Die Gartenlaube (1878)/Heft 21

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1878
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[339]
Um hohen Preis.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)
Nachdruck verboten und Uebersetzungsrecht vorbehalten.


Raven lehnte sich in den Sitz zurück, und das frühere Schweigen trat wieder ein. Auch Gabriele schmiegte sich fester in die Wagenecke; sie, die es sonst nicht vermocht hatte, auch nur eine Viertelstunde zu fahren, ohne sich in allen möglichen Plaudereien zu ergehen, zeigte jetzt nicht die mindeste Neigung, das Gespräch wieder anzuknüpfen. Es war eine mächtige und tiefgreifende Veränderung mit ihr vorgegangen, die nicht erst von der Entfernung Georg’s datirte; schon früher, viel früher war jenes räthselhafte Etwas aufgewacht, gegen das sie vom ersten Augenblicke an gekämpft und das sie so lange für Furcht und Scheu gehalten hatte. Es hatte ja so gar nichts gemein mit jener frohen, beglückenden Empfindung, die wie Sonnenschein durch die Seele des jungen Mädchens floß, als Georg ihr seine Liebe gestand, als er mit der ganzen Innigkeit seines Wesens um ihre Gegenliebe bat und sie lächelnd und erröthend das ersehnte Ja aussprach. Sie rief oft genug das Andenken an jene Stunde zurück, wie man eine schützende Macht anruft, aber oft vergeblich. Es wich in solchen Momenten das Bild Georg’s, das sie festzuhalten strebte, in weite Ferne zurück, und bisweilen verblaßte es ganz. Wenn es nur die Trennung war, die das verschuldete, warum erwies sich diese Trennung denn machtlos jenem anderen Bilde gegenüber, das sich so ernst und düster erhob und immer deutlicher hervortrat, je mehr das erste sich verschleierte? Es hatte Gabriele nicht verlassen in diesen ganzen vierzehn Tagen; weder die schmeichelnden Huldigungen des jungen Officiers noch der Gedanke an den fernen Geliebten hatten die Erinnerung verscheuchen können, die alles Denken und Fühlen gewaltsam an sich riß. Es war, als habe eine dämonische Macht die ganze Natur des jungen Mädchens in Fesseln geschlagen; Frohsinn, Uebermuth, Kinderlaunen, das Alles war dahin, und was an dessen Stelle trat, diese dunklen und räthselhaften, mehr dem Schmerze als der Freude verwandten Regungen, dieses Auf- und Abwogen von Empfindungen, die sie nicht verstand, beängstigte und peinigte Gabriele unendlich. Noch kämpfte sie halb unbewußt dagegen, noch ahnte sie nicht, wollte nicht ahnen, welche Gefahr es war, die ihrer Liebe und dem Glücke Georg’s drohte; sie fühlte nur, daß Beides bedroht war, und daß die Gefahr nicht von außen kam.

Die Fahrt ging ununterbrochen in der gleichen Eile vorwärts, der Stadt zu, die nebelumflort noch in ziemlicher Entfernung lag. Das weite Thal mit seinem Bergeskranze trug schon das Gewand des Herbstes, der hier in der Nähe des Hochgebirges seine Herrschaft früher antrat, als drunten in der Ebene. Noch standen die Bäume und Gebüsche ringsum im vollen Blätterschmucke, aber sein frisches Grün war längst geschwunden. Ueberall entfaltete sich das herbstlich bunte Farbenspiel, vom dunkelsten Braun bis zum hellsten Gelb, und dazwischen flammte es oft mit hellem Roth oder dunklem Purpur und täuschte das Auge, als seien es Blumen, die dort blühten – und es war doch nur sterbendes Laub mit seinem letzten trügerischen Schimmer, eine Beute des Windes, der in den Wäldern rauschte und mit scharfem Hauche über die kahlen Wiesen und Felder strich. Der Fluß tobte, vom Regen geschwellt, und wälzte seine trüben Fluthen in rasender Eile vorwärts. Das Gebirge hatte sich in seinen Nebelschleier gehüllt, der, flatternd und zerrissen, die zackigen Gipfel bald auftauchen, bald verschwinden ließ. Tiefer unten an den niederen Waldbergen trieben die Wolken ihr phantastisches Spiel, in endlosem Wechsel aus den gährenden Schluchten emporsteigend und wieder darin versinkend, und im Westen ging die Sonne nieder, von düsterem Stürmgewölke umlagert, das sie wohl glühend zu durchleuchten, aber nicht zu durchbrechen vermochte.

Dieselbe Landschaft, hatte einst in ganz anderem Lichte vor den Beiden gelegen, die jetzt so fremd und stumm neben einander saßen. Damals breitete sich das Thal vor ihnen aus, von Sonnenglanz überfluthet, von Sonnenduft erfüllt, mit seinen blauen Bergen und seiner schimmernden Ferne, die „ein ganzes Eden von Glückseligkeit“ zu bergen schien, und in dem tiefen, kühlen Schatten der alten Linden sprühte der helle Strahl des Nixenbrunnens und spann mit seinem Rieseln und Rauschen die süßen, gefährlichen Traumgebilde – heute tönte nur das Brausen des Flusses, an dessen Ufer die Fahrt entlang ging; die Ferne verschleierte sich in dichtem Nebel; die Berge blickten wolkenumhüllt, sturmdrohend herüber, und die Sonne hatte weder Strahlen nach Wärme mehr, nur das flammende blutige Abendroth, das sie als Abschiedsgruß über die Erde sandte. –

Das Auge des Freiherrn haftete düster und unverwandt auf der sinkenden Sonne und den kämpfenden Wolkenmassen; endlich schien er sich fast gewaltsam seinen Gedanken zu entreißen und brach das lange Schweigen.

„Der Himmel deutet auf Sturm,“ sagte er, sich zu seiner jungen Begleiterin wendend. „Es bricht aber jedenfalls erst in der Nacht los, und ich hoffe, wir sind noch vor Anbruch der Dunkelheit in R.“

[340] „Es soll ja jetzt sehr unruhig in der Stadt sein,“ bemerkte Gabriele, indem sie selbst einen ängstlich fragenden Blick auf ihren Vormund richtete, welchen dieser jedoch nicht zu bemerken schien.

„Es hat allerdings einige lärmende Demonstrationen gegeben,“ erwiderte er. „Die Sache ist aber ohne ernstere Bedeutung und wird bald zu Ende sein. Du brauchst Dich in keiner Weise zu ängstigen.“

„Man behauptet aber, daß die ganze Bewegung sich gegen Dich allein richtet,“ sagte Gabriele mit stockender Stimme.

Raven runzelte die Stirn. „Wer behauptet das?“

„Oberst Wilten ließ öfter Andeutungen darüber fallen. Ist es wahr, daß man Dir in der Stadt so feindlich gesinnt ist?“

„Ich bin in R. niemals populär gewesen,“ erklärte der Freiherr mit vollkommener Gelassenheit. „Gleich in der ersten Zeit, als ich hierher berufen wurde, galt es, der drohenden Rebellion den Zügel anzulegen. Das ist mir allerdings gelungen, aber man liebt gewöhnlich nicht Den, dem so etwas gelingt. Ich weiß am besten, wie viel Haß und Feindschaft mir mein damaliges Vorgehen geschaffen hat und wie hartnäckig man daran festhält, in mir den Unterdrücker zu sehen, trotz Allem, was ich für die Stadt und die Provinz gethan habe. Wir sind stets im Kriegszustande mit einander gewesen, aber ich habe noch immer die Oberhand behalten, und das wird auch diesmal geschehen.“

Gabriele dachte an die räthselhaften Worte Georg’s, für die ihr noch immer keine Erklärung geworden war. Er wich damals ihrem Andringen so entschieden aus, und der Abschied kam so plötzlich und unerwartet. Es waren ihnen ja nur Minuten zum Lebewohl vergönnt, dann mußte der junge Mann sich losreißen, aber er ließ Gabriele in marternder Angst zurück. Sie wußte doch jetzt, daß irgend etwas dem Freiherrn drohte, und sie beschloß auf alle Gefahr hin, ihn wenigstens zu warnen.

„Du stehst aber ganz allein gegen eine Menge von Feinden,“ sagte sie. „Du kannst nicht wissen, nicht einmal ahnen, was sie im Geheimen gegen Dich unternehmen. Wenn es nun etwas Gefährliches ist!“

Raven sah sie mit dem Ausdrucke unverhehlten Erstaunens an. „Seit wann kümmerst Du Dich denn um solche Dinge? Dergleichen lag Dir doch früher unendlich fern.“

Das junge Mädchen versuchte zu lächeln. „Ich habe in der letzten Zeit so Manches gelernt, was mir früher fern lag. Hier handelt es sich aber um ganz bestimmte Andeutungen –“

„Die Dir zugekommen sind?“

„Ja.“

Der Freiherr stutzte; sein Blick gewann wieder die durchbohrende Schärfe, die ihm bisweilen eigen war, als er rasch und hastig fragte:

„Du stehst in Verbindung mit der Residenz?“

„Ich habe keine einzige Zeile, überhaupt kein Lebenszeichen von dort erhalten.“

„Nicht?“ sagte Raven milder. „Ich vermuthete es, weil Assessor Winterfeld sich gegenwärtig im Ministerium befindet, wo er mit seiner Ansicht, daß ich ein Tyrann ohne Gleichen sei, wohl Gesinnungsgenossen finden dürfte. Ihm persönlich nehme ich diese Meinung durchaus nicht übel, denn ich war genöthigt, ihm und seinen Wünschen in einer Weise entgegenzutreten, die ihn immerhin berechtigt, mich zu hassen und sich an mir zu rächen, wenn das überhaupt in seinen Kräften stehen sollte.“

„Er wird niemals etwas thun, was unedel oder niedrig ist,“ fiel Gabriele ein.

Der Freiherr lächelte verächtlich. „Ich kann Dir versichern, daß ich auf den Haß und die Feindschaft des Herrn Assessor Winterfeld sehr wenig Gewicht lege. Ich habe wohl bedeutendere Gegner gehabt als ihn und bin mit ihnen fertig geworden. – Wenn übrigens jene Andeutungen nicht aus der Residenz gekommen sind, so kann ich nur annehmen, daß die albernen Gerüchte, welche ganz R. durchschwirren, auch ihren Weg nach dem Wilten’schen Landsitze gefunden haben. Es fehlt ihnen aber jeder thatsächliche Anhalt. Ich zweifle durchaus nicht daran, daß man etwas gegen mich unternehmen möchte, man wird sich aber hüten, den Gedanken zur That zu machen, denn man kennt mich hinreichend und weiß, daß ich etwaigen Angriffen gewachsen bin. Wäre die Lage wirklich so drohend, so würde ich Dich und Deine Mutter nicht zurückkommen lassen. Ihr werdet allerdings in den nächsten Tagen die Ausfahrten unterlassen müssen, aber das dauert hoffentlich nicht lange, und jedenfalls seid Ihr im Regierungsgebäude und in der Wohnung des Gouverneurs sicher vor etwaigen Pöbelexcessen.“

„Aber Du bist es nicht,“ rief Gabriele in ausbrechender Angst. „Der Oberst behauptet, Du setztest Dich rücksichtslos jeder Gefahr ab und hörtest niemals auf irgend eine Warnung.“

Raven wandte langsam und finster das Auge auf sie. „Nun, das geht doch wohl nur mich allein an, oder – ängstigst Du Dich um meinetwillen?“

Sie wagte nicht zu antworten, aber die Antwort lag in ihrem Auge, das bittend, flehend dem seinigen begegnete. Der Freiherr beugte sich zu ihr nieder, und jetzt klang es wie athemlose Erwartung in seiner Stimme, als er wiederholte:

„Sprich, Gabriele – ängstigst Du Dich um meinetwillen?“

„Ja!“ kam es bebend von ihren Lippen. Es war nur ein einziges Wort, aber es übte eine verhängnißvolle Wirkung. Gabriele sah wieder den Flammenblitz aufleuchten der sie schon einmal getroffen. Dieser Blick voll lodernder Gluth brach den Eispanzer, mit dem der stolze, starre Mann sich umgeben hatte. Ein einziger Augenblick vernichtete, was eine wochenlange Selbstbeherrschung so mühsam geschaffen hatte, der Traum war nicht zu Ende – das verrieth dieses jähe Auflodern.

Neben ihnen brauste der Fluß, und drüben in den herbstlichen Wäldern rauschte es stärker. Die Wolkenwand, die sich immer drohender im Westen erhob, zerriß, und die Sonne zeigte noch einmal voll und klar ihr glühendes Antlitz. Einige Minuten lang standen Gebirge, Wald und Strom in purpurnem Lichte; wie ein Verklärungsschein floß es über die Erde hin, und das ganze weite Thal erglühte in überirdischer Pracht – aber es waren nur Minuten. Dann verschwand das leuchtende Gestirn; der verklärende Schimmer erlosch, und es blieb nur die abendliche Herbstlandschaft mit ihrem Sturmgewölk und fern am Horizont das letzte Abendroth. Es ging ein halb wehmüthiger, halb unheimlicher Zug durch die ganze Natur, wie Todesahnen.

„Du hast mich in diesen letzten Wochen wohl auch für einen Tyrannen gehalten?“ sagte Raven in gedämpftem Tone, aber jedes Wort verrieth seine innere Erregung. „Vielleicht dankst Du es mir noch einst, daß ich Dich vor einer Uebereilung bewahrte. Du kanntest Dich selbst und Dein eigenes Herz noch nicht und wolltest Dich schon für das ganze Leben binden. Winterfeld war der Erste, der Dir entgegentrat, als Du aufhörtest Kind zu sein, der Erste, der Dir überhaupt von Liebe sprach, und Du träumtest Dich in eine Neigung hinein, die nie bestanden hat. Es war ein Kindertraum, nichts weiter.“

„Nein, nein!“ wehrte Gabriele ab und versuchte ihre Hand frei zu machen, aber vergebens – der Freiherr hielt sie mit eisernem Drucke fest, während er fortfuhr:

„Du fühlst die Wahrheit dessen, was ich sage, sträube Dich nicht dagegen! Ein Versprechen kann gelöst, ein Wort zurückgegeben werden –“

„Niemals!“ stieß das junge Mädchen leidenschaftlich heraus. „Ich liebe Georg, ihn allein und keinen Andern. Ich werde sein Weib werden.“

Raven ließ plötzlich ihre Hand fahren; der Strahl in seinem Auge erlosch, und der alte eisige Ausdruck legte sich wieder über seine Züge. Seine Stimme hatte eine grenzenlose Härte und Bitterkeit, als er erwiderte:

„So laß auch künftig die Angst und Sorge um mich – ich will sie nicht.“

Sie fuhren weiter, ohne daß ferner zwischen ihnen ein Wort gewechselt wurde. Die Schatten des Abends senkten sich allmählich herab; das Gebirge umschleierte sich vollständig, und der Nebel, der über den Feldern lagerte, begann dichter zu werden. Es dämmerte schon, als man endlich R. erreichte, war aber noch so hell, daß man selbst in einiger Entfernung die Gegenstände unterscheiden konnte. Der Wagen hatte bereits die Vorstadt passirt und bog jetzt in die breite Straße ein, die nach dem Schloßberge führte. Am entgegengesetzten Ende derselben lag einer der größeren Plätze der Stadt, wo es sehr unruhig herzugehen schien, denn von dort scholl wüstes Lärmen und Toben herüber, und man unterschied trotz der Dämmerung deutlich wogende Menschenmassen, die den ganzen Platz bedeckten. Der Freiherr stutzte, als die ersten Töne des Lärmes an sein Ohr [341] schlugen; er beugte sich weit aus dem Wagen und sah scharf nach jener Richtung; dann warf er einen schnellen, unruhigen Blick auf seine Begleiterin.

