Die Gartenlaube (1879)/Heft 19

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1879
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[313]

No. 19. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.


Im Schillingshof.
Von E. Marlitt.
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.


„O ja,“ antwortete Lucile, „den Fürsten Konsky sehen wir tagtäglich bei uns; das heißt bei Mama – denn der Papa lebt in Petersburg. La grand’ mère hält große Stücke auf ihn, weil er so vornehm ist und unseren Empfangsabenden Lustre giebt. Aber der Mama geht es wie mir: sie macht sich nicht viel aus ihm – er ist so alt und so geckenhaft, wissen Sie. Mich füttert er wie ein Baby mit Confitüren, und die Mama erstickt er stets am Morgen nach der Vorstellung förmlich mit Blumen –“

„Wann?!“ fragte die Baronin, als höre sie nicht recht.

„Mein Gott – nach der Vorstellung! Ach so – Sie wissen nicht? – Ist Ihnen denn mein Name nicht aufgefallen?“ rief Lucile naiv belustigt. „Oder waren Sie nie in Berlin?“

„Da bin ich gewesen.“

„Nun, dann ist es undenkbar, daß Sie Mama nicht kennen sollten. Die berühmte erste Tänzerin, Manon Fournier –“

„So?!“ schnitt die junge Frau lakonisch die lebhafte Rede ab und rollte ihre Arbeit zusammen. „Ich besuche sehr selten das Theater,“ fügte sie gedehnt und trocken hinzu – eine leichte Röthe war in ihre Wangen getreten, und ihre Augen vermieden es, die Sprechende anzusehen. Sie stand auf und ging nach dem bereits hergerichteten Theetisch, der inmitten des Zimmers unter der Ampel stand und mit seinem eleganten Geschirr in dem niederfließenden Licht blitzte und flimmerte.

„Himmel, wie lang!“ sagte Lucile’s weitgeöffneter, erstaunter Blick, mit welchem sie die lautlos dahingleitende, schmale Gestalt verfolgte. Das bequeme, staubfarbene Hauskleid schlotterte über der flachen Büste und dem stark vorgeneigten Rücken und fiel als lange Schleppe weich auf den Teppich. Aber trotz ihrer häßlich langen Arme, ihrer nachlässig müden Haltung waltete die junge Frau doch mit vornehmer Grazie am Theetisch. Sie entzündete den Spiritus unter der silbernen Maschine, musterte mit kritischem Blick die Tassen, die aufgestellt waren, und maß von peinlicher Sorgfalt die Theeportion ab. Kein Blick fiel mehr auf das junge Mädchen, das, mit der versöhnten Minka spielend, dennoch aufmerksam das Thun und Walten der jungen Frau beobachtete.

„Zu Hause ist das mein Amt,“ plauderte sie. „Alle Welt lobt meinen Thee; nur Baron Schilling hat mir immer das Leben schwer gemacht – er ist der penibelste Theetrinker, den ich kenne.“

Jetzt fuhr der gesenkte blonde Kopf wie mit einem Ruck empor – es war, als spanne sich jeder Muskel dieser scheinbar apathischen Frau in athemlosem Aufhorchen „Mein Mann ist im Hause Ihrer Mutter aus- und eingegangen?“

„O, sehr viel! Wissen Sie das nicht? Felix sagte immer, er mache als Maler seine Studien in Mamas Salon. Wir sehen sehr viele hübsche und interessante Frauen bei uns. Er hat ja auch die Mama gemalt –“

„Er hat die Tänzerin Fournier gemalt, sagen Sie?“

Dem jungen Mädchen ging plötzlich ein Licht auf. Die Frau dort sprach mit einer Stimme, als koche es in ihrer eingesunkenen Brust – und mit welcher schneidenden Mißachtung sie die „Tänzerin Fournier“ betonte! Dabei klirrte das Geschirr unter ihren lebendig gewordenen, überschlanken Händen, als solle es sammt und sonders im nächsten Augenblicke auf den Boden rollen..... Wie, diese lange, häßliche Person unterstand sich auch noch, eifersüchtig zu sein? Wie die meisten gefeierten, schönen jungen Mädchen, war Lucile erbittert gegen die Unschönen, die sich anmaßten, gleichberechtigt zu sein. Ihre großen Augen schillerten plötzlich im entschiedensten Grün – das Sprühteufelchen der Bosheit glühte darin auf. Sie erhob sich, strich lächelnd ihr Kleid glatt und trat dem Theetisch um einige Schritte näher, eine Bewegung, welche die Baronin sofort in ihre krankhaft gebeugte und doch so unnahbare Haltung zurücksinken machte.

„Ist es denn gar so verwunderlich, daß Baron Schilling eine schöne Frau gemalt hat?“ fragte Lucile zurück, und hinter den grausam lächelnden Lippen blinkten die kleinen, spitzen Perlzähnchen. „Man sagt, es sei Race in Mamas Erscheinung – sie ist weder verschwommen blond, noch lang und dürr in ihren Formen. Sie hat das reichste schwarze Haar, das sich denken läßt, und die Linien ihrer Schultern und Arme sind berühmt unter den Künstlern. Baron Schilling hat sie nicht in einer ihrer Rollen, sondern als Desdemona gemalt – es ist geradezu sinnberückend, wie der weiße Atlas von der einen Schulter gleitet, wie der Arm sich von der Harfe hebt.“

Sie hielt einen Moment inne – ihr fiel gerade ein, wie verächtlich hingeworfen die Skizzenmappe zu den Füßen der „gnädigen Frau“ gelegen hatte.

„Baron Schilling malt sehr schön,“ fügte sie hinzu, und ihre Augen strahlten triumphirend auf; denn über die graubleichen Wangen dort jagte fortwährend die Röthe inneren Aufruhrs hin. „Professor W. sagt von ihm, er habe den Dilettanten längst hinter sich – er sei ein eminentes Talent und werde sich einen großen Namen machen.“

Die Baronin hatte sich währenddem auf einen hinter ihr stehenden Stuhl gleiten lassen. Die Rechte über die Augen gelegt [314] und mit der Linken den Ellenbogen stützend, lehnte sie sich schweigend zurück.... Sie war ohne Zweifel eine eigensinnige, nervöse Natur, vielleicht als einziges Kind vom Vater, und im Hinblick auf ihren dereinstigen Reichthum auch von den Klosterschwestern verwöhnt und verhätschelt. Lucile, im Vollgefühl ihrer Schönheit und Jugendkraft, musterte feindselig den schmallippigen Mund, der nicht zu lächeln verstand, diese zusammengeschmiegte, grämliches Nachsinnen und Grübeln verrathende Stellung, das fast fleischentblößte Gelenk des langen Armes, das so spitz und wachsbleich aus dem unaufhörlich zitternden Spitzenvolant des Aermels ragte. Was hatte diese völlig Reizlose in der Welt zu suchen? Sie hätte getrost im Kloster bleiben und Nonne werden sollen.

Das eingetretene Schweigen war ein erdrückendes. Man hörte das Summen und Singen der Theemaschine und gedämpft den jetzt draußen niederrauschenden Gewitterregen. Lucile nahm ihren Platz nicht wieder ein; sie schob die Vorhänge des ihr zunächstliegenden Fensters aus einander, um in die Mauernische zu treten; sie sah nicht, wie ihr die grauen Augen durch die vorgehaltenen Finger in kaum zu bemeisternder Erbitterung nachstarrten, wie der Fuß der schweigenden Frau ungeduldig den Teppich trat – ein Gefühl von Groll und Aerger gegen Felix quoll in ihr auf, weil er sie mit dieser Fremden, dieser bis an den Hals zugeknöpften, unausstehlichen Herrin vom Schillingshof so lange allein ließ.

In dem Moment, wo sie die Vorhänge aus einander schlug, fuhr ein blendender Blitz nieder. Sein rosenfarbenes Licht irrte secundenlang über das Parterre draußen; es erfüllte in zitternder Bewegung auch das Zimmer und verschlang den weißen Schein der Lampen, dann folgte ein krachender Donnerschlag, und nun stürzten die Wassermassen nach, als wollten sie die mächtigen Spiegelscheiben des Hauses eindrücken und die Säulenhalle draußen wegschwemmen.

Die Baronin war entsetzt emporgefahren – sie bebte sichtlich und griff, förmlich Sturm läutend, nach der Tischglocke.

Ein Bedienter trat ein.

„Ich lasse die Herren dringend bitten, sofort herüber zu kommen – der Thee ist fertig,“ sagte sie trotz ihres Schreckens im ruhigen Tone des Befehles.



8.

Bald darauf hörte man draußen Männerschritte langsam durch die Gallerie kommen. Minka, die sich bei dem Donnerrollen halb und halb in die Kleiderfalten ihrer Herrin verkrochen hatte, schlüpfte schleunigst und Grimassen schneidend in ihre dunkle Fensterecke; auf dem Theetisch klirrte der silberne Kessel in den Händen der jungen Frau, und Lucile trat vom Fenster zurück und ließ die Gardinen wieder zusammenfallen, hinter denen das Unwetter draußen weiter tobte – sie fürchtete sich nicht. So abergläubisch und furchtsam sie war in Bezug auf unheimliches, nächtliches Spuken und Treiben zwischen Himmel und Erde, so wenig zitterte sie vor dem Walten der Naturkräfte. Je toller es zuging, desto „amüsanter“ war es; sie fühlte sich als unbetheiligte Zuschauerin, denn an sie konnten doch unmöglich Tod und Vernichtung herantreten.

Sie war vor der niederhängenden Gardine stehen geblieben; vorteilhafter konnte sich das feingliedrige Elfenkind mit den herabrollenden Locken voll goldbraunen Glanzes nicht präsentiren, als auf diesem grün und metallisch schimmernden, malerischen Faltenwurf, den das Spitzenmuster gleichsam weiß überschneite.

Der alte Freiherr Krafft von Schilling trat in die durch den Bedienten weit zurückgeschlagene Thür. Er stützte sich, wie es schien, mit seiner ganzen Schwere auf Felix Lucian’s Arm; denn ein Schlaganfall hatte ihm das rechte Bein gelähmt. Trotzdem war er eine gewaltige Erscheinung mit seiner breiten Brust und dem frisch gerötheten Gesicht voll Humor und Lebenslust.

„Sapperment! Die kleine Ausreißerin dort wär’ auch nach meinem Geschmack, Felix!“ rief er, überrascht auf der Schwelle stehen bleibend – er strich sich schmunzelnd den starken, graumelirten Lippenbart. „Ein ganz charmantes Kind – eine berückende kleine Hexe!“

Die derbe Schmeichelei, ja, schon der Klang dieser ungenirt lauten, kräftigen Männerstimme brachten das erbitterte junge Mädchen sogleich wieder in das gewohnte Fahrwasser. Wie eine hingewirbelte Schneeflocke huschte sie über den Teppich und knixte schelmisch à la Goßmann vor dem alten Herrn.

Sein Blick hing wie verzaubert an ihr. „Schau, solch ein seltenes Zugvögelchen hat der Schillingshof seit Menschengedenken nicht gesehen! Das erquickt einem alten, einsamen Patron wie mir Herz und Augen! Na, es ist in’s rechte Nest geflogen – wollen schon weiter helfen – nur Courage!“

Er lenkte seine Schritte nach dem Theetisch. „Nun sage mir aber, Clementine, weshalb Du uns ganz außer Athem da herüber jagst – brennt’s? Oder hast Du gar Angst vor dem Gewitter? Das thut Dir nichts – wir haben einen Blitzableiter auf dem Dache.“ Das Alles sagte er scherzend, in seiner drastisch jovialen Manier, aber in Blick und Haltung lag auch eine entschiedene Auflehnung gegen das Commando der Frau Schwiegertochter.

Die Baronin goß Thee in eine Tasse und hob dabei flüchtig die Augen nach der alterthümlichen Standuhr. „Es ist unsere Theestunde – nicht um eine Minute früher,“ sagte sie mit ihrer stillen Miene.

Er zog die dicken, graubereiften Brauen finster zusammen. „Ganz schön, mein Kind,“ versetzte er mit hörbarem Aerger. „Als alter Soldat bin ich auch ein Freund der Pünktlichkeit, aber ich hab’ mich nie nach dem Hausbrauch drillen lassen – auch von meiner guten Frau nicht – und der dort“ – er deutete nach dem Uhrzeiger – „darf mich nicht tyrannisiren, am allerwenigsten aber, wenn ich mitten in einer Besprechung bin, wie vorhin – verstanden, junges Frauchen?“

Langsam ließ er seine schwere Gestalt in einen hochlehnigen Armstuhl am Theetisch sinken und winkte Lucile auf einen Schemel an seine Seite. Bei diesem Anblicke griff die Baronin, die Lider senkend, nach der Tischglocke und befahl dem eintretenden Bedienten, noch zwei Couverts aufzulegen – auffallender konnte es nicht an den Tag gelegt werden, daß die Hausfrau bis zu diesem Augenblicke nicht auf Gäste gerechnet hatte.

Baron Schilling saß neben ihr, seinem Vater schräg gegenüber. Vater und Sohn sahen sich sehr ähnlich – sie waren wie alle Schillings nicht durch besondere Schönheit ausgezeichnet. Oben im Mittelsaale über dem Portale des Säulenhauses hingen Bilder aus der Zeit, da das alte Geschlecht noch auf seiner Ritterburg gehaust hatte. Schon damals waren die zu volle, kirschrothe Unterlippe, die kantige Stirn und die starke, charakteristisch deutsche Nase die Familiensignatur gewesen – es waren kraft- und lebensvolle Trotzköpfe auf wahren Reckengestalten, die dazu geboren schienen, in schwerer Rüstung zu kämpfen. Auch die zwei Letzten gehörten in jeder Linie zu ihnen, nur war das ursprünglich starre, gelbe, dem reifenden Weizenfelde gleichende Haar beim alten Freiherrn zum dunklen, jetzt graugesprenkelten Blond geworden, während der Sohn mit seinem krausen, schwarzbraunen Kopf- und Barthaar nahezu für einen Südländer gelten konnte. Das große, feurigblaue Auge aber, das oben auf den Bildern durch einen stolzen, sicheren Falkenblick imponirte, hatten Beide gemein; beim alten Herrn strahlte es schalkhaft, sinnlich glühend, voll Leichtlebigkeit in die Welt hinein – der Sohn hielt es meist gesenkt, als schaue es nach innen.

Seine junge Frau reichte ihm eine Tasse Thee hin, und mit einem prüfenden Aufblicke nach ihrem Gesichte hielt er die spendende, schlanke Hand einen Augenblick fest. „Dir spielt das Gewitter mit, Clementine – Du leidest?“ fragte er freundlich theilnehmend.

Sie zog ihre Hand zurück und stellte die Tasse auf den Tisch vor ihm nieder, während sie den Kopf mit dem Ausdruck des Widerwillens seitwärts bog. „Ich habe Schwindel – Du bringst wieder einmal den unleidlichen Farben- und Oelgeruch aus Deinem sogenannten Atelier mit,“ sagte sie erregt.

Der alte Freiherr wurde dunkelroth im Gesicht. „Hm – läßt sich vielleicht dieses geringschätzende ‚sogenannte’ in ‚lächerliche Dilettantenanmaßung’ übersetzen, Clementine?“ fragte er scharf, und sich mit beiden Händen auf die Armlehnen stützend, richtete er den Oberkörper gespannt und herausfordernd in die Höhe.

„Du hast Clementine mißverstanden, Papa; sie will damit nur das allerdings nothdürftige Arbeitslocal bezeichnen, das mir vorläufig die Dachstube mit dem rasch improvisirten Oberlicht sein muß,“ sagte sein Sohn mit Nachdruck, und sein weit aufgeschlagenes Auge fixirte stolz das Gesicht der jungen Frau.

[315] Sie hielt den Blick mit einem schattenhaft um den Mund irrenden, spöttischen Lächeln aus und schüttelte den Kopf, als sei sie entschieden nicht gewillt, den eigentlichen Sinn ihrer Worte auch nur um ein Jota verdrehen zu lassen. Es war überraschend zu sehen, wie ein starrer Eigenwille jeden Muskel dieser scheinbar schlaffen, energielosen Nonnengestalt urplötzlich spannte und belebte.

„Da hast Du’s, Arnold!“ lachte der Freiherr grimmig auf. „Nun kannst Du Dich abermals aufsetzen und noch dazu gegen Frauenvorurtheil – o je!“ – Er fuhr sich mit komischer Verzweiflung in das dicke, volle Grauhaar hinter dem Ohr. „Hab’s übrigens nicht besser gemacht. – Schau’, Clementine, ich bin blind – deutsch herausgesagt – ein Einfaltspinsel gewesen, weil ich Arnold’s Begabung nicht verstanden habe. Na, gar so verwunderlich ist’s im Grunde nicht, denn wir Schillings haben eigentlich immer zu den schönen Künsten gepaßt wie der Esel zum Lautenschlagen.... Gerade aus dem Grunde habe ich aus Leibeskräften gegen die ‚Klexerei’ protestirt, und da hat’s der arme Kerl hinter meinem Rücken thun müssen. Nun schreiben sie mir von Berlin aus, mein Sohn werde eine große Carrière machen, und ich muß mich schämen vor den Leuten, schämen wie ein begossener Pudel. Hätte ich nur die blasse Ahnung davon gehabt, was in meinem Jungen steckt, da – na, da wär’ Vieles anders gekommen.“

Ein dunkler Seitenblick aus den grauen Augen traf ihn.

„Ach so, Du meinst, Papa, der Malerpinsel hätte die letzten Schillings reichlich ernähren können?“

„Clementine!“ unterbrach sie der junge Mann rasch, mit tiefverfinstertem Gesicht.

„Ich bitte Dich, brause doch nicht auf, Arnold!“ klagte sie und fuhr mit der Hand leicht nach dem Ohr, als berühre sie der Klang dieser schönen, tönenden Männerstimme peinvoll. Sie war offenbar nervenleidend und augenblicklich in sehr gesteigerter Aufregung, aber sie schwieg nicht. „Sage doch selbst, ob Du von dem Honorar leben könntest, das die Leute aus der – der Demimonde zu zahlen vermögen? Zum Exempel, was hat Dir die ‚Desdemona im weißen Atlaskleide’ eingetragen?“ Unter der nervös zuckenden Oberlippe glänzten perlweiße, aber lange Zähne.

