Die religiöse Überzeugung vor dem Kirchengericht

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Autor: Rudolf Elcho
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Titel: Die religiöse Überzeugung vor dem Kirchengericht
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 19, S. 310–314
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Noch einmal Kalthoff
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[310]
Die religiöse Ueberzeugung vor dem Kirchengerichte.


          – – Laßt durch
     Tyrannisch Droh’n zum Glauben Euch nicht zwingen,
     Der allem äußern Sinn und innern Fühlen
     Entgegen; denkt, harrt aus und schafft im Herzen
     Euch eine inn’re Welt, versagt die äuß’re!
     So kommt der geistigen Natur Ihr näher,
     Und sieget in dem Kampf mit Eurer eig’nen.

          Lord Byron

Immer mehr bricht in dem heutigen Geschlechte sich die Erkenntniß Bahn, daß diejenige Art von Christenthum, welche die Kirche bisher zur Erziehung der Jugend anwandte und noch anwendet, das heißt also ein Christenthum, bei welchem auf Glaubensartikeln und äußerlichen Uebungen der Hauptnachdruck liegt, vom Uebel ist. Es wird dadurch der entschiedenere Theil der Zweifelnden sichtlich allem Religiösen abwendig gemacht; es wird andererseits im Volke jene – geflissentliche oder gewohnheitsmäßige – äußerliche Kirchlichkeit conservirt, welche weder mit dem Kopf noch mit dem Herzen in wirklichem Zusammenhange steht und im Grunde nur eine Art Heuchelei ist. Der philosophischen und geschichtlichen Erkenntniß vom Wesen des Christenthums, wie die freieren Köpfe sie in geistigem Ringen und Arbeiten seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts gewonnen haben, stehen überdies jene Dogmen als etwas Veraltetes, Fremdgewordenes gegenüber. Wer will es hiernach der großen freisinnigen Partei der neueren Theologen, welche den wichtigen Culturhebel echter, innerlich wahrhaftiger Religiosität der Menschheit erhalten möchte, verdenken, wenn sie das Recht in Anspruch nimmt, die altkirchlichen Glaubenssätze unter die persönliche Ueberzeugung zu stellen, dafern diese letztere den ewig gültigen sittlich–religiösen Gehalt des Christenthums nicht verleugnet! Die [312] Orthodoxie jedoch hält fester als je zuvor an der Dogmenherrschaft, und so sind scharfe Conflicte unausbleiblich. Der jüngste Fall dieser Art, der Hoßbach’sche, hat jetzt ein Nachspiel gefunden, welches jedem, der Respect vor charakterfester Ueberzeugungstreue, vor männlich tüchtigem Wesen hat, innige Freude bereiten muß und von dem im Interesse der Volksbildung nur zu wünschen wäre, daß es das erste Glied in einer großen Kette sein möchte. Wir haben hier den „Fall Kalthoff“ und den Helden dieser Affaire im Auge.

Mit dem Ausgangspunkt der ganzen Angelegenheit verhält es sich bekanntlich so: Als der Prediger Hoßbach in der Jacobi-Gemeinde zu Berlin es wagte, seine freie Stellung zu den Glaubensartikeln klar zu bezeichnen und das Wunder zu leugnen, versagte das Consistorium ihm im Angesichte der Wissenschaft und Forschung des neunzehnten Jahrhunderts die Bestätigung seiner Wahl. Der charaktervolle Theologe mußte sich hinterher von Professor Treitschke belehren lassen, er habe weder klug noch tactvoll gehandelt. Erst im Amte, meinte der Herr Professor, hätte Hoßbach seiner Ueberzeugung Ausdruck geben dürfen, erst nach der Wahlbestätigung hätte er, mit kluger Umgehung kirchlicher Vorschriften, seine wahren Ansichten verbreiten dürfen. Und so sprechen auch Andere, sogar auch liberale Zeitungen. Seltsame Verirrung eines nüchternen Zeitalters! Als ob jemals in einer Sache religiöser Ueberzeugung, die niemals etwas Anderes sein kann, als ein Ausfluß tiefster Herzensbegeisterung für die höchsten und heiligsten Güter, als ob jemals in derartigen Fragen des Gewissens durch die zaghafte Rücksicht auf eine sogenannte „Opportunität“, durch ängstliches Diplomatisiren und kleinliches Rechnen mit den Machtverhältnissen und den Stimmungen mächtiger Personen ein würdiges Ziel erreicht worden wäre!