„Das kommt ungelegen,“ sagte er halblaut. „Ich hätte besser gethan, Dich bei Deiner Mutter zu lassen.“

„Was giebt es dort? Eine Gefahr?“ fragte Gabriele erbleichend; sie erinnerte sich der Aeußerungen des Oberst Wilten über die Rücksichtslosigkeit, mit welcher der Gouverneur sich und seine Sicherheit bei solchen Gelegenheiten auf’s Spiel zu setzen pflegte. Raven sah ihr Erschrecken, schrieb es aber nur ihrer eigenen Angst zu.

„Es scheint Lärm vor dem Stadtgefängnisse zu geben,“ erwiderte er. „Ich setzte allen Anzeichen nach voraus, daß es heute ruhig bleiben werde, sonst wäre ich nicht fortgefahren, aber sei unbesorgt, Du sollst nicht in Gefahr kommen. Ich muß Dich freilich verlassen –“

„Um Gotteswillen nicht!“ rief Gabriele. „Wohin willst Du?“

„Wohin meine Pflicht mich ruft – nach dem Schauplatze der Unruhen.“

„Und ich?“

„Du kehrst allein noch Hause zurück. Dich wird Niemand behelligen. Halt an, Joseph!“

Der Kutscher gehorchte; er zog die Zügel an, und der Freiherr erhob sich von seinem Sitze.

„Joseph, Du fährst Fräulein von Harder sofort und so schnell wie möglich nach dem Schlosse. Es hat keine Gefahr; die Schloßstraße ist vollkommen sicher.“

Er öffnete den Wagenschlag, aber das junge Mädchen hielt wie in Todesangst seinen Arm umklammert.

„Laß mich nicht allein! Nimm mich wenigstens mit Dir.“

„Thorheit!“ sagte Raven, mit Entschiedenheit seinen Arm frei machend. „Du fährst nach dem Schlosse. Ich komme nach, sobald der Lärm vorüber ist.“

Er war ausgestiegen und wollte die Wagenthür schließen, aber in dem gleichen Augenblick sprang Gabriele mit einer raschen Bewegung hinaus und stand an seiner Seite.

„Gabriele!“ rief der Freiherr – es war ein Ausruf halb des Schreckens und halb des Unwillens; doch das junge Mädchen schmiegte sich nur fester an seine Seite.

„Ich lasse Dich nicht allein in der Gefahr, und ich fürchte nichts, gar nichts, wenn Du bei mir bist. Laß uns zusammen gehen!“

Raven’s Auge flammte auf, wie vorhin im Wagen, aber diesmal war es ein Blitz des Entzückens, des leidenschaftlichen Triumphes.

„Du kannst mich nicht begleiten,“ sagte er; es war wieder jener seltsam verschleierte Ton, den Gabriele nur einmal von seinen Lippen gehört hatte – damals am Nixenbrunnen. „Du begreifst es doch, daß ich Dich nicht mitnehmen kann in jenes wüste Toben, wo mir jede Möglichkeit fehlt, Dich zu schützen. Es ist ja nicht das erste Mal, daß ich solchen Scenen entgegentrete; ich weiß, wie man die Menge zügelt, aber mir würde die gewohnte Energie versagen, wüßte ich Dich nicht in voller Sicherheit. Versprich mir, ruhig nach Hause zurückzukehren und mich dort zu erwarten! Ich bitte Dich, Gabriele – Du wirst mir meine Pflicht nicht schwer machen wollen.“

Er umfaßte sie und hob sie wieder in den Wagen; Gabriele ließ es widerstandslos geschehen; sie wußte ja selbst, daß sich eine Frau nicht in jenes rohe Gewühl wagen konnte und durfte. Es war nur die Todesangst, die ihr den Gedanken eingegeben hatte, und diese Angst sprach jetzt so deutlich aus ihren Zügen, daß auch Raven’s Festigkeit wankte. Er fühlte, daß er sich eilig losreißen müsse, wollte er nicht der stummen Bitte dieser Augen erliegen.

„Ich muß fort,“ sagte er hastig. „Leb’ wohl, auf Wiedersehen!“

Er warf den Schlag zu und gab dem Kutscher ein Zeichen zum Weiterfahren. Gabriele sah noch, wie die hohe Gestalt sich umwandte und mit raschen, festen Schritten die Richtung nach dem Platze einschlug. Dann zogen die Pferde an, und der Wagen flog mit verdoppelter Eile dem Schlosse zu.




Mehr als eine Stunde war vergangen, und noch immer war der Gouverneur nicht zurückgekehrt. Man fing im Schlosse an, wegen seines Ausbleibens besorgt zu werden, denn der Kutscher, der allein mit Baroneß Harder zurückgekehrt war, hatte berichtet, daß sein Herr sich auf dem Schauplatz der Unruhen befinde. Man wußte allerdings im Regierungsgebäude von den letzteren, hatte aber noch keine näheren Nachrichten darüber, denn die Dienerschaft hatte ein für alle Mal Befehl, das Schloß bei solchen Gelegenheiten nicht zu verlassen, und von den Beamten, die dort wohnten, wagte sich Niemand in den immerhin gefährlichen Tumult. Nur Hofrath Moser, der sich zufällig in der Stadt befand, schien dort festgehalten zu werden. Auch er war noch nicht zurückgekehrt und wartete wahrscheinlich auf die Wiederherstellung der Ruhe, um die Straßen ungefährdet zu passiren.

Das Arbeitszimmer des Freiherrn war bereits erleuchtet. Die von der Decke herabhängende Lampe goß ihr helles Licht über das ganze Gemach aus, das selbst jetzt seinen ernsten, düsteren Charakter nicht verlor. Nur die tiefe Nische des Bogenfensters lag im vollen Schatten, und dort, halb verborgen hinter den schweren Vorhängen, stand Gabriele. Es litt sie heute nicht in der Wohnung ihrer Mutter, die nach der andern Seite hinauslag; sie hatte das Arbeitszimmer ihres Vormundes aufgesucht, das sie sonst nie ohne besondere Veranlassung betrat, denn es bot den vollen Ueberblick über die Stadt. Die hereinbrechende Dunkelheit setzte freilich bald jeder Beobachtung ein Ziel; das Schloß lag überhaupt viel zu weit vom Mittelpunkte der Stadt entfernt, als daß man irgend etwas, was dort vorging, hier hätte bemerken können, aber man übersah vom Fenster aus doch wenigstens den erleuchteten Weg, der auf den Schloßberg führte; man gewahrte jeden Kommenden schon in der Entfernung, und darum wich das junge Mädchen nicht von diesem Platze.

Es war freilich nicht mehr die frühere Gabriele Harder, die da so stumm und bleich mit krampfhaft verschlungenen Händen am Fenster lehnte und hinausblickte, als könne und müsse ihr Auge die Dunkelheit durchdringen. Dieses angst- und verzweiflungsvolle Harren vollendete, was die letzten Wochen begonnen hatten, das Erwachen aus dem Kindestraume, mit dem das junge Mädchen so lange sich und Andere getäuscht hatte. In ihr und um sie her war ja Alles Sonnenschein gewesen bis zu dem Momente, wo ein einziger Blick ihr die Tiefe einer bis dahin ungeahnten Leidenschaft enthüllte. Da war der erste Schatten auf ihren Weg gefallen, der nicht wieder weichen wollte. Die „Schmetterlingsnatur“, die einst spielend an Allem vorüberflatterte, was Leib und Kummer hieß, verschwand, als der Sonnenschein aus ihrem Leben wich, und was sich unter dem Bann jenes Blickes emporrang, das war ein heiß und leidenschaftlich empfindendes junges Wesen, dem sein Antheil am Kampf und Schmerz auch nicht erspart blieb. Jetzt, wo Gabriele zum ersten Male um ein Leben zitterte, das sie bedroht wußte, fühlte sie auch, was dieses Leben ihr war. Es war umsonst, sich noch länger darüber zu täuschen.

Auch die zweite Stunde war schon zur Hälfte verflossen, und noch immer traf weder der Gouverneur selbst, noch irgend eine Nachricht von ihm ein. Gabriele hatte das Fester geöffnet, in der Hoffnung, den Wagen zu hören, der den Erwarteten bringen mußte, aber der Weg lag einsam und öde da, und die Flamme der Laternen flackerten in dem immer heftiger werdenden Winde unruhig auf und nieder.

Da endlich ließ sich der ersehnte Laut vernehmen, zwar kein Rädergerassel, aber Stimmen und Fußtritte mehrerer Personen, die jetzt auch aus der Dunkelheit auftauchten. Sie kamen näher, die Stimmen wurden deutlicher, und ein halb unterdrückter Aufschrei der Freude entrang sich Gabrielens Lippen; sie hatte die Gestalt Raven’s erkannt, der in Begleitung mehrerer Herren zu Fuß den Weg heraufkam und wenige Minuten später in den hellen Lichtkreis des Portals trat.

„Ich danke Ihnen, meine Herren,“ sagte er, stehen bleibend. „Sie sehen, es war unnöthig, daß Sie mir Ihre Begleitung aufdrangen; wir sind auf dem ganzen Rückwege nicht belästigt worden. Ich sagte es Ihnen ja, der Tumult ist vollständig vorüber – für heute.“

„Ja, Excellenz allein haben ihn durch Ihr rechtzeitiges Erscheinen [342] zersprengt,“ tönte die Stimme des Hofrath Moser, der neben seinem Chef stand. „Man war am Begriff, das Stadtgefängniß zu stürmen und die Verhafteten zu befreien, als Sie so unerwartet eintrafen. Ich habe mit Bewunderung gesehen, wie Excellenz durch die bloße Autorität Ihrer Persönlichkeit die rebellische Menge bezähmten und zur Ordnung brachten, nachdem der Herr Polizeidirector mit seinem ganzen Beamtenpersonal es vergebens versucht hatte.“

Der Polizeidirector, der sich gleichfalls in der Begleitung des Gouverneurs befand, schien die Bemerkung übel zu nehmen, denn er entgegnete mit unverkennbarer Bosheit:

„Sie konnten das allerdings vom Fenster aus am besten beurtheilen, Herr Hofrath, und hatten überdies noch das angenehme Gefühl, in vollster Sicherheit zu sein, während Freiherr von Raven und ich uns mitten im ärgsten Tumult befanden.“

„Ich sah die Unmöglichkeit ein, zu meinem Chef zu gelangen,“ erklärte der Hofrath, „sonst hätte ich sicher versucht –“

„Nicht doch!“ fiel ihm der Freiherr in’s Wort. „Von Ihrer Seite wäre es ein ganz unnöthiges Wagniß gewesen, während es für mich und den Polizeidirector Pflicht war. – Es bleibt also bei den besprochenen Maßregeln,“ wandte er sich an den Letzteren. „Ich hoffe, sie werden für die Nacht ausreichen. Morgen kommt Oberst Wilten zurück, und ich werde sofort Rücksprache mit ihm nehmen damit der Wiederholung solcher Scenen ein für alle Mal vorgebeugt wird. Für den Augenblick ist alles Nothwendige geschehen. Sollten sich die Excesse wider Erwarten an irgend einem Punkte der Stadt wiederholen, so benachrichtigen Sie mich! – Guten Abend, meine Herren!“

Er verabschiedete sich mit kurzem Gruße von seinen Begleitern und trat in das Portal. Gabriele schloß leise das Fenster; sie wollte das Zimmer verlassen; der Freiherr sollte sie nicht hier finden, aber es war zu spät. Er mußte in stürmischer Eile die Treppe erstiegen haben, denn sie hörte bereits seinen Schritt in einem der Nebengemächer und hörte ihn auch zugleich fragen:

„Wie? Baroneß Harder ist nicht in ihrer Wohnung?“

„Das gnädige Fräulein ist im Arbeitszimmer Eurer Excellenz,“ erwiderte die Stimme des Dieners, „und wartet dort schon seit länger als einer Stunde.“

Es erfolgte keine Antwort, aber der Schritt kam mit verdoppelter Eile näher; die Thür wurde aufgerissen und Raven trat ein. Sein erster Blick fiel auf Gabriele, welche die Fensternische verlassen hatte und jetzt, bebend an allen Gliedern, dastand. Er errieth, weshalb sie gerade hier auf ihn gewartet, und war im nächsten Augenblicke an ihrer Seite.

„Ich wollte Dich drüben in Deinen Zimmern aufsuchen und hörte, daß Du hier seiest,“ sagte er – seine Stimme klang athemlos, gepreßt. „Es war mir nicht möglich, Dir eine beruhigende Nachricht zu senden, der Tumult ist erst jetzt bezwungen worden. Für den Augenblick ist Alles ruhig. Ich bin sofort hierher geeilt.“

Gabriele wollte antworten, aber die Stimme versagte ihr; sie brachte keinen Laut über die Lippen. Raven sah in das holde, blasse Antlitz, aus dem die Qual dieser letzten Stunden noch deutlich genug zu lesen war. Er machte eine Bewegung, als wolle er das junge Mädchen an seine Brust reißen, aber noch siegte die gewohnte Selbstbeherrschung. Er ließ den Arm wieder sinken, nur ein tiefer Athemzug entrang sich seiner Brust.

„Und nun, Gabriele,“ sagte er, wiederhole mir die Worte, „mit denen Du mich vorhin im Wagen von Dir stießest!“

„Welche Worte?“ fragte Gabriele beklommen.

„Die Unwahrheit, mit der Du Dich und mich zu täuschen versuchtest! Wiederhole es mir jetzt, Auge in Auge, daß Du Winterfeld liebst, ihn allein, daß Du ihm angehören willst! Wenn Du das kannst, so sollst Du kein Wort, keine Bitte weiter von mir hören, aber – sprich es noch einmal aus!“

Das junge Mädchen wich zurück. „Laß mich! Ich – laß mich, um Gotteswillen!“

(Fortsetzung folgt.)



Zum Arnoldi-Jubiläum.
Von Robert Keil.

Am 21. Mai dieses Jahres vollendet sich ein Jahrhundert seit dem Tage, an welchem Ernst Wilhelm Arnoldi zu Gotha geboren wurde. Seine Vaterstadt, die Stätte seines Schaffens und Wirkens, und mit ihr das gesammte deutsche Vaterland feiern das Gedächtniß eines der wackersten Patrioten, eines der genialsten, schöpferischesten Vorkämpfer auf dem Gebiete nationaler Selbsthülfe und Förderung des Nationalwohlstandes. Die „Gartenlaube“ hat bereits im Jahrgange 1870, Seite 872, eine Lebensskizze und das Portrait Arnoldi’s gebracht. Die seitdem, und insbesondere bei Gelegenheit des fünfzigjährigen Jubiläums der Begründung der deutschen Lebensversicherungsbank in Gotha, erfolgten Veröffentlichungen über seinen Lebensgang und über die von ihm geschaffenen segensreichen Institute, wie die soeben erschienene dankenswerthe Festschrift Julius Hopf’s: „Ernst Wilhelm Arnoldi und seine Schöpfung, die Feuerversicherungsbank für Deutschland“ (Gotha 1878), setzen uns in den Stand, bei der jetzigen Gedächtnißfeier des verdienstvollen Mannes zu jener Lebensskizze einige Ergänzungen zu geben.