Jenes charakteristische Lächeln, das schon in der Flurhalle um den Mund des jungen Mannes gespielt hatte, erschien flüchtig wieder. Er sah ausdrucksvoll ironisch nach Lucile hin, der es sichtlich in allen Fibern prickelte, der „langen grauen Person“ für die „Demimonde“ eine allerliebste Sottise in’s Gesicht zu sagen.

„Das Bild hat mir nach vielen gescheiterten Versuchen das Glücksgefühl eingetragen, die rührende Gestalt der unglücklichen Dogentochter doch annähernd so veranschaulicht zu haben, wie sie in meiner Phantasie lebt,“ sagte er mit heiterer Ruhe. „Madame Fournier hat ein herrliches Profil, und ihre Aufopferung, ihre Geduld, sich während der Sitzungen zu langweilen –“

„Zu langweilen?!“ wiederholte die Baronin unter einem leisen, hysterischen Auflachen. „Es ist schlimm, Arnold, ja, es führt zu Täuschung und Betrug in der Ehe, wenn vor der Verheirathung Eines vom Andern so wenig erfährt, wie zum Beispiel wir Beide,“ setzte sie gleich darauf hinzu – ihre schwache Stimme erstickte fast in Bitterkeit.

Der Freiherr war eben im Begriff, ein Ei aufzuklopfen – wie auf einen Ruck hielt er inne; mit seinem mächtigen Kopf, in welchem die Augen unter den tiefgefalteten Brauen grimmig funkelten, sah er aus wie ein zornig knurrender Löwe. Er hatte offenbar eine sehr derbe Antwort auf den Lippen, aber er bezwang sich.

„Zum Kukuk auch, da höre ich ja etwas ganz Neues!“ sagte er anscheinend humoristisch. „Also Arnold weiß nicht genug von Deiner Vergangenheit? Wozu denn aber auch, kleine Frau? Die Verheirathung ist ja doch kein Eintritt in ein Geschäft oder dergleichen, bei welchem man einen schriftlichen Lebenslauf abzugeben hat! Du bist zwar bis zu Deinem neunzehnten Jahre im Kloster erzogen worden, aber wir setzen trotzdem anständiger Weise voraus, daß da Alles mit rechten Dingen zugegangen ist – oder nicht, Clementine? Wie?!“

Die Baronin war bis dahin, selbst bei ihren schneidend und maliciös accentuirten Bemerkungen, ihren Obliegenheiten als Herrin am Theetisch pünktlich nachgekommen – jetzt zog sie ihr Taschentuch hervor und drückte es mit zitternder Hand wiederholt an Mund und Stirn, als alterire sie die anzügliche, derbe Ausdrucksweise ihres Schwiegervaters bis zur Ohnmacht, oder auch, als befürchte sie Blutspucken.

Baron Schilling sah seinen Vater vorwurfsvoll bittend an und zog die Hand seiner Frau liebreich an sich.

„Du darfst meiner Vergangenheit ebenso ruhig vertrauen, wie der Zukunft, die Du an meiner Seite verleben wirst,“ sagte er mild und freundlich, wie ein treuer, zartfühlender Bruder, der über die weiblichen Schwächen einer Schwester nachsichtsvoll hinwegsieht. „Du wirst Dich auch allmählich in die Ueberzeugung einleben, daß mich mein Streben mit allen Schichten der menschlichen Gesellschaft in Berührung bringen muß. Darf irgendwo der Satz, ‚der Zweck heiligt das Mittel’ Anwendung finden, so ist es in der verklärenden Kunst. Ihre Motive sucht sie im Boudoir, wie in der Dachstube, und wenn mich ein Charakterkopf interessirt, so gehe ich ihm nach, und sollte es bis in die Höhle des Verbrechens sein. Diese Duldung muß jede Künstlerfrau üben, und auch Du wirst sie lernen.“

„Nein, Arnold. Derartige sanguinische Hoffnungen lasse Dir nur gleich vergehen!“ erklärte sie mit einer Ruhe, die nach der eben an den Tag gelegten beängstigenden Nervosität förmlich frappirte. „Ich bin streng wahrhaftig erzogen und verstehe nicht zu lügen. Zu den Madonnenbildern bete ich, und in der Messe harre ich aus bis zum letzten Ton – als gute Katholikin muß ich das – sonst aber ist mir alles, was Malerei, Musik und dergleichen heißt, in tiefster Seele zuwider.“

Sie sprach mit gesenkten Augen völlig leidenschaftslos und eintönig und zupfte dabei mechanisch an der Spitzenecke ihres Taschentuches. Aber ihre Brust dehnte sich wie befreit unter den verletzenden Worten ihres Bekenntnisses, das einer kaltblütigen Rache für die Malersünden des jungen Ehegemahls sehr ähnlich sah.

„Du siehst, ich habe auch den Muth der Wahrhaftigkeit, Arnold,“ fuhr sie in demselben Tone fort und hob die Lider. „Ich mache es nicht wie viele meines Geschlechts, die nicht einen Schritt weit gehen würden, um einen Raphael zu sehen, oder Beethoven’sche Musik zu hören, wenn sie nicht das Anathema der Kunstnarren fürchteten – sie heucheln, ich aber bekenne offen, daß Gemälde für meine angegriffenen Augen Farbenklexe sind, und Zeichnungen mich langweilen, daß die Musik an meinen Nerven schmerzhaft reißt, daß ich eine ausgesprochene Idiosynkrasie hege gegen alles, was sich Künstler nennt – und deshalb darf es Dich nicht wundern, bester Arnold, wenn ich wohl die Gemahlin des Baron Schilling, auf keinen Fall aber eine Malerfrau sein will und die gewünschte Duldung niemals üben werde.“

„Das wird sich finden,“ sagte Baron Schilling kurz; er war bleich geworden, und seine Stirn furchte sich, aber seine ruhige stolze Haltung bewies unwiderleglich, wer schließlich „der Herr“ sein würde.

Die junge Frau blickte vor sich nieder – diesmal augenscheinlich betroffen; der rauh gebieterische Ton schien ihr erschreckend neu zu sein; sie hatte vielleicht von ihrer „Wahrhaftigkeit“ einen anderen Effect erwartet.

Während dieser Wechselreden hatte Felix Lucian schweigend zwischen Baron Schilling und Lucile gesessen. Neben der eigenen Angst und Sorge quoll tiefe Wehmuth in seiner Seele auf – was war aus dem trauten Schillingshofe geworden! Ein vornehmer Adelsitz, auf’s Neue angestrahlt vom zurückgewonnenen alten Nimbus. Aber früher war es bei leerer Casse, in spärlicher Beleuchtung, doch hell und lustig im Säulenhause gewesen – Groll- und Schmollwinkel hatte es damals nicht gegeben, und das Nachtgethier böser Launen hatte sich nie breit machen dürfen – während jetzt, bei aller Lichtfluth, Hochmuth, Bigotterie und versteckte Bosheiten wie Eulen und Fledermäuse aus den Ecken schwirrten. Und der neue Hausgeist, in Gestalt der halbgeknickten, nervösen Frau dort, rang um die absolute Herrschaft; er legte die langen todesblassen Hände beschlagnehmend auf Menschenseelen, Schiff und Geschirr, und auf der eigensinnigen Stirn stand ihm lesbar geschrieben: „Es ist Alles mein!“... Auch hier der despotische Frauenwille, der ihn selbst eben heimathlos gemacht!

Wer sah es dem kalten Gesicht mit den beharrlich und nonnenhaft gesenkten Lidern an, daß diese Frau den jungen Gatten geradezu errungen hatte? Vor Jahresfrist war der Freiherr mit seinem Sohn in Coblenz bei dem schwererkrankten Vetter gewesen. Nach der Zurückkunft hatte er Felix lachend in’s Ohr geflüstert, [316] daß man ihm insgeheim hinterbracht, die reiche Erbin sei „bis über die Ohren verliebt in seinen Jungen“ – um seinetwillen würde sie ihr Vorhaben, nach Ableben ihres Vaters für immer in das Kloster zurückzukehren, freudig aufgeben. Dann war Baron Steinbrück seinem Leiden erlegen; die Tochter hatte dem Freiherrn den Todesfall angezeigt und seitdem eifrig mit ihm correspondirt. Sie mußte gut zu schreiben verstanden haben, denn seit der Zeit war es ein glühender Wunsch des alten Herrn gewesen, seinen Sohn mit ihr zu vereinigen und damit zugleich sein altes Geschlecht in den Besitz der verpfändeten Güter wieder einzusetzen. Der Schlaganfall, der ihn selbst an den Rand des Grabes gebracht, war sein Helfershelfer bei der Verwirklichung des Planes geworden. Arnold, der mit inniger Zärtlichkeit an dem Vater hing, hatte am Krankenbett scheinbar ohne jedweden inneren Kampf in Alles gewilligt, um den alten schwerleidenden Mann beruhigt zu sehen.

Und wie fand er sich nun in sein Geschick, das ihn so jung mit der kaum gesehenen „langen Coblenzer Cousine“ für immer zusammengekettet hatte? Liebte er sie? – Felix fühlte ein Grauen durch seine Nerven schleichen bei dem Gedanken, daß der Freund mit den Idealgestalten hinter der Stirn in seltsamer Geschmacksverirrung das Skelet dort voll Manneszärtlichkeit an sein Herz schließen könnte – unmöglich! Und doch verrieth nicht ein Zug seines interessanten Gesichts, daß er sich unglücklich fühle. Er hatte einen eisernen Willen; schon als Knabe war es ihm nie in den Sinn gekommen, irgend Jemand, auch seinen Vater nicht, für seine Entschlüsse mit verantwortlich zu machen – das mochte ihm auch jetzt seine unzerstörbare heitere Seelenruhe geben.

Anders schien es um den alten Freiherrn zu stehen. Er befand sich offenbar in steter Kriegsbereitschaft der Schwiegertochter gegenüber, die den lustigen, alten Haudegen in ihren Briefen gründlich zu düpiren gewußt hatte. In seinen Zügen malte sich augenblicklich ein Gemisch von Ingrimm, tiefer Reue und Jammer um den Sohn, aber er schwieg; mit schwerem Geschütz durfte er nicht kommen, wenn er nicht die bösesten Nervenzufälle am Theetisch heraufbeschwören wollte, und das Plänkeln hatte er satt. Er schob, nachdem er hastig einige Bissen genossen, Tasse und Eierbecher fort, zog ein kleines Paket, das er beim Fortgehen in seinem Zimmer eiligst zu sich gesteckt hatte, aus der Tasche und legte es auf den Tisch. Sein Gesicht hellte sich auf; er schien sichtlich froh, auf ein anderes Thema zu kommen.

„Schau, in dem Papier da liegt die Erledigung Deiner Angelegenheit,“ sagte er zu Felix, indem er seine Brille aus dem Futteral nahm und sorgfältig an ihren Gläsern wischte. Dann setzte er sie auf und schlug das Papier aus einander – ein in Seidenpapier gewickelter flacher Gegenstand und ein viele Bogen starker, in engen Linien geschriebener Brief lagen darin. – „Also Alles, was Du mir drüben anvertraut hast, kurz zusammengefaßt, hat Dich Deine Mutter verstoßen, will Dich selbst nach dem Tode nicht wiedersehen – dummer Schnickschnack! – und Dein Hundsfott von Onkel hat natürlich mit tausend Freuden seinen Segen dazu gegeben – Punktum!“ hob er an. „Du bist vogelfrei erklärt, die Majorin Lucian hat keinen Theil mehr an Dir, und damit – ist auch mir der Riegel vom Munde genommen.“

Er stützte die Hände auf den Tisch, und sich weit vorbeugend, sah er über die Brillengläser hinweg mit seinen großen, feurigen Augen durchdringend in das Gesicht des jungen Mannes.

„Hab’ ich je mit Dir von Deinem Vater gesprochen?“

Felix schüttelte den Kopf; er war todtenbleich geworden – jähes Erschrecken und athemlose Erwartung machten ihn sprachlos.

„Gut, mein Sohn, also nicht!“ sagte der alte Herr, indem er sich in den Armstuhl zurücksinken ließ. „Durfte auch nicht, obgleich mir’s manchmal in den Fingern gejuckt hat, Dich einzupacken und heimlich über’s Meer zu schicken, wo Du von Gott und Rechtswegen hingehörtest; denn die auf dem Klostergute haben Dich gestohlen, gestohlen, sage ich – der Sohn gehört zum Vater – damit basta!“

Er schlug mit den Knöcheln so hart auf den Tisch, daß die Platte dröhnte – seine Schwiegertochter las alterirt, mit bebenden Fingern verschiedene Pfeffer- und Salzlöffelchen zusammen, die klirrend umherflogen.

„Aber ich hatte Deiner Mutter mit Handschlag versprechen müssen, daß in meinem Hause vor Deinen Ohren nie von Deinem Vater gesprochen werden sollte,“ fuhr der Freiherr fort. „Was wollte ich denn machen? Ich mußte wohl, sonst hätte ich Dich nie vor die Augen gekriegt, und ohne mich wärst Du da drüben in dem Unkenloche vertrauert und versauert, und sie hätten sich aus dem jungen Lucian’schen Blute schließlich doch noch einen Wolfram’schen Mistfinken zurechtgeknetet. Deinem Vater aber hätte ich nie nähere Mittheilungen über Dich machen können –“ er verstummte in sichtlicher Bewegung; er hatte wohl selbst den furchtbaren inneren Aufruhr nicht vorhergesehen, den der Vatername in des jungen Mannes Seele weckte.

Felix war aufgesprungen, und auf den Sprechenden zustürzend, umklammerte er dessen Rechte und zog sie stürmisch gegen seine Brust. „Sie wissen von meinem Vater? Lebt er? Denkt er an mich?“ stammelte er in halberstickten Tönen.

„Ruhig Blut, mein Junge!“ ermahnte der alte Herr, aber seine Augen wurden feucht vor Rührung. „Thut mir leid, daß er Dich nicht so sehen kann – das Herz im Leibe müßte ihm lachen – er hat seinen Jungen ebenso lieb, wie ich den meinen.“ – Ein verstohlener, trüber Blick streifte den Sohn, wobei ein Seufzer seine Brust hob.

„In der schönen Jugendzeit waren wir treue Cameraden und sind es bis auf den heutigen Tag verblieben,“ setzte er nach einem augenblicklichen Verstummen hinzu. „Lucian war ein ebenso flotter Kerl, ein so lustiges Haus wie ich, und im Schillingshofe besser daheim, als bei seinen Verwandten – wär’ freilich besser für den armen Teufel gewesen, er hätte das Säulenhaus nie gesehen, und den Eiszapfen, die schöne Therese Wolfram, dazu.... Als er Deutschland verließ, da war er noch eine Nacht verstohlener Weise hier bei mir im Schillingshofe. Er war wie toll vor Sehnsucht nach Dir und hatte die verrücktesten Pläne in seinem Kopfe ausgeheckt – entführen wollte er Dich, und Gott weiß was Alles thun, um mit Gewalt zu seinem Rechte zu kommen, aber er mußte einsehen, daß dem alten, verwünschten Klosterneste und dem Rechtsverdreher darin auf keine Weise beizukommen war. Und da ist er gegangen – über dem Meere drüben hat er sich eine neue Heimath gesucht und auch gefunden. Er hat sich wieder verheirathet mit einer sehr vornehmen Spanierin und ist glücklich mit ihr gewesen.... So lange sie lebte, waren seine Briefe ruhig – er hat die Frau lieb gehabt und schien mit seinem Schicksale ausgesöhnt, nun ist sie aber gestorben, und da muß ihn wohl die Sehnsucht nach seinem Jungen wieder gepackt haben –“

Er hielt inne und schüttelte lächelnd den Kopf, indem er die Hand auf das Schreiben legte. „Närrischer Zufall! Just gestern kam der Brief da in meine Hände.... Lucian kränkelt auch, wie ich armer Lazarus, und kann deshalb nicht reisen. Er bittet mich dringend, nunmehr mit Dir über ihn und seine Lebensverhältnisse zu reden – na, was braucht’s da der vielen Worte und Saalbadereien – Du packst eben auf und gehst zu Deinem Vater – jetzt ist Amerika Deine Heimath.“

(Fortsetzung folgt.)




Land und Leute.
Nr. 41. In der Wasserpolakei.


„Niech będzie pochwalony Jesus Christus!“ („Gelobt sei Jesus Christus!“) – so begrüßte uns der Kutscher, der am Bahnhofe unser harrte, so begrüßten uns die Landleute, die schwer beladen zum Markte zogen. „Na wieki, Amen!” („In Ewigkeit, Amen!“) erwiderten wir, schwangen uns auf das mit zwei der kleinen, aber ausdauernden Pferde bespannte Gefährt und rasselten die schnurgerade Chaussee entlang dem Städtchen Polnisch-Wartenberg zu, dessen weißglänzende Thürme, dessen rothe Dächer recht einladend im Sonnenglanze eines letzten Septembertages herüber winkten.

Jahrmarkt war’s und ein Leben und Treiben in dem Städtchen, von dem man sich nur eine schwache Vorstellung

[317]

Bilder aus der Gegend von Polnisch-Wartenberg.
Nach der Natur gezeichnet von R. Cronau.

[318] machen kann. War doch selbst die Luft in den Straßen eine andere, als draußen vor den Thoren – leicht erklärlich, wenn man die Menge betrunkener Bauern ganze Heerden Rind- und Schwarzviehes vorbeitreiben sah. Ein polnischer Markt – unbeschreiblich in seiner Eigenart, anziehend für uns, die wir von Westen kamen. Slavische Elemente allüberall – die ehrlichen deutschen Gesichtszüge sind verdrängt von verschmitzten, dummdreisten oder unterwürfigen Physiognomien der slavischen Race, deren charakteristische Eigenart, die breiten Kinnladen und Backenknochen, die schmalen, zusammengekniffenen, fast geschlitzten Augen, der spärliche Bartwuchs und das lange strähnige Haar, sich fast bei jeder dieser uns umgebenden, manchmal höchst fragwürdigen Gestalten wiederfinden. Wie die luftige, freie Bewegung zulassende deutsche Jacke einem bis an die Knöchel reichenden dunklen Rocke oder dem bekannten Schafpelz gewichen ist, und der Hut einer breitdeckligen Tuchkappe und schwarzen Schaffellmütze den Vorrang abgetreten hat, so ist auch die Sprache eine für uns fremde geworden. Wir befinden uns auf der deutsch-polnischen Sprachgrenze, einem Landstrich, wo zwei geschiedene Sprachen einander berühren, und wie immer in solchen Grenzdistricten, hat das Volk beide zu einem Mischmasch verarbeitet, der dem Nationalpolen wie dem Deutschen unverständlich und unter dem Namen „Wasserpolnisch“ weithin berüchtigt worden ist.