Und fast hatte es den Anschein, als beobachtete die Mehrzahl der liberalen protestantischen Theologen dem Oberkirchenrathe gegenüber die Taktik zuwartenden Schweigens, denn als diese Behörde einen Prediger von einem Amte ausschloß, welcher ihre Kirchenlehre als absolute Grenze für das Gewissen nicht respectiren zu dürfen glaubte, erhoben sich seine Genossen im Ganzen und Großen nicht, um ihr heiliges Ueberzeugungsrecht zu wahren. Einer nur that es, und das war der Pfarrer zu Nickern, Dr. A. Kalthoff. Dieser Mann aber that es mit der vollen Entschiedenheit und dem Wahrheitsmuthe eines Luther, der da sagte: „Hier stehe ich – ich kann nicht anders.“ Dr. Kalthoff schwankte nach dem Hoßbach’schen Falle keinen Augenblick in Bezug auf das, was er zu thun hatte. Ohne Rücksicht auf Amt und Stellung sagte er sich: Gewährt uns die evangelische Kirche für das edelste Streben des Menschen, für das Suchen nach immer vollendeterer Erkenntniß in der That keinen Raum, so kann ich dieser Gemeinschaft nicht mehr angehören. Mit ruhiger Entschlossenheit trat der Pfarrer von Nickern gegen die Entscheidung des evangelischen Oberkirchenraths in der Hoßbach’schen Sache auf und erklärte: „Ich lehre in meiner Gemeinde nicht das Wunder und die Gottheit Christi; ich beanspruche für meine Person das protestantische Recht, jeder Zeit mein geistiges Selbst, meine Ueberzeugung bekennen zu dürfen!“

Damit hat der tapfere Mann dem Oberkirchenrathe die glühende Kohle in die Hand gedrückt, und letzterer suspendirte ihn sofort vom Amte.

Es ist eine fast befremdende und doch auch wieder leicht erklärliche Erscheinung, daß der Theologe, welcher dem Kirchenregimente Trotz zu bieten wagt, aus einer Gegend und einer Zeit stammt, wo der Pietismus die üppigsten Blüthen trieb. Unser Kalthoff ist im Wupperthale und zwar in der frommen Stadt Barmen am 5. März des Jahres 1850 geboren. Die Knabenzeit des achtundzwanzigjährigen Predigers fällt also in jene Tage, wo Pastor Krummacher und andere Säulen der Orthodoxie alle Hebel in Bewegung setzten, um das Wupperthal den modernen Ideen zu verschließen und es ganz einzuhüllen in das Dunkel des Mysticismus. Kalthoff’s Vater, welcher im Jahre 1873 starb, gehörte selber der streng konservativen Richtung in der Politik wie in der Kirche an. Er war einer der Stifter des Treubundes in Barmen, erwarb sich aber durch seinen unbestechlichen Wahrheitssinn und seine Ueberzeugungstreue die Achtung auch seiner kirchlichen und politischen Gegner. Der alte Kalthoff war Färbereibesitzer. Als Familienvater zeigte er sich ebenso liebevoll wie verständig; die Erziehung seiner sechs Kinder war bei tiefer Religiosität, die sich freilich zum Theile in den hergebrachten Formen der Wupperthaler Frömmigkeit bewegte, doch eigentlich eine sehr freie, denn er that nicht das Mindeste, was die eigenartige Entwickelung seiner Kinder hätte hemmen oder verkümmern können, und er legte den allerhöchsten Werth auf eine gute Schulbildung. Der fromme Herr liebte es, fröhliche Gesichter um sich zu sehen, und in opferfreudigster Weise legte er sich selber Entbehrungen auf, um den Kindern Vergnügungen zu bereiten. Die Mutter unseres Pfarrers, welche heute noch in Barmen lebt, sorgte für die allgemeine Bildung und weckte namentlich unter ihren Kindern die Liebe zur Musik.