Einen gründlichen systematischen Unterricht hat Arnoldi in seiner Kindheit nicht genossen. „Anlaß zur Lectüre,“ erzählt er, „wurde mir weder von meinen Eltern noch Lehrern gegeben. Jene waren unausgesetzt mit Erwerben und Erhalten beschäftigt und meinten, nachdem für die körperliche und sittliche Erziehung gesorgt worden, für die weitere Bildung der älteren Kinder genug gethan zu haben, wenn sie sie zu den angenommenen Privatlehrern schickten und diese gut bezahlten.“ Den reichen Schatz umfassender Kenntnisse, der ihn im späteren Leben abzeichnete, hat sich Arnoldi durch eifriges Selbststudium erworben, auch insofern wurde er alles, was er wurde, aus eigener Kraft.

Nach den heiter-ernsten Jahren der Lehre und der weiteren kaufmännischen Ausbildung, die er in Hamburg genossen, kam er 1799 nach Gotha zurück und ward zunächst Gehülfe, doch schon nach Verlauf von vier Jahren Theilhaber in der Handlung seines Vaters, welche er später im Verein mit seinen Brüdern fortführte. In dieser Stellung, als Haupt eines engverbundenen und glücklichen Familienkreises, in bürgerlicher, einfacher Häuslichkeit, hatte er sich bereits vor dem Jahre 1817 (dem Beginne seiner Schöpfungen) zu dem herausgebildet, was ihn und seine Werke charakterisirt, zu dem Manne lebhaften Geistes, durchdringenden Verstandes und schöpferischer Thatkraft, der mit dem Finanzgenie unermüdlichen Fleiß, Zähigkeit, Vorsicht und Energie verband. Patriot, voll Begeisterung für das Gute und Schöne, und selbst poetischen Talentes, war er zugleich der praktische Mann, der seine Ideale und Pläne muthig und unerschrocken verwirklichte. Fern von jedem engherzigen Egoismus, erfüllt vielmehr von selbstlosester Menschenliebe, stand er treu zu seinem Wahlspruche: „Du lebst für Dich, wenn Du für Andere lebst.“

Die schmachvolle napoleonische Gewaltherrschaft über Deutschland war vom deutschen Volke in blutigen Schlachten abgeworfen; das seit Jahrhunderten in ohnmächtiger Zerrissenheit gehaltene deutsche Volk fühlte sich wieder eins und ersehnte und hoffte eine freiheitliche, vom Auslande unabhängige politische und nationalökonomische Einigung. Mit vollem Feuereifer theilte Arnoldi diese Sehnsucht, dieses Streben, und wirkte in seinem Kreise und, so weit seine Kräfte reichten, energisch für die Erlangung jenes Zieles. Von dem Wunsche erfüllt, einen Schutz der inländischen Production gegen Uebervortheilung und Ausbeutung durch die egoistische Handelspolitik der fremden Staaten mit vereinten Kräften anzubahnen, machte er im Jahre 1817 öffentlich einen ausführlichen Vorschlag zu einem Bunde unter den deutschen Fabriken und schuf die kaufmännische Innungshalle zu Gotha – eine Art von Handelskammer, eine Vereinigung der Kaufleute der Stadt zur Wahrung der eigenen gewerblichen Interessen und zur Förderung gemeinnütziger Unternehmungen. So schuf er 1818 die Gothaische Handelsschule, jene auf Hebung der Bildung des kaufmännischen Standes abzielende Unterrichtsanstalt,

[343]

Eine Waldblume.
Nach dem Original von Souchon.


Ihr fragt, was ich feil hab’?
Was gut ist und rein.
Sagt, wenn Ihr mich anschaut,
Ob’s anders kann sein

5
Ihr fragt, wo ich her bin?

Das rathet Ihr bald
Mit Leib und Seel’ bin ich
ein Mädel vom Wald.

Fr. Hfm.

[344] welche bald großes Ansehen in Deutschland erlangte und zu einer Musteranstalt sich aufschwang. So verfaßte er ferner im Namen zahlreicher Fabrikanten und Kaufleute Thüringens 1819 eine Adresse an den Bundestag und forderte darin die Erfüllung des in der Bundesacte gegebenen Versprechens, sofort bei der ersten Zusammenkunft der Versammlung in Frankfurt wegen des Handels und Verkehrs zwischen den verschiedenen Bundesstaaten in Berathung treten zu wollen. Schleunige Herstellung des freien Handels und Gewerbsverkehrs im Innern des deutschen Bundesgebietes und Sicherstellung des deutschen Gewerbfleißes gegen gänzliche Lähmung und Vernichtung mittels einer kräftigen, gemeinsamen Handelspolitik – das war es, was die Adresse verlangte.

Hatte sich auch der wackere Mann in seinem Vertrauen auf den deutschen Bundestag bitter getäuscht, legte auch die dortige Kurzsichtigkeit und Perfidie die Bittschrift verächtlich bei Seite, so blieb doch der Patriot Arnoldi, auch während der Zeit der tiefsten Erniedrigung Deutschlands, unerschrocken einer der tapfersten Agitatoren für Aufrichtung eines deutschen Zoll- und Handelsbundes. Ein von ihm herausgegebenes Taschenbuch für Freunde des deutschen Handelsvereins eröffnete er 1820 mit den Versen:

Was ich Euch zeige? Es schwimmt noch leuchtend im Strome der Zeiten,
Aber die Zeiten sind trüb, und es enteilet der Strom.
Freunde! Erkennet das Riff und steuert behutsam den Nachen,
Denn er ist leck schon. Er sinkt, wenn ihn die Brandung erreicht.

Während der nächsten Jahre schritt er zu den segensreichen Acten nationaler Selbsthülfe, welche seinen Namen unsterblich gemacht haben. Die interessante Entwickelung derselben läßt sich jetzt klar erkennen und verstehen. Es bestanden damals fast überall nur staatliche oder communale „Brandcassen“ zur Sicherung der Gebäude gegen Feuersgefahr, während für Versicherung des Mobiliarvermögens fast nichts gethan wurde. In England war zuerst der Gedanke aufgetaucht, aus dem Großbetriebe der Feuerversicherung ein gewinnbringendes Geschäft zu machen, und die englischen Capitalgesellschaften (Londoner Phönix etc.) hatten, ohne Concurrenz und daher mit hohen Prämien, ihr Geschäft in solchem Maße auf Deutschland ausgedehnt, daß der deutsche Markt vom Auslande förmlich ausgebeutet wurde. Hiergegen lehnte sich Arnoldi’s ökonomischer und patriotischer Sinn auf, und schon im Frühjahr 1817 sprach er im „Allgemeinen Anzeiger“ den Gedanken aus: „Wenn durch die Vereinigung aller deutschen Fabriken und Manufacturen für gemeinschaftliche Zwecke eine Versicherungsanstalt gegen Feuersgefahr zu Stande käme, so würde der Ueberschuß der Prämie dem gemeinsamen Vaterlande und den Fabriken unter sich durch diese Anstalt erhalten sein; wie die Sachen gegenwärtig stehen, bleibt dieser Ueberschuß der Phönix-Assecuranz-Societät in London.“ Im folgenden Jahre führte ihn ein eigenthümliches zufälliges Ereigniß zu dem Entschlusse, den Gedanken zur Ausführung zu bringen. Es sei mir vergönnt, nach Hopf’s oben erwähnter Festschrift Arnoldi’s eigene Erzählung des merkwürdigen Zufalls und sein ihn schilderndes sinniges Gedicht hier wiederzugeben:

„Als ich 1818 mich in Köln aufhielt, wurde durch den Umstand, daß ich auf dem Wallgrunde im Brandschutt einen Boraciden von seltener Größe und Schönheit fand, der Gedanke in mir angeregt, welcher zur Begründung der Feuerversicherungsbank führte. Am nämlichen Tage vertauschte ich den Krystall gegen eine in Eisen geschnittene Antike, welche ein junger Mann mir zudringlich dafür anbot. Ich habe sie seitdem wie ein Kleinod bewahrt.

Auf Kölns, der alten Reichsstadt, Festungswerken
Ergeh’ ich mich, und auf dem alten Grund,
Der neue Wälle hülfreich soll verstärken,
Und thu’, im Schutte schwankend, einen Fund.
Aus Brandestrümmern, seitwärts ausgeschieden,
Trifft mich der Glanz von einem Boraciden.

Und den Krystall bewundernd, fällt ein Kummer
Mir auf das Herz gleich einem Zauberdunst,
Erweckend aus dem jahrelangen Schlummer
Die Sorge um des blinden Glückes Gunst,
Dem wohl’ allein es füglich beizumessen,
Hat uns’re Hab’ der rothe Hahn vergessen.

Doch sieh! der Sorg’ entspringt ein schöner Funke
Und lodert auf zu einem reinen Licht;
In einen Phönix wandelt sich der Unke,
Der Kummer weicht dem heitersten Gesicht;
Denn ein Gedanke glänzt auf trübem Grunde
Und blitzt durch’s Aug’ und schwebet auf dem Munde.

Die Sonne taucht vom reinsten Abendhimmel
Gleich einer Braut erröthend in den Rhein;
Mein Ohr vernimmt nichts von der Stadt Getümmel;
Versunken bin ich mit dem Stern hinein
In’s Flammenmeer, und wie die Wellen blinken,
Glaub’ ich vom Strom ein Himmelslicht zu trinken.“

Nach Gotha zurückgekehrt, schritt er zur Ausführung des Gedankens, der „ihm durch das Auge geblitzt und auf dem Munde geschwebt“ hatte. In der Innungshalle wurde von ihm die Versicherungsfrage erörtert und die erkannte Nothwendigkeit verhandelt, dem deutschen Handelsstande ein weniger kostspieliges Versicherungsmittel gegen Feuersgefahr zu verschaffen, als Engländer, Franzosen und Deutsche in den bestehenden Anstalten darboten. Der Gedanke fand verdienten Beifall, Arnoldi aber blieb die Seele des Unternehmens. Vereinigung der Versicherungsbedürftigen zum Selbstbetriebe mittelst wechselseitiger Gewährleistung war die Parole. Die Grundsätze voller Gegenseitigkeit, der Selbstverwaltung und der Oeffentlichkeit wurden zur Basis des Ganzen genommen, als Gebiet des Unternehmens von vornherein ganz Deutschland angesehen, aber die Theilnahme aus Vorsicht zunächst nur auf Kaufleute beschränkt, bei welchen ohnehin die Bedürfnißfrage am meisten vorlag. Unter dem 18. August 1819 wurden, von Arnoldi verfaßt, diese „Vorschläge zur Errichtung einer Feuerversicherungsbank für kaufmännische Waarenlager, Kaufmannshäuser und das Mobiliar derselben“ von sechszehn Gothaischen Firmen im „Allgemeinen Anzeiger“ der Kritik der deutschen Kaufmannswelt unterstellt.

„Anders würde es sein,“ so heißt es in den Vorschlägen, „wenn an die Stelle von Versicherungsgesellschaften eine Versicherungsbank tritt, deren Theilnehmer zugleich Versicherer und Versicherte sind und die an der Spitze der Verwaltung ihrer Bank nur Männer ihrer Wahl erblicken; es kann eine allgemeine deutsche Versicherungsanstalt zum Vortheil der Banktheilnehmer und des deutschen Vaterlandes daraus hervorgehen; die Idee ist keine Frucht engherziger Gewinnsucht, vielmehr könnte sie einem unscheinbaren, aber Segen verheißenden Samenkorn, in deutsche Erde gelegt, verglichen werden.“

Unter eifriger Mitwirkung der Gesinnungsgenossen in anderen thüringischen Städten, namentlich in Erfurt, Langensalza, Eisenach und Arnstadt, kam die Versicherungsbank und ihre Verfassung zu Stande; sie erhielt die landesfürstliche Genehmigung, und mit froher Genugthuung konnte im November 1820 Arnoldi einem Freunde schreiben: „Die Versicherungsbank ist in Correspondenz mit ganz Deutschland und findet überall Eingang und Anerkennung; ein solches Kind macht Freude.“

Mit Neujahr 1821 wurde die „Feuerversicherungsbank für den deutschen Handelsstand“ eröffnet. Sie war die erste große deutsche Nationalanstalt. In einer Zeit, in welcher von der herrschenden Metternich’schen Politik der deutsche Gedanke im deutschen Vaterlande politisch geächtet war, war diese Versicherungsbank, als die freie That deutscher Bürger, die erste große, ganz Deutschland umfassende wirthschaftliche Schöpfung. Arnoldi, der Schöpfer des Werkes, war auch sein erster erwählter Director. Schon am Schluß des ersten Geschäftsjahres berechneten sich die Versicherungen auf 13,500,000 Thaler, die Zahl der Policen auf 1804 mit etwa 54,000 Thaler Prämieneinnahme und es konnten 31 Procent als Ueberschuß zurückgewährt werden. Trat auch Arnoldi am 10. Februar 1822 von der Direction zurück, seine Schöpfung gedieh auf den von ihm erhaltenen soliden Grundlagen weiter, und nachdem im Jahre 1830 die Bank, welche inzwischen unter allen Ständen bedeutenden Anhang gewonnen, zu einer „Feuerversicherungsbank für Deutschland“ sich erweitert hatte, wurde im Jahre 1834 dem Begründer des großen Vereins von dessen Mitgliedern eine Ehrengabe dankbar dargebracht.

Die nach der Niederlegung der Direction gewonnene Muße gab Arnoldi die Möglichkeit, sich der Erwägung und Ausführung eines gleich großen, ja noch großartigeren Projectes zu widmen: der Begründung einer Lebensversicherung auf derselben [345] Grundlage der Gegenseitigkeit. Noch kein einziges deutsches Institut existirte, welches bei der Ungewißheit der Dauer des menschlichen Lebens dem für die Seinigen besorgten Familienvater es möglich machte, seiner Familie ein gewisses Vermögen zu hinterlassen. Nur englische Versicherungsanstalten bestanden mit ihren blos auf großen Geldgewinn angelegten Tarifen. Wie, wenn auch dies englische Monopol lahm gelegt wurde? Am Abende des Tages, da ihm von den drei leitenden Beamten der Feuerversicherungsbank zum Zeichen der Dankbarkeit und Verehrung ein silberner Pokal überreicht worden war, im September 1823, verfaßte er eine Denkschrift, in welcher er die schon längere Zeit durchdachte Idee der Gründung einer deutschen Lebensversicherungsanstalt zu erörtern und die ihm selbst dagegen gekommenen Bedenken „zu besiegen“ suchte.

Aber auch äußere Anlässe fehlten für ihn nicht, der Sache näher zu treten. In der „Gartenlaube“ Jahrgang 1865, S. 12 ff., 123 ff., 152 ff. hat in dem Artikel „Das Werk eines deutschen BürgersLudwig Walesrode eine lebhafte und ausführliche Schilderung der damaligen seltsamen Vorkommnisse gegeben: der kostspieligen Tollheiten des Herzogs August von Gotha, der Schulden desselben bei den Bürgern Gotha’s und der Insolvenz seines Nachlasses – hat unseren Lesern berichtet, wie sodann Herzog Friedrich der Vierte von seinen „Unterthanen“ in englische Lebensversicherungen eingekauft wurde, und den nach des geistesschwachen Herzogs Tode entstandenen deutsch-englischen Lebensversicherungsproceß mit englischem Gerichtshofe in Gotha, schamlosen Zeugenaussagen und riesigen englischen Proceßkosten erzählt. An jenem Rechtshandel mit dem für die deutschen Interessenten so kläglichen Ausgange war auch Arnoldi betheiligt. Mußte nicht jener unerhörte Scandal, welcher es den deutschen Klägern unmöglich machte, zu Anerkennung ihres guten Rechtes zu gelangen, einen genialen, thatkräftigen Mann wie Arnoldi zu neuem Nachdenken darüber veranlassen, wie der Alleinherrschaft so wenig vertrauenswürdiger englischer Versicherungsgesellschaften auch auf diesem Gebiete in Deutschland ein Ziel zu setzen sei? Hierzu kam nun endlich noch eine unmittelbare öffentliche Aufforderung von befreundeter Seite. Im Frühlinge 1827 gab der Obermedicinalrath Dr. L. F. von Froriep zu Weimar, der verdiente medicinische Schriftsteller und Lehrer, in dem von ihm geleiteten, von seinem Schwiegervater Bertuch gegründeten Landesindustriecomptoir in Weimar die „Vergleichende Darstellung der verschiedenen Lebensassecuranzgesellschaften“ des englischen Mathematikers Babbage in deutscher Uebersetzung heraus und widmete diese Schrift „dem durch Errichtung der großen wechselseitigen Feuerversicherungsanstalt in Deutschland hochverdienten Herrn Wilhelm Ernst Arnoldi zu Gotha, mit dem Wunsche, daß derselbe sich auch für Einführung einer Lebensassecuranzgesellschaft auf dem Grundsatze der Wechselseitigkeit in Deutschland mit Erfolg interessiren möge“.