Slavisch ist der größere Theil dieses Jargons, slavisch auch der Kern der Bevölkerung. Von uralt deutschen Stämmen, die früher hier zogen, zeugt nichts mehr, als selten dem Boden enthobene Urnenscherben. Erst nach der Mongolenüberfluthung kamen auf’s Neue durch die schlesischen Herzöge deutsche Elemente in’s Land, um den arg verwüsteten Boden einigermaßen wieder zu bevölkern; diese Herzöge führten deutsches Recht und deutsche Sitte ein, neigten sich mit der Zeit immer mehr deutschem Einflusse zu und heiratheten sogar meist deutsche Fürstentöchter.

Auf die östlichsten Striche Schlesiens beschränkt, stehen heute die einstigen Beherrscher des Landes in einem nahezu abhängigen Verhältnisse zu den Deutschen. Haben sie als Dienstleute nicht ihr Brod auf deutschen Gütern gefunden, so ziehen sie als Tagelöhner und Knechte von Ort zu Ort oder fristen mit Hausirhandel und Schmuggel ein kümmerliches Leben. Der Deutsche vermag wegen ihres unruhigen, vagirenden Charakters nur einen sehr geringen Einfluß auf ihre geistige Bildung zu üben, und dadurch sehen wir eben das slavische Element noch so fest in ihnen gewurzelt, sie selbst der Cultur noch so wenig gewonnen.

Armuth, bittere Armuth spricht aus den Zügen dieser Menschen, aber diese Armuth ist eine selbstverschuldete. Nirgends wohl sind die Wirthshäuser mehr gefüllt, als in Polnisch-Schlesien; Männer und Weiber trinken um die Wette; in unglaublichen Quantitäten wird hier der Branntwein vertilgt, und besonders abstoßend ist das Bild an Sonn- und Feiertagen, wo nach angehörter Messe die Gläubigen schwer betrunken nach Hause taumeln, in der einen Hand das Gebetbuch, in der andern die Flasche. Außer dieser maßlosen Trunksucht ist es Faulheit in der Bewirthschaftung und ein gewisser fatalistischer Stumpfsinn, was den polnischen Bauer zu Grunde richtet. Bildung und Aufklärung werden halsstarrig zurückgewiesen, desto tiefer aber beugt er sich der unheimlichen Macht des Aberglaubens.

Im Gewühl des Jahrmarktes erblicken wir noch andere charakteristische Gestalten. Wer kennte sie nicht, diese bleichen, scharfgezeichneten, fast typischen Gesichter, in denen sich seltsam ascetische Schwärmerei und listige Habgier malt! Wer kennte sie nicht, diese schmutzstarrenden, schwarzgelockten Juden, die, von Ostschlesien, Posen und Polen aus auch Deutschlands Städte und Dörfer jahraus, jahrein überfluthen und theils als Hausirer, theils als Schnorrer von der Milde ihrer Stammesgenossen leben.

Sind die Juden in den deutschen cultivirten Districten fast in der Bevölkerung aufgegangen und nehmen sie an allen Berufszweigen Antheil, so bilden sie an der polnischen Grenze, wie überhaupt im Osten Europas, einen eigenen charakteristisch abgeschlossenen Volkstheil, eine besondere Nationalität, die sich, wenn wir von den deutschen Städten absehen, fast vorzugsweise den Pferde-, Klein- und Trödelhandel, sowie die Schankwirthschaft angeeignet hat. Daneben spielen die Juden in Polnisch-Schlesien eine Rolle als Vermittler zwischen Deutschen und Polen, zwischen Herren und Landvolk. Handel mit Geld und Papieren ist ihnen hier wie allerorten eigen. –

Es ist Sonntag. Folgen wir dem Strome der Bauern zur Kirche! Mächtige Bäume überschatten den Kirchplatz, auf dem in dichtgedrängter Masse die Andächtigen die Stunde erwarten, die ihnen die Thür zum Allerheiligsten öffnet. Außer einer prächtigen, durch einen steifen Zopfaltar verdeckten Grabinschrift eines Edlen aus längst verschollenem Geschlecht bietet die Wartenberger Kirche katholischer Confession, ein schmuckloser Bau aus spätgothischer Zeit, nichts Bemerkenswerthes dar; wie überall in katholischen Landen, so hangen auch hier die alten verblaßten, rothen und grünen Kirchenfahnen, kräuseln sich die blauen Weihrauchwölkchen um die goldbekleideten Heiligengestalten am Hochaltar. Neu ist uns nur die devote Ehrfurcht einer Anzahl Bauernweiber, die halbe Stunden lang in starrer Unbeweglichkeit in ihrer ganzen Länge auf dem Boden des Mittelganges liegen und inbrünstig den Staub von den Steinplatten küssen. Das kirchliche Hauptfest für diese Gegend bildet die weithin berühmte Procession nach dem Marcusberge (eine halbe Stunde von Wartenberg), die immer den Sonntag nach dem 25. April von statten geht. Groß und Klein strömt hinaus zum altersgrauen Kirchlein; aller Orten sind Buden aufgestellt, in denen zur geistigen Nahrung Rosenkränze, Heiligenbilder und Reliquien, für den Leib aber Würstel, Bier und Schnaps feilgeboten werden.

Haben wir uns noch das im Laufe der fünfziger Jahre erbaute Schloß des Prinzen Biron von Kurland angesehen, dabei vielleicht einen Blick in den hübschen umfangreichen Park geworfen, in welchem an sonnigen Nachmittagen die Honoratioren des Städtchens sich ergehen, so können wir dem Städtchen den Rücken wenden mit dem Bewußtsein, seine charakteristischen Eigenthümlichkeiten gesehen zu haben. Wir machen uns nun daran, die Umgegend kennen zu lernen.

Weithin dehnt sich vor unseren Backen eine nur von niedrigen, breitrückigen Hügelketten durchzogene Ebene, die der Herbst schon in seine bunten Farben gekleidet. Ringsum verstreuen die gelben Kerzen der Lupine ihren lieblichen Duft; Maisstauden in doppelter Manneshöhe und Mohnblumen verdecken die ärmlichen Lehmwände der einzelnen Hütten, über welche Ahorn und Kastanienbäume ihre goldgelben Blätter breite. Noch nie war mir der Herbst so köstlich erschienen; noch nie glaubte ich ihn gesehen zu haben mit solch herrlichen Farben geschmückt. Saftigbraune und sammtgrüne Mooslagen wuchern in üppiger Fülle auf den alten eingesunkenen Strohdächern; rothgoldige Kürbisse erglänzen am Boden, und die vormals weißen Wände empor rankt das wilde Weinlaub in blutrother Pracht – so will die allgütige Mutter Natur selbst das Elend dieser Hütten verschönern.

Der Boden beginnt nach einer Weile zu steigen; in der Ferne werden die Hütten, die eine Zeitlang unsern Weg nicht mehr begleitet, wieder zahlreicher; wir nähern uns einem größern Dorfe, Groß-Kosel. Daß es fast durchweg von polnischen Bauern bewohnt ist, erkennt man auf den ersten Blick: niedrige strohgedeckte Häuser, nur aus einem Erdgeschoß bestehend und von einem kleinen schlechtgepflegten Garten umgeben, der durch einen Plankenzaun von der staubigen Landstraße geschieden ist. Nur wenige aus Stein erbaute Häuser bilden hiervon eine Ausnahme, und diese gehören den wohlhabenderen Bewohnern des Dorfes. Das alte moos- und flechtenüberwachsene Holzkirchlein, gleich zu Anfang des Dorfes auf einem Hügel gelegen, paßt gar gut zu dem es umgebenden verwahrlosten Dorfkirchhofe, der, umgrenzt von einem verwitterten Bretterzaun, nur namenlose Gräber umschließt. Für Alle insgesammt erhebt sich neben dem Dorfkirchlein ein Kreuz, mächtig und plump gefügt aus schwarz oder blutroth bemalten Tannenbalken. Und an diesem Kreuze hängt ein Christusbild, vor Zeiten geschnitten aus einer Eisenplatte, aber seine Farben sind verblichen, und die Gestalt des Gottessohnes ist nicht mehr zu erkennen. Das Kirchlein, aus harzreichem Holze gezimmert, hat schon manch Jahrhundert überdauert – an längst versunkene Geschlechter mahnt im Innern manch altes Kirchenstück. Wandung und Betgestühl zeigen noch heutzutage kunstlose Schnörkelmalerei aus der Renaissancezeit, und in den kleinen Fensterluken klappern noch heute die alten bleigefaßten, runden Scheiben, deren Patina in allen Regenbogenfarben schillert.

Unser Weg führte uns auf der Landstraße weiter; schon in der Ferne sehen wir die weißgetünchten Häuser eines stattlichen Dorfes. Mechau ist von wohlhabenden Bauern bewohnt. Ihre Wohnhäuser sind vielfach massiv, und es macht sich in ihren [319] Gewohnheiten deutscher Einfluß geltend. Zu Ausgang des Dorfes liegt das dem Prinzen Biron gehörige Dominium, der, beiläufig gesagt, circa 65,000 Morgen Landes im Umkreise von Wartenberg besitzt.

Beim Eintritt in den weiten, von Ställen umgebenen Hof empfing uns gleich ein ungewöhnlich malerisches Bild. Mächtige Staubwolken aufwirbelnd, raste in wilder Jagd ein Zug prächtiger Schimmel und Füllen über den weiten, rundum von Wirthschaftsgebäuden umschlossenen Hof; eine große Rinderheerde ward eben in die Schwemme getrieben, und Kälber und Böcklein übten sich in ihren grotesken Kreuz- und Quersprüngen.

Wir waren zur guten Stunde angelangt. Knechte und Mägde, sonntäglich geschmückt, standen in einem Theile des Hofes und lenkten voller Erwartung ihre Blicke nach dem villenartigen Gebäude, das links vom Eingang inmitten eines sorgsam gepflegten Blumengartens lag. Nicht lange sollten wir im Unklaren über das Gesehene bleiben; der Inspector des Gutes nahm sich unser in leutseligster Weise an, erklärte uns, daß heute Erntefest sei, und lud uns freundlich ein, daran Theil zu nehmen. Wir folgten ihm in das weinlaubumrankte Gebäude und stärkten uns durch eine Tasse vortrefflich gebrauten Kaffees, den uns die liebenswürdige, hübsche Inspectorsfrau reichte, auf die kommenden Genüsse.

Da saßen wir denn und schwatzten über dies und das, als plötzlich ein schmetterndes, schrilles Signal uns aus unserer gemüthlichen Unterhaltung aufschreckte. Erwartungsvoll traten wir in’s Freie, und nun kamen die Leute paarweise anmarschirt, voran als besondere Respectsperson der mit einer knallrothen Festschärpe umgürtete Vogt, nach alter Sitte um Erlaubniß fragend, ob der Herr Inspector die Leute empfangen wolle. Nach leutseliger Gewähr bewegte der Zug sich nun bis zur Veranda des Hauses, voran ein paar Musikanten, die ihren Instrumenten die schneidendsten Töne entlockten. Die beiden Vormäherinnen, zwei kernige, dralle Gestalten mit buntem Aufputz, überbrachten die Erntekränze, zunächst dem Panocek (Herrn), dann der Pani (Herrin). Ein paar allerliebste schneeweiße Täubchen, geschmückt mit rothen Bändern, guckten aus dem Kranze des Ersteren. Auch wir wurden mit Kränzen bedacht, und zwar überreichte mir die hübsche Kaischa eine dicht mit bunten Papierstreifen und rothen Pfefferkuchen behangene Krone aus Buchsbaum und Haidekraut, in deren Mitte ein mächtiges Herz hervorleuchtete mit der Inschrift. „Nimm von lieber Hand dieses treue Unterpfand!“

Nach Beschluß des feierlichen Actes traten die Leute zusammen und sangen unter Begleitung der Musik den Choral „Nun danket Alle Gott!“, wie vielstimmig, weiß ich nicht – mag’s auch nicht ergründen. Kaum war der fromme Sang verklungen, da begann der Tanz; der Panocek wurde von der Großmagd geholt, die Pani vom ältesten Vogt, das Frölka (Fräulein) vom Großknecht, ich von der hübschen Kaischa, und als auch das überstanden, wir die üblichen Trinkgelder gegeben und die Veranstalter des Festes uns Allen ein Hoch ausgebracht, zog der ganze Trupp unter schmetterndem Trompetenschall in’s „Hôtel“ des Dorfes zur Fortsetzung des Tanzvergnügens. Gegen sechs Uhr folgten auch wir dorthin; schon auf der Treppe empfing uns dicker Staub, und nun gar erst der Saal!

Ueberall lärmende Männer und Frauen tanzend, trinkend und singend. Kaum erblickte uns die Gesellschaft, so ward Alles still; einer der Vögte in seiner Rolle als Tanzcommandeur kam auf die Pani zu; mich beglückte meine Kaischa, und nun wirbelte Alles dahin im bunten Tanzgewühl. Wagte es einer der Knechte, mit seiner Schönen den Reigen zu vervollständigen, so wurde er mit Püffen zurückgewiesen; „Solum! Solum!“ erscholl es aus heiseren Kehlen, und nicht eher durften wir im Tanze aufhören, bis die Musik verstummte. Nach Beendigung der Polka bestellten die Knechte für unsere Damen Bier, tranken es jedoch nach ihrer Ablehnung sehr gern selber aus. Eine volle Stunde hielten wir’s aus, dann entfernten wir uns still, um durch unsere Anwesenheit den Leuten den Vollgenuß ihres Glückes nicht zu verkümmern, die denn nun auch ihr lustiges Treiben in ungenirter Weise bis zum folgenden Morgen fortsetzten.

Solche Tage sind die spärlichen Lichtblitze in dem Leben dieser meistens kümmerlich aussehenden Menschen, deren düsteres, gedrücktes Wesen man erst verstehen lernt, wenn man einen Blick in ihre Häuslichkeit, in ihre Hütten wirft. Ich selbst besuchte einen Raum, in welchen vier, zusammen neunzehn Köpfe zählende Familien sich theilten: vier Wohn- und Schlafzimmer, vier Küchen und Keller, vier Speisezimmer und ebenso viele Ankleidegemächer. Betreten wir einen solchen Raum, so umfängt uns ein wirres Durcheinander – ein Chaos von Betten, Schränken, Kisten, Kasten, Haus- und Ackergeräthen.

Dort flackert auf niedrigem Herde der Holzstoß oder ein Kohlenfeuer und „überschummert“ das ganze Bild, die dunklen zusammengekauerten, lebhaft sich unterhaltenden Gruppen mit jenem blauen Hauch, der dem Maler als vermittelnde Lasur so lieb und willkommen ist. Genrebilder im Geschmacke Teniers’ und Ostade’s sehen wir überall; nur entbehren sie der glücklichen Behaglichkeit, der Heiterkeit, die wie ein Goldton über die Werke der alten niederländischen Meister sich lagert. Die grenzenlose Armuth ist’s, die Noth, die neben dem Herde kauert und jeden freudigen Zug aus dem Antlitz der Armen verscheucht.[1] Unvergeßlich ist mir der Anblick eines kranken Kindes, das mit seinen fragenden Kinderaugen so unendlich wehmüthig darein blickte.

Welchen Einfluß dieses gedrängte Zusammenleben der Familien auf die moralische Entwickelung der Einzelnen hat, ist unschwer zu ermessen. Und doch sind auf den prinzlichen Gütern die Verhältnisse noch golden zu nennen im Vergleich mit andern, weiter gen Osten gelegenen Landstrichen. Beim Anblick solcher Zustände ist mir oft der Gedanke gekommen – und ich spreche ihn hier unverhohlen aus –, ob die kolossalen Summen, die für Missionszwecke alljährlich zum Reiche hinauswandern, nicht besser im eigenen Lande verwendet würde. Es wären hier wohl schönere Früchte zu erzielen, als in den uns fern liegenden fremden Zonen.

Am folgenden Morgen standen drunten am Ziehbrunnen, der seinen langen Arm in die klare Herbstluft streckte, unsere Pferde bereit, die uns heute bis zur russischen Grenze bringen sollten. Nachdem wir von unseren freundlichen Wirthen Abschied genommen, ritten wir von dannen. Der Charakter der Gegend blieb so ziemlich derselbe: weit ausgedehnte fruchtbare Felder und Wiesen wechselten mit Nadelholzwaldungen, untermischt mit Birken, Erlen, Eichen und Buchen.

Nur da und dort war uns ein Mensch begegnet, ein schwer bepackter, hausirender Jude, ein „Dorfgeher“, wie ihn die Leute nennen. Aber jetzt wirbelte weit drüben in der Ferne eine Staubwolke gen Himmel, mit rasender Eile uns näher rückend. Immer kürzer ward die Distanz; immer deutlicher hörte wir ein Klirren und Klingen, dazu flinker Rosse hurtigen Hufschlag, und jetzt – da saust es heran auf luftigem Gefährt, das heimathlose, unstäte Pußtenvolk, Zigeuner aus dem Magyarenland. Gefesselt von dem malerischen Anblicke hielten wir unsere Pferde an, ließen den Zug vorüber und erwiderten der dunkelfarbigen Männer Anruf. Im Innern der Wagen aber ward es lebendig; da und dort lüpfte sich das geflickte, regengebräunte Zelttuch, und hervor lugten olivenfarbene Gesichter, umwallt von tiefschwarzem Kraushaar. – Doch auch sie flogen vorüber wie der Wind, und uns blieb nur die Feuergluth der dunklen, sprühenden Augen in der Erinnerung.

In einem Dörfchen, in welchem wir im Laufe des Vormittags anhielten, war wilder Lärm. Frauen und Männer, letztere mit weißen Tüchern um die Schulter und bunten Sträußen an den Mützen, standen vor der verriegelte Thür eines ansehnlichen Bauernhauses und baten mit jämmerlich flehender Stimme um Einlaß. Verwundert richtete ich meinen fragenden Blick zu meinem Begleiter hinüber, der mir lachend erklärte, daß es sich hier um eine Hochzeit handle.