Der Knabe sollte erst Kaufmann werden und besuchte zunächst die Realschule in Barmen; dann siedelte er auf Anrathen der Lehrer in’s Gymnasium über. Der Director dieser Anstalt, Dr. Thiele, feuerte seinen Schüler zu idealem Streben an, und der Einfluß dieses Mannes, verbunden mit der im Elternhause gepflegten Frömmigkeit, wurde entscheidend für den Entschluß des jungen Kalthoff, Theologie zu studiren.

Im Jahre 1869 ging er zum Besuche der Universität nach Berlin. Dort studirte er weniger unter den Auspicien der Professoren als auf eigene Faust. Dem unabhängigen Geiste des jungen Studenten mochte es von vornherein recht abgeschmackt erscheinen, daß man seine religiöse Ueberzeugung aus den Händen des Professors empfangen müsse. Er machte sich eifrig und eng vertraut mit den Werken unserer hervorragenden Denker; er studirte Kant, Hegel und Schelling so eifrig wie Fichte, Schopenhauer und Hartmann. Unter schweren Kämpfen vollzog sich bei ihm allmählich der Proceß, durch welchen die alten Formen orthodoxer Frömmigkeit zerstört und Raum geschaffen wurde für eine freiere, lichtvollere menschlichere Auffassung des Christenthums. Kalthoff ging durch eine lange Zeit des Zweifels hindurch und erkämpfte sich Schritt für Schritt die Ueberzeugung, für welche er heute eintritt und der er Alles zum Opfer zu bringen entschlossen ist.

In den Jahren 1873 und 1874 war Kalthoff Hauslehrer in der Familie des Grafen August von der Goltz aus Schönau in Westpreußen. Obgleich der Graf ganz anderen Anschauungen huldigte, als der Erzieher seiner Kinder, so half dem Letzteren doch die liebenswürdige, wahrhaft biedere Art dieses wackeren Edelmannes über manche Kluft hinweg, und der junge Theologe nahm viele freundliche und schöne Erinnerungen aus dem gräflichen Hause mit auf seinen Lebensweg. Seine theologischen Examina bestand Kalthoff in Berlin und promovirte gleichzeitig in der philosophischen Facultät zu Halle. Seine Dissertation: „Die Frage nach der metaphysischen Grundlage der Moral, mit besonderer Beziehung auf Schleiermacher untersucht“, giebt im Wesentlichen noch heute die Grundzüge seiner Weltanschauung an; er zeigt sich darin als ein Mann von hervorragender Denkkraft, der sich an Kant’schen Werken gebildet hat und in seinen Grundanschauungen weit entschlossener vorgeht, als Schleiermacher.

Im Jahre 1874 wurde Kalthoff als Hülfsprediger an die St. Marcuskirche nach Berlin gerufen, im Januar 1875 nahm der Präsident des Consistoriums, Hegel, an dem Barte unseres Helden Anstoß. Der Streit um Kalthoff’s Bart setzte in Berlin und in weiteren theologischen Kreisen alle Gemüther in Bewegung. Selbstverständlich hätte es den jungen Hülfsprediger nicht die geringste persönliche Ueberwindung gekostet, seinen Bart dem Rasirmesser zu opfern, allein er sagte sich: was hat das Consistorium, was hat die evangelische Kirche, was hat die Religion mit meinem Bart zu schaffen? Welchen vernünftigen Grund könnte Herr Hegel gegen diesen Bart in’s Gefecht führen? Das ideale Bild Jesu, wie es sich die Phantasie der Christen gebildet hat, zeigt einen Vollbart, warum sollen die Jünger des erhabenen Meisters mit glattrasirtem Kinn predigen? Das Consistorium wußte nicht den geringsten stichhaltigen Grund für die Abschaffung des Bartes anzugeben, und der Hülfsprediger in der St. Marcuskirche ging ungeschoren aus diesem Conflict mit dem Kirchenregiment hervor.