Diese Mahnung verfehlte ihren Zweck nicht. Unter dem 12. Mai 1827 sprach Arnoldi durch einen Brief an Froriep seine Freude, seinen Dank aus. „Seit drei Jahren,“ bemerkte er hierbei, „beschäftigt mich der Gedanke, meinem deutschen Vaterlande eine Lebensversicherungsbank zu verschaffen oder zu erschaffen, wie ich ihm eine Feuerversicherungsbank begründet habe, desgleichen keine zweite auf Erden ist.“ Er stellte die Vorlegung seines Planes in nächste Aussicht, bemerkte aber schon jetzt: „Diese Sache läßt sich nicht vom deutschen Handelsstande umgrenzen, sie nimmt alle Stände in Anspruch.“

Wohl waren hier die Schwierigkeiten viel bedeutender, als bei der Feuerversicherung, und leider nahm unter ihnen die in vielen Kreisen des Volkes gegen das neue Project herrschende Gleichgültigkeit eine der ersten Stellen ein; es fehlte überdies für dieses an jedem Vorbilde. Aber welche Schwierigkeit wäre für Arnoldi’s Finanzgenie und Thatkraft unüberwindlich gewesen, wo es wie hier ein Unternehmen deutschen Gemeingeistes Sicherung des Wohlstandes von tausend und abertausend Familien galt? Mit Feuereifer, in edelster, reinster, selbstlosester Absicht ging er an das Hauptwerk seines Lebens, unter Beihülfe von C. A. Becker und im Bunde mit von Froriep und Johann[WS 1] Bartholomäus Trommsdorf zu Erfurt. Am 9. Juli 1827, erfolgte die landesfürstliche Genehmigung des Planes, und nachdem, als das Ergebniß sorglicher Berathungen des provisorischen Ausschusses, die Verfassung festgestellt worden war, wurde die Lebensversicherungsbank in Gotha mit 846 Policen für 813 Personen und 1,452,100 Thalern Versicherungssumme am 1. Januar 1829 eröffnet. Arnoldi war ihr erster Director und blieb es bis an seinen Tod. In welchem Geiste er diese neue, ebenfalls auf Gegenseitigkeit und Oeffentlichkeit basirte Versicherungsbank begründet, erhellt aus dem charakteristischen Inhalt des ersten von ihm an die Agenten gerichteten Circulars vom 18. December 1827. „Es gilt hier keineswegs,“ sagt er ausdrücklich, „eigennützigen Unternehmern Vorschub zu leisten. Das Augenmerk der Beförderer des Unternehmens kann kein anderes sein, als für eine philanthropische Nationalanstalt mit Erfolg zu wirken, die als Eigenthum Aller, welche zum Besten der Ihrigen sich derselben anschließen werden, auch Allen ohne Ausnahme in einem und demselben Sinne zum Nutzen gereichen wird. Diese Betrachtungen sind es hauptsächlich, welche die Gründer der Bank begeistern. Stark durch gemeinschaftliches verständiges Streben für einen guten Zweck und durch gegenseitige Unterstützung, werden die Deutschen, mit Hülfe dieser ihnen ganz eigenthümlichen Anstalt, leicht jene Schätze überbieten, womit ganz vorzüglich die Lebensversicherungsanstalten der Engländer imponiren; unserer Anstalt wird die hier sich offenbarende Gesinnung mehr Licht verleihen, als jene Schätze, ständen sie ihr zu Gebote, ihr verleihen könnten, und unsere Zeit, überhaupt durch einen für wahre Menschenliebe empfänglichen Geist ausgezeichnet, wird durch Gründung der Lebensversicherungsbank sich ein bleibendes Verdienst um alle Zeiten erwerben.“

Sie hat sich dasselbe erworben, vor Allem aber Arnoldi, welcher sie Tausenden von Familien zum Segen geschaffen hat. Und er, ihr Begründer, freute sich dessen von Herzen.

Mit voller innerer Befriedigung konnte er im Alter auf sein Leben und auf die segensreichen Resultate seiner blühenden Schöpfungen hinblicken. Im Jahre 1840, seinem vorletzten Lebensjahre, war bei der Feuerversicherungsbank die Versicherungssumme auf 784,456,101 Mark angewachsen, mit 2,837,817 Mark Prämieneinnahme, wovon nicht weniger als 1,754,034 Mark, also 63 Procent, den Versicherten als Ueberschuß zurückgewährt wurden; die Lebensversicherungsbank war in demselben Jahre auf 10,570 Versicherungen mit 51,850,500 Mark Versicherungssumme angewachsen.

Im folgenden Jahre, am 27. Mai 1841, wurde Arnoldi aus der Fülle seiner Thätigkeit, aus seiner regen, dem Gemeinwohl gewidmeten Arbeit durch den Tod abgerufen. Groß und allgemein war die Trauer um den Dahingeschiedenen und ließ schon wenige Tage nach seinem Tode einen Verein zur Stiftung eines Ehrengedächtnisses zusammentreten, welches denn auch in Form eines mit Arnoldi’s Bild gezierten Denkmals zwei Jahre später auf dem gegenwärtig seinen Namen tragenden Platz am Eingang der Stadt Gotha errichtet worden ist.

Das größte und herrlichste Denkmal hat er sich selbst in den von ihm in das Leben gerufenen segensreichen Instituten gesetzt. Noch blüht die Handelsschule, welche vor zehn Jahren ihr fünfzigjähriges Jubiläum gefeiert hat. Es blühen, in stetem Fortschritt erweitert und verstärkt, die beiden Versicherungsbanken. Der großen Concurrenz ungeachtet und obgleich sie beim Hamburger Brande 1842 selbst eine schwere Feuerprobe zu bestehen hatte, weist die Feuerversicherungsbank (mit 14 Generalagenturen und etwa 950 Agenturen) jetzt 2,684,164,000, also fast 3 Milliarden Mark Versicherungssumme mit 7,830,340 Mark Prämieneinnahme vom Jahre 1877 auf, wovon nicht weniger als 80 Procent als Ueberschuß zurückgewährt worden sind. In den verflossenen 57 Jahren ihres Bestandes hat die Bank im Ganzen von ihren Theilhabern über 193,000,000 Mark an Prämie erhoben, davon über 55,000,000 Mark für Brandschäden vergütet und über 120,000,000 Mark als Ueberschuß zurückgezahlt!

Ueber die Einrichtung der Lebensversicherungsbank in Gotha hat sich bereits der obenerwähnte Walesrode’sche „Gartenlauben“- Artikel von 1865 ausführlich verbreitet. Er hat uns die Bank geschildert, deren „Soll und Haben“ sich um Leben und Sterben dreht, er ist den Lesern ein Führer gewesen durch die Geschäftslocale im Gebäude der Lebensversicherungsbank in Gotha, in denen der Tod, der unheimliche Kunde der Bank, seine Wechsel präsentirt. Unter allmählicher Verdichtung des Agenturnetzes hat sich die Bank auch seit dem Jahre 1865 in erfreulichster Weise zum Segen unseres Gesammt-Vaterlandes weiter entwickelt. Das [346] Jahr 1876 weist an seinem Schlusse den kolossalen Bestand von 48,707 Teilhabern mit 307,551,700 Mark Versicherungssumme auf! Am 9. Juli 1877 feierte die Bank ihr fünfzigjähriges Bestehem, und Arnoldi’s ältestem Sohne, dem Bankbuchhalter Ernst August Arnoldi, welcher schon bei Eröffnung der Bank in deren Dienste getreten, war es von einem glücklichen Geschick beschieden, zugleich mit der Jubelfeier der Schöpfung seines Vaters sein eigenes goldenes Jubiläum zu feiern.

Jetzt feiert dankbar das gesammte Vaterland das hundertjährige Geburtsfest des edlen Mannes, der, ein schlichter deutscher Bürger, aus eigener Kraft, in Patriotismus und Menschenliebe für sein Volk und dessen Heil so Großes gewirkt und geschaffen hat. Mit allem Recht läßt von ihm sich sagen, was unser Altmeister Goethe seinen Faust sagen läßt:


          Es kann die Spur von seinen Erdetagen
          Nicht in Aeonen untergehn!




Nächtliche Wanderung durch das Berliner Aquarium.
Von Gustav Schubert.

Die Mitternachtsstunde klang noch vom Berliner Rathhause her durch die immer stiller werdenden „Linden“, als wir, zwei einsame Nachtwanderer, jeder mit einer verborgenen Blendlaterne bewaffnet, auf den Zehen schleichend und jedes Geräusch und Gespräch vermeidend, in einer der letzten Aprilnächte ein seltsames Vorhaben ausführten. Den Leser wird bei diesem Eingange ein Schauer überlaufen. Eine Criminalgeschichte? – Weit gefehlt! Was er erfahren wird, ist harmloserer Natur. Durch tägliche Beobachtungen im Berliner Aquarium (Vergl. Jahrg. 1873, Nr. 10) angeregt, hatte ich mir schon oft die Frage vorgelegt: Welche Erscheinungen bietet dieses Thier-Heim in der Nacht, das heißt wie und wo schlafen die Thiere, beziehentlich: schlafen sie überhaupt? Ich trug meinen Wunsch, diese Frage durch eigene Beobachtung zu lösen dem Director des Aquariums, Dr. Hermes vor, und fand bei ihm in liebenswürdigster Weise Gehör und Zustimmung, wir verabredeten, in einer mondhellen Nacht eine Wanderung durch die Räume des interessanten Institutes anzutreten. Heute nun sollte das Vorhaben ausgeführt werden.

Es war mir recht eigenthümlich um das Herz, als sich die schweren eisernen Thore hinter uns schlossen, um uns einer wahrhaft ägyptischen Finsterniß zu überlassen. Mehrere Minuten vergingen, ehe das Auge im Stande war, auch nur die schwächsten Contouren zu entdecken; doch ällmählich begann es zu dämmern. Drohenden Giganten gleich schienen die in den fabelhaftesten Formen aufgebauten Felsstücke und Tropfsteinbildungen den zudringlichen Wanderern den Eingang versperren zu wollen. Wie wenn aus dem tausendjährigen Gestein, das gewaltsam dem mütterlichen Schooße der Erde entrissen und hier aufgethürmt wurde, Gnomen und Bergmännchen hervorgeschlüpft kämen, um nach unserm Begehr zu fragen?

Doch es bleibt todtenstill, nur aus weiter Ferne erklingt das murmelnde Plätschern des Wasserfalles der „Geologischen Grotte“ zu uns herüber; lautlos tasten wir uns durch die labyrinthischen Gänge und bleiben vor dem Käfig des Wasch- und des Nasenbären stehen. Bei diesen Thieren, wie bei allen anderen, beobachteten wir das Verfahren, erst im Dunkel der Nacht zu lauschen und so viel als möglich zu beobachten, um dann plötzlich den Lichtschein unserer bis dahin verborgenen Laternen zur Anwendung zu bringen. Die beiden Bären schlafen in einem an der Wand angebrachten Kasten, doch kaum ist der Behälter erleuchtet, als auch schon der Waschbär seinen Kopf mit größter Vorsicht über den Rand seines „Bettes“ erhebt und mit leuchtenden, unheimlichen Blicke nach uns herüberlugt. Minutenlang bleibt er versteinert in dieser Situation, bewegungslos sucht er unsere Gestalten, hinter denen lange riesenhafte Schatten an den Felswänden hinhuschen, zu ergründen, der Nasenbär liegt zusammengerollt in einem Winkel und hat offenbar keine Ahnung von der Aufregung und Angst seines Gefährten. Wir wenden uns leise zu dem Affenhause. In den verschiedensten Stellungen haben sich die Vierhänder zur Ruhe gebettet. Eine kleine Meerkatze sitzt auf dem Tische (die Wohnung ist, beiläufig gesagt, ganz „menschlich“ eingerichtet) und hat in melancholischer Stellung den Kopf an die Wand gelehnt; die Hände in dem Schooße, macht das Thier den unbeschreiblich komischen Eindruck eines sentimentalen Büßers. Andere hocken in Stroh und weichen Sägespähnen; befreundete Seelen haben sich fest umschlungen und schlafen und träumen gemeinschaftlich.

Jetzt trifft die Schläfer der Strahl unserer Lichter. Verwundert schauen sie auf, verbleiben aber regungslos. Keiner macht den Versuch aufzustehen und dem Grunde der nächtliche Störung nachzuforschen. Aehnliche Resultate ergeben sich fast bei allen schlafenden Säugethieren; es scheint, als übe der nächtliche Ueberfall unsererseits eine magische und bannende Wirkung aus, gegen deren Kraft ihnen eine Auflehnung unmöglich dünkt. Die fliegenden Hunde hängen still an der Decke, sehen uns zwar mit ihren großen schwarzen Augen erschrocken an, verrathen aber sonst keine Zeichen innerer Bewegung. Das eine der beiden Faulthiere hat uns gewiß schon längst gewittert, denn inmitten des Halbdunkels hat es sich erhoben, stützt seine mächtigen Krallen auf den untern Rand des Käfigs und steckt die Nase durch das Gitter. Die plötzlich erhobenen Laternen machen indeß nicht den geringsten Eindruck auf das uns blöde anstarrende Thier, dessen Genosse zusammengerollt auf einem Felsvorsprunge unbekümmert schläft. Wir finden den Prairiehund (Arctomys Ludovicianus) vor seiner Steinwohnung; schon lange sind die regelmäßigen Sprünge und Schritte des mit der größten Geschäftigkeit hin und her eilenden Thieres vom Missouri an unser Ohr gedrungen. Auch das Flatterhörnchen (Pteromys volans), ein echtes Nachtthier aus den Steppen Rußlands und Sibiriens, ist lebendig und springt, respective fliegt unruhig in den dürren Zweigen des in seinem Käfige aufgestellten Bäumches umher. Ebenso sind die beiden in einem geräumigen Becken einquartierten Biber in voller Thätigkeit; das Männchen durchzieht lautlos die Oberfläche und den Grund des Wassers; das Weibchen ist im Begriff, sein scharfes Nagethiergebiß mit weithin vernehmlichem Geräusch an der Rinde eines Baumstammes zu versuchen. Die plötzliche Illumination ihrer Grotte läßt sie zwar eine Augenblick stutzen, doch geht Jeder im nächsten Moment wieder seiner Beschäftigung nach.