„Das eine Hochzeit?“ erlaubte ich mir zweifelnd zu fragen; „wo haben wir denn die Braut?“

„Na, die ist eben drinnen,“ wurde mir erwidert, und nun machte mein Gefährte mich schnell mit der hier herrschenden Sitte bekannt, wonach dem herannahenden, von Mädchen und Brautführern umringten Bräutigam, der kommen will, seine Braut zu holen, [320] die Hausthür möglichst vor der Nase zugeschlagen wird. Unterdeß war von innen die Thür geöffnet worden, an welcher der Bräutigam, Brautjungfern und Brautführer immer dringender um Einlaß gebettelt hatten, und jetzt strömte mit lautem Jauchzen die angeheiterte Schaar hinein, an der Spitze der Brautvater, ein älterer Mann, der sich nun zu der in ihrer Kammer befindlichen Braut begab und sie laut zum Verlassen derselben aufforderte. Die Braut hingegen, die sich den ganzen Tag hindurch nicht sehen lassen, ihre Kammer auch nicht verlassen darf, weigerte sich dessen nach herkömmlicher Sitte unter lautem Jammergeschrei auf’s Entschiedenste. Abermals wiederholte der Alte sein Gesuch, und als es wiederum erfolglos blieb, stürmten beim dritten Male einige alte Frauen in die Kammer hinein und zerrten die Widerstrebende hinaus. Nun war großer Jubel; ein Tisch ward in die Mitte gerückt und reichlich mit Kuchen, Wurst und Schnaps besetzt. Alle sprachen mit lachendem Gesichte dem Dargebotenen zu, besonders den Spirituosen. Unterdeß spielte die Musik einen Choral; Alles sang nach Kräften mit; darauf wurden einige Tänze abgespielt, und nun beeilte sich Jeder, auf die bereitstehenden Leiterwagen zu kommen, die das Brautpaar und die Gäste zur Kirche bringen sollten. Auf dem ersten Wagen nahmen die Musikanten und einige Hochzeitsgäste Platz, deren Aufgabe es ist, durch laute Jauchzer auf das Herannahen eines Hochzeitszuges aufmerksam zu machen. Auf dem zweiten Wagen saß die Braut, die während der ganzen Fahrt still und betrübt vor sich hinsehen muß, ferner der Bräutigam, die Brauteltern und der Brautführer im Schmucke seiner bunten Tücher und Blumensträuße. Auf den anderen Wagen placirten sich die Brautjungfern, jede einen Strauß in der Hand für ihren „Kerl“, das heißt ihren nachherigen Tänzer, für dessen ordentliche Verpflegung sie sorgen muß. Lärmend und kreischend fuhr so der Hochzeitszug zur Trauung. Nach vollzogener Feierlichkeit geht die Fahrt zurück, aber in jedem am Wege liegenden Wirtshause wird eingekehrt und getanzt, sodaß manchmal erst spät Nachmittags die Hochzeiter das Haus der Brauteltern erreichen, wo bei Speise und Trank die Feierlichkeit weiter gesponnen wird. Während der Mahlzeit geht die Frau, welche das Essen angerichtet, mit einem Teller herum und sammelt ein; jeder Gast muß also sein Essen bezahlen, eine Sitte, die auch bei deutschen Völkern gang und gäbe ist. Nach aufgehobener Tafel wird im Gasthause (Kretscham) getanzt und dort auch um Mitternacht der Braut der Kranz vom Kopfe gerissen und ihr dafür eine mächtige Haube aufgesetzt. Von nun an darf sie nicht mehr unter den Mädchen sitzen. – Zwei Tage lang dauert das Treiben im Wirthshause fort; sind die alten Leute müde, so ist eine Strohschütte gleich zur Stelle, das junge Blut aber tanzt weiter, Tag und Nacht, und erst am Abende des zweiten Tages hat das riesige Vergnügen ein Ende.

Mittag war vorüber, als wir auf dem „Ring“ (Marktplatz) der Judenstadt Kempen hielten, mitten im Gewühl einer zahlreichen Judenmenge, welche die ganze Stufenleiter von der abscheulichsten Häßlichkeit an bis zur vollkommenen plastischen Schönheit repräsentirte. Eigenthümlich berührt es, eine ganze Stadtbevölkerung zu sehen, von welcher die Männer das sonst im westlicheren Deutschland nur vereinzelt angetroffene charakteristische Aeußere des polnischen Juden zeigen: in Verbindung mit der scharf jüdischen Physiognomie die „Peies“, die langen Schmachtlöcklein, welche zu beiden Seiten des Gesichts bis auf die Schultern herniederfallen, ferner die „Schibbeze“, das lange kaftanähnliche Gewand, und die langen Stiefeln.

Unser Weg führte am Kirchhof der Juden vorbei, welcher draußen vor der Stadt auf einer Anhöhe liegt. Wie das Leben der Hebräer in bestimmte, vorgeschriebene Formen geschlossen ist, so sind auch die Leichensteine überall von derselben feststehenden, tafelförmigen Gestalt, nur mehr oder minder verziert durch einfache Arabesken und Ornamente. In dichtgedrängten Reihen, wie die Halme des Feldes, standen hier die Hunderte von Grabsteinen hinter einander, umschlossen von Disteln und Kieferngezweig, durch dessen düsteres Grün die verwischten Schriftzeichen Palästinas geheimnißvoll uns entgegenblickten. Auf einer Anzahl der Tafeln waren die Zeichen des Stammes angebracht, dem die unter ihnen ruhenden Todten im Leben angehörten. Zwei aufrechtstehende Hände bezeichnen die Aaroniten, ein Kelch den Stamm Levi u. s. f.

Wir hatten den Kirchhof wieder verlassen und schickten uns eben zur Weiterreise an, da sahen wir einen Leichenzug längs des Angers sich bewegen. Ernste Männer waren es, die bleichen Gesichter umrahmt von dunkelschwarzen Bärten – Juden, die einen ihrer Todten hinaustrugen. – Umdrängt von neugierigem Volke, zogen sie, ihre eigenthümlichen Gebete murmelnd, hinaus zum „guten Ort“, zum „Hause des Lebens“, um dort die arme leblose Hülle zu betten. Eine Weile verfolgten wir die dunklen Gestalten mit den Augen, bis sie in dem auswirbelnden, sonnendurchglühten Staube verschwanden.

Die Grenzstation, wo die Prosna Deutschland von Rußland scheidet, heißt auf deutscher Seite Podzamce, ein armseliges Dorf, und es war Abend, als wir vor derselben anlangten.

Nur fern im Westen zeigte sich noch ein breiter goldiger Streif, im Osten aber, wo sich die ungemessenen Weiten des russischen Reiches dehnten, wurde es finsterer und finsterer – dort schien alles Leben erstorben, und aus dem Dunkel, vom rechten Ufer der Prosna herüber, tönten nur die seltsam weichen, langgezogenen Weisen einer Hirtenflöte.

Rudolf Cronau.




Der Arbeiter sonst und jetzt.
Zeitgemäße Betrachtungen von Professor Karl Biedermann.


Seit mehr als fünfzehn Jahren, seit der von Lassalle angeregten Arbeiterbewegung, ist von gewissen Seiten her den Arbeitern fort und fort in zahllosen Zeit- und Flugschriften, wie in ebenso zahllosen Versammlungen, schriftlich und mündlich, vorgepredigt worden: in dem Loose der arbeitenden Classen sei nicht nur keine Besserung gegen früher eingetreten, sondern es sei auch eine solche überhaupt unmöglich; der Arbeiter sei dazu verdammt, immerfort denselben untersten Rang in der Gesellschaft einzunehmen, in derselben traurigen, kaum menschenwürdigen Lage sich fortzuschleppen; er vermöge sich nie über die knappste Nothdurft des Lebens zu erheben, und von allen Fortschritten der Cultur habe nur er keine Vortheile zu erwarten.

Eine solche Lebensansicht, wenn sie zu einer allgemeinen würde (wie sie es leider schon vielfach geworden ist), wäre trostlos für die Arbeiter selbst, gefahrdrohend für die Gesellschaft. Woher sollte dem Arbeiter die Freudigkeit des Arbeitens, des Sparens, des Strebens nach Verbesserung seiner Lage, nach Bildung seiner selbst und nach tüchtiger Erziehung seiner Kinder kommen, wenn er sich sagen müßte, daß doch Alles fruchtlos sei, daß er doch nie weiter und wirklich vorwärts kommen könne? Was bliebe ihm dann anders übrig, als eben das, wozu ja in der That gewissenlose socialdemokratische Agitatoren es gern bringen möchten: die Verzweiflung an seiner Gegenwart wie an seiner Zukunft und der daraus sich erzeugende ungestüme Trieb, diese gegenwärtige bestehende Gesellschaftsordnung sobald wie möglich in Stücke zu schlagen?

Es ist ein schweres Unrecht – nicht blos an der Gesellschaft und dem allgemeine Culturfortschritt, sondern vor Allem an dem Arbeiter selbst – wenn man diesem letzteren eine solche trostlose Ansicht einzureden sucht, ohne die Wahrheit der Behauptung, auf welche man dieselbe stützt, geschichtlich erhärten zu können. Daß man dies aber nicht kann, daß im Gegentheil eine gründliche und unbefangene Vergleichung des Sonst und des Jetzt in den Zuständen der arbeitenden Classen eine wesentliche und fortschreitende Verbesserung dieser Zustände nach allen Seiten hin außer Zweifel stellt, das hoffen wir mittelst der nachstehenden Betrachtungen zu beweisen. Wir knüpfen dabei, wo es specielle Verhältnisse gilt, namentlich an das uns zunächst liegende Beispiel Leipzigs an und werden überall, fern, jeder Schönmalerei, nur genau ermittelte und feststehende Thatsachen sprechen lassen.

Wir beginnen unsere Vergleichung mit denjenigen Seiten der Arbeiterzustände, welche den Fortschritt zum Besseren am zweifellosesten [321] und so zu sagen handgreiflichsten zeigen: Das ist die politische und gesellschaftliche Stellung des Arbeiters.

Im Alterthum war der Arbeiter Sclave, im Mittelalter kaum etwas Besseres. Leibeigener, Höriger, Fröhner. Sogar die Handwerker in den Städten waren anfangs unfrei. Heut ist der Arbeiter politisch den andern Ständen gleichgestellt; er sitzt im Reichstage vollkommen ebenbürtig neben Fürsten und Grafen, großen Grundbesitzern, reichen Handels- und Fabrikherren, Beamten und Gelehrten.

Kaum weniger bedeutend ist die Veränderung in der gesellschaftlichen Stellung des Arbeiters. Und dieses Ergebniß ist um so erfreulicher, als es zu einem sehr wesentlichen Theile sich als die Frucht der gegen früher außerordentlich gestiegenen Bildung der Arbeiter darstellt. Der Bildungsfortschritt der Arbeiter ist seit den letzten fünfzig Jahren ein so großer, daß er den Bildungsfortschritt der sogenannten höhern Classen (des Adels, des Gelehrten- und Bürgerthums) relativ überwiegt. Wenn wir den Handwerksburschen von vor vierzig oder fünfzig Jahren, der „fechtend“ durch die Lande zog, mit dem Gewerbsgehülfen von heut vergleichen, welch gewaltiger Unterschied! Wenn wir sehen, was der letztere nicht blos liest, sondern auch versteht, wenn wir wahrnehmen, mit welchem Eifer er die Gelegenheiten zu seiner allgemein menschlichen wie Berufsfortbildung, die ihm in Vereinen oder sonst geboten werden, ergreift und benutzt, wenn wir hören, welche Lieder er in seinen zahlreichen Gesangvereinen singt, und wie er sie singt, wenn wir den geselligen Zusammenkünften und Festlichkeiten der Arbeiter beiwohnen, so müssen wir uns sagen – und wir sagen es mit Freuden – daß die Empfänglichkeit, das Verständniß und das Interesse für die Bildungsfrüchte, deren Samen die besten Geister unserer Nation ausgestreut haben, in diesen Volksschichten, die früher kaum etwas davon kannten, in der erfreulichsten Weise gewachsen ist.

Es ist in der That höchst achtenswerth, wie die Arbeiter zu einem großen Theile, und nicht blos solche im jugendlichen Alter, sondern auch gereifte Männer von vierzig bis fünfzig Jahren, oft mehrere Abende in der Woche nach harter und erschöpfender Tagesarbeit eifrigst ihrer Fortbildung widmen, wie wir das in Leipzig an Hunderten und Hunderten, sowohl im „Volksverein“ wie im „Volksbildungsverein“ wahrnehmen; und es ist ein erhebendes Schauspiel, wie ebenda Männer und Frauen dieses Standes sich stundenlang in jeder Witterung vor den Thüren des Theaters drängen, in welchem classische Stücke in billigen Vorstellungen geboten werden, während bei der Darstellung derselben classischen Stücke auf der größeren Bühne oft genug die Plätze der vornehmen Welt leer bleiben!

Kommen wir auf eine andere Seite der Arbeiterverhältnisse, auf die privatrechtliche Stellung des Arbeiters und auf die Lage, welche die Gesetzgebung ihm bereitet. Vor Zeiten bestand für den ländlichen Arbeiter der sogenannte Dienstzwang, das heißt, er mußte bei der Grundherrschaft als Dienstbote, Knecht u. dergl. eintreten. Wollte er einen andern Beruf wählen, etwa ein Handwerk in der Stadt lernen, so bedurfte er dafür der Erlaubniß des „gnädigen Herrn“, einer Erlaubniß, die zuweilen mit Geld erkauft werden mußte. In den Städten gab es zwar eine solche directe Abhängigkeit nicht, aber das Verhältniß war thatsächlich kaum ein anderes.

Die obrigkeitlichen Lohntaxen, welche damals allgemein bestanden, hatten nicht etwa den Zweck, den Arbeiter vor Bedrückung durch den Arbeitgeber zu schützen, im Gegentheil, sie dienten nur dazu, dem Arbeitgeber möglichst billige Hände zu verschaffen. Das geht unter Anderem daraus hervor, daß die Leipziger Lohntaxe von 1763 unverändert aufrecht erhalten ward, obschon die Getreidepreise zwischen 1763 und 1770 von 2½ auf 8 Thaler stiegen. Bei länger andauernden niedrigen Lebensmittelpreisen dagegen wurde bisweilen die Taxe noch herabgesetzt. Als damals die Zimmer- und Maurergesellen sich mit einer bescheidenen Vorstellung an den Rath wandten und um eine Lohnerhöhung baten, weil sie bei den theuren Preisen mit dem taxmäßigen Lohne nicht auskommen könnten, ward ihnen dies wie eine Auflehnung zum Verbrechen gestempelt; sie wurden mit Verweisung aus der Stadt bedroht, ja die Urheber der Vorstellung wurden verhaftet.[2] Und als einige Arbeitgeber aus Billigkeitsgefühl freiwillig ihren Arbeitern etwas mehr als die Taxe zahlten, wurden sie vom Rath in eine Strafe von 20 Thaler genommen, „weil sie die Armuth drückten“, das heißt weil sie ihren ärmeren Mitmeistern die Löhne vertheuerten oder die Arbeiter entzögen. Der Arbeiter galt damals als keiner Rücksicht werth; er war ein bloßes Werkzeug: der Mensch fing erst beim Vollbürger oder „Meister“ an.

War endlich der Arbeiter arbeitsunfähig geworden oder stockte der Arbeitsverdienst, so war jener (abgesehen von den kargen Unterstützungen, welche etwa hier und da eine Innung gewährte) rein auf sich selbst, das heißt auf’s Betteln angewiesen; ein gesetzliches Recht auf öffentliche Unterstützung gab es so wenig, wie eine geordnete Armenpflege. So begreift es sich, daß in dem Nothjahr 1772 in Leipzig, das damals nur etwa 25,000 Einwohner zählte, 4000 Bettler sich fanden, daß ganze Schaaren von Bettlern und Vagabonden die Länder durchzogen und die Heerstraßen unsicher machten.

Wie anders steht in allen diesen Beziehungen der heutige Arbeiter da! Die vollkommenste gesetzliche Freizügigkeit gestattet ihm, seinen Erwerb da zu suchen, wo er ihn am besten zu finden meint: weder seinen Wegzug von einem Orte, noch seiner Ansiedelung an einem andern werden Schwierigkeiten bereitet. Das Recht der Vereinigung – auch zum Zweck der Erlangung eines höheren Lohnes, selbst durch das Mittel der gemeinsamen Arbeitseinstellung – ist ihm unverwehrt, so lange er sich nur bei dessen Ausübung der Gewaltthat und sonstiger ungesetzlicher Mittel enthält. Der Arbeiter hat kraft des Reichsgesetzes über den Unterstützungswohnsitz, wenn er verarmt, ein gesetzliches Recht auf öffentliche Hülfe, bis er wieder erwerbsfähig wird. Durch die Reichsgewerbeordnung ist Fürsorge getroffen, daß der Arbeiter nicht durch ein Uebermaß von Arbeit oder durch eine der Gesundheit nachtheilige Beschaffenheit der Arbeitsräume geschädigt werde. Für Frauen und Kinder ist noch besondere Fürsorge getroffen. Durch das Haftpflichtgesetz soll dahin gewirkt werden, daß, wenn durch die Schuld der Arbeitgeber der Arbeiter an seiner Gesundheit, seiner Arbeitsfähigkeit ober gar seinem Leben Schaden leidet, ihm selbst oder den Seinen ein Ersatz dafür zu Theil werde. Durch die Anstellung von Fabrikinspectoren (siehe den Artikel „Bahnbrecher des socialen Friedens“ von Franz Mehring in Nr. 8) ist eine Controlle von Staatswegen eingerichtet worden, damit diese Vorkehrungen zu Gunsten der Arbeiter nicht ein todtes Papier bleiben, sondern wirksam werden. In den Gewerbeschiedsgerichten sitzt der Arbeiter gleichberechtigt neben dem Arbeitgeber und spricht öffentlich Recht über diesen wie über die eigenen Genossen.

Und nicht blos für das materielle Wohl des Arbeiters sorgt die Gesetzgebung, sondern auch für seine Bildung, dieses erste und wichtigste Instrument seines Fortkommens und seiner ökonomischen Besserstellung. Staat und Gemeinde bieten dem nachwachsenden Arbeitergeschlecht einen früher gänzlich entbehrten Unterricht, theils unentgeltlich, theils zu einem sehr ermäßigten Preise.

