zu finden, der im Gegensatz zu den sogenannten Conservativen wirklich staatserhaltende Ideen vertrat, indem er verlangte, das ununterbrochen und in einem fortgehenden Acte ein Theil des Alten erhalten, das Veraltete abgestoßen und dafür ein Theil neu geschaffen und angesetzt werde.

Zu der Vermählung des jungen Paares konnte St. nicht mehr nach England reisen; seit dem am 16. Mai 1856 erfolgten Tode seiner einzigen Tochter Marie, die an Professor Hermann Hettner verheirathet war, hatte er viel von seiner Frische eingebüßt; die Lasten des Alters drückten schwer auf den zur Kränklichkeit neigenden Körper und den schon in den Mannesjahren hypochondrischen Stimmungen unterworfenen Geist. Er hatte aber seinen ältesten Sohn Ernst in nahe Beziehungen zu dem englischen Königshause gebracht und so die segensreiche Wirksamkeit desselben für das junge Fürstenpaar eingeleitet. Er selbst weilte aus rein menschlichem Interesse, an dem Wohlergehen des Prinzen Friedrich Wilhelm und seiner Gemahlin gegen Ende des Jahres 1858 in Potsdam und Berlin, auch von dem Prinzen und der Prinzessin von Preußen durch Beweise großen Vertrauens erfreut. Dann zog er sich ganz nach Coburg zurück und schenkte politischen Fragen fast kein Gehör mehr, sondern vertiefte sich in die ewigen Räthsel des menschlichen Lebens. Im aufgeklärten protestantischen Glauben aufgewachsen, war er von jeder confessionellen Einseitigkeit, von jeder religiösen Unduldsamkeit weit entfernt. Als Grund intoleranter Gesinnung konnte er bei Anderen nur Mängel des Verstandes, des Gemüthes oder der Gesundheit erkennen. Das Wichtigste erschien ihm allezeit nicht die Gläubigkeit, sondern werkthätige, echt christliche Nächstenliebe. Diese haben nicht nur die persönlichen Freunde, sondern auch die Armen Coburgs in reichstem Maaße von St. erfahren. Der frühzeitige Tod seines großen politischen Schülers, des Prinzen Albert (14. December 1861) erfüllte ihn mit bitterstem Leid, die Krankheit König Leopold’s brachte dem fast Sechsundsiebzigjährigen schweren Kummer. Aber den Tod dieses Freundes sollte er nicht mehr erleben müssen: in der Nacht vom 8. zum 9. Juli 1863 machte ein Gehirnschlag seinen Leiden ein Ende. Die fürstlichen Freunde setzten ihm auf dem Coburger Friedhof ein sie selbst ehrendes Denkmal.

St. hat fast nichts veröffentlicht; die wenigen politischen Aufsätze, welche von ihm in der Deutschen Zeitung (vom 4. Juli 1848 und 22. Sept. 1849) und in der Berliner Constitutionellen Zeitung (Jahrgang 1850, Nr. 426, Jahrgang 1851, Nr. 18, 91) publicirt worden sind, zeigen ihn als einen Schriftsteller von hervorragenden litterarischen Fähigkeiten. Der Schwerpunkt seines Wirkens hat in der Verbreitung seiner Ideen durch Mittheilung an Einzelne in vertrautem persönlichem oder brieflichem Verkehr gelegen. So ist es gekommen, daß er, wie der belgische Gesandte v. Nothomb ihm sagte, nur wenigen bekannt, „eine unterirdische, anonyme Existenz“ geführt hat. Ihm hat die bescheidene Rolle des verborgen bleibenden Berathers genügt. Erst durch den bald nach seinem Tode erschienenen anmuthenden Lebensabriß aus der Feder Gustav Freytag’s und noch mehr durch die von dem Sohne herausgegebenen Denkwürdigkeiten hat das deutsche Volk erfahren, daß es an St. einen seiner weisesten Politiker und einen vortrefflichen Menschen verloren hat.

E. v. Stockmar, Denkwürdigkeiten aus den Papieren des Freiherrn Christian Friedrich von Stockmar. Braunschweig 1872. – Derselbe, Der Tod der Prinzeß Charlotte. In der Deutschen Rundschau XL, 461 fg. [305] Berlin 1884. – Ch. Grey, Die Jugendjahre des Prinzen Albert. Uebersetzt von J. Frese. Gotha 1868. – Th. Martin, Das Leben des Prinzen Albert. Uebersetzt von Lehmann. 5 Bände. Gotha 1876–1881. – G. Freytag, Gesammelte Werke XVI, 66 fg. Leipzig 1887. – F. K. Meyer in den Preußischen Jahrbüchern XII, 328 fg. Berlin 1863. – H. Hettner, Kleine Schriften, S. 131 fg. Braunschweig 1884. – F. Nippold, Bunsen II, III. Leipzig 1869, 1871. – A. Springer, Dahlmann II, Leipzig 1872. – Ernst II., Herzog von Sachsen-Coburg-Gotha, Aus meinem Leben und aus meiner Zeit. 3 Bände. Berlin 1887–1889. – v. Roon, Denkwürdigkeiten I, Breslau 1892. – A. Sohr, H. Rückert. Weimar 1880. – H. Uhde, Erinnerungen u. Leben der Malerin Luise Seidler. Berlin 1874. – (Agnes Keßler geb. v. Schultheß,) Altfränkische Bilder und Geschichten. Coburg o. J. – A. Stern, H. Hettner. Leipzig 1885. – R. Haym, M. Duncker. Berlin 1891. – Th. Juste, Le baron Stockmar. Bruxelles 1873. – Saint-René Taillandier, Le roi Léopold et la reine Victoria. 2 Bände. 1878.