Doch nun zu der gefiederten Welt! In den großen, auf das Praktischeste eingerichteten Volièren sitzen die Gestalten der zahlreichen ausländischen und einheimischen Vögel. Während am Tage hundertstimmiger Gesang und unentwirrbares Geschrei die Luft erfüllte, gebaut, geliebt, gezankt und mit dem Nebenbuhler gekämpft wurde, hat jetzt der süße Schlaf sich über alle Parteien gebreitet; der älteste Groll ist vergessen, und nur leise und traumhaft ertönt hier und da ein bald verstummender Gesang. Ob nicht in der That manches der reizenden Geschöpfe jetzt der Freiheit und des sonnigen Vaterlandes gedenkt und sich zurücksehnt in die heimatlichen Wälder? Dort sitzen auf einem Aste, in der Nähe ihrer kunstvoll gestrickten Nester, gegen dreißig Goldweber; die Köpfchen unter die Flügel gesteckt, machen sie den Eindruck von Früchten auf einem blätterlosen Baume. Jenes dunkle Häuschen auf dem langen Zweige sind lauter gute Bekannte: Fink, Meise, Zeisig, Stieglitz, Hänfling, Grasmücke, Rothkehlchen, Nachtigall, Lerche und Bachstelze. Hier hocken schlummernd Drosseln, Staare, Gimpel und Goldbrüstchen in Gesellschaft von Wellensittichen, Rosenpapageien und andern fremdländischen Vogelarten – ein wahrhaft internationales Schlafhaus.

Auf einem Steine an der immer rieselnden Wasserquelle sitzen Flußregenpfeifer und Wiesenpiper; in den schönsten Reflexen erglänzt das Gefieder der Blauheher, Glanzdrosseln und Stahlfinken; Sichler und Ibis verschmähen jede Bequemlichkeit und schlafen, wie noch viele andere ihrer Sippe, auf einem Beine. An dem Wasserfalle der „geologischen Grotte“ bemerken wir in derselben Situation unseren Freund, den Storch – er ist erwacht; auf seinem silbernen Oberschnabel[1] erglänzt in seltsamer Weise der

[347] Widerschein des Lichtes; zu seinen Füßen ruht dicht am Rande des Wassers eine Gesellschaft von Enten; oben auf den Felsvorsprüngen stehen Sturm-, Silber- und Lachmöven.

Einen unheimlichen Anblick gewährt das Becken der großen Saurier. Die riesigen Alligatoren, Krokodile aller Größen schwimmen in dem erwärmten Wasser, aus dem nur Augen und Nasenlöcher hervorsehen; das Licht übt keinen Eindruck auf sie aus, ebenso wenig wie auf die große Gesellschaft Schildkröten, von denen viele ganz unter dem Wasser sind, während andere auf dem trockenen Gesteine liegen. Die fremden und heimischen Eidechsen entdeckten wir nach langem Suchen auf den Zweigen und Aesten der in dem Käfige grünenden Gewächse; die Stellungen, welche diese zierlichen und leider von Vielen mit Unrecht gefürchteten Geschöpfe während der Ruhe einnahmen, waren höchst eigenthümlicher Art. Einige schienen, während sie den senkrechten Stamm hinauf liefen, wie jene Thiere in dem Märchen vom „Dornröschen“, vom Zauberschlafe überrascht worden zu sein und hingen mit ausgespreizten Beinen kopfüber oder kopfunter an der Baumrinde; andere lagerten drei- und vierfach über einander auf einem schwankenden wagerechten Aste – von unserer Anwesenheit nahm keines der Thiere irgend welche Notiz. Die Schlangen gaben zu den verschiedensten Beobachtungen Veranlassung; die meisten derselben schliefen zusammengerollt auf dem Sande des Käfigs; die Riesenschlange befand sich indeß in voller Lebensthätigkeit, sie umkreiste in unverkennbarer Aufregung ihren Behälter, stieg bis in die Mitte desselben in die Höhe und hatte es auf der Jagd nach einer feisten Ratte erst so weit gebracht, ihrem Opfer den Schwanz abzubeißen. Die Klapperschlange eilte auf die Laterne zu, während einige Nattern trotz der ziemlich nahe gerückten Beleuchtung regungslos verblieben.

Ein überaus interessantes Bild boten die eigentlichen Fisch-Aquarien. Die Frage: Wie und wann schlafen die Fische? muß nach den von uns beobachteten Erscheinungen verschiedenartig beantwortet werden. Deutlich bemerkte wir in der Dunkelheit, wie in den einzelnen Becken Schlaf und Wachen gleichmäßig vertheilt war. Der riesengroße Seeaal schlängelte sich schwerfällig an den dicken Scheiben entlang; Dorsche und Flundern jagten munter umher, von den übrigen: Fluß- und Kaulbarsch, Karausche, Schleie, Karpfen, Goldstrichbrasse, Seehase, Stör, Seeäsche, Wittling, Hecht und Anderen, befand sich ein Theil in voller Lebendigkeit, der andere lag still und ohne Bewegung der Flosse auf dem Grunde des Bassins unter Steinen oder auf zurücktretenden Felsplatten. Die schlafenden Seehasen (Cyclopterus) hatten sich mit ihren Saugtheilen an den Glaswänden oder dem Granitgestein festgeheftet, um der Ruhe zu pflegen. Eigenthümlich wirkte auf sie die plötzliche Lichterscheinung; die Mehrzahl der Schläfer erwachte und schwamm neugierig herbei, um den unerwarteten Besuch lange anzuglotzen; die zahlreichen Haie, Dornhaie (Acanthias vulgaris) und Hundshai (Scyllina canicula) schlossen ihre katzenähnlichen Augen und blieben ruhig, dagegen kam über eine große Sippe von Seescorpionen (Ancanthias scorpio) ein wahres Entsetzen; in sichtlicher Angst durchschossen sie das Element, sich gegenseitig überrennend; andere wühlten sich in großer Aufregung in den Sand, sodaß kleine Steine und Geröll mit lautem Geräusch an die Glas- und Felswände schlugen, bis schließlich das ganze Becken in undurchdringliches Grau gehüllt war. Einen überraschenden Anblick gewährten die von unserer Laterne bestrahlten Krustenthiere, die „Insecten des Meeres“'. Aus dem Schlafe aufgeschreckt, kommen die Hummern von dem Felsgebirge heruntergestelzt; ihnen folgen Krebse, Krabben, Pfeilschwanzkrebse und Seespinnen, um sich das Kerzenlicht in nächster Nähe zu besehen; hierbei machen wir die merkwürdige Beobachtung, daß die gestielten Augen der Kruster glühwürmchenähnlich leuchten. Einige furchtsame Individuen lassen die beiden Feuerpünktchen unter einem dunklen Stein hervorglänzen, als säße dort das nächtliche Gelichter von Katzen und Eulen.

Ein Bild, wie es reizvoller im ganzen weite Naturreiche nicht wiedergefunden werden dürfte, bot das Becken mit den Hunderten von Garneelen (Garnaten, Crangon vulgare). Diese kleinen, fast glasartig durchsichtigen Krebschen zogen sich, als sie die Lichtflamme erblickten, in die hinteren dunkeln Regionen ihres Heims zurück. Dort lagerten sie in dichten Schaaren beisammen am Boden, von wo die unzähligen glühenden Doppelpünktchen ihres Sehorgans wie der gestirnte Himmel einer Tropenacht zu uns herüber leuchteten. Plötzlich, wie auf ein verabredetes Zeichen, stürzt das feurige Heer nach vorn, um die Lichtquelle zu erstürmen, tritt aber ebenso schnell den Rückzug wieder an. Wohl eine halbe Stunde sahen wir dem reizenden Treiben zu und konnten uns nur mit Mühe davon losreißen. Der vielbewunderte Tintenfisch (Octopus vulgaris) entwand sich einen Moment der selbstgebauten Steinburg, streckte fühlend seine Fangarme nach uns aus, zog sich aber bald furchtsam mit blitzenden Augen zurück. Wenn schon das Schauspiel der Garneelen mich in freudiges Erstaunen versetzt hatte, so wurden wir zu lauter Bewunderung hingerissen, als wir vor dem Becken der Quallen und Polypen standen. Die Goethe’schen Worte durchzitterten meine Seele:

„Ihr alle fühlt geheimes Wirken
Der ewig waltenden Natur,
Und aus den untersten Bezirken
Schwingt sich heraus lebend’ge Spur.“

Wie aus der Nacht zum Licht erstandene feenhafte Zaubergärten breitet es sich vor unseren Auge aus; aus weißem Marmorgestein entwachsen jene fabelhaften Blumengebilde, die wir gern in das Pflanzenreich einreihen möchten: die Erdbeerrose (Actinia mesembrianthemum) , die schimmernde Seenelke (Actinoloba dianthus), die blaßröthliche Petrushand (Lobaria palmata), Gürtel-, Faden-, Höhlen-, Wittwen- und Edelsteinrose, dazwischen Seestern und Seeigel – alle wetteifern an phantastischer Pracht und Lieblichkeit der Formen. Einige bewegen die fadenförmigen langen Fangarme träumerisch dem Lichte entgegen; andere verleugnen den Thiercharacter vollständig und gleichen auf das Täuschendste den freundlichen Kindern aus Wald und Flur. Durch die als Spiegel nach unten wirkende stille Oberfläche des Wassers, die in der darüber liegenden Nacht eine wirksame Folie erhält, erscheint das märchenhafte Gefilde doppelt und schimmert von oben als schwebende Gärten auf uns hernieder.

Die zweite Morgenstunde war längst vorüber, als sich uns die Pforten wieder öffneten. Der Schlaf, in dessen Reich wir neugierig eingedrungen waren, schien rächend mich für diesmal fliehen zu wollen, und lange noch umgaukelte mich die Bilder dieser nächtlichen Wanderung.




Alwine.
Der Wirklichkeit nacherzählt von Paul Wislicenus.

Da saß ich endlich vor dem Kaffee, in meinem Hôtelzimmer, in der fröstelnden Morgenfrühe, und nun konnte ich in Ruhe dem halblauten, eigenthümlichen Gesange im Nebenzimmer lauschen. Es war eine tiefe Frauenstimme, welche sang. Wollte sie ein Kind einschläfern? Aber so früh am Morgen? Es schien mir unmöglich.

Endlich schwoll der Gesang stärker an und der Text des Liedes wurde verständlich:

„Und soll ich denn begraben sein,
Legt mich nicht in’s dunkle Grab hinein,
Ach, legt mich am Wasser auf feuchten Sand,
Laßt mich schlafen am wilden Meeresstrand!“

Nun war sie still, und es überkam mich wehmüthig. Ich kannte das Lied, und sie sang es so ausdrucksvoll und traurig. Da, horch, tönte die Stimme wieder:

„Und wenn die Woge dumpf erbraust,
Der Sturmwind durch die Dünen saust,
Das Schiff erdröhnt, die Raae bricht –
Ich bleibe still, und rege mich nicht.“

Aber was war denn das? Klang es nicht wie ihre Stimme, die Stimme der Heißgeliebten, Verlorenen? War das nicht ihr Lied, welches mich verfolgt hatte seit jener schaurig-süßen Zeit – – Wo hatte ich meine Gedanken gehabt!

[348] Das Blut trat mir einen Augenblick zum Herzen – – Sie neben mir, sie, die meine Erinnerung mit bleichen Rosen kränzte, als eine für mich Todte, – sie, die ich jenseits des Oceans glauben mußte – – Nein, es war unmöglich! Der Zufall müßte zu seltsam gespielt haben.

Ich versuchte meiner Unruhe Herr zu werden; allein die heiße Aufwallung fieberte mir im Kopf und Herzen nach; mein ganzes Wesen glomm auf in Liebe und sehnsüchtigem Weh. Klar stiegen sie mit einem Male wieder empor, die Tage, wo „die Woge dumpf erbrauste, wo der Sturmwind durch die Dünen sauste, wo das Schiff erdröhnte und die Raae brach“ – ich dachte an alle Einzelheiten jener Fahrt über’s Meer, die ich einst von Liverpool aus gemacht hatte und bei der wir Alle leicht hätten „am Wasser auf feuchten Sand“ gebettet werden können.

Er war das einzige Opfer gewesen. Ich sah ihn wieder auf dem Verdeck sitzen und uns den Scheidegruß nachwinken, als wir auf der Rhede von Boston das Schiff verließen; ich hörte beinahe seine Stimme, so mächtig tauchte die schmerzliche Erinnerung in mir auf. Aber vor sein Bild trat wiederum sie – sie – –




Bei der Abfahrt von Hamburg hatte ich das erste Wort aus ihrem Munde vernommen.

Da stand sie neben mir auf dem kleinen Hamburger Dampfer und fragte, auf das Meer zeigend, das sich in grauen Wellen vor uns kräuselte: „Was ist das?“ Und als ich ihr lächelnd erwiderte: „Das ist das Meer, Fräulein,“ machte sie zuerst ein ungläubiges Gesicht, sah dann hinaus auf die graue Wasserfläche, schaute mich an, blickte wieder auf das Wasser und lachte endlich aus bedrängtem Herzen hell auf: „Ich dachte, es wäre Sand.“ Und als wir nun weiter und weiter hinausfuhren in den lebendigen „Sand“, da wurde es dem schönen Mädchen immer banger zu Muthe; der Wind sauste durch die Taue, wehte um die Mäntel der Passagiere und spielte in den goldenen Locken meiner Nachbarin, und sie zog mit einer reizenden Bewegung des Armes dem Kragen des Mantels über den Kopf. Der Dampfer begann sich zu heben und zu senken; jetzt strebte das Vorderdeck in den Himmel, und hinter dem sinkenden Hinterdeck stieg die finstere, beschäumte Meeresfläche mit ihren Schiffen empor; dann erhob sich das Hinterdeck, und wir glaubten nach vorn rutschen zu müssen. Aengstlich hielt sie sich mit ihrem weißen Arme an der Brüstung; dann fragte sie mit ängstlicher Stimme: „Hört es bald auf so zu schwanken?“ Und als ich sie versicherte, daß es wohl bis England so fortgehen werde, rief sie plötzlich: „Halten Sie mich doch! Ich falle um.“

In der Ferne sahen wir die Küste von Deutschland verschwinden – ein zarter hell erleuchteter Streifen Landes, der immer länger wurde und immer schwerer zu erkennen war. Ich zeigte ihr das Land, sie brach in Thränen aus. Nach längerer Zeit hob sie ihren Kopf aus dem Taschentuche und trocknete sich die Augen. Dann sang sie leise mit schmelzendem Wohllaut:

„Nun ade, du mein lieb’ Heimathland;“

und als sie an die Verse kam:

„Gott behüte dich, mein Liebchen traut,
Lieb’ Heimathland, ade,
Gott behüte dich, du liebe Braut!“

versank ihre Stimme langsam in innerer Erregung, wie wenn im Winter ein einsamer Vogel immer mehr in den Schnee versinkt und nicht weiter kann – und endlich brach sie in Schluchzen aus.