Wenn solchergestalt der Arbeiter in seinen Rechten und in Bezug auf die Rücksichten, welche Staat und Gemeinde auf ihn nehmen, gegen früher wesentlich besser gestellt ist, so ist er ebenso wesentlich erleichtert in Betreff der Pflichten, die er gegen beide zu erfüllen, der Lasten, die er als Staats- und Gemeindeangehöriger zu tragen hat.

Zwei Hauptarten solcher Pflichten oder Lasten giebt es: die Wehrpflicht und die Steuerlast. In beiden Beziehungen war der Arbeiter von sonst sehr übel daran. Als die sogenannte Conscription, die Zwangswerbung für das stehende Heer, in den deutschen Ländern eingeführt ward (was im Laufe des vorigen Jahrhunderts geschah), da ließ man die oberen Classen – Adel, Beamte, Gelehrte, Kaufleute etc. – fast völlig davon frei und wälzte so die ganze Last des Heerdienstes auf die unteren Classen. Das hatte die Folge, daß diese um so länger dienen mußten. In Sachsen bestand bis 1867 die sechsjährige Dienstzeit. Der Vermögendere konnte sich (nach dem System der Stellvertretung) loskaufen; der Arme mußte sechs Jahre lang, oder doch den größten Theil dieser Zeit, bei der Fahne ausharren und konnte [322] während dessen nicht, oder doch nur in sehr beschränktem Maße, seinem Erwerbe nachgehen. Jetzt ist in Folge der allgemeinen Wehrpflicht die Dienstzeit auf die Hälfte, drei Jahre, thatsächlich sogar auf zwei ein viertel bis zwei ein halb Jahre, herabgemindert. Ein anderer Nachtheil des damaligen Heeresdienstes bestand darin, daß die Behandlung des Soldaten, weil man es dabei eben nur mit dem nichtbevorzugten, darum damals mißachteten Theile des Volkes zu thun hatte, meist eine sehr harte, ja entwürdigende war. Jetzt hat der Arbeiter nicht mehr die demüthigende Empfindung, einen Dienst leisten zu müssen, für den die Anderen sich zu gut halten und dem sie sich daher entziehen; er steht in Reihe und Glied neben dem Sohne des adligen Grundbesitzers oder des reichen Kaufmannes; ja er kann, wenn er sich auszeichnet, dessen militärischer Vorgesetzter werden.

Was die Besteuerung betrifft, so ist diese in Staat und Gemeinde heutzutage gegen den Arbeiter in demselben Maße eine vorwiegend humane, wie sie im vorigen Jahrhundert eine inhumane war. Der Einfluß und der Egoismus der herrschenden Classen bewirkte damals, daß die Steuerlast vielfach von diesen auf die ärmeren abgewälzt ward, während heutzutage der Zug unserer Steuergesetzgebung vorwiegend dahin geht, diese letzteren auf Kosten der Besitzenden zu erleichtern. Bei der indirecten Steuer, der sogenannten Accise, genossen die vornehmeren Stände, Adel, Beamte, Geistlichkeit, mancherlei Befreiungen, z. B. Tranksteuerfreiheit, das ist Freiheit von der Wein- und Bieraccise. Bei der directen Steuer spielte eine Hauptrolle die Kopfsteuer, die, ohne Rücksicht auf den Erwerb, lediglich auf die Person gelegt war, und zwar nicht blos auf die Person dessen, der Etwas verdiente, z. B. das Haupt einer Familie, sondern auch auf jedes weitere Familienglied über vierzehn Jahren. So kam es, daß arme Tagelöhnerfamilien mit zwei bis drei erwachsenen Kindern bis zu zwölf oder fünfzehn Mark Kopfsteuer zahlen mußten.

Heutzutage finden derartige Berücksichtigungen bei der Steuererhebung nicht mehr zu Gunsten der vermögenderen, wohl aber zu Gunsten der ärmeren Classen statt.

Bei der Einkommensteuer im Königreich Sachsen ist jeder Erwerb bis zu 300 Mark gänzlich frei; der von 300 bis 400 Mark zahlt als einfachen Satz 5 Pfennig, von da bis 650 Mark 15 Pfennig, bis 950 Mark 40 Pfennig, bis 1100 Mark 60 Pfennig. Dagegen zahlt das doppelte Einkommen (2200 Mark) nicht doppelt, sondern mehr als drei Mal so viel (über 2 Mark), das achtfache (8800 Mark) nicht acht Mal, sondern mehr als fünfundzwanzig Mal so viel (über 16 Mark). Die Steuerzahler mit einem Einkommen unter und bis 1100 Mark machen in Sachsen zusammen 84 Procent oder etwa 6/7 sämmtlicher Steuerzahler aus, zahlen aber nur 14 Procent oder etwa 1/7 der ganzen Steuersumme; die Steuerzahler mit einem höheren Einkommen, zusammen nur 16 Procent oder etwa 1/6 aller Steuerzahler, zahlen 86 Procent oder 6/7.

Noch viel günstiger ist der Arbeiter gestellt rücksichtlich der Gemeindesteuern, wenigstens überall da, wo (wie z. B. in Leipzig) die Gemeindesteuer als Procentzuschlag zur Staatssteuer erhoben wird. Während der Arbeiter hiernach zu den Gemeindeausgaben nur einen verhältnißmäßig sehr geringen Theil beiträgt, kommt von diesen Ausgaben selbst ein sehr großer Theil gerade ihm und seiner Familie zu gute; so die sehr bedeutenden Kosten für Erbauung und Unterhaltung von Volksschulen, Krankenanstalten etc.. Ein weiterer Vortheil des Arbeiters in den Städten gegen früher besteht in dem Wegfall der städtischen indirecten Steuern auf die in das städtische Weichbild von außen eingehenden Verbrauchsgegenstände, welche Steuern der Arbeiter von sonst in dem Preise seiner Lebensbedürfnisse ebenfalls mit bezahlen mußte.

Noch mancher andere Vortheil ließe sich namhaft machen, den die mehr entwickelten Culturverhältnisse gerade dem Arbeiter gebracht haben; so die größere Leichtigkeit, welche theils die Presse, theils auch besondere Arbeitsnachweisungsanstalten ihm gewähren, um Arbeitsgelegenheiten zu finden, während früher die mangelhaften Communicationsmittel dem Arbeiter die Erkundung solcher Gelegenheiten, sowie den raschen Ortswechsel zu rechtzeitiger Benutzung bedeutend erschwerten; so ferner die Möglichkeit, aus einem Arbeitszweig in einen andern überzugehen, was ihm früher durch die zunftmäßige Absperrung der verschiedenen Arbeitszweige gegen einander versagt war; so der minder erschwerte Uebertritt in die Stellung eines selbstständigen Gewerbtreibenden, was sonst von einer Menge von Voraussetzungen und Bedingungen abhing, und so noch vieles Andere, was auszuführen hier zu weitläufig sein würde. Es ist nicht zulässig, daß in den letzten 50 bis 60 Jahren so viele unserer größten Industriellen, wie Krupp, Nestler, Borsig, Hartmann und Andere, aus einfachen Arbeitern hervorgegangen sind. Die freiere Gestaltung des Industriebetriebes macht es dem strebsamen und intelligenten Arbeiter möglich, auch ohne Vermögen von Haus aus sich emporzuschwingen – ein Beweis, daß tüchtige Arbeitskraft nicht, wie sozial-demokratische Agitatoren fälschlich behaupten, dem „Capital“ wehrlos gegenübersteht.

Fassen wir jetzt speciell den Hauptpunkt, nämlich die eigentlichen Erwerbs- oder Lohnverhältnisse der Arbeiter in’s Auge; denn darauf beruht doch am Ende deren ganze ökonomische Lage.

Ein Handarbeiter in Leipzig erhielt 1763 taxmäßig 4 gute Groschen oder 50 Pfennig den Tag. Soviel verdient heute ein Dienstmann in Leipzig ohne große Anstrengung in höchstens 1 ½ Stunde. Der Lohn eines einfachen Tagelöhners in einer Großstadt dürfte jetzt selten unter 2 Mark für den Tag betragen. Sogar auf dem Lande ist der Tagelohn durchschnittlich in Sachsen im Sommer 1 Mark 60 Pfennig, im Winter 1 Mark 20 Pfennig, in Württemberg und am Rhein 1 Mark 80 Pfennig und 1 Mark 30 Pfennig. Die Taxe für Maurer- und Zimmergesellen betrug 1763 in Leipzig bei zwölfstündiger Arbeit 90 Pfennig bis 1 Mark; jetzt beträgt der Lohn dieser Gehülfen 23 bis 25 Pfennig pro Stunde, das ist für 12 Stunden 2 ¾ Mark bis 3 Mark auf den Tag. Eine Hausmagd erhielt 18 Mark Lohn für’s Jahr; jetzt ist eine solche mit 100 Mark kaum zufrieden, eine gute Köchin kaum mit 150 bis 180 Mark, während damals eine „excellente“ Köchin für 30 Mark zu haben war. Ein Schirrmeister auf dem Lande wurde 1750 mit 30 Mark ausgelohnt; auf dem jüngsten Gesindemarkte zu Dresden (Januar 1879) wurden Schirrmeister für 240 bis 270 Mark gedungen.

Bei den Dienstboten ist diese Steigerung um so frappanter, als ja hier der vertheuerte Lebensunterhalt nicht dem Dienstboten, sondern der Herrschaft zur Last fällt. Anders verhält es sich allerdings bei solchen Arbeitern, die für sich selbst sorgen müssen. Hier müssen wir, um zu einer richtigen Vergleichung ihrer jetzigen mit ihrer sonstigen Lage zu gelangen, zuvor sehen, wie sich die Erhöhung des Lohnes zu den Preisen der Lebensbedürfnis verhält.

Nehmen wir zuerst das allgemeinste Nahrungsmittel, das Getreide! Im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts kostete ein sächsischer Scheffel Roggen durchschnittlich 6 bis 7 Mark, Jetzt kann man denselben im Durchschnitt etwa der letzten 10 Jahre wohl mit 10 bis 12 Mark berechnen. Nun veranschlagen Statistiker für eine Arbeiterfamilie von 5 Köpfen, die vorzugsweise von Brod und andern Getreideproducten (Mehl, Graupen, Nudeln etc.) lebt, im Jahre 15 Scheffel Getreide. Das machte nach damaligen Preisen etwa 90 Mark. Der Arbeiter, der damals 50 Pfennig im Tage verdiente, mußte somit für Brod, Mehl etc. 3/5 seines Lohnes verausgaben; der, welcher sich auf 1 Mark stand, 3/10. Der erste behielt etwa 60 Mark, der zweite 210 Mark für andere Ausgaben übrig. Jetzt, wo 15 Scheffel Getreide 180 Mark kosten, behält der Tagearbeiter 420 Mark, der Gehülfe an 570 bis 720 Mark übrig, die er auf andere Ausgaben, insbesondere auf bessere Nahrung (Fleisch, Butter, Eier etc.) verwenden kann. Dies ist, beiläufig gesagt, der Grund, weshalb diese letzteren Lebensmittel (Fleisch, Butter, Eier) eine stärkere Steigerung im Preise gegen früher erfahren haben (auf das Doppelte bis Zweiundeinhalbfache), eine Steigerung, welche mit der Steigerung der Löhne ungefähr gleichen Schritt hält.

Die Wohnung des Arbeiters mag heutzutage etwa um ebenso viel theurer sein, wie sein Lohn höher ist, vielleicht noch um etwas mehr, aber dafür ist sie auch gewiß ganz unvergleichlich besser, menschenwürdiger, gesünder als ehemals. Heizung und Beleuchtung sind wegen der billigeren Surrogate für Holz und Oel – Kohlen und Petroleum – wohl kaum im Verhältniß zum Lohne gestiegen. Dagegen ist die Kleidung und überhaupt Alles, was menschliche Arbeit hervorbringt, gegen früher entschieden viel billiger geworden. Daher kommt es, daß die arbeitenden Classen jetzt in großen Massen Stoffe verbrauchen, die sie früher gar nicht trugen, z. B. baumwollene, von denen noch gegen Ende des vorigen Jahrhunderts kaum 1 Elle auf den Kopf der Bevölkerung kam, heutzutage mehr als 26 Ellen.

Nehmen wir dazu noch die vielen trefflichen Einrichtungen [323] für Sicherheit des Lebens, für Gesundheit, für Bequemlichkeit, welche unsere Gemeinden, zumal die städtischen, ihren Angehörigen, also auch den Arbeitern, gewähren (Pflasterung, Straßenbeleuchtung, Wasserleitung etc.), und wofür, wie früher schon erwähnt, gerade diese letzteren verhältnißmäßig nur äußerst wenig, zum Theil gar nichts zahlen, nehmen wir fernerhin die vielen Mittel geistiger Bildung und Erholung, die den Arbeitern zugänglich gemacht sind – öffentliche Schulen, Volksbibliotheken, unentgeltliche Vorträge etc. – so wird man gestehen müssen, daß die ganze Lebensweise eines heutigen Arbeiters von der seines Vorgängers vor 100, ja auch noch vor 50 Jahren, unendlich verschieden, daß ihm nicht blos die Beschaffung der ersten Nothwendigkeiten des Lebens, die „Fristung der Existenz“ um Vieles erleichtert, sondern auch der Genuß einer Menge von Annehmlichkeiten, materiellen und geistigen, an die er früher gar nicht denken konnte, zugänglich gemacht ist.

Läßt sich somit durch Ziffern nachweisen, daß der Arbeiter von heute sich viel besser steht, als der von sonst, so können wir denselben Beweis auch von einer andern Seite her ebenso schlagend führen. Zunächst, indem wir die Thatsache selbst, daß wirklich der Arbeiter jetzt besser lebt, als früher, constatiren. Und das ist nicht allzu schwer. Vermögen wir auch nicht, dem einzelnen Arbeiter nachzurechnen, um wie viel mehr an Lebensgenüssen er heute braucht, als sein Berufsgenosse vor 100 Jahren, so giebt uns doch die Statistik indirecte Beweismittel genug dafür an die Hand.

Wenn wir z. B. erfahren, daß in Preußen der Verbrauch an Kaffee, Thee, Zucker, Bier, Branntwein, Wein, Tabak seit 1806 auf das Dreifache gestiegen ist, so werden wir nicht annehmen können, daß diejenigen Classen, die schon vorher Kaffee, Thee, Zucker etc. regelmäßig consumirten, ihren Verbrauch darin um so viel gesteigert haben sollten, vielmehr liegt die Vermuthung nahe, daß der Kreis derer, welche diese Artikel verbrauchen, sich erweitert hat, daß auch von den arbeitenden Classen, die sich diese Genüsse früher versagen mußten, wenigstens ein größerer Theil jetzt in der Lage ist, sich solche zu verschaffen.

Noch deutlicher zeigt sich dies bei einem anderen Verbrauchsartikel, dem Fleisch. In Sachsen stieg der durchschnittliche Fleischconsum von 1836 bis 1875 von 31 auf 59 Pfund für den Kopf der Bevölkerung, also nahezu auf’s Doppelte. Es ist nicht wahrscheinlich, daß die besitzenden Classen 1875 doppelt so viel Fleisch verzehrt haben als 1836, viel wahrscheinlicher ist, daß Solche, die früher nur ganz wenig Fleisch verbrauchten, jetzt wesentlich mehr davon consumiren. Dafür spricht auch der Umstand, daß die stärkste Steigerung in derjenigen Fleischsorte stattgefunden hat, welche mit Vorliebe die minderbemittelten Classen genießen, weil sie ihnen am leichtesten zugänglich ist, dem Schweinefleisch. Der Verbrauch von Schweinefleisch hat sich in dieser Zeit von 16 auf 34 Pfund (mehr als das Doppelte), der von Rindfleisch von 15 auf 25 Pfund, das ist nur wie 3 : 5, gehoben.

Der rühmlichst bekannte Statistiker Prof. Dr. Böhmert, Director des Statistischen Bureaus[WS 1] in Dresden, dem wir diese Notizen verdanken, bemerkt ausdrücklich dazu: „Die Vermehrung des Schweinefleisch-Consums beweist, daß der gestiegene Fleischverbrauch vorzugsweise die mittleren und unteren Volksclassen trifft, und daß die letzten Jahrzehnte einer besseren Ernährung des Volkes außerordentlich günstig gewesen sind.“ Ganz dasselbe, nur in noch viel stärkerem Maße, zeigt sich in Leipzig. Während die Bevölkerung der Stadt von 1858 bis 1875 nur um 71 Procent stieg, hob sich der Verbrauch an Schweinefleisch um 247 Procent, also um mehr als das Dreifache des Bevölkerungszuwachses. Dazu bemerkt – ganz im gleichen Sinne wie Böhmert – unser verdienter Statistiker Director Hasse: „Daraus geht unzweifelhaft hervor, daß der Wohlstand der unteren, vorzugsweise Schweinefleisch verzehrenden Classen in höherem Maße gestiegen ist, als derjenige der oberen, die mehr Rindfleisch verzehren.“

Diese Wahrnehmungen gelten für alle Culturländer. Nach Macaulay aßen beispielsweise zu Ende des siebenzehnten Jahrhunderts 440,000 englische Arbeiterfamilien höchstens einmal in der Woche Fleisch und bezog 1/5 der Bevölkerung Almosen. Jetzt ist der englische Arbeiter unzufrieden, wenn er nicht täglich sein Fleisch und seinen Thee mit Zucker genießen kann. Ein französischer Statistiker, Foville, weist durch genaue Daten und Zahlen nach, daß der Arbeiter in Frankreich, namentlich der ländliche, sich jetzt dreimal so gut steht, wie zu Ende des vorigen Jahrhunderts.