Im Herbste desselben Jahres wurde Dr. Kalthoff von dem Patronat in Nickern, einem kleinen Orte in der südöstlichen Ecke der Provinz Brandenburg, zur Verwaltung des dortigen Pfarramts berufen. Der Conflict mit dem Consistorium hatte seine finsteren Schatten vorausgeworfen, und kaum war der neue Pfarrer [313] in seiner Gemeinde eingetroffen, so verbanden sich, bis auf drei alte Herren, alle Geistlichen des Kreises „solidarisch“ mit dem Superintendenten in Züllichau „zur Abwehr des seelenverderblichen Eindringlings“, wie es an der Abmachung wörtlich hieß. Natürlich versuchte man alle erdenklichen Mittel, um dem neuen Pfarrer seine Gemeinde zu entfremden, und jener hatte einen recht schweren Stand und würde anfangs bittere Tage verlebt haben, wäre ihm nicht eine treue liebe Gattin zur Seite gestanden, welche Trost und den Sonnenschein des Glücks in das einsame Pfarrhaus brachte. Kurz vor Uebernahme der Pfarre in Nickern hatte sich Dr. Kalthoff mit Fräulein Anna Franz aus Rügenwalde vermählt, die ihm während einer zweiundeinhalbjährigen, überaus glücklichen Ehe einen Sohn schenkte und dann zu Anfang dieses Jahres starb. So schwand dieses Familienglück gleich schnell dahin, wie jenes unseres Lessing, von welchem Heine sagte: „Dieses Glück war wie der Sonnenstrahl, der den Fittig eines vorüberfliegenden Vogels vergoldet.“

Indessen gelang es Dr. Kalthoff, sich trotz aller Machinationen seiner orthodoxen Collegen in so hohem Grade die Zuneigung seiner Gemeinde zu erwerben, daß nach der Versicherung höchst ehrenwerther Gemeindemitglieder die Kirche nie zuvor auch nur annähernd so gut besucht war, wie seit der Zeit, da er die Kanzel bestieg, und daß keinem seiner Collegen im Kreise so viel Vertrauen und Liebe entgegengebracht wird, wie dies ihm gegenüber von Seiten seiner Gemeinde geschieht. Zur Erwerbung dieses Vertrauens hat nicht zum geringsten Theil die Thatsache beigetragen, daß er nie versuchte, in der Predigt seine Ueberzeugung zu verschleiern; er gab seiner redlichen Meinung einen unverfälschten und höchst beredten Ausdruck, und von allen Seiten strömten ihm die Hörer zu. So zeigt sich stets nur um so deutlicher, wie wenig Boden die Orthodoxie im Volke hat, je rücksichtsloser und geschlossener sie auftritt.

Kurz nach dem Hinscheiden seiner Frau erhielt Dr. Kalthoff die Actenstücke des Oberkirchenrathes in der Hoßbach’schen Sache. Sofort drängte sich dem Manne mit unabweisbarer Macht der Gedanke auf: jetzt heißt es Farbe bekennen. In seinen Augen war durch jene Entscheidung des Oberkirchenraths der liberalen Theologie ein Schlag in’s Gesicht versetzt, und den vermochte er nicht zu ertragen. Es war für ihn eine einfache sittliche Nothwendigkeit, zu erklären, daß er sich in dem Bekenntniß seiner inneren wahrhaften Ueberzeugung nicht durch die vom Kirchenregiment gezogenen Schranken hindern lasse. Vor den Scheideweg gestellt, entweder das zu thun, was der Oberkirchenrath verlangte, und das Wunder, die Existenz der Hölle und des Teufels zu predigen, oder sich selber treu zu bleiben, entschied er sich unbedenklich für das Letztere, denn er konnte nicht vor seiner Gemeinde zum Lügner werden.

Kalthoff that seine Pflicht und gab die Gründe an, weshalb er dem Verlangen der kirchlichen Behörde nicht zu entsprechen vermöge. Am 12. März forderte die Kirchenbehörde ihn auf, sein Amt niederzulegen. Kalthoff verweigerte dies und fragte bei seiner Gemeinde an, ob er recht gehandelt und ob diese Weigerung ihre Zustimmung habe. Die Aufregung, welche in der Gemeinde entstand, als dieselbe erfuhr, was vorgefallen, war eine ungeheuere. Als am 27. März die Amtssuspension erfolgte, steigerte sich diese Aufregung zur Erbitterung gegen diese Maßregel. Die Gemeindevertretung gab vorerst ihrem Pfarrer eine Vertrauenserklärung, von welcher eine Abschrift an den Oberkirchenrath geschickt wurde. Dann sandten sämmtliche Hausväter der Gemeinde einen Protest gegen jene Amtssuspension ab, worin sie erklärten, daß sie von keinem anderen, ihnen aufgedrungenen Prediger Amtshandlungen entgegennehmen würden, indem sie hinzufügten: „Es scheint ja fast, als wenn ein hoher Oberkirchenrath mit seinem Verfahren gegen unseren rechtmäßigen, uns lieb gewordenen Prediger uns zur Landeskirche hinausdrängen wollte. Wir wiederholen daher schließlich nochmals so dringend wie ergebenst unsere Bitte, uns unseren Prediger, der unsere volle Liebe, Achtung und unser volles Vertrauen besitzt, nicht entreißen zu wollen und die Untersuchung gegen ihn zurückzuziehen.“