Die Glocke rief zu Tisch, und sie schlüpfte in ihre Cabine. Die Tischgesellschaft sammelte sich zur Mahlzeit; wir machten neugierige Gesichter und sprachen von ihr. Der Kellner war aufmerksam und zartfühlend genug, der „schönen Nürnbergerin“, wie wir sie nannten, weil ihr Accent uns an Nürnberg erinnerte, einen Platz mir gegenüber zu reserviren, da ich der einzige Mensch war, den sie freiwillig angesprochen, ja, mit dem sie überhaupt mehr als zehn Worte gewechselt hatte. Die ganze Tischgesellschaft war auf mich eifersüchtig oder erzeigte mir eine hochachtungsvolle Aufmerksamkeit. Alles steckte die Köpfe zusammen, gesticulirte, verdrehte die Hälse nach mir, gesticulirte wieder, rieth, vermuthete und lächelte. Am längsten blickten die jungen Mädchen verstohlen nach mir herüber; ich wurde von verschiedenen Seiten lange und schweigend gemustert. Man hielt mich für etwas Besonderes, sei es Bruder, sei es Vetter, Freund, oder gar stillschweigender Bräutigam. – Dann kam sie selbst, unbefangen, fast glücklich und heiter. Sie setzte sich mir gegenüber und grüßte freundlich, und, was bei Frauen so oft sich ereignet, wenn sie sich ausgeweint haben – sie sprach – sie sprach von ihrer Heimath, sprach von ihrer Verwandtschaft und gar von ihren Herzensangelegenheiten; mit einem Worte: sie erzählte, ohne gefragt zu sein, Alles, was wir wissen wollten, und das Alles mit der zierlichsten Stimme und dem kokettesten Hessisch; sie war nicht aus Nürnberg, „eh nain,“ sondern aus „Damstadt;“ sie hatte keine „Eldan“ mehr; „nain,“ sie hatte nur einen Onkel, der ihr Vormund, und eine Tante, die ihre beste Freundin war, und sie hatte auch einen Bräutigam, ja, und der wollte sie in zwei Jahren von New-York abholen; sie wollte also nach New-York, und zwar hatte sie drüben in einer reichen Familie in Staten-Island einen Posten als Gouvernante, sie sollte die „Kindercher“ erziehen, ja, und – als die Tafel aufgehoben wurde, hatte sich der eine Theil der dem männlichen Geschlechte angehörigen Tischgesellschaft in sie verliebt, dem andern war sie völlig gleichgültig geworden; es galt nämlich die Frage, ob ihr Bräutigam sie wirklich in zwei Jahren von New-York abholen werde; die Gleichgültigen meinten: „Ja!“ die Verliebten aber lächelten, zuckten die Achseln und lispelten: „Schwerlich!“

Mir war sie keineswegs gleichgültig geworden; wie gern hätte ich ihr Vertrauen durch das meine erwidert, wenn ich mich angesichts ihrer Verlobung dazu für berechtigt gehalten hätte! Sie reiste denselben Weg wie ich, und sie reiste allein; ich nahm mir vor, sie ihrem Bräutigam, ihrem Onkel, ihrer Tante, und – sich selbst zu bewahren. Und ich hatte bald Anlaß dazu, für sie zu sorgen.




Es war am 22. October vorigen Jahres, als wir uns in Liverpool einschifften. Ich hatte das Gepäck meiner schönen Schutzbefohlenen – Hutschachteln, Koffer, große verschließbare Körbe und Reisetaschen, mit schwarzgeränderten, weißen Etiquetten beklebt, welche in rothem Drucke die Buchstaben A. B., die Anfangsbuchstaben ihres Namens „Alwine Bodinus“ trugen – vom Hôtel auf die Landungsbrücke schaffen lassen, welche, da wir augenblicklich Ebbe hatten, tief gesunken war. Unter dem Getümmel bat ich sie, sich stets bei den Sachen zu halten, während ich die Verladung derselben und unsere Einschiffung besorgte. Ich rannte dabei hierhin und dorthin und verlor sie, als ich in die Bude trat, wo ich die Taxe für die Einschiffung zu entrichten hatte, einige zehn Minuten völlig aus dem Gesichte. Als ich zurückkehrte, war sie schon an Bord; auch war sie nicht allein; sie hatte Bekanntschaft gemacht, und zwar mit einem kleinen blonden Knaben, der auf ihrem Schooße nur mit Mühe festgehalten wurde und mit seinen blauen Augen lebhaft um sich blickte. Bei ihren Worten: „Da sind Sie ja; ich hatte schon Angst, Sie kämen zu spät,“ starrte er mich an, sah ihr dann rücklings in’s Gesicht und fragte sie im besten Londoner Englisch: „Ist das Ihr Freund?“ worauf sie nickte und lachte und er mich wieder anstarrte.

Das Schiff fing an zu ächzen, sich zu heben und zu senken; das Wasser erbrauste und schäumte vorwärts und rückwärts; die Seile wurden am Lande gelöst und auf’s Deck geworfen – endlich fuhren wir ab. Tücher winkten, Thränen glänzten; Menschen drängten sich hüben und drüben zusammen. Ein tausendstimmiges „Hurrah“ vom Lande und ein hundertstimmiges vom Schiffe, ein letztes Wehen mit den Tüchern – der Capitain stand oben auf der Brücke zwischen den Radkästen, und wir dampften, bei den gleichmäßigen Stößen der Maschine in regelrechtem Achtsechszehnteltacte erzitternd, die glatte Fluth zertheilend, plätschernd und schäumend in den heiteren Hafen hinaus. Der Bug richtete sich auf den Ausgang in’s Meer, der in der Ferne vor uns lag, und der kleine Blondkopf, der noch immer auf dem Schooße meiner schönen Freundin mit Mühe festgehalten wurde, sagte, nachdem er lange aufmerksam nach der Rhede hinübergestarrt hatte: „Sieh, Lady, wie das Land wegschwimmt!“

Es war ein schöner, heiterer Morgen; die Herbstluft glänzte klar über dem kühlen, spiegelnden, gewellten Wasser; die Ufer liefen drüben auf beiden Seiten hin, als hätten sie mehr [349] Eile, in Europa zu bleiben, als wir, nach Amerika zu kommen. Das heitere Braun der herbstlichen Vegetation schien sich des liebenswürdigen Sonnenscheins zu freuen, der über Allem ausgebreitet lag. Ein stattliches Schiff, das vor Anker lag und sich mit seinen stolzen Masten und seinem eleganten Tauwerk in den Wellen spiegelte, schwand dicht an uns vorbei, und die große englische Flagge wehte uns von der Hauptraa des Hintermastes noch freundliche Scheidegrüße nach. Am Lande lag eine chinesische Dschonke, mit ihrem aufgeschachtelten Hinterdeck, ihrem plumpen Bug und den jalousieförmigen Holzsegeln auf ihren drei niedrigen Masten – von drüben glitt uns ein Schlepper entgegen und schoß, ein großes Kauffahrteischiff mit schlaffen halb aufgebundenen Segeln am Seile hinter sich ziehend, qualmend an uns vorüber.

Bereits hatte man auf dem Deck meine schöne Begleiterin, den hübschen Jungen und mich bemerkt, und man hielt uns offenbar für zusammengehörig, für eine moderne heilige Familie – Vater, Mutter und Kind –, „aber die Mutter ist noch merkwürdig jung,“ lispelte ein schmächtiger Jüngling aus Albion, indem er mich mit vorwurfsvollen Blicken betrachtete.

Innerhalb des Häuschens, das auf dem Decke zum Schutze gegen den Regen aufgebaut war, führte eine Treppe in die Tiefe; von dorther ertönte plötzlich ein schwerfälliges Keuchen und darauf entwand sich dem Treppenhäuschen die Gestalt eines dicken alten Herrn, dem man auf hundert Schritt angemerkt haben würde, daß er aus London war, und auf den der kleine Bursche, plötzlich lebendig geworden und vom Schooße meiner Nachbarin herabgleitend, mit dem lebhaften Ausruf zustürzte: „Pa, wo ist Ma?“ sodaß die gesammten Passagiere auf dem Deck uns Beide plötzlich für kinderlos hielten.

Wir waren unterdessen auf dem offenen Meere angelangt und glitten bei ruhigem Wetter an der Küste von Wales hin, die mit ihren Bergen von ferne zu uns herüberschaute. Die Glocke hatte zu Mittag geläutet, und ich saß mit dem schönen, lieben Mädchen bei Tische, beinahe Arm in Arm. Wir hatten die gepfefferte erquickende Suppe und die erfrischenden gesalzenen Gerichte soeben an uns vorübergehen lassen, plauderten und knackten Mandeln oder vertieften unsere Finger in Traubenrosinen, als ein gegenüber sitzender Herr, der sich mit uns in ein Gespräch eingelassen hatte, meine schöne Tischnachbarin plötzlich fragte:

„Aber weshalb nennen Sie einander immer ‚Sie‘? Ich kenne zwar Deutschland, dieses schöne und große Land, diese Heimath der Genien und der Heroen, dieses Land des Rheins und Baden-Badens, nur vom Hörensagen, aber ich muß falsch unterrichtet sein, wenn es nicht Thatsache ist, was man mir sagte, daß nämlich in Ihrer unvergleichlichen Heimath die Kinder die Eltern und die Gatten einander ‚Du‘ nennen, ein Ehrentitel, den man bei uns in England nur noch dem Schöpfer aller Welten beilegt.“

Meine unschuldige Freundin blickte erschreckt auf. Sie begegnete meinem Auge und schlug hastig das ihrige nieder, sie blickte auf den Tisch und bat um Pfeffer – „Sehr gern, Mylady, aber essen Sie die Mandeln mit Pfeffer?“ – und sie stand plötzlich erröthend auf, verbarg den Mund und die feine Nase in ihrem schneeweißen Taschentuch und ging schnell weg.

Mir blieb die Aufgabe, den Mann über ein Verhältniß aufzuklären, welches offenbar in dem Bereiche seiner Erfahrungen beispielslos war. Alwine mochte erst jetzt auf den Gedanken kommen, daß unser stillschweigend geschlossenes freundschaftliches Reisebündniß falsch gedeutet werden könne; weder auf der Eisenbahnfahrt durch England, noch in dem Hôtel in Liverpool, wo wir in ganz verschiedenen Stockwerken und Flügeln des Gebäudes logirten und uns nur beim Mittagstisch mit höflichem Freimuth unterhielten, noch in den Nebeln der Stadt, wo ich mir manchmal erlaubte, sie bei ihren Ausgängen zu begleiten, – nirgends bisher war ihr der Einfall gekommen, „was die Menschen darüber sagen möchten“. Sie hatte sich gefragt, ob ich ihres Zutrauens würdig sei; sie hatte mich geprüft, und ich hatte die Probe bestanden. So verkehrte sie denn gern und völlig unbefangen mit mir, ohne mich jedoch zum Mitwisser eines ihrer intimeren Geheimnisse zu machen.

Die Art, wie sie mich auf die Probe gestellt hatte, war charakteristisch. Wir befanden uns noch auf der Nordsee; es war am zweiten Tage unserer Fahrt, und schon näherten wir uns dem Hafen von Hull. Damals bat sie mich um die Nachmittagszeit, ihr eine Kiste aufzumachen, die sie in ihrer Cabine stehen hatte, und ich beeilte mich, ihr und mir diesen Dienst zu erweisen. Sie bat mich etwas verlegen, einzutreten, und ich leistete der Aufforderung schüchtern Folge. Die Mordinstrumente, welche ich in der Hand hielt, erinnerten mich, daß ich gekommen war, um eine Kiste zu öffnen, und nachdem ich die Cabine mit den niedlichen Häubchen und ein paar kleinen Hausschuhen neben dem Waschtisch verstohlenen Blickes überflogen hatte, fragte ich meine Auftraggeberin, ob ich mich gleich an das Oeffnen der Kiste machen solle? Sie bat mich darum, und nun schwang ich den Hammer, brach mit dem Stemmeisen den Deckel los, und – empfahl mich mit achtungsvoller Verbeugung. Sie dankte und ich – empfahl mich nochmals, ging weg und gab meinen Hammer und das Stemmeisen an den Kellner zurück. Seit dieser Stunde hatte sie mich zu ihrem Beschützer erwählt; sie kam mir fortan so heiter, so ungezwungen und fröhlich, ja glücklich entgegen, daß ich mir mein Versprechen erneuerte, das liebe schutzlose Mädchen nicht aus den Augen zu verlieren und sie wohlbehalten an die reiche Familie in New-York oder genauer gesagt: in Staten-Island abzuliefern.

Mr. Bateman, mein englischer Begleiter, setzte sich zur Abendtafel wieder mir gegenüber und schlürfte seinen berauschenden englischen Thee, ohne das frische Weißbrod zu berühren oder sich mit den Rostschnitten zu versehen, die herumgeboten wurden, und als es hieß: unsere Freundin sei unwohl und werde nicht kommen, seufzte er: „Ein Engel weniger beim Abendessen!“ Ich gestand mir, daß er Recht hatte; sie war außerordentlich schön. Ihr volles, weiches Gesicht, ihr stolzer, lieblicher Mund, ihre sammetartigen, dunkelbraunen Augen, ihr weißer Teint und ihre eigenthümlich schönen gold-rothen Augenbrauen, überschattet durch volles Haar von der gleichen eigenthümlich schönen Farbe, vollendeten das Bild eines entzückenden Kopfes. Am andern Morgen fand ich den Engländer im Gespräch mit Jay Robinson, dem zweiten Steuermann, einen jungen und schlanken, in seinem Wesen fast eleganten amerikanischen Seemann, dessen entschlossener, feueriger Blick aus hellen stahlblauen Augen sein Gesicht anziehend und beinahe schön machte. Mr. Bateman war jetzt überzeugt, daß er in mir den ersten Gentleman der Welt gefunden habe und daß in seinem Anstandsbüchelchen ein gewisser Fall nachgetragen werden müsse. Er theilte soeben diese Entdeckung Jay Robinson mit, der sie mit lebhaftem Interesse anhörte und bei dessen Anblick ich Etwas wie Eifersucht empfand. Dann rief der jugendliche Seemann den blonden Jungen herbei, der gestern auf dem Schooße meiner Begleiterin gesessen hatte, und sagte zu ihm:

„Charlie, willst Du mit mir in meine Cabine kommen?“

„Und wozu?“

„Ich habe Etwas für Dich.“

„Und was ist das?“

„Schöne Marmorkugeln; die sollst Du haben.“

„Ich brauche keine Marmorkugeln.“

„Dann habe ich Seepferdchen, Sterne und Krabben.“

„Sind sie lebendig?“

No, sie sind getrocknet.“

Well, was soll ich dann mit den Seepferden? Ich liebe es nicht, mit todten Thieren zu spielen.“

„Ich habe auch schöne Bilder von Schiffen und Apfelsinen, und ein Stück Torte, Charlie. Willst Du nicht ein Stück Torte essen?“

„Ei ja, ich liebe Torte, und zeigen Sie mir auch die Bilder!“ – und dann ergriff er Herrn Jay Robinson’s Hand, und ging mit ihm in seine Cabine, die nebst den Cabinen der übrigen Schiffsofficiere auf dem Deck erbaut war.

Sie blieben lange Zeit drinn und schienen sich gut zu amüsiren. Wenigstens sah ich durch’s Fenster, wie sie Torte aßen und Cider tranken. Nach etwa einer Stunde kam Charlie mit zwei Bilderbogen, auf denen große Schiffe abgebildet waren, heraus.

Ich wartete bange und ungeduldig auf meine schöne Begleiterin, deren Zurückgezogenheit mich lebhaft beunruhigte. Im Augenblicke betrat sie das Verdeck. „Da ist sie,“ murmelte ich und ging lebhaft auf sie zu. Sie wich mir aus. Sich stellend, als hätte sie mich nicht gesehen, drehte sie sich rasch um und ging mit schnellen Schritten nach dem Bord, auf den sie ihren

[350]

Im Gasthof zu den „Drei Mohren“ in Augsburg. Nach der Natur aufgenommen von G. Sundblad.

[351]  WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [352] Arm stützte, um nach den Gebirgen von Irland hinüber zu blicken, die in weiter Ferne kaum erkennbar in das rauschende Meer versanken.