Aber es läßt sich nicht blos nachweisen (wie obige Daten zeigen), daß der Arbeiter von heute im Durchschnitt entschieden besser lebt, besonders sich reichlicher nährt, als der vor hundert Jahren, sondern auch, daß er trotzdem von seinem Arbeitsverdienste noch etwas übrig behalten und sparen kann. Lassalle stellte gegen Schulze-Delitzsch, der die Arbeiter auf’s Sparen verwies, die Behauptung auf: der Arbeiter könne gar nichts ersparen, und es sei frivol, ihm so etwas zuzumuthen. Diese Behauptung ist aber ebenso wenig stichhaltig, wie das sogenannte „eherne Lohngesetz“ Lassalle’s; auch sie findet ihre Widerlegung in den Thatsachen. Zunächst sind die Summen sehr beträchtlich, welche die Arbeiter in die verschiedenen Kranken- und Unterstützungscassen zahlen, wenn sich auch die Gesammtsumme dieser Einzahlungen nicht angeben läßt. Sodann entfällt von dem gewaltigen Capital, welches in den Sparcassen liegt, ein nicht unbeträchtlicher Theil auf die Ersparnisse von Arbeitern. Dieses Capital betrug 1874 für sämmtliche von Staatswegen autorisirte deutsche Sparcassen zusammen ungefähr 1880 Millionen Mark.[3] Leider besitzen wir über den Antheil der arbeitenden Classen nur sehr unvollständige Nachrichten, weil eine Statistik der Spareinlagen nach Berufsclassen allzu schwierig und zeitraubend, daher nur selten versucht worden ist. Für Württemberg haben wir eine solche auf die Jahre 1869 bis 1874. Da ergiebt sich denn, daß die Spareinlagen der unselbstständigen Arbeiter etwa ein Drittel, die der Dienstboten über die Hälfte, beide zusammen also etwa fünf Sechstel aller Einlagen betrugen, daß ferner die Summen der Arbeitereinlagen von 1869 bis 1874 sich verdoppelten. Rechnen wir aber für Arbeiter und Dienstboten in ganz Deutschland zusammen auch nur die Hälfte sämmtlicher Spareinlagen, so ergäbe dies die namhafte Summe von 900 bis 1000 Millionen Mark an Ersparnissen der arbeitenden Classen – ungerechnet die mancherlei sonstigen Gelegenheiten zum Sparen (Vorschußsparcassen, Sparvereine etc.), die Anlegung von Ersparnissen im Ankauf von Land u. dergl. m. Genug: die Thatsache, daß die arbeitenden Classen heutzutage von ihrem Erwerb einen nicht unbeträchtlichen Theil aufsammeln können und auch wirklich aufsammeln, steht außer allem Zweifel.

Und was folgt nun aus alle dem? Daß der Arbeiter von heute schlechthin mit seiner Lage zufrieden sein, auf jede Verbesserung seiner Verhältnisse, insbesondere der Lohnverhältnisse, verzichten müsse? Keineswegs! Oder daß die Gesetzgebung und die freiwillige Thätigkeit der besitzenden Classen in ihrer humanen Fürsorge für den Arbeiter nunmehr nachlassen könne, weil darin schon genug gethan worden sei? Ebenso wenig! Was wir aus den obigen Betrachtungen folgern, ist vielmehr nur dieses: es ist nicht wahr, daß der Arbeiter „immer“ nur gerade so viel verdiene, wie er zur „Fristung seiner Existenz“ oder zur nothdürftigen Erhaltung einer Familie nöthig hat; es ist nicht wahr, daß der Arbeiter bei allen Culturfortschritten leer ausgehe, daß er niemals weiterkommen könne, so lange die jetzige Staats- und Gesellschaftsordnung besteht. Wir sehen das Gegentheil davon durch Thatsachen bestätigt. Und weil dem so ist, so folgern wir weiter: es ist thöricht, wenn der Arbeiter sich unklaren Träumen von einem socialistischen Zukunftsstaate hingiebt, der, auch wenn er verwirklicht werden könnte, ganz gewiß dem Arbeiter selbst, wenigstens dem fleißigen und tüchtigen, nur schmerzliche Enttäuschungen bringen würde. Richtiger handelt er, wenn er auf dem Boden des Bestehenden rüstig und emsig vorwärts strebt und so seine Lage stetig verbessert, wie er bisher gethan hat, wobei wir allerdings voraussetzen, daß nicht blos die Gesetzgebung und die freie Thätigkeit der Privaten in ihrer Fürsorge für die Arbeiter nicht ermatte, sondern daß auch insbesondere die einzelnen Arbeitgeber nichts versäumen werden, um die Lage ihrer Arbeitnehmer und deren Verhältniß zu der ihrigen nach Kräften immer günstiger zu gestalten.


[324]
Das gelobte Land.

Ein Wort über Colonisationsversuche in Palästina. Von Professor Sepp.

(Schluß.)


Trotz aller Eisenbahnen wird es mit der öffentlichen Sicherheit in Palästina noch auf lange hinaus schlimm bestellt sein. Wehe besonders denen, welche es wagen wollten, in der Nähe der Beduinen an der Wüstengrenze sich eine Farm zu gründen und ihren Kohl zu bauen! Sie würden bei Tag und Nacht vor Ueberfällen nicht sicher sein. Nie ist eine Prophezeiung genauer eingetroffen, als jene alttestamentliche von Ismael: „Er wird ein wilder Mensch sein und seine Hand gegen Alle wie Aller Hände gegen ihn.“ Sie ist eingetroffen, weil sie ihre Farben den schon gegebenen Verhältnissen entlehnte, die in der altbiblischen Zeit die Ismaeliten als ebensolche zeigen, wie wir sie heute sehen. Die Erklärung ist einfach genug: der Hunger ist eben die erste Großmacht, und die Wüste ist unfruchtbar. Die Sandwellen rücken auffallend dem Jordan immer näher, und die Ostseite des einst paradiesischen Sees Genezareth ist fast völlig verödet. Dazu kommt die Macht der Tradition, die Ueberkommenschaft des Blutes, welche dem Beduinen den Raub zur Lebensaufgabe setzen.

Vor einigen Jahren überfiel solch ein Trupp Beduinen das ein paar Stunden vom Genezarethsee abwärts gelegene Abadije, wo unser neu bestellter Consul Adler Mühlen hat, und schafften sich Weizen und Mehl in aller Schnelligkeit fort. Die Beduinen waren auf ihren Rossen einfach durch den Jordan geritten oder geschwommen. Zu ihrer Verfolgung wurden bei dem entstandenen Alarm wohl hundert Kejal oder Landreiter aufgeboten, und sie befanden sich bald dreien Beduinen gegenüber, welche, während die übrigen in aller Hast die Beute in Sicherheit zu bringen trachteten, die einzige Bedeckung bildeten und auf ihren gazellenfüßigen Thieren gleichsam spielend die Verfolger reizten, näher zu kommen. Nur ein Mann von dem eiligen Landsturm tummelte seine Rosinante keck voran: da schwenkten die drei Räuber, fielen über den Unglücklichen her, schnitten ihm den Kopf ab und seinen Leib in Stücke, und banden diese auf sein Roß, sodaß es zum Schrecken des bewaffneten Aufgebots mit den noch blutenden Gliedmaßen zurückjagte. Seitdem wagt Niemand mehr, sich in Bethsan und der Umgegend des Jordans anzukaufen. Die Beduinen spielen die Herren und haben während des jüngsten Krieges, da die Ernte im Ostland mißrieth, alle Dörfer diesseits überschwemmt, alles Korn fortgeschleppt und, wo sie Widerstand fanden, die Männer im Hause und auf der Tenne erschlagen. Aber auch die arabischen Fellahim sind im Durchschnitt elendes Räubergesindel.

Ich selbst habe auf früheren Reisen die Beweise davon zu spüren gehabt (1845). Das erste Mal am Samariterbrunnen zu Nablus (Sichem), wo mich etwa zehn Burschen packten, die sich nicht träumen ließen, daß ich mich wehren würde. Im ersten Schrecken entwand ich mich mit Gewalt der Umarmung und fand, als mein Stock in Stücke gegangen, das Heil in schleuniger Flucht nach dem nahen Stadtthor. Das andere Mal waren es fünf Fellahim mit Säbel und Flinten, welche halbwegs zwischen dem Carmel und Nazareth mich und meine drei deutschen Gefährten anfielen. Es gelang uns, sie zu verjagen, aber mein Nebenmann kam nicht davon, ohne vom Wurfe eines Feldsteines, der meinem Kopfe gegolten, bedenklich am Arme getroffen zu sein. Ich hatte mich rechtzeitig gebückt, sonst wäre es mir vermuthlich ergangen wie einem nachfolgenden Briten, welcher, auf demselben Wege angefallen, von einem schweren Steine todtwund, Monate lang in der Casa Nova zu Nazareth krank lag. Die arme – vielmehr reiche Miß Creasy, welche am 8. September 1858 Jerusalem verließ, wurde nach vier Tagen mit zerschmettertem Haupte als Leiche gefunden. Noch im September 1877 wurde auf dem bekannten Wege von Kaifa nach Nazareth ein Engländer, der unter einem Baume sich ausruhte, von vier Räubern förmlich in Stücke zerhackt. Das ist so ländlich sittlich, und wiederum nicht etwa eine Eigenthümlichkeit des modernen Palästina: die altbiblische Zeit und die Zeit der Römer weisen dieselben Erscheinungen auf. Nun sind die Paschas an die Stelle der römischen Landpfleger getreten, und die türkische Justiz macht in solchen erschwerten Fällen kurzen Proceß. Wird eine Gewaltthat ruchbar, ist ein Raub oder eine Blutthat begangen und dringen insbesondere die Consuln auf Bestrafung, dann bricht die rächende Gerechtigkeit los. Gestraft wird jedenfalls ein Einzelner oder eine Anzahl, ob freilich der Schuldige, das ist eine andere Frage. Uebrigens bildet die Verhängung der Todesstrafe seit dem Pariser Frieden ein Reservatrecht des Sultans, was angesichts der bestehenden Verhältnisse, welche die Blutrache in voller Geltung erhalten haben, freilich wenig besagen will.

Charakteristisch für die bisher geschilderten Zustände des Landes ist das Schicksal der erwähnten Vermessungen durch die englische Gesellschaft zur Erforschung Palästinas, welche, den Decan Stanley von Westminster an der Spitze, jährlich über mehrere tausend Pfund Sterling verfügt und zum ersten Mal mit amtlicher Genauigkeit die trigonometrischen Verhältnisse Palästinas feststellen ließ. Colonel Wilson und Warren haben das Werk begonnen; Capitain Stewart war durch Erkrankung zur Rückkehr genöthigt. Ihn ersetzte Tyrwhitt Drake, der schnell dem Klima und der Anstrengung zum Opfer fiel; er starb im Hôtel Mediterranean zu Jerusalem am 22. Juni 1874, während wir Abends mit unserem wackeren deutschen Consul an der Tafel saßen. Lieutenant Conder rückte in die Lücke ein. Eines Tages zog die englische Expedition, achtundzwanzig Mann stark und noch dazu wohl bewaffnet, nach Safed hinan und begann ihre trigonometrischen Instrumente aufzustellen. In der Nacht unternahmen die Eingeborenen, im Wahne, die Fremdlinge seien gekommen, um sich nächstens in ihren Grund und Boden zu theilen, mit allen möglichen Waffen einen Ueberfall. Conder sprang mit dem Revolver in der Hand im Hemd aus dem Zelte, willens durch einen Schuß die Feinde zu erschrecken; diese verstanden indeß keinen Spaß, und der muthige Officier erhielt mit Stock und Beil entsetzliche Wunden. Ein Säbelhieb, der ihm den Kopf spalten sollte, wurde mit Noth noch von Einem aus dem Gefolge parirt. Man schlug sich durch, aber neun Mann waren, zum Theil durch Steinwürfe, verwundet, und Lieutenant Conder derartig, daß man ihn mit Mühe lebend auf einem Maulthier nach Nazareth brachte, wo er ein halbes Jahr im Kloster der lateinischen Väter darniederlag, wie sein Diener in Aka, zwischen Tod und Leben schwebend; denn Wunden sind im heißen Lande entzündlicher als bei uns. Unfähig, die übernommene Aufgabe zu erledigen, mußte er nach England zurückkehren, wo er noch siecht. Die kostbaren Instrumente blieben zwar erhalten, aber das Unternehmen gerieth neuerdings in’s Stocken, und die Vollendung der Arbeit war in Frage gestellt. Erst im Januar 1876 reiste der Royal Ingenieur Colonel Kitchener von London nach Palästina ab, um noch den Rest von eintausend englischen Quadratmeilen im Norden und zweihundert im Süden zu vermessen; er kehrte dann in Eile im December desselben Jahres von Beirut wieder heim.

Das sind die großen Uebel in Palästina, von den kleineren ganz zu schweigen, wozu in erster Linie das massenhafte Ungeziefer gehört, wegen dessen die Eingeborenen es zumeist vorziehen, auf den Dächern zu schlafen; sie riskiren dabei freilich durch Erkältung die schlimmsten körperlichen Leiden, namentlich Augenleiden.

Meine Ansicht über die totale Ungunst der Verhältnisse gegenüber der Idee, Palästina zum Zielpunkte einer christlichen oder jüdischen Einwanderung und vielleicht gar Staatsregierung zu machen, wird durch das Schicksal der in dieser Richtung geleisteten Versuche hinlänglich bestätigt. Doppelt enttäuscht wurden die Anhänger der mosaischen Religion, welche nebenbei auf Anknüpfungspunkte bei den Resten ihrer Glaubensgenossen, wie sie besonders in der Nähe des galiläischen Meeres in geschlosseneren Mengen leben, rechnen mochten. In neuerer Zeit ist für diese Hebräer in Palästina so viel geschehen, daß man ernstlich fragen möchte: Reichen die Kräfte der Gesunden auch hin, um so viele Spitäler, Schulen und Versorgungshäuser zu versehen? Zum Danke hat jeder einwanderungslustige Israelit zu gewärtigen, von den dortigen Israeliten mit dem dreifachen Banne, der Ausschließung (Niddui), der Verfluchung (Cherem) und der Vertilgung im Namen des allmächtigen Gottes (Schammatha oder Maranatha) belegt zu werden.

[325]

Ein bodenloses Unglück.
Nach dem Gemälde von Fr. Sonderland.


Keiner hat mehr für die Glaubensbrüder in der alten Heimath gethan, als Sir Montefiore, welcher 1841 das Grabmal der Rahel auf halbem Wege nach Bethlehem wieder in Stand setzen ließ und auf seiner zweiten Reise 1855 die Summe von 144,000 Franken überbrachte, beseelt von heißem Verlangen, für das Land der Väter bleibenden Nutzen zu stiften und seine Volksgenossen zur Ansiedelung zu veranlassen, Boden anzukaufen, Mühlen u. dergl. m. zu bauen. Zum Danke dafür verfluchten sie ihn als einen Unbarmherzigen und Ungläubigen, weil er nicht das Geld unmittelbar unter sie getheilt, ohne Rechenschaft von ihrer Verwaltung zu fordern. Der gute Mann vergoß helle Thränen über solche Hartnäckigkeit und Widerspenstigkeit. In Jerusalem geht etwa ein Vierteltausend oder der vierundzwanzigste Theil der einheimischen Judenschaft einer Beschäftigung nach, über 5000 aber, Weiber und Kinder mit eingeschlossen, leben vom Müßiggang oder den aus Europa einlaufenden Almosen. Im gelobten Lande entschuldigen sie diese Faulheit mit dem Grundsatze: es dürfe in diesem Lande absolut keine Veränderung vorgenommen werden, bis der Messias auftritt, der nicht mehr lange ausbleiben kann. In Jaffa wieder hatte die Ackerbauschule Montefiore’s keinen Erfolg, weil jeder der Faullenzer dort behauptete, er dürfe kein anderes Land bebauen, als den heiligen Boden Canaans.

Dem Wiener Dichter Frankl erging es nicht besser; als er 50,000 Gulden als Gründungscapital zur Stiftung des Lämmel’schen Lehrinstituts nebst Armenhaus und Kinderbewahranstalt überbrachte, belegten ihn die Orthodoxen von Jerusalem mit dem Banne, warfen ihm vor: wie Luther die Deutschen um ihre Einigkeit brachte, so wolle er als Neugläubiger die Einheit der altmosaischen Gemeinde zerreißen, und riefen ihm trotzig zu: [326] „Wir verlangen keine Schulen. Hier auf dem heiligen Boden darf nichts Neues eingeführt werden, bis der Messias kommt.“ Daß unter diesen Umständen die geweihten Stätten der nationalen Tradition im ganzen Lande dem völligen Verfall und Verschwinden entgegen gehen, ist nicht zu verwundern; an erhaltende oder gar renovirende Arbeit von dieser Seite ist nicht zu denken. Inzwischen besteht im Judenviertel von Jerusalem, am Ostabhange des Sionhügels, seit 1855 das Rothschild’sche Krankenhaus mit der Gedächtnißtafel: „Dem ehrwürdigen Andenken Meyer Rothschild’s seine Söhne Amschel, Salomon, Nathan und James, Barone von Rothschild.“ Diese schenkten dazu 280,000 Gulden, und es wurden seitdem viele Hunderte von Kranken verpflegt; aber auch über Cohen, den Abgesandten der Rothschild’s, sprachen jene Eiferer von vornherein den Bannfluch aus. Wie kläglich es dabei um die religiösen Kenntnisse und die bezüglichen Bibliotheken dieser Religionshüter aussieht, habe ich beim Suchen nach alter Literatur mit Kopfschütteln erfahren.

Die christlichen Bestrebungen wollen entweder die jüdische Colonisation befördern, weil der alten Verheißung nach doch das Heil von den Juden kommt und, nachdem Jerusalem wieder in jüdische Hände gelangt, hier der Messias erscheinen wird, um die Herrschaft des endlich bekehrten Volkes über die Erde zu tragen, oder die christlichen Einwanderer wollen selbst als das auserwählte Volk betrachtet sein, an dessen Spitze der Messias sich stellen wird. Methodisten, Mennoniten, Chiliasten, das heißt Anhänger des „tausendjährigen Reichs“, Wupperthaler und Baseler Pietisten sowie schwäbische Tempelchristen sind in die Colonisationsbestrebungen verflochten. In den Salomonischen Gärten nahe bei Jerusalem unternahm schon 1849 Meschullam unter dem Schutze des englischen Consuls Finn seine Gründung einer Colonie mit ein paar Mennoniten und getauften Juden. Wie glücklich fühlte sich die alttestamentlich angehauchte Lady Finn, als sie 1856 von dem weltberühmten „verschlossenen Garten“ Salomo’s ein Thalgebiet von fünfzig bis sechszig Morgen aus der Hand eines arabischen Scheich für den Preis von hundertfünfzig Pfund Sterling angekauft, den Morgen für die Bagatelle von drei Sovereigns! Meschullam verstand es, mit den Arabern umzugehen, und genoß fürstliches Ansehen, wie man in Missionsnotizen lesen konnte; der Pachtschilling von vierzig Thalern war auch mäßig, aber ein paar magere Kühe und Arbeiter schufen noch keine „Ackerbauschule für getaufte Juden“, geschweige ein Paradies. Und doch brachte diese Musteranstalt in Artas mit „jährlich fünf Ernten“ halb Nordamerika in Aufruhr. Fragte man indeß später nach, so waren Meschullam’s Baumgärten 1858 von den Beduinen (auf deren Bekehrung selbst der Geograph Ritter zu hoffen wagte) geplündert, und der Druckbogen, welcher diese Nachricht enthielt, war kaum trocken, als die Botschaft von der Zerstreuung der arbeitseifrigen jüdischen Taufgenossen eintraf. Die Beduinen lieferten den vom Pascha ausgesandten Truppen am Grabe der Rahel ein Scharmützel und – die Farce war ausgespielt.