Als hierauf eine Antwort nicht erfolgte, bat die Gemeinde, es möge Kalthoff die Fortsetzung des Confirmandenunterrichts gestattet werden. Dies Gesuch wurde abgeschlagen. Jetzt schrieb der Gemeindekirchenrath an die oberste Behörde, daß, wenn man ihrem Pfarrer die Einsegnung nicht gestatte, die Familienväter der Gemeinde überhaupt von einer Einsegnung Abstand nähmen. Auf diese Eingabe ist bis heute so wenig eine Antwort erfolgt, wie auf die erste.

Da nun dem Pfarrer von Nickern die Kirche verschlossen war, so veranstaltete der Patron der Kirche, der Rittergutsbesitzer Schulz, eine öffentliche Versammlung aller Glieder der Kirchengemeinde unter freiem Himmel. Trotz des stürmischen Wetters erschien eine zahlreiche Menge, die von Nah und Fern herzugeströmt war. Dr. Kalthoff hielt in bürgerlicher Kleidung eine weihevolle, ernst religiöse Rede und schloß dieselbe mit einem Gebet. Dieser von dem Gefühl der Zusammengehörigkeit eingegebene Act bildete in den Augen des königlichen Consistoriums einen weiteren Stein des Anstoßes, und Hegel ließ an Kalthoff betreffs dieses Unterfangens eine neue Verwarnung, mit Androhung von Disciplinarstrafen ergehen. Dabei wurde Kalthoff besonders darauf hingewiesen, daß auch ein suspendirter Prediger unter Aufsicht und Disciplin des Kirchenregiments stehe und zwar auch in seinem außeramtlichen Verhalten. Die Abhaltung solcher Versammlungen müsse aber unter den obwaltenden Umständen als „strafbarer Trotz“ gegen kirchenregimentliche Anordnungen aufgefaßt werden.

Der Gemaßregelte erwiderte darauf sehr ruhig, daß er nicht in der Lage sei, der Weisung Folge zu leisten. Als Grund für die Weigerung führte er an, daß in der preußischen Staatsverfassung die Freiheit der gemeinsamen häuslichen und öffentlichen Religionsübungen so wie das Recht freier Versammlungen garantirt werde. Neben jenen verfassungsmäßig gewährleisteten Rechten glaubte Kalthoff aber auch die einfachste Christenpflicht zu erfüllen, wenn er, so oft und so viel es in seinen Kräften stünde, allen denen, welche von ihm Belehrung und Rath wollten, denselben ertheile. Daß die Kirchenbehörde Anstoß daran nehme, weil er ein Gebet mit Segenswunsch gesprochen, findet Kalthoff ganz unerklärlich, und er bemerkt darüber: „Das ursprünglichste heiligste Christenrecht, beten zu können, wann und wo das Herz dazu drängt, beten zu können auch mit denen, mit welchen mich die Gemeinschaft des Geistes verbidet, werde ich mir durch keine Kirchenbehörde verkümmern lassen. In solchem Gebet will ich auch Segen erbitten, nicht allein für meine Freunde, sondern auch für meine Feinde!“

In wie hohem Grade das tapfere, männliche Auftreten Kalthoff’s nicht nur die Sympathien seiner Gemeinde verstärkt, sondern auch die weiterer Kreise ihm zugewendet hat, zeigte sich am Osterfeste. Die Parochie Nickern zählt nur vierzehnhundert Seelen, gleichwohl brachte die kleine Gemeinde an den Festtagen durch freiwillige Sammlung ein Festgeschenk dem verehrten Prediger dar, welches so reichlich war, daß dadurch der durch die Suspension entstandene Ausfall im Einkommen desselben mehr als gedeckt ist. Ferner waren aus den Kreisstädten Züllichau und Schwiebus, in denen Dr. Kalthoff sich durch eine Reihe öffentlicher Vorträge schon früher zahlreiche Freunde erwarb, Hunderte von Hörern nach Nickern gezogen, um seine Festpredigten unter freiem Himmel zu hören und ihm ihre Achtung zu bezeugen. Wohl über dreitausend Personen hatten sich eingefunden.