Ich hatte eine schwierige Aufgabe. Man hatte sie für meine Gattin, meine Braut, meine Geliebte gehalten, und zwar gerade an dem ersten Tage unserer Fahrt, an welchem man, sich dem neuen Eindruck ihrer Schönheit hingebend, sie bewundert und sich für ihr Verhältniß zu mir interessirt hatte. Sie war von dieser Reise über das atlantische Meer, von dieser zahlreichen, gewählten und glänzenden Gesellschaft auf dem großen Schiffe enttäuscht. Sie hatte sich das Ganze anders gedacht. … Zwar hatte sie im Anfange nicht ungern bemerkt, daß sie, wie auf dem kleinen Hamburger Dampfer auf der Nordsee, der Gegenstand allgemeiner Bewunderung und Neugier war. Aber nun – – Sie war sehr unglücklich. Sie hatte Niemand mehr auf dem Schiffe, mit dem sie unbefangen verkehren durfte; sie war mehr als je in der Welt allein. Jene schüchterne Zutraulichkeit, mit der sie sich bei der Ausfahrt in die Nordsee an mich gewendet hatte, war einer vereinsamten, feindseligen Stimmung gewichen. Ich ließ alle diese Betrachtungen an mir vorüberziehen, und ich merkte ihrer ganzen Haltung an, daß ich Recht hatte. Schon regte sich mir etwas im Herzen, das der Leidenschaft nahe verwandt war.

Ich trat laut auf. Sie blieb still. Ich räusperte mich. Dennoch hörte sie mich nicht. Sollte ich sie bei Namen nennen? Zurückziehen wollte ich mich nicht – ich war unschuldig. Auch hätte ein Schmollen zwischen uns Beiden dem Geschwätz der Leute nur neue Nahrung gegeben. Plötzlich kam mir ein Gedanke.

„Haben Sie schon jenen Eisberg da draußen gesehen Fräulein Bodinus? Es ist ein seltenes Phänomen. Wohl kommen an der amerikanischen Küste öfters Eisberge vor, aber hier, an der Südwestspitze von Irland, ist, so viel die Seeleute sich erinnern, noch nie einer bemerkt worden.“

Sie schwieg noch immer, aber ihr Auge suchte den Eisberg.

„Sie finden ihn wohl nicht?“

„Ich finde Sie abscheulich.“

„Weil ich Sie auf einen Eisberg aufmerksam mache?“

„Sie behandeln mich wie ein Kind.“

„Verzeihen Sie! Das lag mir ganz fern. Der Eisberg ist Thatsache. Wollen Sie Ihre Augen ein wenig anstrengen, so sehen Sie in dieser Richtung einen glänzenden Punkt, wie einen Krystall. Ist Ihnen vielleicht mein Glas gefällig?“

„Lassen Sie mich, bitte, allein!“

„Aber Fräulein Bodinus, was habe ich Ihnen gethan?“

„Ich sagte es Ihnen schon.“

„Sie sagten, ich hätte Sie wie ein Kind behandelt, aber ich kann das nicht verstehen. Ich habe Sie beschützt, bin Ihnen behülflich gewesen. Ich bin Ihr Landsmann. Sie haben mich mit Ihrem Vertrauen beglückt. Nie bin ich Ihnen zu nahe getreten; nie hatte ich bisher auch nur einen Schatten von Mißstimmung zwischen uns aufkommen lassen, die wir doch nun einmal Reisegefährten sind.“

„Was wollen Sie denn mit Ihrem Eisberg?“

„Aber mein Fräulein, der Eisberg ist Thatsache. Bitte, überzeugen Sie sich selbst! Hier, nehmen Sie mein Glas! Eine solche Seltenheit in den Gewässern von Irland muß man auf dem festen Lande erzählen, und damit Einem die Leute glauben, muß man sie selbst gesehen haben.“

„Und wenn er zehnmal Thatsache ist, dieser Eisberg, weshalb treten Sie mit den Worten an mich heran: ‚Haben Sie den Eisberg gesehen?‘ Weshalb sagen Sie mir nicht Guten Tag?“

„Weil ich keine Antwort von Ihnen bekommen hätte.“

Sie sah sich um und blickte mir in die Augen. Dann plötzlich lachte sie hell und heiter. Und gleich darauf, als schäme sie sich ihres Lachens, stützte sie sich wieder auf und sah nach dem Eisberg.

„Ich freue mich, daß Sie den störenden, unangenehmen Zwischenfall von der heiteren Seite ansehen, liebes Fräulein,“ sagte ich. „Er verdient auch keine andere Behandlung. Denn erstens ist er ein dummer und täppischer Zufall, und zweitens ist Mr. Bateman noch dümmer als er. Auch habe ich den Leuten mittgetheilt, daß Sie längst, und zwar in Deutschland, verlobt sind.“

Kaum hatte ich geendet, als sie heftig aufstand, rasch nach dem Hinterdeck des Schiffes ging und mich einfach stehen ließ. Da stand ich und stampfte mit dem Fuße.

Als ich in meinem Groll mit dem Operngucker den Eisberg suchte, war auch er verschwunden. –

(Fortsetzung folgt.)



Die „Drei Mohren“ zu Augsburg.

Mit Abbildung.

In der Mitte der Stadt Augsburg erweitern sich die gedrängten Häuserreihen der Altstadt plötzlich, und eine große breite Straße zieht sich vom Rathhause bis zur Ulrichskirche hinaus. Ein Blick auf die stattlichen Gebäude links und rechts genügt, den Wanderer darüber zu belehren, daß dieselben ihr Entstehen nicht der modernen Speculation zu verdanken haben, sondern einer fernen Zeit entstammen, in welcher derartige auch heute noch vollbürtige Bauten das Product einer Wohlhabenheit waren, wie eine solche sich nur in den blühendsten deutschen Städten bemerkbar machte. Es sind dies fast durchgehends alte Häuser, deren jedes seine eigene Geschichte hat. Glanz und Größe, Noth und Bedrängniß, Lust und Trauer der Stadt selbst zog an diesen alten Häusern vorüber und ging theilweise durch ihre Räume; es waren meist edle vornehme Geschlechter oder hochangesehene wohlhabende Bürger, welche sie inne hatten, und zum Theil befinden sich auch die Nachkommen derselben noch heute im Besitze dieser ehrwürdigen Heimstätten. Von ihnen allen nimmt den ersten Rang das Fuggerhaus mit seinen prächtigen Fresken ein. Große Wandgemälde erzählen von der Macht, dem Reichthum und der ruhmvollen Vergangenheit Derer, die darinnen seit Jahrhunderten gewohnt und gewirkt haben; gehört doch der Name des Geschlechtes der Fugger längst der Geschichte an. Die „Gartenlaube“ hat dem Fuggerhause und seinen Bewohnern schon in ihrem Jahrgange 1874 (Nr. 37) ein Denkmal in Wort und Bild gesetzt. Heute wollen wir von einem anderen weltberühmten Hause Augsburgs sprechen.

Es ist dies der Gasthof „Zu den drei Mohren“. Als altes Haus präsentirt sich derselbe heute allerdings nicht; seine Bestimmung bedingt einen öfteren Toilettenwechsel, und ein solcher ward eben vollzogen.

Das Jahr, in welchem das gedachte Haus erbaut wurde, ist uns nicht bekannt; die Chronik erwähnt es zuerst, indem sie erzählt, daß Anno 1511 ein Patricier aus dem berühmten Geschlechte der Herwart’s - von welchen ein Epigone heute als General im Dienste des Reiches steht - ein „prächtiges Haus“ am Weinmarkt gekauft habe. Am Weinmarkt zu wohnen, war zu jener Zeit keine Kleinigkeit, und nur ganz wohlhabende Leute vermochten dies. Hans Herwart gehörte aber auch zu diesen, ja er war womöglich noch reicher als sein Nachbar, der Fugger, denn er bezahlte damals schon eintausendsechshundertsechszehn Gulden jährliche Steuern. Am Weinmarkt fanden auch alle größeren Festlichkeiten statt: sogar Belehnungen, Huldigungen, Fürstenversammlungen und Turniere wurden dort abgehalten.

Die vornehmsten Gäste nahmen Wohnung in den Fugger’schen Gebäuden und als das „prächtige“ Herwart’sche Haus in den Besitz der Fugger übergegangen war, wurde es fast ausschließlich zur Beherbergung solcher hohen Besuche benutzt. Kaiser Karl der Fünfte hielt sich zu verschiedenen Malen bei Jakob und später bei dessen Neffen Anton Fugger auf, welchem er in Folge wiederholter finanzieller Gefälligkeiten sehr zugethan war. Die Sage, Anton Fugger habe einmal bei einer solchen Gelegenheit den Schuldschein des Kaisers in einem Feuer von Zimmtholz und zwar in Gegenwart des ganzen Hofes verbrannt, (s. Jahrgang 1874, Nr. 13) erscheint in einer nüchternen Version sogar glaubwürdig. Sicher ist, daß Karl der Fünfte dem Hause Fugger große Summen schuldete; ebenso sicher ist, daß Anton Fugger,

[353] der von Ulrich von Hutten ein Knauser genannt wurde, nicht der Mann war, einem so mächtigen Schuldner Millionen zu schenken. Es scheint einfach ein Geschäft zwischen Fugger und Karl dem Fünften abgeschlossen worden zu sein, denn nach der Verbrennung des Schuldbriefes erhielten die Fugger das Recht, Gold- und Silbermünzen zu prägen, nachdem sie vorher schon in den Reichsgrafenstand erhoben worden waren und der Kaiser ihnen Kirchberg und Weissenhorn erb- und eigenthümlich überlassen hatte. Für solche Dinge kann man schon Zimmtholz und Schuldschein verbrennen, und in Anbetracht dieser Verhältnisse ist der vielfach angestrittene Vorgang doch nicht unbedingt in das Reich der Fabel zu verweisen. Der Kamin, in welchem das berühmte Brandopfer stattgefunden haben soll, befindet sich im Besitze des Gasthofes und ist im Hintergrunde des Vestibüls im ersten Stocke angebracht. Eine Ueberschrift über demselben besagt „Anno Domini 1532 bewohnte dieses Haus Kaiser Karl der Fünfte, dessen Schuldschein Antonius Fugger an diesem Kamine in einem Feuer von Zimmtholz verbrannte.“

Es scheint sich hier, nebenbei erwähnt, um den Vorschuß von hundertsiebenzigtausend Ducaten zu handeln, welchen der reiche Fugger dem geldbedürftigen Kaiser zur Bestreitung der Kosten gewährte, die aus der Kriegsrüstung gegen Venedig erwuchsen.

Maximilian der Zweite war gleichfalls ein regelmäßiger Gast in dem Fugger’schen Hause, und nach ihm wohnten, so lange das Haus im Besitze der Fugger war, noch Könige, Feldherrn und Staatsmänner zeitweise in demselben, worüber jedoch keine genauen Aufzeichnungen mehr vorliegen. Im Jahre 1723 wurde ein Theil des Gebäudes durch Brand zerstört und dasselbe von den Besitzern noch vor der Wiedererbauung an den Bürger Andreas Wahl, Gastwirt zu den „Drei Mohren“, veräußert.

Die Wirthschaftfirma zu den „Drei Mohren“ existirte nämlich schon seit dem Jahre 1344 in Augsburg und die Wirthschaft selbst war von jeher als eine der vorzüglichsten bekannt; sie befand sich in der Nähe des Herwart’schen Hauses. Nach Abschluß des Kaufgeschäfts und Wiederaufbau des Hauses übertrug Wahl seine Wirthschaft auf das historische Gebäude, wobei er jedoch nicht vergaß, die bereits berühmt gewordenen drei Mohrenköpfe mit in das neue Besitzthum zu nehmen, um von dem Schutze dieser hundertjährigen Penaten auch im neuen Heim zu profitiren. Sie thaten ihre Schuldigkeit. Die Zeiten waren andere geworden; man sündigte auch in hohen Kreisen nicht mehr so viel auf die Gastfreundschaft der Vornehmen und verschmähte nicht, in profanen Herbergen Unterkunft zu suchen; und die „Drei Mohren“ machten ihrer Vergangenheit Ehre, und der Ruf ihrer Küche und insbesondere ihres Kellers verbreitete sich überall. Eine Weinkarte, wie dieses Haus sie führte, hatte ihres Gleichen nicht auf dem ganzen Continente; die Bacchusgaben des ganzen Erdkreises waren hier zu haben. Diesen besonders günstigen Verhältnissen ist es zuzuschreiben, daß der besagte Gasthof in der nun folgenden Zeitperiode fast alle gekrönten Häupter und berühmten Persönlichkeiten in seinen Mauern sah.

Am 24. Juli 1792 wohnte der Kaiser Franz der Zweite mit seiner Gemahlin Maria Theresia und seinem Bruder dem Erzherzoge Joseph, daselbst und eröffnet damit gewissermaßen den Reigen der hochfürstlichen und interessanten Besuche, die nun folgten. Einige Jahre später begannen die wüthenden Stürme, welche unheildrohend über die Mauern der Stadt fegten und schließlich das reichsstädtische Wappen zertrümmerten.

In den Jahre 1796 bis 1801, 1805 bis 1809, 1812 und 1813 seufzte auch Augsburg unter der Last der kriegerischen Zeiten und in bunter Folge wechselten Durchzüge von Kriegsvolk aus aller Herren Ländern. Wenn man bedenkt, daß bis zum Abschluß der ersten Kriegsperiode, bis zum Lüneviller Frieden ungefähr 700,000 Mann und 500,000 Pferde die Stadt passirten, kann man sich eine Vorstellung von der Last machen, die auf dem kleinen Staate ruhte. Die vornehmsten und anspruchsvollsten Gäste nahmen natürlich immer in den „Drei Mohren“ Quartier. Ob sie pünktlich ihre Rechnungen bezahlt haben, ist in der Chronik des Gasthofes nicht verzeichnet.

Nachdem im Spätherbste 1799 der Prinz Condé und der Herzog von Berry dort gewohnt hatten, meldete sich am 27. Mai 1800 ein schlimmer Gast – der französische General Lecourbe. In den „Drei Mohren“ ward eine Rechnung geschrieben, wie eine solche noch kein Gasthof bis dahin gesehen hatte, leider war aber dieses Mal der Gast Rechnungssteller. General Lecourbe bedachte hierin die Stadt mit 900,000 Franken, das Domcapital mit 300,000 Franken und die Geistlichkeit mit 150,000 Franken Kriegscontribution; für sich setzte er wahrscheinlich für Service, eine Kleinigkeit von 4,000 Louisd’or an. Drei Wochen lebte der tapfere Krieger in Saus und Braus, dann zog er ab, um einem berühmteren Collegen, dem General Moreau, Platz zu machen, der sich einige Zeit von den Feldzugsstrapazen erholen wollte.

Mitte April 1801 endlich verabschiedeten sich die letzten Franzosen, aber nur um vier Jahre später in vermehrter Auflage wieder zu erscheinen. Das ereignißreiche Jahr 1805 ward schon vorher durch interessante Gäste gekennzeichnet. Den Anfang machte der amerikanische Staatsminister Livingstone; dann traf der Erbprinz von Baden ein; hierauf folgte ein glänzendes Nacheinander von berühmten Namen des In- und Auslandes.

Am 6. October 1805 hatte sich der französische General Vandamme als Divisionär des Corps Soult der Stadt Donauwörth bemächtigt, und damit war den Franzosen der Weg nach Schwaben geöffnet. Am 8. October ward Feldmarschalllieutenant von Auffenberg von Murat bei Wertingen geschlagen, und die Schrecken des Krieges rückte immer näher an Augsburg heran.