Trauriger ging es den 1861 aus Deutschland in Galiläa eingewanderten Pietisten, welche in Sindschar, eine Stunde südlich von Nazareth, eine Colonie zu gründen versuchten. In ihrer Begeisterung verachteten sie alle Warnungen, sich an einem so öden Orte niederzulassen, und kehrten im August 1868 so angegriffen zurück, daß in kurzer Zeit ihrer acht an Koma (sopor) unter Anfällen der Tobsucht, des Sonnenstichs und wiederkehrender Fieber starben. Ermüdung, Wechsel von Hitze und Kälte und die Malaria wirken auf den Fremden gleichermaßen verderblich. Am 22. September 1866 kam eine Colonie von vierzig Familien oder hundertsiebenundfünfzig Köpfen aus Nordamerika in der neuen Paradiesesstadt Jaffa an. Bruder Jonathan und Compagnie hatten die Schiffe zugleich mit fertigen Häuserbalken beladen, die sofort zu einem Ganzen zusammengefügt werden konnten. Diese wunderlichen Heiligen gründeten eine erste Adamsstadt (Adam-City); es ist nicht bekannt geworden, ob eine sündhafte Eva die Kinder der neuen Schöpfung aus ihrem Eden vertrieb – leider ging die Ansiedlung schon im nächsten Jahre ein. Im Jahre 1865 errichtete der Württemberger Mätzler die erste Kunstmühle mit Dampfkraft, aber wie protestirten die – und zwar diesmal christlichen Orthodoxen von Joppe wider solch eine unbiblische Neuerung! Drei Jahre darauf erschien Christian Hoffmann aus Ludwigsburg als „Aeltester des Tempels“, den es gilt wieder aufzurichten. Ihn begleitete der noch ältere J. G. Hardegg, der bei der Durchreise durch München mir seine Schrift: „Das ewige Evangelium“ zur Belehrung und zum Andenken hinterließ. Zweitausend Württemberger sollten zur Stiftung des „tausendjährigen Reiches“ nachfolgen: tausend sind wirklich gefolgt, die sich zur Hälfte in Joppe und Jerusalem, zur andern auf Kaifa am Carmel und Galiläa vertheilen. Sie traten das Erbe der Frommen von Adam-City an, aber gleich im ersten Jahre starb ein Zehntel der Ansiedler an den Sumpffiebern der Audjemündung. Die Uebrigbleibenden bauten nördlich in gesünderer Lage Sarona; doch die Gesichtsfarbe und das frühe Nervenzittern beweisen, daß sie ihren Tod im fremden Lande vor der Zeit finden. Diese Württemberger leben der Ueberzeugung, von ihnen werde die Wiedergeburt Palästinas ausgehen, geberden sich übrigens ganz im alttestamentlichen Geiste. Dabei herrscht fast klösterliche Disciplin; nicht als ob den Mitgliedern Frauen vorenthalten wären, im Gegentheil, diese bilden eigentlich den Grundstock der gottliebenden Gemeinde und sind hauptsächlich dem Prophetismus zugethan, lassen sich aber den Ehegatten von den Aeltesten zuertheilen.

Diese Deutschen greifen wohlthätig fördernd und umgestaltend in das Culturleben des Landes ein, halten dabei ihre Mittel zusammen und scheinen eine Zukunft vor sich zu haben. Der Ankauf von Grund und Boden ist freilich spottbillig, der Preis, wenn auch nicht zweieinviertel Dollar, wie im Hinterlande der Vereinigten Staaten, doch nur vier, und kommt es hoch, zehn Napoleons für den Morgen. Von dem leicht urbar zu machenden Sandboden bei Tire am Carmel gab man ihnen gern fünfhundert Morgen für solche Taxe, ja der Wali oder Statthalter von Damaskus war willig, ihnen, so viel sie begehrten, um jeden Preis anzuweisen, wenn sie nur nicht länger unter dem Consul sich isolirten, sondern – türkische Unterthanen würden. Im Sommer und Herbst 1877 grassirten in Kaifa und Umgebung die Pocken so grausam, daß bei einer Bevölkerung von achttausendsechshundert Einwohnern nicht weniger als zwölfhundertsechszig der Seuche zum Opfer fielen; die deutsche Colonie schützte sich gegen die Ansteckung und büßte nur sieben Personen ein.

Kommen wir zum Schluß! Als Ergebniß des Vorstehenden dürfte feststehen, daß vorläufig auf lange Zeit hinaus ein Aufschwung für Palästina nicht denkbar ist, jedenfalls nicht durch Einwanderung, welche, eben weil für sie die Verhältnisse so ungünstig wie möglich sind, nie für weitere Kreise etwas Verlockendes gewinnen kann, wie etwa die Uebersiedelung nach Amerika, ja, vor welcher der Kenner der Verhältnisse geradezu warnen muß. In unabsehbarer Zeit wird die türkische Herrschaft der modernen Civilisation nachgeben, und dann wird allmählich wohl auch das Land Israel, soweit es die gegebenen Bedingungen gestatten, einen menschenwürdigeren Aufenthalt bieten. Ob es freilich dann noch das Land ist, das mit der Jugenderinnerung des Europäers so eng verknüpft erscheint, wie es heute die Schule mit ihr verknüpft, ist die Frage. Ein geschichtlich denkwürdiges Land wird es allezeit bleiben, und immer werden als rührende Episode in seiner Vergangenheit jene Trauerlitaneien an der Klagemauer von Jerusalem verzeichnet werden, wenn jene Mauer längst verschwunden und Niemand mehr dasein wird, dem ein Messias mit einem neujüdischen Reiche der höchste Traum seines Lebens ist.




Eine amerikanische Invalidenstiftung.


Als Wohlthatenspender für den einzelnen leidenden Mitmenschen ist der Amerikaner nicht sehr bekannt. Denn sein Wahlspruch ist: „Hilf Dir selbst!“ Die eingewanderten Deutschen haben das oft bitter empfinden müssen. Groß aber zeigt er sich vielfach, wo es die Verfolgung philanthropischer Ziele, die Abhülfe und Linderung großer und allgemeiner Leiden der Gesammtheit gilt, besonders wenn dabei die nationale Ehre in’s Spiel kommt und nationale Pflichten zu erfüllen sind. So kann die ausgezeichnet humane Versorgung der Invaliden in den Vereinigten Staaten allen europäischen Ländern und speciell auch dem deutschen Reiche ein Muster sein. Als nach Beendigung des Secessionskrieges (1865) alle die entlassenen Soldaten arbeits- und heimathslos umherirrten und die vielen [327] Verwundeten und Verkrüppelten einer traurigen Zukunft entgegensahen, da traten mehrere hervorragende Politiker zusammen, um dieser Noth abzuhelfen. Unter ihnen war es hauptsächlich General Butler von Massachusetts, welcher zuerst die Idee einer Gründung von großen „Soldatenheimathen“ anregte und darauf hinwies, daß die im Fond der Volontaircasse ohne Verwendung liegenden Millionen am besten zur Verwirklichung dieser Idee dienen könnten. Der Congreß bewilligte denn auch die Summe zu dem genannten Zwecke; reichliche Spenden von Privaten flossen noch zu, und so entstanden fünf solcher Soldatenheimathen, deren größte, die „National Military Home by Dayton, Ohio“, wir hier schildern wollen.

Diese Soldatenheimath liegt drei englische Meilen von der (60,000 Einwohner zählenden) Stadt Dayton entfernt, halbwegs zwischen Cincinnati und Columbus. Die Gründung der „Home“ gelangte zur Ausführung durch Ankauf mehrerer kleinerer Farmen; das Terrain, auf dem sie liegt, bildet ein gewelltes Hochplateau, reich an Feld, Wald und Wiesen, mit mehreren nie versiechenden Quellen, welche zusammenhängende Teiche speisen; die Luft ist eine reine, gesunde (ohne Muskitos); die Temperatur sinkt im Winter höchstens auf 1 bis 2° unter 0 des Fahrenheit’schen Thermometers, während dagegen die Hitze im Sommer allerdings bisweilen 88 bis 90° Fahrenheit beträgt. Der Platz der ganzen Ansiedlung umfaßt etwas mehr als eine englische Quadratmeile Areal. Dieser Soldatenheimath, wie jeder der übrigen, ist ein Gouverneur vorgesetzt, dem ein Schatzmeister und ein Secretär in der Verwaltung beistehen. Der jeweilige Präsident, der Oberbundesrichter und der Kriegsminister der Vereinigten Staaten sind Ehrenmitglieder des Verwaltungsrathes, welcher zur Zeit aus dem General Butler und acht Gouverneuren von Staaten besteht.

Der Zudrang zu den Anstalten, im Anfang gering, wurde allmählich und besonders in Dayton so groß, daß sich die Verwaltung genöthigt sah, die Aufnahme etwas strenger zu handhaben. Jedoch gewährt sie in humaner Weise auch arbeitsfähigen gedienten Soldaten, die sich momentan in bedrängter Lage befinden, über den Winter in der Anstalt Aufnahme, wofür dieselben allerdings unentgeltlich arbeiten müssen. Der Abgang von Bewohnern der Home ist, da Jeder gern bis zu seinem Ende bleibt, natürlich gering, zumal sich viele Insassen eines hohen Alters – manche sind nahezu hundert Jahre alt – erfreuen. Die Zahl der Einwohner in der Stiftung bei Dayton beträgt 3600, abgerechnet die zeitweilig beurlaubten, deren Zahl sich meist auf einige hundert beläuft.

Die Aufnahme in die Anstalt ist leicht und einfach, dem freien Sinne der Amerikaner entsprechend. Jeder gediente Soldat, ohne Unterschied von Farbe, Landesabstammung, Religion, Rang und Stand, der seinen ehrenvollen Abschied aus dem Dienste der Vereinigten Staaten nachweisen kann und den der Arzt für unfähig erklärt, seinen Lebensunterhalt sich zu erwerben, wird auf sein Ansuchen in die Anstalt aufgenommen. Ob der Aufzunehmende Vermögen hat oder nicht, ist gleichgültig; hinterläßt er etwas, wenn er in der Anstalt gestorben ist, so zieht es die Verwaltung nur dann ein, wenn sich keine anderweitigen Erben vorfinden. Den Angehörigen wird, falls ihre Adresse bekannt ist, ein Todtenschein ausgestellt. Pensionäre verpflichten sich, ihre von der Regierung zu beziehende Pension der Anstalt zum Incasso zu übergeben, können aber je nach der Höhe der Pension monatliche Bezüge entnehmen. Verlassen sie die Home, so wird ihnen alles Guthaben ausgezahlt. Unter den Insassen sind alle Nationalitäten vertreten, auch die Farbigen; das größte Contingent, etwas weniger als die Hälfte, bilden die Deutschen.

Die zur Aufnahme Vollberechtigten werden nach ihrem Eintritt eingekleidet, und zwar erhalten sie an Kleidungsstücken (respective Uniform): Blouse, Waffenrock, Mantel, Hose, Kappe, Stiefeln und Leibwäsche, welche Stücke alle ihre bestimmte Tragzeit haben. Wer Civilkleider besitzt, kann sie tragen, bei dem allgemeinen Antreten aber muß Jeder in Uniform erscheinen.

Die Invaliden sind in den Baracken einquartiert, welche sich nördlich vom „Hauptquartier“, durch eine breite Straße abgegrenzt, befinden. Es sind 24 Baracken, aus Holz gebaut, zwei- und dreistöckig. Von Rasenplätzen eingefaßt und von schattigen Bäumen umgeben, zeigen sie sich als gar anmuthige Wohnstätten, deren innere Einrichtung allen Anforderungen des Comforts entspricht; hell und luftig, haben sämmtliche Räume Gasbeleuchtung, Dampfheizung und Wasserleitung. In jeder Baracke sind 100 bis 150 Mann einlogirt; eine Etage enthält ungefähr 40 Bettstellen mit Strohsack, Kissen, Leintuch und amerikanischem Armeeblanket (braune Wolldecke). Jeder der alten Soldaten hat einen kleinen verschließbaren Schrank und sein eigenes Plätzchen für sich, das er nach Belieben ausschmücken kann. Zwischen den vielen Bildern von Schlachten, wo vielleicht der Eine oder Andere verwundet wurde, von Orte aus der Heimath und lieben Angehörigen, auch religiösen und Heiligenbildern, hängen und lehnen Tabakspfeifen in allen Größen. Diejenige aber, deren Platz durch ein Fenster begünstigt ist, haben dieses oft zu einem Gärtchen en miniature gestaltet.

Chargirte invalide Soldaten müssen auch in den Baracken wohnen; nur sind sie mit dem Posten eines Sergeanten betraut und erhalten eine Löhnung von 10 bis 15 Dollars pro Monat. Jede Baracke steht unter Aufsicht eines solchen Sergeanten, der Rapport und Requisitionen zu fertigen und Verpflegung und Ordnung zu überwachen hat. Jeder Etage steht ein Corpol (Corporal) vor, der jedoch keine Löhnung erhält.

Wenngleich das Leben und Treiben in der Anstalt durchaus einen militärischen Anstrich hat, so ist es doch immerhin ein freies und ungebundenes, insofern Jeder treiben kann, was er will, um etwas zu verdienen, und Jedem auch ein Urlaub bis zu drei Monaten gegeben wird.

Alle Arbeiten in der Home werden von den Soldaten besorgt; größere werden bezahlt (bis zu 2 Mark den Tag); kleinere wirthschaftliche Hülfsleistungen muß Jeder unentgeltlich verrichten, doch kann er sich, wenn er will, für sein Geld einen Stellvertreter miethen. Die Ansiedlung bietet übrigens auch jedem Handwerker die zu seinem Gewerk nöthige Räumlichkeit und Einrichtung. Es giebt da Werkstätten für alle nur denkbaren Handwerke, sodaß die Anstalt durch ihre Insassen mit allen Utensilien versehen wird. Die Home hat ihre eigene Bäckerei, Fleischerei, selbst eine Druckerei und eine Cigarrenfabrik, in der 30 Arbeiter alle Sorten bis zur feinsten Havana fabriciren. Alle Handwerker arbeiten gegen Lohn für die Home, oder auf eigene Faust für die Cameraden und das Publicum. Wer kein Handwerk versteht, beschäftigt sich anderweit, legt Vogelhecken an oder pachtet von der Home Land, um darauf Tabak, Bohnen, Welschkorn etc. zu bauen; die Hälfte des Ertrags, den die Home kauft, ist sein Lohn. Auch verdienen Manche ihr Geld mit Hülfeleistungen für die Pensionäre, die immer baares Geld beziehen. Blinde wollen geführt, Lahme auf Rollstühlen gefahren werden; dies besorgen gesündere Cameraden gegen mäßige Vergütung, ebenso das Bettmachen, Kleiderreinigen etc..

Sind unter den Insassen der Anstalt alle Stände vertreten, so fehlt es natürlich auch nicht an Musikern. Diese bilden ein gut geschultes Corps (die „Home Band“) und haben ihre eigenen Quartiere nebst Uebungssaal. Sie concertiren täglich in der Home; als Musiker von Fach leisten sie ganz Tüchtiges; ihr Programm ist reichhaltig; es fehlen ihm auch nicht deutsche Klänge, wie „Die Wacht am Rhein“, das „Schwalbenlied“ etc.. Auch die Musiker suchen ihren Nebenverdienst, das ganze Corps geht bisweilen nach außen und macht gute Geschäfte.

Was die Religionsverschiedenheiten anbetrifft, so unterscheidet die Verwaltung im Wesentlichen nur Christen und Juden. Für die Christen ist der Gottesdienst ohne Unterschied methodistisch; für die Israeliten werden specielle Gottesdienste abgehalten. Die Kirche, mit dem hohen, spitzen Thurm, ist aus behauenen Steinen aufgeführt und gar anmuthig mit Epheu umrankt. Der Pfarrer hat eine so idyllische Wohnung, daß ihn mancher College in Deutschland darum beneiden könnte.

Die Disciplin in der Anstalt ergiebt sich unter den alten gedienten Soldaten fast von selbst. Eins ist streng verboten, nämlich der Genuß, respective Verkauf geistiger Getränke innerhalb der Anstalt; von der Verwaltung werden solche nie, selbst nicht an Festtagen verabreicht. Wer Whiskey mit in die Anstalt bringt, wird zu 25 Dollars verurteilt. Will Jemand absolut einmal trinken, so muß er seinen Urlaub dazu benutzen, doch muß er sich dann vorsehen; denn Alle, die betrunken oder nach der Passirzeit kommen, verfallen den festgesetzten Strafen. Die Home hat auch ein Gefängniß und ihre Polizeimacht. Kleinere Vergehen werden mit Arrest, größere mit Strafarbeit bis zu 6 Monaten geahndet. Etwaige Streitigkeiten unter den Insassen, die übrigens meist unbedeutender Natur sind, schlichtet der Gouverneur.

Recht energisch scheint Alles gehandhabt zu werden, was sich auf die Reinlichkeit bezieht. Jeder Insasse muß im Sommer und Winter jede Woche ein Bad nehmen. Die Wäscherei bildet ein ganz eigenes Departement, in welchem 4 große Dampfmaschinen thätig sind im Ringen, Trocknen und Glätten. In dem zweiten Stock des großen Gebäudes befindet sich das Depot für die reine Wäsche, und nebenan sind 15 Schneider (lauter Deutsche) mit dem Ausbessern der Wäsche beschäftigt. Im dritten Stock werden die sämmtlichen Strümpfe gestopft.