Wenn diese Zeilen im Druck erscheinen, ist die Entscheidung des Consistoriums bereits gefallen, denn der Termin war auf den 9. Mai festgesetzt worden; wie sie auch ausfallen möge, so viel läßt sich schon heute mit Sicherheit annehmen, die Gemeinde Nickern hält treu zu dem ihr lieb gewordenen Prediger. Ist in der evangelischen Kirche kein Raum für Jene, welche ein freies Bekenntniß ihrer tiefinnersten Ueberzeugung ablegen wollen, duldet man unter Protestanten die protestantische Freiheit nicht mehr, so verläßt die Gemeinde mit ihrem Hirten diese Kirche, deren Behörde der Toleranz so entfremdet zu sein scheint.

Kalthoff, der in der äußern Erscheinung der echte Typus eines blondhaarigen Germanen ist, wird von allen Mitgliedern seiner Gemeinde geachtet, von den meisten geliebt und verehrt. Sein Kirchenpatron schildert ihn als einen ehrenhaften, selbstlosen, bescheidenen Mann, der von seinen Kenntnissen und seiner reichen Begabung den liebenswürdigsten Gebrauch mache. In seinem Wesen sei nicht der Schatten eines prahlerischen Zuges zu finden, alles an ihm erscheine klar, offen und ehrlich. Zur Opposition gegen das Kirchenregiment habe ihn einzig sein Gewissen getrieben, weiter nichts.

[314] Mit seinen Collegen an der St. Marcuskirche lebte Dr. Kalthoff im allerbesten Einvernehmen, und in dem Zeugniß, welches der Kirchenrath ihm bei seiner Bewerbung um die Pfarrstelle in Nickern ausstellte, heißt es: „Wir können der Gemeinde zu ihrer Wahl nur Glück wünschen und unsere Liebe und Hochachtung wird ihn (Dr. Kalthoff) auch in die Ferne begleiten.“

Wenn dieser Mann im Streite mit der Orthodoxie materiell unterliegt, so ist die Thatsache heute schon gewiß: moralisch muß er siegen. Wie die päpstliche Hierarchie, so wollte auch der evangelische Oberkirchenrath für alle Zeiten feststellen, was in der Landeskirche als wahres Christenthum, als wahre Religion zu gelten habe. Durch diese dogmatische Grenzsperre wäre jedes Forschen nach Erkenntniß für Geistliche und Laien ein- für allemal ausgeschlossen worden.

Die menschliche Erkenntniß aber geht weiter, ohne jede Rücksicht auf die Dogmen der Kirche, und dem Zurückbleiben einer an überlebten Traditionen festhaltenden Geistlichkeit haben wir nur einen argen Zwiespalt zu danken, der sich bei unserer Jugenderziehung geltend macht. Was die Schule, gestützt auf die Erfahrung, als wahr und gewiß lehrt, wird im Religionsunterricht und in der Kirche, gestützt auf die Offenbarungen, als falsch verworfen. Es ist eine durch die Geschichte gewonnene Thatsache: je höher Erkenntniß und Cultur eines Volkes steigen, desto reiner und geläuterter wird auch seine Religion. Die Confessionen oder der Glaube an geoffenbarte Lehren hat Scheidewände zwischen den Menschen aufgeführt, die wahre Religion, das heißt die human-sittliche Liebe reißt sie wieder ein.

Freilich ist von dem natürlichen Erkenntnißstreben der Irrthum nicht ausgeschlossen; aber da müssen wir eben mit Gotth. Ephraim Lessing sagen: „Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, in seiner Linken den einzigen, immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! ich fiele ihm mit Demuth in seine Linke und sagte: Vater, gieb, die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!“

R. Elcho.