Es war am 9. October, als der französische General Michaud mit seinem Generalstab und einer Bedeckung von dreißig Carabiniers bei dem geschlossenen Schlagbaum vor dem Göggingerthor ankam und Einlaß verlangte, um in den „Drei Mohren“ ein Frühstück einnehmen zu können. Man konnte das Ansuchen nicht abschlagen; wie vorauszusehen kam bald die Division Vandamme nach, und um ein Uhr zogen ungeachtet des feierlichen Protestes der Stadt, die französischen Truppen wiederum ein. Von allen Seiten kamen nun die ungebetenen Gäste heran, und die Nacht vom 9. auf 10. October war eine der schrecklichsten, die Augsburg in diesen Zeiten erlebt hat; die Brutalität der Soldateska kannte keine Grenzen. Der Generalstab, viele Marschälle und Generäle nebst Gefolge ließen sich’s aber in den „Drei Mohren“ wohl sein.

Am 10. October kam der neugebackene Kaiser Napoleon selbst nach Augsburg und stieg in der bischöflichen Residenz ab. Die „Drei Mohren“ sahen in diesen Tagen ganz seltene und bedeutungsvolle Gäste; am 29. October beherbergten sie den Minister Maret, den Staatssecretär Napoleon’s; es folgten Deputationen des Pariser Tribunals und Senats.

Am 4. November erscheint zum ersten Male ein Mitglied des baierischen Fürstenhauses, Kronprinz Ludwig August, in dem Gasthofe, dann wimmelte es in Augsburg von französischen Generälen und Staatsmännern.

Der 3. März des Jahres wurde bedeutungsvoll für die Stadt. In Folge des Preßburger Friedens ward die bisherige freie Reichsstadt Augsburg an die Krone Baierns übergeben. Am gleichen Tage Nachmittags vier Uhr wurde dieses Ereigniß im Gasthof „Zu den drei Mohren“ officiell gefeiert. Eine glänzende Tafel vereinigte die städtischen Collegien, den Senat, den Vorstand des Handelsstandes und viele angesehene Einwohner als Gäste der baierischen Commissäre im Hôtel. Der Chronist erzählt hierüber blos:

„Es wurden dabei viele Trinksprüche ausgebracht, unter Musik-, Trompeten- und Paukenschall, die aber so wenig als der schäumende Champagner den gebeugten Sinn völlig zu erheben und die schmerzliche Empfindung zu verscheuchen vermochten, mit welchen ein großer Theil der Gäste auf das Grab der bürgerlichen Verfassung der Stadt niederblickte, das kein Hoffnungsstrahl beleuchtete, die Abgestorbene je wieder auferstehen zu sehen.“

Am 22. September 1808 fand eine ähnliche Festlichkeit aus Anlaß der Erhebung Augsburgs zur Kreishauptstadt statt und am 6. November 1808 besuchte König Max der Erste die Augsburger; er wohnte in den „Drei Mohren“; dieselben haben also auch gesehen, wie die seither so stolzen Senatoren der kleinen Republik es anstellten, ihrem nunmehrigen Monarchen zu gefallen.

Die wieder beginnenden französischen Kriege brachten natürlich Gäste von Bedeutung aus Oesterreich, Italien, Spanien und Frankreich; zu diesen zählen wir auch den Soldaten des sechszehnten französischen Infanterieregiments, der so glücklich war, den thatenreichen Leben des Admirals Nelson ein Ende gemacht zu haben. Auf Befehl des Kaisers wurde der „glückliche“ Schütze [354] in den „Drei Mohren“ einige Tage verpflegt, und hat sich’s der Tapfere jedenfalls nach Gebühr wohl sein lassen.

Ueber die nun folgenden, nicht besonders interessanten Fremdenverzeichnisse des Hôtels hinweg machen wir einen Sprung und schlagen die Geschichte des Jahres 1866 auf. Die blutigen Seiten wollen wir übergehen und uns lediglich mit dem ehrwürdigen deutschen Bundestage beschäftigen. Die auf Frankfurt anrückenden Preußen veranlaßten bekanntlich am 15. Juli die Bundestagsmitglieder, ihre Sitzungen an einen sicherern Platz zu verlegen, und so segelte die ganze bundesstaatliche Diplomatie nach Augsburg. Die „Drei Mohren“ waren nun wieder voll von Ministern und Gesandten.

Trotz der fleißigen und langen Sitzungen, die dort abgehalten wurden, ward der alte Bund immer lockerer; ein Vertreter nach dem anderen wurde abberufen; am Donnerstag den 26. Juli wurde schon die schwarz-roth-goldene Flagge vom Hôtel abgenommen; es ging noch an ein eifriges Protestiren, Protokolliren und Decretiren – man gestattete von hier aus den siegreichen Preußen, unbehelligt aus den Bundesfestungen heimkehren zu dürfen; – dann ward’s ruhiger, und am 24. August wurde im Saale des Hôtels zu den „Drei Mohren“ die Auflösung des deutschen Bundes officiell verkündet. –

Aus dem bisher Erzählten dürfte zur Genüge hervorgehen, daß die „Drei Mohren“ in Augsburg eine Geschichte hinter sich haben, wie wohl wenige andere deutsche Häuser.

Bis in die jüngsten Jahre genoß aber auch der Gasthof ein seltenes Renommée und war beinahe in der ganzen civilisirten Welt bekannt. Nachdem der letzte Besitzer, ein Herr J. G. Deuringer, gestorben war, gingen die Erben daran, das Hôtel zu verkaufen. Angesehene und vermögende Bürger der Stadt traten nun zu einem Consortium zusammen, erwarben den Gasthof und beschlossen, denselben würdig seiner Vergangenheit und den Anforderungen der Gegenwart entsprechend zu renoviren und dann dem Verkehre wieder zu übergeben. Nachdem er zwei Jahre geschlossen war, wurde er am 9. Juni 1877 wieder eröffnet, und zwar in einer Ausstattung, die ihres Gleichen in ganz Europa sucht. Eine solide Eleganz und eine Pracht, die überall durch die Kunst und strenge Einhaltung des Styls in wohlthuenden Grenzen gehalten ist, beherrschen sowohl das Aeußere, wie auch alle Räume des Innern bis in die Einzelheiten, deren Schilderung wir uns hier wohl um so mehr ersparen dürfen, als unser Bild sie den Lesern, wenn auch nur andeutungsweise, vorführt. War doch der Zweck dieser Zeilen im Grunde nur der: zu erzählen, was ein einziges Haus Alles erleben kann.

B. Rauchenegger.


Blätter und Blüthen


Das Wesen des Stotterns. (Nachtrag zum Aufsatz in Nr. 13.) Für Kinder, welche die Disposition zum Stottern zeigen, ohne daß ihr Uebel bisher zur Ausbildung gelangt ist, möchte ich den Eltern und Pflegern Folgendes empfehlen:

Erstens: Vor Allem hüte man sich, derartige Kinder zu erschrecken oder zu ängstigen. Wie überhaupt ein solches Verfahren ein erziehlicher Mißgriff ist, so ist es bei einem zum Stottern disponirten Kinde ein um so größerer. Versucht man durch Schelten und Drohen ein Kind zum Sprechen zu bringen, so erreicht man das Gegentheil. Man muntere es vielmehr freundlich auf, den mißrathenen Satz laut und deutlich zu wiederholen.

Ferner: Man halte darauf, daß das Kind weder zu rasch noch zu langsam spreche, und berücksichtige dabei die Individualität des Kindes. Erfolgt die Gedankenbildung nach dem ganzen Eindruck, den man empfängt, langsam, so suche man auch ein langsameres Sprechen herbeizuführen. Denkt das Kind nach seinem Temperament rasch und lebhaft, so möge es immerhin etwas rascher sprechen; niemals aber so rasch, daß ein vernehmliches Aussprechen jeder Silbe zur Unmöglichkeit wird, wenigstens so langsam, daß ein Unterschied der Haupt- und Nebensilben sich ausprägen kann. Man gehe in deutlichem, verhältnißmäßig langsamem Sprechen dem Kinde mit gutem Beispiele voran. Das Sprechenlernen beruht in erster Linie auf Nachahmung; hört das Kind um sich nur rasches Reden, so ahmt es dasselbe nach, ohne die Schnelligkeit der Gedanken, noch die Uebung der Sprachorgane Erwachsener zu besitzen, und kommt dadurch leicht zum Stottern.

Ferner: Es ist dem Kinde nicht zu empfehlen, daß es vor jedem Satze genau überlege, was es sprechen soll; einfach darum, weil es unnatürlich ist. Kein Mensch thut das. Aber auch deshalb, weil bei der vorhergehenden Ueberlegung sich der Gedanke, man werde stottern, leicht ausbildet. Ein fließendes, sicheres sprechen wird nirgends durch langes Vorbedenken erzielt, sondern durch die Gewöhnung an deutliches, ausdrucksvolles und verhältnißmäßig langsames Sprechen, das der Gedankenbildung auch während des Sprechens Raum läßt. Der Satz: „Ueberlege doch, was du sprichst!“ hat in logischer und sittlicher Beziehung seine volle Wahrheit; er möge dem gedankenlos Plappernden, dem vorschnell Urtheilenden oder tactlos sich Aeußernden zugerufen werden. Der Stotterer muß natürlich auch wissen, was er sprechen will; aber jedes Ueberschreiten des knappesten Maßes vorheriger Ueberlegung ist dem Stotterer verderblich.

Ferner: Man gewöhne dem Kinde ab, wozu es leicht Neigung zeigt, die Consonanten scharf und hart auszusprechen. Fühlt das Kind Schwierigkeit beim Sprechen, so glaubt es auf diese Weise größere Sicherheit zu erlangen. Es irrt sich; dadurch wird das Uebel verstärkt. Nur scheinbar fällt die Aussprache eines Consonanten dem Stotterer schwer; in der That liegt es an der Vocalbildung, und vor Allem der unmittelbaren Verbindung des Consonanten mit dem Vocal. Je reiner und sicherer der Vocal erzeugt wird, desto leichter und mühsamer fließt die Rede dahin. Die Accentuation des Consonanten aber schwächt gerade die Intonation des Vocals und vermehrt das Uebel. Der Consonant ist deutlich, aber ohne irgend eine Härte zu beginnen.

Ferner: Man halte darauf, daß das Kind gerade und mit auswärts gekehrten Füßen geht und turnt. Jene Haltung ist die normale und befördert die normale Respiration, eine Vorbedingung zum Sprechen. Bemerkt man, daß das Kind vor dem Sprechen erst etwas ausathme, so suche man ihm das abzugewöhnen; es muß recht natürlich Athem holen und zugleich mit dem Ausatmen zu sprechen beginnen.

Endlich: Man ermuntere das Kind, daß es den Mund beim Sprechen recht aufthue, um hübsch deutlich zu sprechen und – last not least – man mache das Kind durchaus nicht auf sein Gebrechen aufmerksam, sondern suche jene Regeln ihm ohne Aufhebens, nur mit dem Hinweise auf ein schönes, deutliches Sprechen, zur zweiten Natur zu machen.

Pädagogen haben mir versichert, wie unendlich günstiger der Eindruck derjenigen Kinder sei, die von Hause aus an ein langsames, lautes Sprechen mit möglichst offenem Munde gewöhnt sind, gegenüber denen, die hastig, leiser und mit fast geschlossenen Zähnen die Sätze hervorstoßen. Und es gereicht mir zur Befriedigung, daß die Normen, zu denen ich aus langjähriger Beobachtung und Heilung von Stotterern gelangt bin, den Grundsätzen der neueren Pädagogik so vielfach begegnen. Es ist auch nicht zu bezweifeln, daß viele zum Stottern Disponirte, ohne es zu wissen, gerade einer fortgeschritteneren Pädagogik ein normales Sprechen verdanken. Wenn die Herren Schulmänner, wie es doch meist geschieht, auf laute, deutliche Aussprache halten; wenn, zumal in der Volksschule und den unteren Classen höherer Lehranstalten, in der Regel ein ganzer Satz, nicht nur ein einzelnes Wort als Antwort verlangt wird, wenn man den Schwachen und Zaghaften ermutigt und nach der Erregungstheorie die Selbsttätigkeit und das aus sich Herausgehen des Kindes zu erzielen sich bestrebt, so wüßte ich nicht, welche bessere Unterstützung ein Kind auch zur Beseitigung der in Rede stehenden Disposition sich wünschen könnte. Wenn die Herren Schulmänner dazu noch den oben entwickelten, specifisch auf das Stottern bezüglichen Grundsätzen ihre Aufmerksamkeit zuwenden würden, und Schule und Haus somit zu vorbeugenden Maßregeln sich vereinigten, so würde nach meiner Ueberzeugung das Uebel weniger oft zur Entwickelung gelangen und eine nicht unbedeutende Summe peinlicher Empfindungen aus der Welt verschwinden.

Rudolf Denhardt jun.




E. Marlitt’s „Zweite Frau“ katholisirt! Aus Pernambuco erhalten wir von Herrn Th. Just die überraschende Nachricht, daß in dem Feuilleton des dort erscheinenden „Jornal do Recife“ nach einem in Portugal gedruckten Buche eine portugiesische Uebersetzung des Marlitt’schen Romans „Die zweite Frau“ mitgetheilt worden ist, welche an Unverschämtheit absichtlicher Verballhornisirung ihres Gleichen sucht. Die ganze Dichtung ist in ultramontanster Tendenz umgemodelt. Die Gräfin Juliane, spätere Baronin Mainau, wird als eifrige römische Katholikin dargestellt, während der Herzogin die Rolle einer streng pietistischen Protestantin zugetheilt und statt des jesuitischen Hofpredigers ein altlutherischer Hofrath ihr zur Seite gestellt wird. Daß den genialen Zögling Loyola’s bei dieser Umstülpung der Wahrheit die consequente Durchführung seiner verkehrten Charaktere arg mißglückt und der Dialog deshalb dem nachdenklichen Leser manche wunderliche Ueberraschung bereitet, diese Kleinigkeit kann dem frommen Ballhorn das Verdienst nicht verkürzen, ein neues Mittel für den heiligenden Zweck erfunden zu haben.




Amerikanische Erbschaft. In San Francisco starb am 28. Juli 1876 Heinrich Agethen aus Hellmern im Regierungsbezirk Minden und hinterließ 745 Dollar 50 Cents, die von dem Public Administrator daselbst verwaltet werden. Man bittet uns, die deutschen Verwandten des Todten, welche obrigkeitlich bis jetzt nicht aufzufinden waren, auf diese Erbschaft aufmerksam zu machen.

D. Red.




Kleiner Briefkasten.

E. H. in Sch. Wir bedauern sehr, ablehnen zu müssen. Durch die zufällig in diesen Monaten sich häufenden Säcularjubiläen berühmter Männer sehen wir uns gezwungen, in den nächsten Nummern unseres Blattes eine so reiche Fülle von Portraits zu bringen, daß wir fürchten müssen damit des Guten fast schon zu viel zu tun.

F. B. Pfalz. Sie fragen an, ob Kupferstiche leiden, wenn sie der Sonne ausgesetzt sind. Wir antworten: der Druck nicht, mit der Zeit aber das Papier.


  1. Dieser Storch wurde dem Aquarium vor einem Jahre mit abgesplittertem Oberschnabel überbracht, eine kundige Hand ersetzte ihm denselben durch einen silbernen, mit dem er sich seit jener Zeit sichtlich wohl befindet.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Johannn