Inmitten der Baracken liegt das elegant gebaute große Speisehaus, worin an 28 Tafeln à 40 Gedecke auf einmal 1120 Mann speisen können, und es zeigt sich, daß hier wirklich nicht Meister Schmalhans als Koch fungirt: giebt es doch täglich 1¼ Pfund Fleisch für die Person, dabei Brod und Gemüse im Ueberfluß, ebenso Butter und Käse als Zukost. Thee und Kaffee sind tägliche Getränke. Sonntags giebt es natürlich Braten und andere Leckerbissen, sogar mit Austernsuppe sind die alten Soldaten schon tractirt worden.

Täglich werden ungefähr 600 Pfund Brod, 175 Pfund Butter, 100 Pfund Kaffee und 120 Pfund Zucker verbraucht und 2 oder 3 Ochsen oder 50 bis 60 Hammel geschlachtet. Was das erforderliche Schlachtvieh anbelangt, so wird dasselbe lebend vorräthig gehalten und in der Ansiedelung noch gemästet; namentlich zur Mästung von Schweinen bieten die Küchenabfälle reichliches Futter.

Ueberhaupt bildet die Ansiedelung eine vielverzweigte Farm, der selbst die technischen Zweige, z. B. eine Seifensiederei zur Verwendung von Fett und Knochenmark, nicht fehlen. Die neuesten landwirthschaftlichen Maschinen und Geräthe, die vielen Pferde- und Maulthier-Gespanne zeigen den ausgedehnten und rationellen Ackerbau an. Eine Gärtnerei, in großem Style angelegt, mit einem Treibhaus, das die schönsten ausländischen Gewächse enthält, versorgt die Anstalt mit Gemüsen und Hülsenfrüchten jeder Art. Indeß kann die Farmerei doch nicht so viel erzeugen, wie die Anstalt consumirt, und es ist die Aufgabe des Kochs, das Fehlende durch Ankauf zu ersetzen.

Das größte Gebäude der Anstalt ist das schloßähnliche Hospital, das im Innern musterhaft eingerichtet ist und ungefähr 300 Personen aufnehmen kann. Der Arzt hat sein Domicil in einem kleinen Hause in der Nähe des Hospitals.

Hinter dem Hospital, im nördlichen Winkel der Ansiedelung, liegt der Gottesacker, auf dem bereits ein halbes Tausend alter Soldaten zur ewigen Ruhe bestattet sein mag. Ein Begräbniß in der Home findet mit allen militärischen Feierlichkeiten statt, die Home Band spielt die Trauermusik, eine Abtheilung von zehn Mann (Feuergarde) giebt die dreimalige Ehresalve über dem Grabe ab. Jedes einzelne Grab ist mit einem kleinen Denkmal von Holz geschmückt, auf dem Namen, Regiment und Charge des Verstorbenen angeführt sind. Ein besonderes Fest für die Home ist die alljährlich stattfindende Bekränzung der Gräber. Hierbei betheiligen sich die Einwohner von Dayton mit ihren Vereinen und Tausende von Besuchern von nah und fern.

Eine Beschreibung der Gasfabrik und der Dampfbetriebswerke, die nach den neuesten Systemen eingerichtet sind, würde uns wohl zu weit führen. Die Teiche, welche die Anstalt mit Wasser versorgen, bieten dem Auge eine lebhafte Unterhaltung, sie sind reich bevölkert von amerikanischen [328] Wasservögeln und aus Deutschland eingeführten Schwänen. In einem umzäunten Theil des Parkes sind Hirsche und Büffel, selbst ein Thiergarten ist da mit nahezu vierzig wilden Thieren, Wölfen, Bären und Raubvögeln. Unter den fremden Vögeln gewahrt man auch den Meister Spatz, der sich, aus Deutschland importirt, hier eingebürgert hat. Hinter dem Wohnhause des Gouverneurs ist ein Ruhepark für die Invaliden, während der große mit einzelnen Baumgruppen bepflanzte Platz zwischen jenem Gebäude und dem „Hauptquartier“ zu dem „Antreten“ der alten Soldaten und zur Abhaltung von Belustigungen dient; auf dem hier befindlichen Orchester spielt zweimal täglich die Home Band.

In der Gesellschaftshalle, welche man im südlichen Theil neben den Baracken erbaut hat, finden, namentlich an den langen Winterabenden, Concerte und Theatervorstellungen bei freiem Entrée für die Invaliden statt und die Home hat selbst einen Theaterclub, der die Vorstellungen giebt. Billards und Kegelbahnen bieten ebenfalls Gelegenheit zur Zerstreuung. Gegenwärtig erbaut die Home aus eigenen Mitteln zwischen der Kirche und dem Hauptquartier eine große Musik- und Theaterhalle, welche 3000 Plätze fassen soll.

Ein allezeit sehr frequentirtes Haus ist das, in welchem sich die „Home Store“ und die „Postoffice“ befinden. Die Store ist ein Verkaufsladen, in dem die Invaliden sich mit allen nur denkbaren Bedarfsartikeln versehen können; die Postoffice, ein vollständiges Postamt, bietet den Einwohnern der Home große Erleichterung im Verkehr mit der Außenwelt.

Wie die Verwaltung auch für das geistige Wohl der Invaliden sorgt, zeigt die Einrichtung einer Schulanstalt, in der schon mancher weniger Gebildete es so weit brachte, daß er noch draußen in der Welt sein Fortkommen fand. In dem „Hauptquartier“, dem Amtsgebäude für die Verwaltung, befinden sich die Bibliothek und das Lesezimmer, die erstere reich ausgestattet mit meist englischen und deutschen Werken, mit kostbaren Gemälden und Bildern aller Art und wissenschaftlichen Sammlungen. Den Grund zur Bibliothek legten die Erben des General Putman. Ein Lieutenant Putman fiel als Votontair in der Schlacht bei Appomatox; die trauernde Mutter schenkte dessen reichhaltige Bibliothek der „Soldatenheimath“ bei Dayton und hat seitdem die Anstalt immer von Neuem mit reichen Geschenken bedacht. Durch anderweitige namhafte Beiträge, z. B. vom General Thomas, ist die Bibliothek allmählich eine große und ihrem Inhalt nach recht gediegene geworden. In dem Lesezimmer liegen alle tonangebenden Zeitungen und Journale der Vereinigten Staaten in englischer und deutscher Sprache aus, und die Deutschen sind daher gewöhnlich von Allem, was jenseit des Oceans, in der alten Heimath sich ereignet, wohl unterrichtet.

In dem Lesezimmer liegt auch das Fremdenbuch auf. Für Jedermann ist täglich, mit Ausschluß des Sonntags, der Besuch unentgeltlich gestattet; an Besuchern fehlt es fast nie. Bei festlichen Gelegenheiten vermitteln vier große Eisenbahnwaggons den Verkehr zwischen Dayton und der Home auf einer schmalspurigen Bahn bei einer Fahrzeit von zehn Minuten.

In Anbetracht der großen Zahl Deutscher, die nach harten Kämpfen des Lebens und des Krieges hier ein sorgenfreies Asyl gefunden, die vielleicht noch Freunde und Bekannte, welche an ihrem Schicksal Antheil nehmen, in Deutschland haben, glauben wir, daß diese Beschreibung der amerikanischen Soldatenheimath manchem Leser der „Gartenlaube“ willkommen sein wird.
Hermann Ludwig.



Blätter und Blüthen.


Ein Vermittler zweier Literaturen. Ueber die Stimmung des gesammten Auslandes gegen Deutschland uns eine glücklichere Gestaltung unserer nationalen Verhältnisse haben und die Jahre 1866 und 1870 gründliche Belehrungen gegeben. Mit peinlicher Ueberraschung haben wir damals täglich wahrgenommen, daß es unter den großen und kleinen Völkern Europas, den civilisirten und halbcivilisirten, kein einziges gab, das uns eine wirklich sympathische Regung, ja nur den guten Willen zu freundlichem Verständniß entgegenbrachte. Als die Haupt- und Grundursache dieser Entfremdung muß eine Lücke in der Bildung aller jener Völker bezeichnet werden, eine wahrhaft staunenswürdige Unkenntniß unserer Geschichte und Literatur, unseres Lebens und Wesens. Hier liegt zu einem großen Theil der Schaden, und nur da, wo er einigermaßen geheilt und ausgeglichen ist, werden sich friedliche und freundliche Beziehungen zu uns allmählich gestalten können. Daß davon nicht blos unsere politische Weltstellung abhängt, wie sie als Ideal der Zukunft uns vorschwebt, sondern auch die Förderung aller großen Cultur- und Humanitätsaufgaben der Menschheit, braucht dem Denkenden nicht erst gesagt zu werden.

Sehr ernste Gründe haben wir also, dem Studium deutscher Sprache, der Kenntnißnahme deutschen Geistes jenseits unserer Reichsgrenzen mit Aufmerksamkeit zu folgen. In England, Frankreich und Italien ist damit bereits ein hoffnungsreicher Anfang gemacht; zur Genüge weiß man bei uns, daß dort von mehr oder minder gut ausgerüsteten heimischen Gelehrten und Schriftstellern eine zwar noch leise, aber stetige Bewegung nach dieser Richtung hin unterhalten und gefördert wird. Neu aber dürfte vielen unserer Leser die Mittheilung sein, daß seit einiger Zeit auch in dem uns ferner liegenden Spanien ein nachdrückliches Wirken zu besserem Verständniß Deutschlands eröffnet wurde, und daß wir dasselbe einzig und allein dem Talent und ausdauernden Eifer eines deutschen Landsmannes zu danken haben, Wer in den letzten Jahrzehnten auf irgend einem Beobachtungsposten von den bemerkenswerthen Erscheinungen des deutschen Büchermarktes Notiz zu nehmen hatte, wird sich des schnellen Aufeinanderfolgens von fünf Gedichtsammlungen erinnern die unter den Titeln „Spanischer Romanzenstrauß“, „Klänge aus Andalusien“, „Wunder Sevillas“, „Hesperische Blätter“, „Immortellen aus Toledo“ in der zweiten Hälfte der sechsziger Jahre in Leipzig erschienen waren. Ein anscheinend unerschöpfliches Füllhorn schüttete hier mit seltener Spendelust seine in Originaldichtungen und Uebertragungen bestehende Gaben vor uns aus, die sämmtlich der Kennzeichnung und Verherrlichung des spanischen Landes, seines Volksthums und seiner Poesie dienten.

Es war natürlich, daß eine so begeisterte und so überaus fruchtbare Hingebung an eine bei uns wenig cultivirte Specialität die Aufmerksamkeit auf den bis dahin unbekannten Verfasser lenkte, und nicht gering war die Verwunderung, als man erfuhr, daß er keineswegs in Spanien, sondern mitten unter uns in seiner rheinländisch-deutschen Heimath lebe und diese niemals für längere Dauer verlassen habe. Im Jahre 1861 hatte Dr. Johannes Fastenrath, ein Sohn wohlhabender Eltern, als dreiundzwanzigjähriger Auscultator den preußischen Justizdienst verlassen, um sich fortan ganz seinen idealen Neigungen widmen zu können. Einer Reise nach Italien folgte im nächsten Jahre eine viermonatliche Wanderung durch das romantische Land des Cid, die bestimmend für seine fernere Lebensbahn wurde. Die Wunder Spaniens eroberten für immer das Herz des jugendlichen Dichters, und von dorther brachte er alle jene Eindrücke, alle jene nationalen Stoffe und Geistesproducte mit, die er dann in der Heimath zu deutschen Schöpfungen gestaltet, im Geiste und in den Formen spanischer Dichtung poesievoll verarbeitet hat.

Während aber in Deutschland die Darbietungen Fastenrath’s doch nur von einer verhältnißmäßig nicht großen Schaar ästhetischer Feinschmecker gewürdigt wurden, empfanden natürlich die urtheilsfähigen Spanier den vollen Werth seiner beharrlichen Propaganda für den Genius ihres Landes. Als er 1869 zum zweiten Mal nach Spanien kam, sah er sich dort als hochgefeierten Mann. Er wurde mit hohen Orden decorirt; es wurden ihm von Akademien und Gemeinderäthen verschiedener Städte Begrüßungsadressen überreicht, ihm zu Ehren Festbankete veranstaltet und von den namhaftesten Vertretern der spanischen Literatur seine Schriften gelobt und empfohlen.

Da kam das Jahr 1870 und machte die gewaltige Kluft offenbar zwischen Deutschland und den anderen Nationen Europas, und als warmherziger Patriot erkannte Fastenrath, daß es seine Pflicht sei, von seiner besonderen Stellung aus für eine bessere Aufklärung über sein Vaterland etwas Eingreifendes zu unternehmen. Vielleicht hatte ihn sein bekanntes Buch „Die deutschen Helden von 1870“ auf den Gedanken gebracht; genug, seit 1873 sehen wir den deutschen Schriftsteller mit der Abfassung eines von ihm spanisch geschriebenen Werkes beschäftigt, das unter dem Titel „La Walhalla y las glorias de Alemania“ („Die Walhalla und die Berühmtheiten Deutschlands“) in Madrid erscheint und von welchem bereits vor Kurzem der fünfte Band ausgegeben wurde. In diesem Buche wird den Gebildeten der iberischen Halbinsel, die ihre Kenntniß Deutschlands bisher nur aus vielfach trüben französischen Quellen schöpften, von ihrem deutschen Freunde alle große Arbeit, alles Kriegs- und Friedensheldenthum seiner vaterländischen Geschichte von Arminius bis auf die jüngste Gegenwart in einer Reihe feuilletonistisch gehaltener Briefe und Artikel vorgeführt, die sämmtlich vorher in den angesehenstes Madrider Journalen abgedeckt wurden.

Wenn man weiß, daß die spanischen Schriftsteller an dem Verfasser rühmen, er schreibe die bilderreiche Sprache des Cervantes besser, als die Mehrzahl der Eingeborenen, so läßt sich die Anziehungskraft ermessen, die seine glänzenden, von inniger Wärme beseelten Schilderungen zunächst auf die angeregteren Schichten der Bevölkerung üben. Wir haben es daher für wichtig gehalten, von der Absicht und dem glückliche Emporsteigen dieses Werkes inmitten der sogenannten lateinischen Völker Notiz zu nehmen. Die Wirkung wird nicht sofort in einem handgreiflichen Umschwunge der Gesinnung gegen Deutschland sich offenbaren, aber es ist doch mit der verdienstvollen Arbeit Fastenrath’s ein Flugsamen von geschichtlicher Tragweite und unberechenbarer Keimkraft ausgeworfen. Denn abgesehen von dem immerhin nicht geringen Umfange des spanischen Sprachgebiets darf wohl mit Sicherheit erwartet werden, daß das Buch mit der Zeit auch durch Uebersetzungen bei verwandten romanischen Völkern sich Eingang verschaffen wird. Wo aber für das große Ziel der Völkerversöhnung die geeigneten Wege gebrochen werden, da werden alle wahren Deutschen freudig zustimmen. Was ihnen durch den Gang ihrer Cultur im Blute liegt, die unbefangene Würdigung anderer Nationen, das ist es, was diese letzteren gleichfalls sich aneignen müssen, wenn das Humanitätsprincip des Jahrhunderts zu einem dauerhaften Siege gelangen soll.




Schutz der Kuhställe gegen Fliegen. Allbekannt ist, welch schwere Pein für Rindvieh, Pferde etc. im Sommer die Fliegen sind. Viele Landleute wissen, daß die Schwalben unter die fleißigsten und geschicktesten Insectenjäger gehören, wissen auch, daß diese gern in Viehställen nisten und die Gastfreundschaft reichlich belohnen, indem sie flugs den Ort von den kleinen geflügelten Quälgeistern säubern. Sehr wenig bekannt jedoch dürfte bei deutschen Bauern und Viehzüchtern die Methode sein, durch welche man in Oesterreich, z. B. auf den ungarischen und galizischen Gütern des Erzherzogs Albrecht, den Schwalbennestbau und damit die Herculesarbeit der Stallreinigung befördert. Man bringt da nämlich unter der Decke, besonders über Krippen und Raufen, Brettchen an, welche Schwalben zum Nisten locken, ihnen einen bequemen Anflug bieten und das Futter vor Verunreinigung schützen. – Das wäre ein Gegenstück zu „Gartenlaube“ Nr. 5 und zeigt, wie stärkere Thiere von schwächeren Nutzen ziehen können, hier freilich ohne thierische Geistesthaten.
A. Gpr.


Vermißt. Herr Gustav Ferdinand Arnold Lydtke aus Minden in Westfalen, Königreich Preußen welcher 1860 für verschollen erklärt wurde, von dem man jedoch bestimmt glaubt, vor einigen Jahren Lebensspuren wieder entdeckt zu haben, wird gebeten, für ihn bei dem deutschen Consul Herrn Haupt in Rio de Janeiro, respective der deutschen Gesandtschaft daselbst seit längerer Zeit niedergelegte Briefe von Interesse in Empfang zu nehmen und zu beantworten.



Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.


  1. Im Tagelohn verdient ein Mann 80 bis 100 Pfennig den Tag, die Frau 60 Pfennig. Auf einem Dominium, wo die Leute das ganze Jahr beschäftigt werden müssen, außer freier Wohnung 60 bis 80 Pfennig, die Frauen 30 bis 40 Pfennig, die Kinder 25 Pfennig. Ein Großknecht hat ein jährliches Einkommen von 16 bis 18 Thaler, dazu freie Wohnung, Holz und ein Deputat, bestehend aus 6 Metzen Weizen, 12 Scheffel Korn, 3 Scheffel Gerste, 2 Scheffel Erbsen, 1 Scheffel Haidekorn, 7 Beete Kartoffeln, 1 Beet Kraut, 186 Liter Milch, 6 Liter Butter, 10 Liter Salz und zu jedem hohen Feiertage 3 Silbergroschen für Fleisch und Bier.
  2. Erst nach der französischen Revolution ward dies etwas anders. 1797 kommt ein Strike der Dresdner und Leipziger Schlossergesellen vor. Sie beschwerten sich, daß sie von früh 4 Uhr bis Abends spät arbeiten müßten und nur für 3 Pfennig Brod bis Mittags 12 Uhr erhielten. Alles, was sie erlangten, war: 1 Stunde Abkürzung der Arbeitszeit und für 6 Pfennig Brod statt für 3 Pfennig.
  3. Wir entnehmen diese Angabe einer ganz sicheren Quelle, der Statistique internationale des caisses d’épargne, combinée par le bureau de statistique du royaume d’Italie, présentée à la IX. session du congrès international de statistique 1876.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Polytechnikums, siehe Berichtigung